Читать книгу: «Lied vom stillen Sommernachtstraum», страница 3

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Montag, 7 Uhr, draußen stürmt und regnet es. Die Terrassentür bleibt zu, ich verkrümle mich wieder ins warme Bett. Schon die ganze Nacht über goss es aus allen Kübeln, was für eine gute Entscheidung hier den Ruhetag eingelegt zu haben! Und nun? Erst einmal kochen! Zum ersten Mal in meinem Leben gibt es Linsennudeleintopf, was für ein Festschmaus! Gestärkt bin ich schon mal, auch sonst voller Energie, der Ruhetag tat mal wieder gut. In Zeitlupe packe ich mein Zeug zusammen, wasch das Geschirr ab, räume auf … gegen zehn regnet es nicht mehr so stark, ich breche auf, verlasse das Appartement so wie ich es betreten habe, als wäre nie jemand hier gewesen. Lothar und Pamela sind bereits weg. Auf Straßen geht es nach Biscarrosse. Der Regen wird wieder stärker, ich bin schnell von oben bis unten durch, die Regensachen halten nichts mehr ab … so schnell fühlt man sich also wieder so, als hätte es nie einen Ruhetag gegeben. Es ist auch frisch, beim Tagebuchschreiben zittert meine Hand. Mit Tunnelblick geht es auf der Landstraße weiter, bis ich Sanguinet erreiche. Der kleine Ort mit seinen 3.000 Einwohnern liegt idyllisch am Ostufer des Étang de Cazaux et de Sanguinet. Damit ich mal ein halbes Stündchen Ruhe vor Wind und Regen habe, betrete ich die schlichte Kirche. An der Kanzel nimmt ein Mann Ausbesserungsarbeiten vor, ansonsten bin ich allein. Die Ruhe hilft, färbt sich auf mein Inneres ab. Ich gehe anschließend zum Rathaus, weil ich ja von Joël und Josette weiß, dass es hier möglicherweise eine kostenfreie Unterkunft für Pilger gibt. Dennoch bin ich ganz erstaunt, als die Frau hinter dem Schalter mir sagt, dass es klargeht, da die zwei Schlafplätze heute noch nicht belegt sind. Ich kann mir in der Touri-Info den Schlüssel abholen. Das wird gemacht und mit dem Schlüssel in der Tasche habe ich auch heute wieder allen Grund zufrieden und dankbar zu sein. Da es erst früher Nachmittag ist, mache ich noch einen Abstecher zum See, setze mich auf die nasse Bank (macht ja an meiner Kleidung keinen Unterschied mehr!) und genieße den Augenblick. Hätte ich für den kommenden Abend keine Bleibe, würde ich es jetzt nicht genießen können. Sicherheit ist eben doch nicht ganz wertlos. Am Ufer ist es gleich noch mal etwas stürmischer, der Regen peitscht mir ins Gesicht, aber ich halte die Stellung, heute kriegt mich nichts mehr dran! Ich gehe ein zweites Mal zur Kirche, richte so etwas wie einen Dank aus; vielleicht war es ja ganz gut vorher in der Kirche gewesen zu sein, ehe ich zum Rathaus lief. Na eins steht zumindest fest: geschadet haben wird es nicht. Eine Frau spricht mich in der Kirche an, fragt mich ob ich auf dem Jakobsweg unterwegs bin und ob ich heute hier übernachte … zweimal ja … sie lächelt … ich ebenso … und der da oben vielleicht auch. Ich steuere schließlich in die Richtung, wo sich die Pilgerherberge befinden soll. Bereits seit dem 11. Jahrhundert ziehen die Pilger durch diese kleine Gemeinde, auf ihrem Weg nach Santiago. Obwohl ich in die andere Richtung laufe, bin ich nun ein Teil dieser Tradition. Ich kann die Herberge nicht finden, laufe verschiedene Straßen lang, aber nichts zu sehen. Also frag ich nach, eine Einheimische weiß zumindest, wo in etwa die Herberge sein müsste, führt mich auf einen Hof mit mehreren freistehenden Häusern und Baracken, die alle der Gemeinde gehören, unter anderem die heute geschlossene Mediathek und eine Judo-Halle. Sie weiß nicht in welchem Haus sich die Herberge befindet, eine andere Frau sieht uns und fragt was wir denn suchen … Herberge? Das ist das einstöckige Gebäude, vor dem sie selbst soeben steht. Sie zeigt mir den Eingang, ich danke den beiden Frauen.

