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Der Mann grinste. »Neu hier?«

»Ich führe den Hund einer Freundin aus.«

Der Mann nickte verständnisvoll. »Ich bin Thies und wenn die nicht alle gut hören würden, hätte ich meinen Beruf verfehlt.«

»Ich bin Jakob. Und was bist Du von Beruf?«

Thies lachte. »Hundeausführer. Außerdem Trainer für die dazugehörigen Zweibeiner.«

Jakob sah ihn an. Er trug eine randlose Brille vor ruhigen und genauen Augen, Cargohose und Outdoorjacke mit prallen Taschen, alles etwas abgegriffen. Seine Wanderschuhe waren ähnlich ausgelatscht wie Jakobs. »Wie wird man denn sowas?«, fragte Jakob.

»Als Richtungswechsler. Eine Kollegin hatte einen Bioladen in der falschen Gegend, einer wartet seit zehn Jahren auf einen Studienplatz in Tiermedizin, ein anderer war mal Friseur.«

»Und Ihr habt genug zu tun?«

»Es gibt 100.000 Hunde in Berlin, und das sind nur die Steuerzahler. Aber laß uns ein Stück gehen, ich werde schließlich nicht fürs Rumstehen bezahlt.« Als er sich in Bewegung setzte, hampelten die Hunde begeistert los. Hektor bemühte sich, Schritt zu halten. »Jeder findet die Kunden, die zu ihm passen.«

»Und warum gehen die Leute nicht selbst mit ihren Tieren?«

»Machen sie ja, aber ein-, zweimal die Woche wollen sie dem Hund ein Rudelerlebnis gönnen. Es gibt natürlich auch Leute, die sich in Mitte einen schicken Weimaraner leisten und keinen Waldboden an ihren edlen Schuhen mögen. Ganz zu schweigen von denen, die berufstätig sind und acht Stunden an einem Stück weg. Oder sie werden plötzlich krank und der Hund soll trotzdem raus.«

»Sind die denn alle friedlich?«

»Hunde sind Rudeltiere mit ausgeprägtem Sozialverhalten.«

Im Gegensatz zu den Zweibeinern, dachte Jakob. Gibt viel Galle in der Stadt. »Und was war Deine alte Richtung?«, fragte er.

»Althistorisch. Erbsenzählen bei Cicero. Ist schon o. k., wenn Du dafür einigermaßen bezahlt wirst.«

»Wurdest Du aber nicht.« Jakobs Prof hatte aus ihm einen promovierten Literaturwissenschaftler machen wollen. Aber Literatur half nicht beim Umgang mit dem jämmerlichen Tod geliebter Menschen, Jakob brauchte einen Richtungswechsel.

Das Zeitlupenableben seiner Mutter hatte Jakobs Kindheit wie eine dräuende Wetterfront begleitet, er verstand eindeutig am meisten von Sterbenden und Toten. Dem Medizinsystem traute er außer sadistischer Hilflosigkeit nichts zu, als nekrophiler Beruf fiel ihm nur noch Bestatter ein.

Er hospitierte bei einem Sarghersteller, wusch Leichen und entwarf Trauerreden. Eines Morgens las er über seinen Pausenkaffee gebeugt in der Morgenpost von einem mörderischen Familiendrama, dachte sich, das Knäuel hätte er gern und besser entwirrt und bewarb sich bei der Kripo. Der Umgang mit Mördern und Toten, deren mitten im Satz abgerissene Geschichte er zuende erzählte, schlug bis heute jedes Doktorandencolloquium.

»Drei Monate Drittelstelle«, antwortete Thies, »paar Monate Pause, wieder Drittel. Ich saß in einer Einzimmerbude in Neukölln und habe mir eingebildet, für ein authentisches Leben als Wissenschaftler zu darben.«

»Und hattest Zeit für einen Hund.«

»Dessen Hundesteuer ich dann nicht mehr zahlen konnte.«

»Und jetzt?«

»Muß ich Neukunden ablehnen. Brutus, laß das.« Ein Jack-Russel zog den Kopf aus einem Mauseloch.

