Читать книгу: «Lied vom stillen Sommernachtstraum», страница 5

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In Bourgenay, mit Jachthafen, kann ich endlich wieder am Meer weiter, in zwei Kilometer Entfernung sehe ich den Fluss, der mir pro Meter vier Kilometer, pro Sekunde eine Stunde abgeknöpft hat. Sein Name: Le Payré. Verurteilt ihn! Diesen Schuft! Wütend wegen der verlorenen Zeit ziehe ich voll durch, neben dem Radweg verläuft nun eine Département-Straße. Nach zwei Stunden komme ich in Les Sables-d’Olonne an … im Vergleich zu den anderen Orten seit La Rochelle eine gefühlte Großstadt, eine Großstadt mit 14.000 Einwohnern. Auf einer Bank neben dem kilometerlangen Stadtstrand gönne ich mir endlich mal wieder ein Bierchen. Es gibt nichts Besseres nach einem anstrengenden Tag! Danach geht es zum Hafen (Sport und Industrie), was einige Zeit dauert, um diesen zu umlaufen. Die Abenddämmerung setzt ein und ich laufe und laufe, nehme mir keine Zeit für die Stadt, noch immer auf Schadensbegrenzung aus. Außerdem will ich außerhalb des Ortes übernachten, ja nicht wieder eine halbe Nacht lang den Geruch von Pisse inhalieren! 22 Uhr bin ich bereits am Ortsrand, die Laternen bringen genügend Licht, laufe weitere vier Kilometer zum Strand La Paracou … es tut gut, endlich mal wieder nach Anbruch der Nacht zu laufen. Ich bin voller Adrenalin, meine Beine sind in einer herausragenden Form. Die Belohnung ist eine neue Bestmarke (53 Kilometer) und ein toller Schlafplatz. Windgeschützt liege ich in einer Senke auf der Düne, umgeben von Gebüsch und mit Stroh unter der Matte. Perfekter Blick auf den Atlantik und sogar das Licht des Leuchtturms auf der 30 Kilometer entfernten Île d’Yeu ist zu sehen, dazu Halbmond und viele Sterne am Himmel. Sollte es doch regnen, könnte ich in den kleinen, offenen Sanitärtrakt nur zehn Meter hinter mir. Dank des Grünzeugs um mich herum kann man mich nicht einmal sehen, aber hier scheint jetzt sowieso niemand mehr vorbeizukommen. Ich habe mir mal die Mühe gemacht, meine Kalorienzunahme zu überprüfen … am Tagesende: 6.000 kcal. Da verwundert es nicht, dass mein Bauch einfach nicht flacher wird, im Gegenteil. Gut schlafen kann man aber auch mit einem runden Bäuchlein.

Der Schlafplatz ist so bequem, dass ich erst halb acht aus den „Federn“ komme. Ich gehe aufs Klo und komme mir richtig vornehm vor, ich wasch mir sogar die Hände. Die 18. Wanderwoche kann beginnen, mit meiner bisherigen Laufleistung kann ich zufrieden sein. Ich hätte es selbst nicht für möglich gehalten, dass ich mal an 120 Tagen hintereinander im Schnitt 36 Kilometer laufen werde – was man nicht alles imstande ist zu leisten! Faszinierend. Es geht in den küstennahen Wald, der Radweg führt mitten durch, ehe ich zur Mittagszeit Bretignolles-sur-Mer erreiche, und nach einem kurzen Snack bin ich auch schon auf dem Weg nach Saint-Gilles-Croix-de-Vie. Die letzten Kilometer geht es dabei neben dem Fluss Jaunay entlang; dieser verläuft für fünf Kilometer parallel zur nahen Küstenlinie, bis er im Stadtzentrum in die Vie fließt, ehe das Wasser beider Flüsse wenig später den Atlantik erreicht. Das Stadtpanorama macht nicht zuletzt deswegen ordentlich etwas her. Für eine Stunde spaziere ich durch die Straßen, bin als Einziger in der Kirche Saint-Gilles, trage mich als „Lars Nimmersatt“ ins Gästebuch ein, ehe ich es mir auf dem Sockel des Leuchtturms bequem mache und ein wenig verschnaufe. Ich esse Kekse, obwohl ich keinen Hunger habe; ich tue es damit mir nicht langweilig wird. Das ist furchtbar – wann habe ich aufgehört mir selbst zu genügen? Reicht es nicht, an einem schönen Ort zu sein? Muss man denn immer etwas machen? Essen, trinken, rauchen … werde ich mir selbst gegenüber unausstehlich, wenn ich nichts davon bei mir habe? Ertrage ich mich selbst nicht? Von was versuche ich mich abzulenken? Wieso kann ich nicht mehr den Moment genießen? Nun, ich will nicht zu hart mit mir ins Gericht gehen, aber hin und wieder gibt es Auffälligkeiten, die ich an mir entdecke und die mir einfach nicht gefallen.