Ich blicke mich kurz im Inneren um, finde eine Dusche und sogar eine Küche … wie es schon in Spanien so oft der Fall war, diente auch dieses Gebäude früher mal als Schule … zumindest stehen im großen Raum noch immer die ganzen Tische und Stühle, auch eine Tafel hängt an der Wand. Zwei Klappbetten dienen als Betten für bedürftige Pilger. Alles provisorisch, alles gut, eine schöne Geste der Gemeinde. Ich bin zufrieden, muss aber erst mal zum Supermarkt, um mich mit Lebensmitteln einzudecken, schließlich muss ich jede Chance nutzen, wenn ich mir was Warmes zubereiten kann. Als ich zurück bin, atme ich erleichtert auf, denn irgendwie bin ich beruhigt, dass ich allein sein kann. Ich habe gerade einen großen Bedarf nach schweigender Stille. Im Gästebuch gab es bisher in diesem Jahr zwei Einträge, von mir folgt Nummer drei; es könnte mein letzter Eintrag werden, aber das kann es ja immer … Die Fensterläden sind verschlossen, deshalb dringt kein natürliches Licht in den Raum, aber wozu auch, es beginnt ja ohnehin gerade die Nacht. Ich bin einfach nur dankbar, gerade jetzt, wo es seit Tagen durchregnet, werde ich mit Unterkünften beschenkt. Beim Gang aufs Klo bekomme ich noch einen weiteren Grund um dankbar zu sein … dort steht ein altes Paar Turnschuhe, nach der Größe geschaut und die passt sogar aufs Drittel genau (45⅓), mit Verschleißerscheinungen, aber noch längst nicht am Limit, muss hier jemand zurückgelassen haben. Ich probiere sie an … bequem … wenn ich die mitnehmen würde, hätte ich endlich mal ein Paar Schuhe, wo ich mir nicht länger blöd vorkommen muss, wenn ich mich wie bisher mit meinen schweren, schmutzigen Wanderstiefeln und ohne Rucksack (Unterkunft) auf einen Stadtrundgang begebe, vielleicht sogar in Begleitung. Außerdem wären sie eine gute Notfallreserve, falls die Sobrados irgendwann ihren Dienst aufgeben, beziehungsweise kann ich auf Asphalt die Turnschuhe nutzen und die Sobrados etwas schonen. Ach da fällt mir ein, dass ich ja auch noch die Santiagos habe. Mit drei Paar Schuhen unterwegs sein? Na warum nicht, die „Neuen“, die Sanguinets, sind schön leicht und sehen zudem auch noch echt cool aus. Ich habe mir nun doch – trotz des schlechten Gewissens – meinen Zigarettenhaushalt wieder aufgefüllt, will aber sparsam sein; einfach in schönen, entspannten Momenten rauchen oder wenn ich nervlich am Ende bin. Jetzt gerade bin ich zufrieden hier zu sein, also gehe ich raus, stelle mich unter das schmale Vordach und rauche erstmals eine von den Che-Kippen, die ich als Zigarettenpackung noch nirgendwo zuvor gesehen habe. Nun kann mich also Ches Konterfei einige Tage lang begleiten, die beste Gesellschaft, die ich mir vorstellen kann. Noch immer regnet es stark, es will einfach nicht aufhören. Ich rauche, blicke zum Himmel, halte noch ein Glas Sekt in den Händen. Ja, Sekt! Eigentlich wollte ich mir einen billigen Wein-Fusel kaufen, aber da hatte ich mich wohl verlesen. Sekt passt ja irgendwie auch, ich bin noch am Leben, wenn das mal kein Grund zum Feiern ist. In der Bude schaue ich die vielen Broschüren mit Kartenmaterial durch, die in einem Körbchen aufbewahrt werden. Dazu nutze ich die vielen Tische, breite auf jeden Tisch eine Karte aus, an die zehn Stück und laufe von einer zur nächsten, vergleiche, schmiede Pläne … für einen Moment schlüpfe ich in die Rolle von Napoleon, der die nächste Schlacht plant und dabei – seiner Art entsprechend – versucht, den ein oder anderen Geniestreich einzubauen. Mir gelingt das nicht, ich komme zu keiner Lösung, ich will nach Bordeaux marschieren, aber bevor ich die Stadt belagern kann, muss ich rund 60 Kilometer auf schnurgeraden Fernverkehrsstraßen durchs flache Binnenland abspulen … und ich habe echt keine Lust mehr auf diese kilometerlangen Asphaltmärsche im Niemandsland, fern vom Meer, 20 oder 30 Kilometer geht es immer geradeaus, und nicht mal dabei träumen kann (darf!) man, weil man sonst auf der engen Straße totgefahren werden würde. Na ich werde mich spontan entscheiden. Lieber erst einmal kochen. Als Vorspeise soll es eine Kohlsuppe aus der Tüte geben … die schmeckt aber nach nichts, also kommt die Suppe mit in die Ravioli, die für sich allein auch nach nichts schmecken … zusammen ist es ganz lecker. Eins steht jedenfalls für mich fest, sollte ich eines Tages noch einmal als Backpacker unterwegs sein, werde ich nicht nochmal Gewürze vergessen! Als Nachspeise gibt es billigen Rührkuchen, dazu den Sekt. Ich bin von oben bis unten vollgefressen, so dass mir sogar übel wird und ich schon vor 22 Uhr völlig ruiniert in mein Klappbett falle … dabei kommt es zu einem Knall, zwei Latten sind raus ... repariert und der zweite Versuch sitzt dann auch.