»Sind das alles Historikerhunde?«

Thies deutete auf eine schmalen Podengo mit riesigen Ohren, durch die die Sonne schien. »Mommsen. Das professorale Herrchen hat eine Finca auf Mallorca. Dort schreibt er seine ungelesenen Bücher und mümmelt Oliven.«

»Die Drittel sind ungerecht verteilt.«

»Jetzt bekomme ich ja auch ein paar Krumen davon ab. Übrigens«, Thies deutete auf Hektor, »zwei Speckrollen weniger würden ihm guttun, sag das Deiner Freundin.«

Jakob seufzte. »Ihr Sohn ist Staatsanwalt, schämt sich für seine wellenlegende Mutter und läßt sich zu selten blicken.«

»Und die Liebe muß irgendwohin, verstehe.«

»Apropos Liebe«, Jakob zog ein Photo von Iris Gerber mit vollständigem Gesicht hervor, »kennst Du diese Frau?«

Thies griff sich Jakobs Kopie und schüttelte den Kopf. »Zeig mir lieber ein Bild ihres Hundes.«

»Sie hatte keinen.«

»Hatte?«

»Die Leiche da hinten, das war sie.«

»Bist Du Bulle?« Er blieb abrupt stehen, seine Hunde auch.

»Suspendiert. Ich habe trotz Krankschreibung gearbeitet.«

»Der Berliner Öffentliche Dienst bestraft neuerdings Leute, die freiwillig arbeiten?« Thies lachte.

»Dann war da noch meine geladene Dienstwaffe auf dem Tisch neben einem Geiselnehmer.«

»Ups.«

»Ich lag auch da, unter dem Tisch.« Jakob seufzte. »Bewußtlos, mit Spucke vor dem Mund.«

Thies sah ihn fragend an. Die Hunde folgten seinem Blick.

»Epilepsie.« Sag’s öfter Jakob, irgendwann wird es leichter. »War mein erster Anfall, mitten im Einsatz.«

»Das ist fies.« Er legte Jakob die Hand auf die Schulter. »Hunde haben das auch. Richtig fies.«

»Na ja, ich stehe ja immer wieder auf«, sagte Jakob, gerührt von der epileptischen Hundegesellschaft.

»Das spricht für Deinen Charakter.« Thies hatte sein Mitgefühl sortiert und setzte sich wieder in Bewegung. »Aber Krankheit können sie Dir doch nicht zur Last legen.«

»Sie können.« Und mangelnden Corpsgeist, ein schartiges Wesen, zu viel Bildung und eine Ladung ungebetener Geister, dachte Jakob. »Eine Anklage habe ich auch am Hals.«

»Scheiße.«

»Ich soll ein Handy vom Tatort haben mitgehen lassen.«

»Unterschlagung von Beweismitteln, heißt das so? Wollen sie Dich denn überhaupt noch bei der Kripo? Vielleicht fällst Du mal in einen Verdächtigen oder eine Waffe.«

»So richtig wollten die mich nie.«

»Willst Du nicht ein Praktikum bei mir machen? Klingt schon sehr nach Richtungswechsel. Du könntest Dich auf Bullenhunde spezialisieren.«

Bißchen viele Wendemanöver für unsortierte Hirne. Jakob sah sich umgeben von wuselnden Hunden. Fiele er hin, warteten sie, bis er wieder zu sich kam. Ganz ohne Feuerwehr. »Bei der Kripo gibt’s kaum Hunde«, sagte er. »Zu viele Überstunden, kaputte Beziehungen.« Außerdem würde dort niemand seine Tiere Kollegenschwein Hagedorn anvertrauen. Na ja, fast niemand.

»Dann nimmst Du die der Staatsanwälte, Richter, Rechtsmediziner.« Er deutete auf Jakobs zerknautschte Wanderschuhe. »Gehen kannst Du schon, den Rest bringe ich Dir bei.«

»Wenn meine Gerichtsverhandlung übel ausgeht, komme ich darauf zurück.« Jakob Hagedorn gehörte auf die Fährten von Leichen, nicht von Hunden. Mußte Mörder finden, Türen öffnen, Fenster schließen. Ordnung wiederherstellen. Der Rest war Beigabe. Gute Bücher, schöne Frauen, zwitschernde Natur, Berliner sein, Kumpel sein, alles nichts ohne die Toten. Selbst mit epileptischem Chaos im Hirn. Mal davon abgesehen, daß er sich vor Gericht wehren mußte, um nicht als vorbestrafter Exkriminaler in irgendeinem Rattenloch zu landen. Wo er den Rest seines Lebens die Rachsucht des Polizeicorps mit Schnaps runterspülen und meckernden Geistern geleerte Flaschen an die übersinnlichen Köpfe werfen würde. »Ich hänge schon sehr an meinem Beruf. Und beweisen, daß ich nicht nur auf die Nase fallen kann, muß ich auch.«

»Umso mehr tut es mir leid, daß ich Dir nicht helfen kann. Was hat sie hier gemacht ohne Hund?«

»Sie ist wahrscheinlich gejoggt.«

»Dann geh zu Hacke. Sie sieht knackig aus.«

Jakob sah ihn fragend an.