Auf Sand geht es weiter, bis ich die letzten Häuser passiert habe und nur zweihundert Meter weiter an einem Bunker Halt mache. Kein Eingang, dafür aber ein guter Windschutz. Eine noch frische Rose liegt auf dem Boden, ich hebe sie auf und stecke sie in den Sand neben meinem Nachtquartier und muss daran denken, dass ich ihr kein einziges Mal Blumen geschenkt habe. Eine Frau, die nie Blumen geschenkt bekommt, sucht sich irgendwann ihren Rosenkavalier. Ich habe Verständnis. Es ist meine letzte Nacht am Atlantik. Ich vermisse das Meer jetzt schon. Wahrscheinlich werde ich es mehr vermissen als sie, vielleicht ist ja das Meer die Liebe meines Lebens. Solang wie man sich nicht mitten drauf, sondern nur an ihrer Seite aufhält, kommt man gut mit ihr, der See, aus. Vielleicht hätte ich es in meinen vorangegangenen Beziehungen genauso halten sollen. Denn alles Aufsteigen läuft nicht ohne ein Bezwingenwollen ab. Das verbirgt immer seine Gefahren: auf dem Meer, bei Frauen, auf dem Weg zum Berggipfel. Mitunter kann es tödlich enden, zuerst muss dabei immer der Verstand dran glauben, nun ja … Ich mache es mir bequem, schau an der roten Rose vorbei zum Atlantik und versuche die vorerst letzte Nacht am Meer zu genießen, es sind auch die letzten Stunden im Mai. Ich schlafe schnell ein, verpasse den Sonnenuntergang, werde viertel elf noch einmal wach und blicke in ein weitgefächertes Abendrot.

In Saint-Jean-de-Monts laufe ich ein paar Kilometer auf der langen Strandpromenade, ehe es heißt: Abschied nehmen, Abschied vom Atlantik, von der Côte de Lumière, vom Meer. Dafür habe ich mir meine letzte Zigarette aufgehoben, die ich nun rauche und für ein paar Minuten innehalte, mit starrem Blick auf die schönste Farbillusion der Welt, das „Blau“ des Meeres. Die Augen bleiben trocken, so dass ich, ohne kurz abwarten zu müssen, ins Kongressgebäude auf der anderen Straßenseite gehen kann, hinein ins Fremdenbüro, wo mich gleich vier Frauen ungläubig anschauen, als ich sie nach einem Spazierweg nach Nantes frage. Sie sind mit meiner Frage überfordert, geben aber ihr Bestes, überlegen hin und her und finden doch keine Lösung. Es sei nicht ungefährlich, weil es nur eine Straße Richtung Osten, ins Landesinnere gibt, die dementsprechend auch befahren wird. Sie empfehlen mir den Bus, kostet 15 Euro. Ich muss lachen, bekomme noch eine Straßenkarte und bedanke mich. „Be care“, sagt die eine, die noch am ehesten Englisch spricht, mit einem besorgten, mütterlichen Blick (steht jeder Frau gut!). Ich versuche es mit meinem sanftesten Lächeln, versuche Eindruck zu schinden und verschwinde. Auf den nächsten Kilometern bilde ich mir ein, dass die vier Frauen über mich reden, mich ganz großartig finden, nun ja, nach einer Stunde hört es auf in meinem Kopf zu spuken. Stattdessen ärgere ich mich mal wieder über mich selbst, denn ich habe die Chance verpasst, nach zehn Tagen endlich mal wieder ein Bad zu nehmen. Ich Weichei bekam einfach kein Bein in das kalte Wasser des Atlantiks, von der einen Katzenwäsche gemeinsam mit Philipp mal abgesehen.