Nachts werde ich immer mal wach, irgendwann sind keine Plätscher-Laute mehr zu hören, ich gewinne an Zuversicht und träume sogar schließlich davon, dass ich am Morgen die Baracke verlasse und die Sonne scheint. Ganz so ist es dann sieben Uhr leider nicht, der Himmel ist grau, jedoch regnet es nicht mehr. Ich mach mir erst einmal den Rest der Ravioli warm, auch der Rest vom Rührkuchen muss vernichtet werden, abgerundet vom letzten Schluck Sekt aus der Flasche, nur keine Eile. Halb neun breche ich dann aber doch auf, werfe den Schlüssel in den Briefkasten am Rathaus, wie abgemacht. Ich spule anschließend knapp 20 Kilometer auf der kurvenlosen und unbesiedelten Landstraße bis nach Mios runter, das ist echt nichts für schwache Nerven, schon gar nicht wenn ein LKW mir entgegenkommt. Da dabei Überfahren nicht ausgeschlossen ist, denke ich an meine Kleine, denn meine letzten Gedanken sollen an einen Engel gerichtet sein. Ich muss daran denken, wie sie mir immer „Kraftküsse“ gegeben hat, damit ich sie noch ein wenig weiter tragen konnte … so einen Kraftkuss könnte ich jetzt auch gut gebrauchen, oder einfach nur eine Umarmung von ihr. Für einen Moment überlege ich sogar, ob ich nicht doch erstmals den Daumen rausstrecke, schließlich hört auch auf dieser Straße die Asphaltierung mit der Fahrbahnmarkierung auf. Aber irgendwie kann ich mich nicht dazu durchringen, schon gar nicht dazu, mich irgendwo hinzustellen und darauf zu warten, dass mal einer anhält. Wer weiß wie lange ich da warten müsste, dann doch lieber marschieren und auf bessere Zeiten zulaufen. Hier in Frankreich würde es auch einem Vierer im Lotto gleichen, dass mal einer für dich anhält und fragt ob du mitkommen möchtest. Immerhin ist es trocken. Und ich bin im nächsten, dem dritten Département meiner Reise; Gironde ist zugleich das von seiner Fläche her größte Département Frankreichs, Französisch-Guyana in Übersee mal ausgeklammert.

In Mios entscheide ich mich nach einem Besuch der Touri-Info spontan um, anstatt Bordeaux wähle ich nun doch den Weg zurück zur Küste, was mit einem 130 kilometerlangen Jakobsweg durch Gironde verbunden ist. Anstatt also tiefer ins Landesinnere vorzudringen, kann ich meiner ewigen Sehnsucht nach dem Meer mal wieder nicht widerstehen. Somit bleiben mir 50 weitere Kilometer auf der Landstraße erspart. Mit meiner Entscheidung pro Atlantik taucht beinah im selben Moment auch die Sonne wieder auf. Im vier Kilometer entfernten Biganos ist meine Neugierde dann doch zu groß, um am Bahnhof nicht wenigstens mal zu schauen, was der Zug nach Bordeaux kostet … für 7,70 Euro könnte ich mir die Stadt anschauen … und dann? Ich gehe in den Park, setze mich auf eine Bank, breite mein Kartenmaterial auf dem Tisch vor mir aus und überlege. Bordeaux wäre toll! Aber danach hunderte Kilometer auf Asphalt nach Paris? Und von Bordeaux zurück ans Meer kann ich mir weder zeitlich noch finanziell leisten. Nein, die Vorfreude auf den Atlantik ist ohnehin schon zu groß, außerdem brauch ich das Geld für Lebensmittel. Meine Entscheidung steht also endgültig. Vorerst geht es noch auf einer vielbefahrenen Straße weiter, ehe mich endlich ein Radweg rettet. Auf diesen werde ich nun die nächsten Tage verbringen.