»Mehr Kommentar gibt’s nicht. Der Förster macht uns das Leben schwer und Waldarbeiter Hacke steht unter seinem persönlichen Schutz.«

»Aber das ist doch hier Auslaufgebiet.«

»Das wir gewerblich nutzen und also dafür bezahlen sollen.«

»Um durch den Wald zu laufen, spinnt der?«

»Morgen geht Hacke Amseln schießen. Der Mann ist ein Faktotum, aber Vorsicht, er geht nie ohne geladene Knarre aus. Laut Buschtrommel hat er mal ein paar Semester Forstwirtschaft studiert und ist dann abgerutscht. Unser Förster soll ihn aus der Gosse geschleift und zu seinem Holzfäller gemacht haben. Ich sage Dir, wo Du ihn findest. Und wenn die Frau gelaufen ist, wo man sie gefunden hat, dann müßte meine Kollegin Marie sie kennen. Die benutzt den Pfad hinterm Reitweg.«

»Weicht sie Dir aus?«

Thies grinste. »Sie spannt am Wochenende ihre eigenen Hunde vor einen Trainingswagen und brettert durchs Auslaufgebiet. Ein Ridgeback und ein Rottweiler aus dem Tierschutz, dahinter vier spanische Straßenhunde.«

»Da läuft man ungern quer.«

Thies lachte. »Man hört sie von weitem Kommandos brüllen.«

»Und wie erkenne ich sie werktags?«

»Nach Feierabend geht sie zum Essen. Ich gebe Dir die Adresse.«

Oskar plumpste in den Drehstuhl, rieb sich die Augen und gähnte. Wieder hatte er seine halbe Schicht mit den schweigenden mutmaßlichen Doppelmördern verbracht. Nicht mal fremdsprachige Verwünschungen gönnten sie ihm. Aber der Alte hatte nach den Hunden gefragt. Die Drogen, die Waffen, der Doppelmord, aber er fragte nach den Kötern. Ein Kollege mit tunesischem Vater war sich immerhin sicher, er hätte einen ägyptischen Akzent. Na ja, höhnisch gelacht hatte der Alte.

Die Fingerabdrücke waren nicht registriert. Jetzt versuchten die Kollegen, über die DNA Personalien zu klären, die Ergebnisse dauerten.

In Ermangelung von Namen hatten sie die Drei nach Alter durchnumeriert. Inoffiziell gaben sie ihnen Spitznamen. Als Einser thronte Ali-Baba, das offensichtliche Sippenoberhaupt. Der Shishafreund und Linoleumrotzer, die Nummer Zwei, hieß Ziege. Der Dreier mit Resten von Pubertätsduft in der Kleidung, dem Oskar gerade in der Hoffnung, das wackeligste Glied in der Kette hielte das Schweigegelübde nicht durch, stundenlang redend gegenüber gesessen hatte, hieß Fiffi, weil er eine goldene Halskette trug, dick wie die Halsbänder seiner Bullterrier. So was hatte die Grunewalder Frauenleiche auch getragen. Kein für Waldtiere bekömmliches Statussymbol, sie hatten es ihr unversehrt gelassen. Iris Gerber hatte den für Kriminaler unerschwinglichen Schmuck mit Dollar bezahlt, aber der Dreier? Viel zu dick wirkte sie an dem schmächtigen Kerl. Vielleicht war sie seine Belohnung? Doppelmord als Einstiegspreis in die testosterongesteuerte Gruppe. Oskar seufzte. Zu seiner flaumigen Zeit sprang man dafür rückwärts vom Fünf-Meter-Brett oder entriß einer Omi die Handtasche.

Es ging um eine außergewöhnlich unappetitliche Tat. Zwei Leichen auf einem Weddinger Hinterhofmüllhaufen. Ohne Goldkette und dicke Uhren. Hagere Männer, die sich sehr ähnlich sahen, in einfachen Pullovern, schlichten Jeans, mit schwieligen Händen. Jemand hatte sie mit Blutergüssen übersät, ihnen Finger gebrochen und Zähne ausgeschlagen, dem Älteren die Ohrringe ausgerissen, dem Jüngeren eine Schulter ausgekugelt. Viel Arbeit für den schmalen Fiffi, zu viel allein.

Gestorben waren die Zwei an gezielten Stichen in Leber und Milz. Ausgeblutet in den Müll. Zum Schluß hatte der Täter sie mit Schweinedärmen zugekippt. Liebesgabe von muslimischen Glaubensbrüdern? Sonst hätte es schlichter Müll auch getan.

Kaum vorstellbar, daß all das in dem engen Hinterhof unbeobachtet geblieben war. Sie putzten Klinken, aber keiner hatte etwas gesehen, nichts gehört, nicht da gewesen, noch nie da gewesen. Die Opfer kannte auch niemand, selbstverständlich.