Am Anfang habe ich noch Glück, ein Teil des geplanten Fahrradweges nach Challans ist bereits gebaut, so bleiben mir die Autos vorerst noch erspart. Ich denke an nichts, bin frustriert über die 60 bis 70 Kilometer zwischen Meer und Nantes, 60 bis 70 Kilometer auf Asphalt, in einer flachen, wenig erbaulichen Umgebung. Kurz vor Challans endet der Radweg, ich umlaufe die Stadt auf einer zweispurigen Schnellstraße mitten durchs Gewerbegebiet, bei 29 Grad im Schatten, also 40 Grad auf Asphalt. Manchmal ist mir zum Heulen, weil ich hier so einen Stuss veranstalte, auf irgendwelchen Straßen die Zeit verrinnen lasse, anstatt, mit einer kalten Limo in der Hand (muss ja nicht immer Bier sein), Zeit mit meiner Kleinen zu verbringen. Sie hat ihren Alltag, jeden Tag, und ich laufe völlig desillusioniert, vorhin noch an vier Frauen denkend, auf französischen Landstraßen herum. Es ist armselig, ich versuche es zu ignorieren, aber das ist es. Egal wie meine Reise endet und selbst wenn mich danach die ganze Welt feiert …

Von der Schnellstraße geht es weiter auf einer einspurigen Landstraße, schmale Seitenstreifen sind auch hier nicht vorhanden. Den Ort La Garnache passiert und schließlich entscheide ich mich doch zum ersten Mal, gezielt auf eine Mitfahrgelegenheit aus zu sein. Ich nehme den Stadtplan von Saint-Gilles-Croix-de-Vie, Größe A3, die Rückseite ist weiß, und schreibe mit dicken Buchstaben ganz groß NANTES drauf, male darunter einen grinsenden Smiley und klebe es an meinen Schlafsack, der oben auf meinem Rucksack befestigt ist. Ich bin stolz auf meine Kreativität, wohlwissend, dass es nur eine Spielerei ist und sicherlich niemand auf der wenig befahrenen Straße anhalten wird. Ich laufe 200 Meter, das zweite Auto in meine Richtung hält an. Ich bin überrascht und grinsend gehe ich zur Fahrertür, wo mich ein junger Kerl mit einem Lächeln begrüßt. Er steigt aus, denn sein kleines Auto ist voller Holz, Bretter sowie Balken, was alles von hinten nach vorn gestapelt ist. Ich habe keine Ahnung, wie ich mit meinem Rucksack in das Auto passen soll, aber irgendwie bekommen wir es hin. Rucksack hinten rein, ich klemme mich auf den Beifahrersitz. Wie meistens vergesse ich mich vorzustellen. Wir reden auf Französisch, er meint, er kann mich bis zum nächsten Ort, ins Dorf Touvois, mitnehmen. Mir bleiben dadurch elf Kilometer Asphaltritt erspart. Die beste Nachricht ist aber, dass wir nun in ein anderes Département kommen, nach Loire-Atlantique, wo ich mit dem Bus für nur zwei Euro nach Nantes fahren kann, dem Département-Tarif sei Dank. Ich kann es gar nicht glauben, wenige Kilometer weiter südlich, in Challans, wären es noch zwölf Euro gewesen. Immer wieder frage ich ihn, ob er sich sicher ist. Ja, er ist selbst schon mit dem Bus nach Nantes gefahren. Er fährt mich direkt zur einzigen Haltestelle des Dorfes, steigt mit mir aus. Wir schauen auf den Plan, wo schon mal „Nantes“ als Endstelle zu finden ist. Ein Mann steht dort, die beiden unterhalten sich ... ja, es koste um die zwei Euro. Ich bin glücklich, dass mir so ein ganzer Tag Asphaltritt erspart bleibt, zumal meine Knie neue Probleme bereiten. Freudestrahlend danke ich meinem Chauffeur.