Ich erreiche Lanton an der Bucht von Arcachon, die durch eine schmale Halbinsel fast komplett vom Atlantik abgetrennt ist … einen Blick aufs offene Meer bekommt man hier also nicht … aber Wasser und die typischen Gerüche des Meeres (vor allem in den Fischerdörfern!) sind schon mal da. In Lanton statte ich der abseitsgelegenen Kirche einen Besuch ab, ich empfinde das als sehr angenehm, also allein in einer Kirche zu sein, zum Abschluss eines mühsamen Tages … es beruhigt mich irgendwie, eine Erfahrung, die ich in meinem bisherigen Leben nicht kannte. In den Kirchen, die zurzeit fast alle tagsüber durchgängig offenstehen, könnte ich auch bei Bedarf meine Akkus aufladen, gut zu wissen. Und klar, mich reizt natürlich auch, mal eine Nacht in einer Kirche zu verbringen, denn das hatte ich noch nicht. Ich kann mich kaum motivieren, den ruhigen, „warmen“ und windgeschützten Platz wieder zu verlassen. Geht es so Menschen, die sich irgendwann einmal für ein Leben im Kloster entschieden haben? Aber ich kann auch nicht bleiben, aus Angst, abends verjagt zu werden. Die Ostseite der Bucht ist fast durchgängig besiedelt. Viel Wasser bekomme ich nicht zu sehen, es ist Ebbe. Zufälligerweise bin ich dann auf dem Jakobsweg, der direkt an der Bucht langführt. Der starke Wind bläst mir meinen Hut vom Schädel, echt unangenehm. Darum ist hier, von einem Pärchen und einem Jogger abgesehen, auch niemand zu sehen. Nach vierzig Kilometern erreiche ich halb neun den Hafen von Cassy, ein kleiner Fischerort, zwischen Lanton und Andernos-les-Bains gelegen. Mittlerweile hat sich der Himmel wieder verfinstert, noch bevor die Nacht beginnt. Es droht wieder zu regnen. Ich schaue mich im Hafen um, außer weniger Ausnahmen sind keine Menschen zu sehen. Ich entdecke einen alten Fischerschuppen, zum fünf Meter entfernten Wasser hin offen, ansonsten geschlossen und mit einem Dach, ein Fußweg führt hier nicht vorbei. Viel Werkzeug liegt rum: Bleche und Netze, an denen Seetang hängt und von denen ein starker Fischgeruch ausgeht. Es ist gar nicht so einfach, zwischen all dem Kram genug Platz für meine Matte zu finden, das Zeug ist alles so sehr nach oben gestapelt, dass es mühsam wäre, irgendetwas umzulagern … außerdem bin ich ein nichtzahlender Gast, also will ich auch keine Unordnung schaffen. Nah am Eingang quetsche ich mich durch das Gerümpel durch und finde eine Möglichkeit, meine Matte auf dem harten Steinboden fast komplett der Länge nach auszulegen. Durch die Sachen vor mir bin ich von draußen aus nicht gleich auf dem ersten Blick zu erkennen, aber wer außer vielleicht der Eigentümer kommt hier überhaupt mal vorbei? Ich geh noch mal raus, setze mich auf eine Bank, um noch mal zu überprüfen, ob irgendwelche Probleme vorhersehbar sind. Aber nichts, niemand ist zu sehen oder zu hören. Auch die Straße ist 300 Meter entfernt. Das einzige Geräusch, das man hier hört, ist ein Geräusch, dass ich schon mein Leben lang liebe, welches erzeugt wird, wenn sich die Jachten und Boote langsam mit dem Wasserpegel hoch und runter schaukeln. Schaukeln trifft es ganz gut, es klingt ähnlich wie bei einer quietschen Schaukel.