Oskar stand ächzend auf und öffnete das Fenster. Den Geruch des modernden Gedärms hatte er erst einmal in der Nase. Sah schon sehr nach Bandenkriminalität aus. Keine Ahnung, wer es da auf wen abgesehen hatte. Irgendwie arabisch, wenn er sich an das Gezeter erinnerte. Er stützte sich auf die Fensterbank und füllte seine Lungen mit abgasgeschwängertem Sauerstoff.

Und das alles in seiner Stadt. Berlin wurde immer mehr zur Volksbühne für die ganze Welt. Und Oskar als Beleuchter. Manchmal warf er ein paar schlechte Schauspieler von den Brettern oder machte einfach bis zum nächsten Akt das Licht aus. Wer produziert sich schon im Dunkeln.

Aber kaum knipste er es wieder an, war die Bühne rappelvoll. Wie die Kakerlaken. Immer neue Gesichter, andere Sprachen. Geld, Haß, beleidigter Glaube, Sex und Gewalt, das blieb. Und niemand, mit dem man vernünftig reden konnte. Die Kollegen schoben mit gesenkten Köpfen durch die Schichten. Bloß nicht auffallen, Fehler machen, selbst nicht unter Gedärm landen. Ihm fehlte der Galgenhumor mit Jakob über den graubärtigen Regisseur in seiner fernen Wolke und dessen beschissenes Drehbuch.

Gut, daß er Jakob für den Grunewald rekrutiert hatte. Das Arabische war noch zu viel für den Rekonvaleszenten, aber die halbverdaute Iris Gerber aus östlichen Kleinbürgerverhältnissen schaffte er. Und Oskar konnte sich der Wand der Drei zuwenden.

Fiffi war schon die richtige Stelle. Sah sich immer nach seinen Kumpeln um, wich zurück, wenn Oskar an ihm vorbeiging. Er mußte nur dessen weichen Kern anpieken. Oskar schloß das Fenster. Bloß wo war der? Er hatte die Hunde versucht. Sicher waren Bullterrier keine Kuscheltiere, aber wußte er, woran das Herz so eines Bengels hing? Keine Reaktion, zumindest nicht sichtbar. Ohne Jakob stocherte er in der verschlossenen Seele, selbst beim kriminellen Nachwuchs. Keine Geister mit Schweinedarmaroma, die ihm den Weg wiesen. Vielleicht sollte er seinen suspendierten Freund über die Feuertreppe ins Verhörzimmer schleusen, Geister suchen.

Oskar sah auf die hängenden Blätter seiner von Jakob geschenkten Topfpflanzen. Wenn die eingingen, wäre sein Freund sauer. Er füllte einen Becher mit Wasser und goß den Untersetzer voll, als die Tür zu seinem Büro aufgerissen wurde.

»Weißt Du, wo die Kaffeemaschine ist?« Kollege Kühn winkte mit einem Pfund Vakuumkaffee in der Linken.

Oskar zuckte mit den Schultern, Kühns Blick streifte durch den Raum.

»Glaubst Du, ich habe sie versteckt?«

Kühn schwang sich auf Oskars Schreibtisch. »Vielleicht hat Dein Busenfreund sie mitgehen lassen.« Er grinste. »Der unterschlägt ja gern mal was.«

»Deine Witze waren auch schon mal besser.«

Kühn zog die Schubladen auf.

»Da paßt keine Kaffeemaschine rein«, sagte Oskar.

»Weißt Du schon, daß er nicht zurückkommt, Dein Hagedorn?«

»Du mußt es ja wissen, Großmaul.«

»Habe ich direkt von Focke.« Kühns Augen blitzten.

»Was soll das heißen?«

Kühn hielt den Kaffee vor die Brust und guckte treuherzig. »Nüscht. Find’s selber raus.« Er hüpfte von der Tischplatte. »Heute Abend sind wir übrigens zum Kegeln, willst Du nicht mal wieder mitkommen?«

»Nix kegeln, Kühn, erst die Schweinedärme. Hast Du endlich raus, wo sie fehlen?«

Kühn ging zur offenen Tür. »Sachte, sachte, erst mal die Kaffeemaschine, die Därme laufen ja nicht weg. Ham ja keene Füße.«

Oskar schlug krachend die Tür hinter ihm zu. Er haßte die Bande für das, was sie mit Jakob machten. Sie waren sich so verdammt sicher, daß sie ihn schon rausgekegelt hatten. Sein Freund war nur noch der Treppenwitz der Kompanie für Neuzugänge. Seine Geister, seine Anfälle, die Verhandlung. Und mit Oskar wollten sie die Kugel schieben wie früher. Luden ihn zu Grillfesten und Geburtstagen ein, teilten jeden Tratsch, als sei nichts gewesen. Aber er war nicht mehr einer aus ihrer Mitte, wenn er das denn je gewesen war.