Als er weg ist, schaue ich noch mal auf den Plan, dreimal täglich fährt der Bus nach Nantes, alle drei innerhalb einer guten Stunde zwischen 6 und kurz nach 7 Uhr morgens. Also ja nicht verschlafen, denn morgen zum Samstag fahren die Busse, am Sonntag nicht. Damit steht fest, dass ich heute schon 18 Uhr „Feierabend“ machen kann. Bei einem kurzen Spaziergang durch das Dorf bemerke ich, dass bereits alles geschlossen hat, das „alles“ bezieht sich auf das Rathaus und die Kirche. Ansonsten gibt es hier nichts, keine Touristen-Information, keine Bibliothek, keinen Supermarkt. Dafür aber einen kleinen Park, mit einigen Tischen und Bänken. Ich setze mich, blicke auf einen Teich, das Königreich einer einzelnen weißen Gans. Schräg gegenüber steht die Kirche, deren Glocke abends Punkt sieben 210-mal schlägt, damit hat sie den ganzen Juni schon abgearbeitet. Ein ganz normales Dorf, hier gibt es nichts Besonderes und doch gefällt es mir. Alles liegt so nah zusammen, in fünf Minuten hat man das Dorf durchlaufen. Es ist ruhig, nur noch ein paar junge Menschen laufen herum, der Straßenlärm ist minimal, die Atmosphäre ist einfach hundertfach besser als in einer Stadt. Ich gönne mir Schoki-Kekse, um wieder die 5.000 Kalorien zu erreichen, kompensiere wo es nichts zu kompensieren gibt; schreibe Tagebuch, lass es mir gut gehen, auch wenn ich noch gern eine rauchen würde. Die Sonne verabschiedet sich langsam und ich mache es mir auf gemähter Wiese hinter einer Hecke bequem, so dass ich vom Weg aus nicht zu sehen bin. Keine Wolken am Himmel, für den Notfall hätte ich 50 Meter weiter eine leerstehende Garage. Da ich noch nicht so früh schlafen möchte, ist das der Moment, wo ich endlich den Hamsun beginne. Vier Monate mit mir herumgeschleppt und nun werfe ich erstmals einen Blick hinein. Bisher habe ich aber auch gut meine Tage gefüllt, so dass mir nie langweilig war. Ich beginne die Wanderer-Trilogie (in einem Band), inhaliere dabei jede Seite, lese langsam, um möglichst noch in Norwegen meine Freude daran zu haben. Das Lesen tut gut, ich habe es vermisst, wenn auch kaum bewusst. Der Mond hört mir beim Vorlesen zu und wird bezeugen können, dass Hamsun einer der fünf bis zehn größten Schriftsteller aller Zeiten ist. In seiner Geschichte zieht er sich, nach einem Boheme-Leben in europäischen Kaffeehäusern, als ein in die Jahre gekommener Mann aufs Land zurück, arbeitet mit einem Kameraden an diversen handwerklichen Dingen, wo sie „zurzeit“ einen Brunnen für ein Dorf an der norwegischen Küste graben. Beneidenswert wenn ein Mann Bauarbeiten verrichten kann, ohne es jahrelang gelernt zu haben; solche Männer sind immer wieder dazu da, mir das Spiegelbild des Taugenichtses vor Augen zu führen. Die Sterne zeigen sich, es wird zu dunkel zum Lesen, wie andere die Bibel vorm Schlafen auf den Nachttisch ablegen, lege ich den Hamsun an meine Seite und fühle mich für den Moment unbezwingbar.

Es kommt kein Bus – der 6.12 Uhr Bus nicht, der 6.47 wird auch nicht kommen und 7.17 genauso wenig. Frust. Aber ich hatte ja schon so ein krummes Gefühl. Die Tafel mit den Abfahrtzeiten kenne ich nun in- und auswendig. Immer wieder blicke ich darauf, erkenne jedoch nicht den Fehler … Eine Minute später ist der Bus da, ich bin erleichtert. Erleichtert auch, dass der Bus tatsächlich nur zwei Euro kostet, das Schnäppchen schlechthin, immerhin sind es 41 Kilometer bis nach Nantes. Die Vorfreude auf die namhafte Stadt an der Loire ist riesig.