Die Nacht ist ruhig, es bleibt warm und niemand weckt mich auf. Die Knie mucken herum, weil sie die stundenlange, angewinkelte Liegeposition nicht vertragen. Der Regen bleibt aus. Halb sieben Aufbruch. Kurze Zeit später in Arès, Verschnaufpause in der Kirche, was vor allem dann verlockend ist, wenn es draußen grau und trist ausschaut. Ich komme in ein bewaldetes Naturreservat, ein angenehmer Wanderweg direkt neben dem Ufer, wo weder Autos noch Fahrräder fahren dürfen. Dahinter bin ich wieder am Atlantik, da der Fahrradweg auf der „falschen“ Seite der hohen Düne langläuft, sieht man das Meer beim Wandern nicht, außer man nimmt dafür ein mühsames Wandern direkt auf Sand in Kauf … macht aber auch nur die halbe Geschwindigkeit. Ich bin hier auf dem Jakobsweg mit dem Namen Voie de Soulac … dieser führt vom Ästuar der Gironde bis nach Irun … aber jedoch bei weitem nicht so gut markiert, wie die Wege in Spanien, sonst hätte ich ja die ganze Zeit auf diesem Jakobsweg laufen und mir somit einige Asphaltritte ersparen können. Neben Strand und Düne beginnt der riesige Pinienwald, der nirgendwo ein Ende zu haben scheint und irgendwie die einsamen Geister in mir heraufbeschwört. Straßen, die parallel zur Küste verlaufen, gibt es hier nicht. Der Himmel ist heute phänomenal, von ganz grau am Morgen bis zu einer weißen Dunstschicht am Nachmittag … und auf einmal, innerhalb von nur 60 Sekunden verzieht sich die Dunstschicht komplett und über mir zeigt sich erstmals seit Tagen ein klarer, blauer Himmel. Das ist für mich das Zeichen! Rauf auf die menschenleere Düne, dem Atlantik gewunken, Matte ausgerollt, Bier herausgeholt, Sachen ausgezogen und langgemacht. Endlich mal wieder richtig Sonne, das muss ich mit meinem ganzen Körper teilen! Für einen Moment zieh ich sogar meine Boxershorts aus, aber das ist mir dann doch zu viel des Guten, beziehungsweise Schlechten. Ich lege viel wert auf Ästhetik. Die Knie schmerzen nach der unbequemen Nacht. Ich mache mir ihretwegen mal wieder Sorgen. Außerdem bereitet es mir Sorgen, dass ich trotz des vielen Glücks in den letzten Tagen weit weniger zufrieden bin, als ich es in den ersten Wochen am Mittelmeer war. Woher kommt das? Schon genug gesehen? Satt? Abenteuer-Akku bereits wieder bei 100 Prozent? Mehr geht nicht? Das kann doch nicht sein! Wenn ich die täglichen Geschenke nicht mehr zu schätzen weiß, wozu werde ich dann überhaupt noch beschenkt? Also reiß dich zusammen! Genieß den Augenblick, sonst wirst du es irgendwann bereuen, wenn du es nicht getan hast.

Der lange Strand (100 Kilometer durchgehend!) ist von der Zivilisation so gut wie unberührt, die Unmengen an Sand würden wohl jeden Ort unter sich begraben. Mal ein Sanitärtrakt für Badegäste oder auch mal eine Imbissbude, mehr ist nicht. Vereinzelt tauchen Surfer auf, auch ein paar Leute, die sich sonnen oder am Strand spazieren. Ich suche einen Windschutz, aber kein Bunker in Sicht. Bei Le Porge-Océan, also der Strandabschnitt der zum Ort Le Porge (fast zehn Kilometer im Landesinneren) gehört, sehe ich am Strand ein skurriles „Bauwerk“ … drei Holzpaletten wurden so zusammengebaut, dass es einen winzigen Unterstand ergibt … das sieht so knuffig aus, dass ich beschließe dort zu übernachten. Regen scheint nicht zu drohen und etwas Windschutz bietet das 1x1 Meter „große“ Palettengerüst auch. Ich finde auf der Düne noch ein paar Bretter, mit denen ich das Dach abdichte. Falls es doch regnet, könnte ich mich wenigstens hinsetzen und würde nicht allzu nass werden … bei einem Sturm würde das natürlich anders aussehen. Aber die Sonne scheint, geht direkt vor mir über dem Atlantik unter. Ich krame mein Tagebuch raus: Jetzt mal gemütlich auf der Couch sitzen, einen Kaffee trinken, was Warmes zum Abendessen und mit ihr etwas in der Glotze schauen. Aber ich habe deswegen ja immer rumgejammert, wie mich das alles einschränkt, dass das ja gar nicht ich bin … das hier und jetzt, bin das etwa ich? Ich werde beim Schreiben unterbrochen, vier gutaussehende junge Kerle tauchen mit ihren Surfbrettern von hinter der Düne direkt neben mir auf. Sie beachten mich nicht, laufen in ihren schwarzen Surfanzügen direkt in die hohen Wellen hinein, pünktlich zu den letzten Minuten des Sonnenuntergangs, also das passt ja mal ins Klischee … aber ich kann sie verstehen, die rote Sonne und die folgende Abendröte, das macht schon Spaß. Denk ich mir zumindest, denn ich stand noch nie auf einem Surfbrett. Kurz vor der Dunkelheit kommen die Jungs raus und verschwinden wieder hinter der Düne, nun bin ich endlich allein und denke an die vielen schönen Momente dieser Reise. Der Sternenhimmel beruhigt und inspiriert. Die Konstruktion um mich herum hält dem Wind stand, eine gute Wahl. Die Nacht ist warm und trocken.