Immerhin kam er von den Uniformierten, hatte viel Aufwand betrieben, zur Kripo zu gehören. Vielleicht ertrug er deshalb nicht, wie sich die Gruppe ihrer selbst versicherte, indem sie den Paradiesvogel vom Balkon schubste. Oskar Blum war zwar nur eine gerupfte Saatkrähe mit zu großem Schnabel, aber er konnte sehr laut schimpfen, wenn enges Kleinbürgertum versuchte, Berlins Balkone zu übernehmen.

V

Irgendjemand schoß. Jakob nahm Hektor an seine alberne Leine und durchbrach den Wald in Richtung der Schüsse.

Iris war als Leiche in seine nächtlichen Träume gezogen. Er sah sie wehrlos auf dem Waldboden liegen. Hörte Wildschweine grunzen, Ratten schmatzen, sah einen Marder über ihre Schulter springen und einen Fuchs den erbeuteten Unterarm aus der Gefechtsmitte schleifen.

Aus diesen Träumen erwachte Jakob schweißgebadet, tapste zum Wasserhahn und spülte sich den üblen Geschmack aus dem Mund. Wer immer das getan hatte, Iris das angetan hatte, dieser jungen Frau in Mini und auf Pumps, sie dort liegen gelassen hatte, ausgeliefert ihren Leichnam an die Bewohner des Grunewaldes, bekäme es ab sofort mit ihm zu tun.

Auch ohne daß Iris sich bisher zu seinen Geisterfrauen gesellt hatte, hatte ihre Geschichte ihn am Haken. Niemand durfte ungesühnt auf diese Weise ein Leben auslöschen, ein Menschenjunges bloßstellen, preisgeben an die Natur. Und wenn das sein letzter Fall wäre, fallsüchtig, suspendiert, weggestoßen vom Beamtenschoß, diesen Mörder würde Jakob Hagedorn noch finden, a. D. hin oder her.

Seit dem Gespräch mit Thies träumte er auch von wilden Jagden durchs Unterholz, Balgereien und Schnuppereien. Allerdings war er kein gutbezahlter zweibeiniger Rudelführer, sondern zupfte mit den Zähnen Bordercollies am Halsfell, legte auffordernd eine Vorderpfote auf Boxers Schultern, hechelte und hampelte, hob das Bein und stob mit der Nase durch altes Laub.

Jakob seufzte. Es ging schon wieder los, er nahm auch diesen Fall viel zu persönlich. Nicht nur war die entstellte Leiche ihm auf den Rücken geknüpft, sein unerzogenes Gehirn pfiff wie üblich auf die Ich-Welt-Grenze und ließ dieses Mal Berliner Hunde alle Schranken passieren.

Seine Sinne nahmen Fahrt auf. Uringeruch zog ihn wie an einer Schnur. Kaum zu glauben, wo überall Rüden hinpinkelten. Neulich wollte er ein Pöttchen für Gretes Fensterbank kaufen, hob die auf dem Bürgersteig ausgestellte Pflanze hoch, senkte die Nase in die Blütenpracht und roch einen alten Rüden mit Prostataproblem.

Bei einem mitternächtlichen Telefonat mit Hanna konnte er hören, wie sie sich ihr Frühstückstoast bestrich. Nein, nicht nur das Kratzen des Messers auf der Butter, er hörte auch den von der Messerspitze ins Glas zurücktropfenden Honig.

Als sie sich beschwerte, er habe nicht zugehört, erwähnte er seine neuen Canidenlauscher. Er verstand ja, daß sie ihm kein Wort glaubte und Verwünschungen ausstieß, daß ihr Herz sie an so einen Spinner kettete. Als er sich kleinlaut entschuldigte, erklärte sie ihn spöttisch zur neuen Jesusfigur und sich zu seinem Gott bekehrt.

Aber letzte Nacht hatte sie nicht angerufen. Er war ein epileptischer Exkriminaler und Neucanide. Ausgestoßen und unverstanden. Sogar von Hanna, die gerade ihre Berliner Sammlung an Schrullen in den USA ergänzte. Jakob haderte mit Bildern gutaussehender Amerikaner. Aber die waren ja alle übergewichtig.

Hanna, die Toten, ihre Geister, Iris’ Leichnam, die Hunde jetzt, jeder trampelte in seinem Hirn herum, ohne ihn zu fragen. In Berlin, der Stadt mit dem wurschtigsten Verhältnis zu Müll, Rotz und Pisse, die Sinne eines Hundes zu entwickeln, grenzte an Körperverletzung. Da wurde jeder Aufenthalt im Wald, trotz Wildschwein- und Mäusearoma, zur reinsten Erholung, selbst wenn geschossen wurde und er einen Mörder suchte.