Kurz nach 8 Uhr zum Samstagmorgen steige ich als Letzter im Herzen der Stadt (Coeur de Ville) aus. Um nicht gleich blind drauflos zu rennen, setze ich mich an eine Springbrunnenanlage in einem kleinen Park gegenüber dem Schloss von Nantes, das Château des ducs de Bretagne. Die Kathedrale lockt mich an, ich stehe auf, laufe am Schloss und seinem Burggraben vorbei, bis ich mitten vor der Hauptfassade des großen Kirchengebäudes stehe. Die Kathedrale Saint-Pierre beeindruckt mich; ich kenne keine schöneren Bauwerke als gotische Kathedralen, für mich sind sie die größten Meisterwerke der Architektur. Die Vorfreude auf Notre-Dame und Paris steigt von Tag zu Tag. So irreal es noch in Barcelona schien, nun fehlt nicht mehr viel – ich muss es schaffen, wenigstens bis nach Paris! Ich würde mich gern in einen Freisitz setzen, eine rauchen, am besten mit Blick auf die Kathedrale. Wehmütig denke ich an die Zeiten in Spanien zurück, vor allem an Sevilla. Ich laufe weiter durch das Stadtzentrum, finde auch Gefallen an den gotischen Kirchen Sainte-Croix und Saint-Nicolas, denen ich beide einen Besuch abstatte. Damit sollte mein Gebetshaushalt für die nächsten Wochen ausreichend aufgetankt sein. Von Kirchengebäuden versteht Nantes also schon mal etwas. Mit 300.000 Einwohnern ist Nantes die sechstgrößte Stadt Frankreichs. Vor zwei Jahren wurde ihr als eine der ersten Städte der Titel Umwelthauptstadt Europas verliehen. Das klingt auch nicht gerade unsympathisch. Nur das Meer ist etwas zu weit entfernt; die Loire-Mündung in den Atlantik liegt 55 Kilometer westlich. Ich finde die Mediathek, wo ich mich eine Stunde an den langsamen Rechner setze. Ich surfe gratis im Internet und so kann ich endlich Philipp die 30 Euro überweisen, mit im Verwendungszweck vermerkten Grüßen aus Nantes … eine Last weniger. In der Geburtsstadt von Jules Verne kann ich nirgendwo das Fremdenbüro finden, also gebe ich es schließlich auf und statte der Loire einen Besuch ab, esse an ihrem Ufer zu Mittag (Baguette und Salat), nachdem ich gerade einkaufen war. Es bleiben 5,64 Euro. Ich weiß, dass ich eigentlich noch sparsamer leben könnte, aber mit irgendwas muss ich mich ja motivieren, darum dürfen beim Einkauf Schokolade und Kekse nicht fehlen.