Die Morgendämmerung beginnt mittlerweile kurz nach fünf. Im Februar war das immer mein Startsignal, zurzeit kann ich mich nicht dazu motivieren, mit dem ersten Tageslicht auch aufzubrechen, dabei könnte ich so ordentlich Strecke machen. Die vier Surfer vom Abend tauchen sieben Uhr wieder auf, Zeit für mich zusammenzupacken und aufzubrechen. Auf die Düne rauf und wieder runter zum Fahrradweg, auf dem man nur äußerst selten eine Menschenseele antrifft. Der Lauf durch den Pinienwald ist eine Tortur … überall fiese Bremsen, die einem ständig beißen wollen. Andauernd schlage ich um mich, eine Pause ist nicht drin, nicht einmal für fünf Sekunden, weil sonst schlagartig ein Dutzend dieser Blutsauger auf dir hocken. Und verdammt, wenn sie einem wo auch immer beißen, ist das deutlich unangenehmer als bei Mücken. Und was mich so richtig nervt, diese Viecher kriegt man nur schwer totzuschlagen, oft muss man zwei- oder dreimal auf sich selbst einschlagen, um das Vieh auf der Haut zum Schweigen zu bringen. Manchmal schlägt man auch vorbei und trifft nur sich selbst. Hundert, zweihundert, vielleicht sogar dreihundert Schläge bekommt man hier pro Stunde ab, so muss sich das Leben eines Boxers anfühlen. Ich habe mir überlegt, ob ich trotz der Wärme beim Laufen lange Klamotten anziehe, aber ich habe ja gar keine Chance (Zeit!) mich umzuziehen. Wenn ich jedoch meinem Lebensmotto treu bleiben und hinter allem etwas Positives sehen möchte, gelingt das auch hier: Man läuft und läuft und läuft … so ist es nicht schwer, über vierzig Kilometer am Tag zu laufen. Das Gefühl auf der Flucht zu sein ist die beste Motivation, die man haben kann. In Lacanau-Océan treffe ich dann endlich mal auf ein paar Menschen; ein Urlauber aus Mönchengladbach füllt meine Wasserflaschen auf. Auch in diesem Ort sind wieder viele Surfer unterwegs, dieser Küstenstreifen muss ein richtiges Surferparadies sein. Dass hier guter Wind herrscht, kann man an den hohen Dünen erkennen. Vom kleinen Urlaubsort geht es wieder in den Pinienwald hinein und zurück zu meinen Freunden. Menschen sind keine zu sehen und die Kilometerangaben der Wegweiser auf dem Radweg sind schon sehr demotivierend … da sind es auf einmal 16 Kilometer bis zum nächsten kleinen Ort. Da Pausen nicht drin sind, laufe ich auch diese 16 Kilometer durch, denke an meine Kleine, muss dabei lächeln und bin dadurch abgelenkt. Das Meer ist nicht zu sehen, etwa fünfhundert bis tausend Meter entfernt. Autos sind hier weiterhin nicht zu hören, auch nicht aus weiter Ferne, welch eine Seltenheit! In dieser Stille laufe ich meinen viertausendsten Kilometer, nicht mal zum Jubiläum ist eine Pause drin. Da ich außer Laufen nichts weiter zu tun habe, entwickle ich nebenbei eine neue Mordtechnik: Ich schlag auf das Vieh, roll es anschließend zwischen Daumen und Zeigefinger wie einen Popel zusammen, schnipse die Kugel nach unten, trete drauf und schiebe Sand über das noch immer zuckende Etwas drüber. So sollte man mit allen Schmarotzern umgehen, mich eingeschlossen. Immerhin verlange ich meinem Körper heute einiges ab, denn ab Hourtin-Plage geht es barfuß auf Sand weiter, da der Radweg nun drei Kilometer von der Küste entfernt verläuft. Direkt am Strand sind nur vereinzelt Blutsauger unterwegs, den starken Wind vertragen sie anscheinend nicht, weshalb sie den Schutz des Waldes suchen. Zwanzig Kilometer auf Sand sind wie vierzig Kilometer auf Asphalt, bei einem vollkommen blauen Himmel lässt sich dabei die Einsamkeit aber