Jakob und Hektor kamen zu einer kleinen Lichtung, an deren Rand ein Pickup stand, auf der Pritsche breitbeinig ein Mann in grüner Kleidung, der tatsächlich auf Amseln schoß.

»Was tun Sie da, zum Teufel?«, fragte Jakob.

Waldarbeiter Hacke drehte sich um, ohne die Waffe zu senken. Er zielte abwechselnd auf den großen Mann und seinen kleinen Hund. Sein Hosenlatz stand offen. So jemand könnte eine Leiche nachts im Wald zurücklassen, damit Tiere sie zerfleischen. »Geht Sie das was an?«, blaffte er.

»Sie haben kein Recht, Amseln zu töten.«

Hacke sprang vom Pickup. »Ich bin vom Forstamt, ich darf hier alles.« Dicht vor Jakob blieb er stehen und sah verächtlich auf Hektor hinab. »Und wer sind Sie?«

Vorsicht Jakob, wenn Du zurück willst zur Kripo. »Zu Besuch. Ich führe den Hund einer Freundin aus.« Das Gesicht des Mannes wurde dunkler. Zu viel Alkohol, Sonne, Druck im Blut. Oder alles zusammen. Frischluft schien nicht jedem gut zu tun.

»Dann mischen Sie sich nicht in Berliner Angelegenheiten und gehen Sie zurück auf die ausgewiesenen Wanderwege.«

»Würden sich mehr Leute einmischen, geschähe nicht so viel Schlimmes.« Jakob versuchte einen kullerigen Blick.

»Wovon reden Sie?«

»Na, die Leiche. Wenn nicht alle so abgestumpft wären, hätte man den Mord vielleicht verhindern können«, sagte Jakob so treuherzig auswärts, wie er konnte.

»Jetzt ist sie also schon ermordet worden, sieh an. Da wissen Sie mehr als ich. Und immerhin ist das mein Wald.«

Typisches Mißverständnis des Berliner Öffentlichen Dienstes. »Und warum schießen Sie auf Amseln?«

»Ratten, sonst nix.« Hacke warf sein Gewehr durch das offene Beifahrerfenster in den Pickup.

»Wenn Sie es sagen.«

»Woll’n Se Ärger? Dabei sind schon ganz andere auf die Fresse geflogen.« Er schnaubte den Inhalt eines Nasenlochs auf den Waldboden. Hektor sah dem Rotz hinterher, als sinniere er über eine Hundeschule für Forstangestellte. »Bewirtschaften Sie mal einen Wald, der von tausenden Hunden vollgekackt wird.«

»Sieht doch alles ganz hübsch und gesund aus.«

»Das glaubt auch nur ein Trottel. Die Viecher buddeln mir die Wege auf, graben die Bäume an, zerkauen die Schößlinge. Neulich hat mir ein militanter Tierfreund in den Hochsitz geschissen.«

»Freiheit für die Wildschweine.«

»Aber wenn ein Keiler mal wieder einen großkotzigen Köter aufschlitzt, ist das Geschrei groß.«

»Hartes Los.«

»Wollen Sie sich über mich lustig machen, Sie Provinzler?«

Charmebolzen, dachte Jakob. »Aber nein. Ist schon weltweit ein einzigartiger Job.«

»Wem sagen Sie das.«

»Und die Berliner wollen einfach ins Grüne.«

»Ihren Müll abladen, die Gewässer vollpissen, das Ufer mit Sonnencreme versauen und im Wald ihre Kippen fallen lassen.«

»Aber doch nicht die Hundeausführer.«

»Die nutzen den Wald, um Gewinne zu erzielen.«

»Na, das werden tolle Gewinne sein.«

»Haben Sie gesehen, wie groß deren Meuten sind? Latschen ein bißchen rum und kassieren dafür Unsummen. Daran können sie ihr Forstamt ruhig beteiligen, das die Wege hegt.«

»Und die Jogger?«

Hacke lachte. »Deren Gewinn sind kaputte Knie.«

»Ich meine, machen die auch Ärger?«

»Die Wege sind ihnen nicht plan genug, der Waldboden müßte federn wie in Brandenburg, wir Forstarbeiter stören mit der unangenehmen Geräuschkulisse, meine Karre stinkt. Noch mehr?«

»Und die Leiche, hat die auch gemeckert?«

»Keine Ahnung, sie war ja längst weg.«

»Sie hatte ohnehin kein Gesicht mehr.«

Er lachte wieder. »Seh’n Se, gibt zu viele Ratten.«

Jakob zog sein Photo aus der Tasche. »So sah sie aus.«

Hacke sah ihn prüfend an. »Woher haben Sie das?«

»Hat die Kripo verteilt«, log Jakob lässig.