Die Loire sieht trübe aus, passt sich dem Himmel an; in einer Stadt verliert doch selbst der schönste Fluss seine ganze, bezaubernde Idylle. Ich bin mir sicher, dass ich von ihr in den nächsten Tagen noch ein anderes Bild zu Gesicht bekomme. In meiner Hose habe ich ein Loch im Schritt, so kommt etwas Luft an den landstreichenden Lümmel. Zumal meine Boxer drunter nur noch aus Loch zu bestehen scheint, immerhin ein unzerstörbares Material! Ich laufe über die Willy-Brandt-Brücke vom rechten Ufer der Loire rüber zur Insel Île de Nantes, gehe dort spazieren, was nichts Spektakuläres mit sich bringt. Ich habe keine Ahnung, ob mein Vorhaben, direkt an der Loire ins Landesinnere zu laufen, realisierbar ist. Ich will mich überraschen lassen und gehe über die Georges-Clemenceau-Brücke auf die linke Uferseite der Loire. Ob sich Clemenceau und Brandt als Staatsmänner verstanden hätten? Schwer zu sagen. Ich bin schon mal froh, dass hinter der Brücke ein Spazierweg am Loire-Ufer nach Osten führt, so kann ich recht einfach aus der Stadt hinauskommen. Ich laufe und laufe, bemerke dabei gar nicht, dass sich die Loire immer weiter von mir entfernt. Als ich schließlich durch einen Wald komme und am Ende des Waldes mitten auf eine zweispurige Schnellstraße stoße, von der Loire weit und breit nichts zu sehen, wird mir klar, dass ich mich verirrt habe. In dem Moment fängt es zu regnen an. Mit den Wanderungen an Flüssen will ich kein Glück haben, nach dem großen Missverständnis am Guadalquivir bin ich nun augenscheinlich blind in den Irrtum Loire gelaufen. Wie schnell die Stimmung beim Wandern doch kippen kann … Ich laufe die zwei Kilometer wieder zurück, bis ich in Saint-Sébastien-sur-Loire, einem Vorort von Nantes, an einer Infotafel mit Karte vorbeikomme, und die mir sagt, dass ich doch richtig war, ich also zurück zur Schnellstraße muss. Ich setze mich demotiviert in ein Bushaltestellenhäuschen, für den Moment unfähig weiterzulaufen. Es regnet, es ist verdammt schwül, ich brauche etwas zu rauchen, überlege kurz, ob ich mir sechs Cent erbettle, damit ich mir von meinem letzten Geld eine Schachtel Kippen (die Billigsten für 5,70 Euro) kaufen kann. Ich lass es dann aber sein, weil Essen wichtiger als Tabak ist, so spießig das auch klingt, aber anscheinend ist mir ein bisschen Restvernunft noch geblieben. Jedoch auch mit den paar Euro in der Tasche mache ich mir keine Illusion und gehe davon aus, dass ich nur noch ein paar Tage habe, es vielleicht noch bis Angers schaffen kann, ehe die Lichter ausgehen. Der Hamsun im Rucksack und das Springseil im obersten Fach bringen etwas Trost, trotzdem überlege ich die zehn Kilometer zurück ins Zentrum von Nantes zu laufen, da ich in diesem Moment unglaublich stark das Verlangen nach Gesellschaft verspüre. Ich möchte gerade nicht allein sein, möglichst viele junge Menschen in meiner Nähe wissen: In den vergangenen Tagen schlich ich langsam und unbemerkt immer weiter in ein Tief hinein, das nicht so recht ein Ende finden mag. Es ist mal wieder dieses Gefühl des Sattseins in mir. Letztendlich entscheide ich mich doch dafür, weiter nach Osten zu wandern, also zum dritten Mal dieselben zwei Kilometer zu laufen, es muss ja sein, ob heute oder morgen … und dann doch lieber heute, weil es mich wenigstens ein paar Kilometer näher an mein Ziel, wo auch immer das zurzeit sein mag, heranführt.

Der Regen lässt nach. Auf einer Asphaltpiste neben der Schnellstraße komme ich schließlich zurück ans Loire-Ufer … laufe zwei bis drei Stunden weitestgehend durch, immer am Ufer der Loire entlang, auf einem Schotterweg neben der Straße … lese einen aufgeweichten, jedoch noch verpackten Müsli-Riegel auf (zum Frühstück morgen) … habe kurz Wald zwischen mir und der Loire, wo zwanzig bis dreißig Hasen auf dem Weg vor mir herumspringen und mich beobachten … komme an einer kleinen Anlegestelle für Ruder- und Segelboote vorbei und schließlich zu einem Teich, der sich für einige hundert Meter parallel zur Loire, die ich bereits liebgewonnen habe, entlangzieht. Mitten am Ufer steht ein öffentlicher Pavillon, der perfekte Schlafplatz für mich, da ich schon die ganze Zeit ein Dach für die kommende Nacht gesucht habe. Ich blicke über den Teich, sehe einige kleine Inseln und kann die Loire in 300 Meter Entfernung eher erahnen als sehen. Dazwischen ist alles in grünen Farben; wohl anscheinend ein Naherholungsgebiet der Städter, die hier zersprengt an verschiedenen Stellen Tische, Bänke und Feuerstellen vorfinden. Einige Familien sind zum Samstagabend noch zu sehen, ich habe aber meine Ruhe, auch wenn die Uferstraße keine 100 Meter entfernt ist. Man nennt dieses Gebiet hier Espace des Rives de Loire. Ich bin zufrieden, nun doch noch einen versöhnlichen Abschluss des Tages zu verzeichnen, und meine Kameradin für die nächsten Tage, die Loire, in meiner Nähe zu wissen. Vögel zwitschern ein Abendlied, Grillen zirpen, von Mücken keine Spur, mir gefällt es hier. Vor zwei Stunden fühlte ich mich noch so richtig mies, und nun bin ich schon wieder beglückt und auf Wolke sieben, als wäre ich unfähig, überhaupt irgendwann einmal an mir und dieser Reise zu zweifeln. Die letzte Stunde im Tageslicht möchte ich in Gesellschaft verbringen, möchte ich mit jemand teilen, ich greife zum Hamsun ...

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