leichter ertragen. Dafür fehlt der Schatten des Waldes, die pausenlose Sonne kostet zusätzliche Körner. Nach einigen Kilometern tauchen endlich wieder viele Bunker auf, die meisten davon stehen jedoch unter Wasser. Der Strand hier trägt den Namen Le Pin Sec. An einem Bunker, der trocken liegt, überdacht ist und einen schmalen offenen Eingang hat, lungern ein paar Jugendliche und sonnen sich. Ich setze mich etwas abseits von ihnen hin, rauche und verfolge wie die Sonne dem Horizont immer näherkommt – das Stück Sky and Sand von den Kalkbrenners passt ganz gut dazu, hat eine euphorisierende Wirkung auf mich. Die Jugendlichen verschwinden währenddessen, so kann ich unbemerkt den Bunker in Augenschein nehmen. Ich kann mich nicht dazu bringen, in den Bunker richtig hineinzukriechen, einschließlich mich hinter die halb geöffnete Stahltüre zu trauen, denn der modrige Geruch ist doch sehr unangenehm, außerdem ist es stockduster und man sieht wirklich rein gar nichts, da bringt auch mein Handy-Display als Taschenlampe nichts. Also bleibe ich im schmalen, überdachten Eingangsbereich an der frischen Luft, wie maßgeschneidert für meine Matte, jedoch leider mit Aussicht zur Düne und nicht zum Meer. Als perfekter Windschutz ist dieser Schlafplatz aber nicht zu unterschätzen. Außerdem kann ich beruhigt hier liegen und muss nicht – jedes Mal wenn ich aufwache – zum Himmel schauen, um nach Sternen zu suchen. Wer weiß wie viele Kilometer der nächste überdachte Schlafplatz entfernt wäre. Den Sonnenuntergang verbringe ich natürlich mit Blick aufs Meer, es ist mild, Musik läuft noch immer, eine weitere Zigarette, irgendwie schön, ich fühle mich gut. Wahrscheinlich kann ich den Moment auch mehr genießen, weil ich bereits für die Nacht meinen Schlafplatz, der mir eine trockene und warme Nacht verspricht, gefunden habe. Wenig später liege ich in meinem Schlafsack, blicke der Nacht ins Maul, während sie gerade die Düne verschluckt. Dass es hinter mir noch tiefer in den Bunker geht und ich keine Ahnung habe, was genau dort ist, bringt etwas Nervenkitzel – also genau für mich gemacht!

Am Morgen am Strand zu laufen bringt trotz aller Anstrengung Freude. Nur du und der Ozean, die Luft ist fantastisch, die Sonne scheint. Aller paar hundert Meter sind bis zu einhundert Zentimeter lange Fischkadaver zu begutachten, irgendwie spannend. Im kleinen Badeort Montalivet-les-Bains laufen mir nackte Menschen entgegen, FKK, ich grüße alle Leute mit einem lockeren „Bonjour“. Die Bunker hier werden immer mehr vom Atlantik verschluckt. Meine Ernährung an diesem Tag setzt sich nur aus Bonbons zusammen, weil mir die Preise in den kleinen Supermärkten zu teuer sind, genauer: dreimal so hoch wie üblich. Ein paar Läden öffnen für die Touristen, aus einem Laden ist eine Endlosschleife Somebody That I Used to Know zu hören, während ich gerade in meinem Tagebuch schreibe. Ich brauche Wasser und frage bei einem Kellner nach, der gerade Gäste im Freisitz bedient. Das kalte Wasser ist an diesem heißen Tag eine Wonne. Schließlich geht es auf Radwegen abseits des Meeres weiter; zwei holländische Radler halten neben mir an. Kurzer Plausch, die beiden umrunden einmal Frankreich … mir wird ein Stück Baguette spendiert, dass ich – als ich wieder allein bin – sofort beim Laufen verputze, ich habe Mordshunger. Im Wald und überhaupt bleibe ich der einzige Wanderer, klar, die Entfernungen zwischen den Orten sind auch gewaltig. Auch nach Soulac-sur-Mer sind es weitere 17 Kilometer.