Hacke gab ihm das Bild zurück, der Latz stand immer noch offen. »Kenn’ ich nicht. Im Wald sehe ich nur Bäume.«

»Was für eine unglaubliche Schweinerei. Ihr solltet Euch schämen.« Bernd Cumloosen, Leiter der Rechtsmedizin der Berliner Charité, sah richtig beleidigt aus. »Schließlich bin ich kein Gärtner.« Mit spitzen Fingern zog er Reste eines braunen Blattes aus dem Bauch der Leiche. Der Nabel war mit Brillanten gepierct.

»Buche«, sagte Oskar.

Strafend sah Cumloosen ihn an. »Das ist ein Eichenblatt aus dem letzten Jahr, Herr Hauptkommissar.«

Oskar seufzte. »Sagen Sie das Hagedorn, der kennt sicher sogar seinen Stammbaum.«

»Und bringt es zurück nach Hause, ich weiß. Hat die sensible Seele sich denn endlich der Suspendierung entledigt?«

Oskar schüttelte den Kopf und sah auf das wohlsortierte Puzzle in Cumloosens Stahlwanne. Alles an passender Stelle, Arme neben dem Rumpf, rotlackierte Handreste darunter. Umso deutlicher schmerzte, was fehlte. Armes Ding, so jung und ein solches Ende, zernagt und verdaut. Was nützten teures Geschmeide und scharfer Mini unter Cumloosens Händen.

Iris Gerber war ein hübsches Mädchen gewesen, hätte man die Teile wieder annähen können. Schmal, guter Trainingszustand, gesunde Haut, sorgfältig rasiert, zumindest an den wenigen unversehrten Hautstellen. Appetitlich irgendwie, die Waldviecher waren zu verstehen. Gepflegte weiche Hände, keine Schwielen, keine Zeichen körperlicher Arbeit. Die Weddinger Hinterhofopfer waren nie so jung gewesen, dafür lagen sie aber auch nahezu vollständig in der Rechtsmedizin.

Oskar sah ihr prüfend ins Gesicht. Erinnerte sich an das Jugendweihephoto. Kniestrümpfe im Arbeiter-und-Bauern-Staat, ein weißer Dollar-Roadster und mit halber Nase in den Sarg.

»Woran ist sie denn gestorben?«

Cumloosen hob die Hände. »Woher soll ich das wissen? Ganze Körperteile fehlen. Allein, um Ihnen zu sagen, wer da alles zum Buffet geladen war, brauche ich Wochen.«

Jakob hätte jetzt Cumloosens Hinterkopf getätschelt, über die Choräle der Toten mit ihm geplauscht und der Rechtsmediziner hätte das Essen eingestellt, nur um Hauptkommissar Hagedorn schnelle Ergebnisse liefern zu können. Zwei schräge Vögel krähen miteinander auf krummer Stange. Wie im letzten Jahr, als Cumloosen eine Mordserie entdeckte. Ohne ihn wären Jakob und Tanja nie auf die bekloppte Schlachterin gekommen. Oskar hatte sich derweil mit bulgarischen Mafiosi herumgeschlagen. Oder waren es Rumänen?

Ein ausgewachsener Spinner war Cumloosen trotz der guten Arbeit. Ein Wachmann tratschte, er hätte ihn bei seiner bevorzugten nächtlichen Arbeitszeit Entschuldigungen murmeln hören. Schlaf weiter, guter Schrank, muß mal stören, liebe Leichen, so was. War vermutlich auch so eine Geisternummer. Wenn Oskar es recht bedachte, war er bald der letzte Normale in diesem Irrenhaus. Irgendeiner mußte ja den Schlüssel beaufsichtigen.

Aber eigentlich war ihm scheißegal, was für Lieder die alle sangen, mit welchen Astralleibchen sie redeten und wie sie ihre Nächte rund bekamen. Sei es mit Maden, Geistern oder Gott bewahre, Hunden. Jeder, wie er mag, und für Oskar den Rest. Hauptsache, gute Arbeit und ihm nicht im Weg.

Um sich nicht als geistlose Vertretung Jakobs zu blamieren, grub Oskar in tiefen Regionen seines Neuköllner Currywursthirns nach abgelegtem Wissen. Die Leiche war angeknabbert, Cumloosen brauchte, um festzustellen, wer da am Werk war, einen Zahnarzt.

»Hinterlassen die Viecher nicht ihre Zahnreihen?«

»Die sich überlagern, in der Tat. Außerdem reißen einige Tiere, andere nagen, beißen, zerren.«

Oskar hob abwehrend die Arme.

»Wir machen DNA-Proben, dann geht es schneller. Speichelreste, Haare, Fraßspuren, das alles bringen wir in die richtige Reihenfolge und haben den bösen Buben, der zuunterst angefangen hat.«

»Das heißt, auch Wildtiere könnten sie getötet haben?«

»Kaum. Es sei denn, sie verfügen über eine Tiefkühltruhe und ein Transportmittel.«

»Bitte?«

»Die inneren Organe unseres Opfers waren noch nicht ganz aufgetaut, als ich sie auf den Tisch bekam. Deshalb scheint mir eine natürliche Todesursache sehr unwahrscheinlich. Ich neige sogar dazu, unter diesen Umständen einen Suizid auszuschließen.«

Aus einem Grund, den er lieber nicht hinterfragen wollte, sah Oskar seine Mutter ihm als Kind Fischstäbchen auftischen. Aus der Pfanne mit dem braunen Plastikheber direkt auf Klein-Oskars Teller. Nur zu Festtagen natürlich, viel zu teuer.

»Jemand hat sie vermutlich getötet, eingefroren und zu gegebener Zeit an den Auffindort gebracht.«

Nicht mal gesundes Waldpanorama beim Sterben. Ein Kellerloch, Hinterhof, Hotelzimmer, ein Auto? Es gab unendlich viele Orte in Berlin, einen Menschen ins Jenseits zu befördern, grüne Idylle war nicht gerade die Regel. »Also waren es keine Hunde oder Leute aus dem Wald?«

»Warum nicht? Ich habe nur gesagt, sie war gefroren. Woran sie starb und wo, weiß ich noch nicht. Mit dem genauen Todeszeitpunkt wird es übrigens auch schwer.«

»Nun mal langsam, Doktor, für Deppen. Es kann also sein, ein Hund hat sie zerfleischt, sagen wir, vor einer Woche, Herrchen schleppt sie in eine tiefgekühlte Truhe, bringt sie zurück in den Wald und beim Auftauen schlägt sich der Rest des Waldes den Bauch voll?«

»Klingt aufwendig, aber warum nicht. Vielleicht ist der Kerl Zoologe und wollte erst sein Zubehör zusammenbringen, um das kalte Buffet zu dokumentieren.«

»Sie sind echt eine große Hilfe, Doktor.«

»Danke, ich gebe mir auch wirklich Mühe, Herr Kommissar.«

Es war ungewöhnlich, daß einfach jemand klingelte. Zwar wies ein Schild am Hauseingang Dao als Privatdetektivin aus, aber normalerweise bestellte sie ihre Kundschaft ein. Sie sah sich um, ob alles an seinem Platz sei, freute sich an der Sorgfalt ihrer Putzfrau, drückte den Summer und sah zum Fahrstuhl.

Eine, wenn auch winzige, Detektei zehn Stockwerke über dem Potsdamer Platz mit Blick auf die von der Sonne vergoldete Philharmonie war Dao nicht in die Wiege gelegt. Als erstes Kind überglücklicher Eltern wurde sie in Saigon geboren. Die chinesischstämmige Familie gehörte zur Elite des Landes und richtete ihr Leben nach den bewunderten französischen Kolonisatoren aus. Über Daos Wiege hing eine mit bordeauxrotem Samt bezogene Kugel, die, zog man sie auf, französische Kinderlieder abspielte. Morgens gab es Croissants zur Nudelsuppe Pho, das Kindermädchen sprach Französisch mit dem Säugling, der Vater träumte von einer Anwaltskanzlei in Paris.

Daos Eltern hielten es für ausgeschlossen, Kommunisten aus dem Norden könnten dieses Idyll zerstören. Sie arbeiteten für die Amerikaner, sahen über ihre schlechten Manieren hinweg, und waren völlig überrascht, als diese mit gewaltigen Hubschraubern flüchteten.

Den vietnamesischen Angestellten blieb nur der Weg übers offene Meer. In einer löchrigen, unter der Last von zwölf Familien stöhnenden Nußschale ruderten sie in die Finsternis. Der Wellengang wurde stärker, Daos Mutter ging als eine der ersten von Bord. Ihr Mann drückte der nächstbesten Frau sein Kind in den Arm und stürzte sich hinterher. Beide gingen lautlos unter.

Die fremde Frau sah das teure Mäntelchen, den fremdartigen Spitzenbesatz um die Kapuze, in ihrer Mitte die langen Wimpern über geschlossenen Augen und drückte das Kind an sich.

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22 декабря 2023
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9783945611050
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