In diesem kleinen Ort muss ich leider Abschied vom Jakobsweg nehmen, dieser Jakobsweg war wahrscheinlich mein Letzter. Ich gönne mir eine Tagebuchpause hinter der Wallfahrtskirche Notre-Dame-de-la-Fin-des-Terres (was für ein Name!). Es ist schon später Nachmittag und ich brauche nun doch wenigstens ein paar Kekse … ab in den Supermarkt, wo Lana del Rey zum ersten Mal seit Rota wieder Video Games „für mich“ singt. Draußen gibt ein Mann seinem Baby einen Schmatzer, mir kommen die Tränen. Von Soulac Richtung Norden ist der Radweg auch deutlich befahrener, es ist Freitagnachmittag, viele Familien sind unterwegs. Je weiter der Tag voranschreitet, desto ruhiger wird es wieder. Einer der letzten Radfahrer des Tages kommt mir entgegen, hält neben mir und fragt mich, ob ich einen guten Schlafplatz während der letzten Kilometer gesehen habe. Schwierig. Philipp (25) aus Erfurt campt eigentlich nicht wild, aber auch nicht auf Campingplätzen. Stattdessen sucht er sich meistens einheimische Familien, die ihm für eine Nacht Obdach gewähren, entweder im Haus oder in ihrem Garten, wo er sein Zelt aufbauen darf. Das klappe bisher in Frankreich prima, was mich sehr überrascht. Die Franzosen seien sehr gastfreundlich, berichtet Philipp, meist wird er sogar zu den Mahlzeiten eingeladen. In Frankreich ist es wichtig, dass man auf die Leute zugeht und es dabei immer in ihrer Sprache versucht. Offensichtlich hat Philipp vom Schulfranzösisch noch nicht soviel vergessen wie ich. Da ist er ganz klar im Vorteil, bisher kann ich jedoch auch nicht klagen, schließlich lebe ich noch. Philipp empfiehlt mir, es demnächst auch mal zu versuchen, nur Mut, man hat ja dabei nichts zu verlieren. Vor allem bei Bauern sind die Erfolgschancen groß. Von seiner Offenheit Menschen gegenüber kann ich noch viel lernen, nicht umsonst war er es, der neben mir stehen blieb und dadurch erst diese interessante Begegnung ermöglichte. Mitten auf dem Radweg plaudern wir über dies und das, erfahren dabei, dass der andere genauso am Tag zuvor die Viertausend-Kilometer-Marke geknackt hat, Philipp auf dem Rad, ich zu Fuß. Einhundert Kilometer am Tag radeln, dass ich nicht ohne, möglicherweise würde ich das nicht so gut meistern, wie vierzig Kilometer am Tag zu laufen. Seine Rundreise startete er in der thüringischen Heimat, fuhr weiter über Nordrhein-Westfalen nach Belgien, anschließend bis nach Brest (Bretagne) und immer in der Nähe zur Küste hier runter. In Bordeaux war er schon, ihm hat es dort sehr gefallen … schade drum. Als nächstes soll mit der Freundin, die bald zu ihm stößt, nach Spanien und Portugal geradelt werden. Gutes Stichwort, ich werde endlich mein Kartenmaterial los, jetzt habe ich ein reines Gewissen und ein Kilogramm weniger Gepäck. Selbst solch ein Fakt, dass das Gepäck nun dauerhaft etwas leichter ist, bringt neue Zuversicht. Es war verdammt schlau, die Reise mit 25 Kilogramm Gepäck zu beginnen, denn dadurch werde ich nicht vergessen, was ich imstande bin zu leisten, es gibt also keinen Grund, bei 20 Kilogramm zu jammern. Spontan hat Philipp die Idee, dass wir die kommende Nacht gemeinsam im Zelt verbringen könnten, er hat ein paar hundert Meter zuvor einen Picknickplatz gesehen, hinter dem man im Wald das Zelt aufbauen könnte. Wir laufen gemeinsam dorthin, setzen uns als erstes an einen Tisch, wo mich Philipp zum Abendessen einlädt, denn mein Proviant ist mal wieder aufgebraucht. Wir sind allein, von den unzähligen Mücken mal abgesehen. Wir vertilgen einen ganzen Laib Brot; Philipp schmiert sich Avocado auf die Brotscheiben, streut Salz drauf … ich probiere, interessanter Geschmack … Wir essen vegetarisch, zum Brot gibt es außerdem Banane, Gurke und Honig. Als Dessert gibt es ein Kuchengebäck, von dem wir auch kein Stück übriglassen. Was für eine Mahlzeit! Dazu die tolle Stimmung, das angenehme Gespräch. Philipp hat sein Lehramtsstudium weitestgehend hinter sich gebracht und ist nun zu dieser beeindruckenden Fahrradtour aufgebrochen. Er erzählt von einer Frau, die einen Fahrradschaden hatte, er ihr schließlich half und sie ihn unbedingt dafür bezahlen wollte. Er lehnte immer wieder ab, aber sie steckte das Geld ihm heimlich zu. Als er es bemerkte, wäre er ihr am liebsten hinterher gerast, um es ihr zurückzugeben. Widerwillig nahm er den Zehner mit und will nun das Geld so schnell wie möglich loswerden … und da hat er auch schon den Einfall, dass es ja eine gute Sache wäre, wenn er mich mit den zehn Euro sponsert. Im Gegensatz zu Philipp ist es mir nicht möglich, das Angebot abzulehnen … im Gegenteil, ich freue mich riesig über dieses Blutgeld … wieder etwas Aufschub. Jedoch stimme ich mit ihm überein, dass es irgendwie übel ist, in einer Gesellschaft zu leben, wo Dankbarkeit anscheinend ganz automatisch mit Geld ausgedrückt wird. Als gäbe es nichts anderes …

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9783753185378
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