Читать книгу: «Lied vom stillen Sommernachtstraum», страница 4

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30 Meter in den Wald hinein finden wir einen recht ebenen Platz für das Zelt. Philipp baut das große Zelt in einer rekordverdächtigen Geschwindigkeit auf, meine Hilfe wird nicht benötigt. Philipp war clever, hat dieses 450 Euro teure Zelt auf einer vorherigen Reise gesponsert bekommen, musste dafür nur einen Testbericht schreiben. Warum komme ich nicht auf solche Ideen? Wahrscheinlich weil mich selbst diese kleine Verantwortung überfordern würde! Wir packen unsere Rucksäcke ins Zelt und laufen die 500 Meter zum langen Strand. Wir sind allein, schmeißen uns die Sachen vom Leib und gehen ins Wasser – also ich schleiche, Philipp stürmt hinein und wirft sich todesmutig in die erste größere Welle. So hart bin ich nicht, mir ist das Wasser eindeutig zu kalt, selbst die Fußknöchel schmerzen vor Kälte. Nur langsam laufe ich hinein, nicht mehr als eine Katzenwäsche, denn zu allem Überfluss habe ich auch noch vergessen, die Brille abzunehmen. Geschwommen und getaucht wird also nicht, aber immerhin war ich nun endlich seit meiner Gambia-Reise mal wieder im Atlantik. Dort war das Wasser aber auch viel wärmer, selbst im Januar. Danach hocke ich mich im Schneidersitz auf den Sand, schreibe im Tagebuch, während Philipp Fotos vom Sonnenuntergang über dem Meer knipst … es müssen über hundert Bilder sein, die er liegend und stehend zu einem einzigen Fotomotiv macht, auch von mir, wie ich schreibe und die Sonne gerade vor mir am Horizont untergeht. Draußen in der Gironde-Mündung kann man in einigen Kilometern Entfernung den 400 Jahre alten Leuchtturm von Cordouan sehen, der da ganz allein auf einer kleinen Insel steht … hat was. Die Spitze der Halbinsel Médoc, zwischen Atlantik und dem Mündungsarm der Gironde gelegen, ist nicht mehr fern. Dort (Pointe de Grave) wird mich die Fähre auf die andere Seite der Gironde übersetzen. Die Stimmung ist toll, Philipp setzt sich zu mir, wir genießen leise den Moment. Wenn man mit einem anderen Menschen einen Sonnenuntergang gemeinsam erlebt, nur diesen einen einzigen, so bleibt dieser Moment unvergesslich.

Mit Philipps Stirnlampe ist es mir im Zelt möglich, noch meinem Tagebuch von diesem Treffen zu berichten. Eine französische Familie rastet 40 Meter weiter, jedoch durch die Bäume kaum zu sehen, und die Erwachsenen fluchen lautstark über die ungeheuerlich vielen Mücken … was sind wir froh, hier drinnen geschützt zu sein. Und müssen etwas lachen, wie schrecklich laut die beiden schimpfen, das hat etwas von einem Comedy-Sketch. Schließlich geben sie es auf und fahren ab … nun haben wir unsere Ruhe, keine Autos zu hören, ich knipse das Licht aus. Philipp fragt mich, ob meine Reise religiöse Gründe hat. Für ihn ist der katholische Glauben ein Teil seiner Identität. Bei mir ist das anders, keine Religion, aber ohne „Glauben“ würde es nicht gehen. Ich berichte von meinen Beobachtungen, die ich an mir selber während dieser Reise bereits gemacht habe. Dass ich Trost darin finde, in Kirchen zu gehen, wo ich in meinem „normalen“ Leben nie etwas mit Kirchen anfangen konnte, allein der Drang in eine Kirche hineinzugehen ist völlig neu für mich. Philipp hört mir gespannt zu … es vergehen ein bis zwei Stunden, ehe die Vernunft siegt und wir beschließen, endlich unseren wichtigen Schlaf zu holen, schließlich steht ein weiterer anstrengender Tag bevor, für Philipp, für mich … das ist meine erste Zeltnacht auf dieser Reise. Und es wird mit Sicherheit auch die bisher heißeste Nacht werden! Also was die Temperaturen betrifft …

Halb sieben stehen wir auf. Die vielen Mücken nerven beim Zusammenpacken. Philipp gibt mir sein letztes Geld (30 Euro), er kann sich im Laufe des Tages an einem Bankautomaten Geld holen, sagt er. Ich notiere seine Kontodaten und versichere, dass Geld so schnell wie möglich zu überweisen. Philipp ist deswegen nicht nervös, zweifelt nicht an meiner Ehrlichkeit. Ich bin richtig erleichtert, für die nächsten Wochen bin ich also abgesichert, die Vorfreude auf die kommenden Etappen ist wieder deutlich gestiegen. Bevor wir in entgegengesetzte Richtungen aufbrechen, gönnen wir uns noch ein Frühstück unterhalb der Düne, wo sich die Mückenbiester nicht blicken lassen. Philipp schmeißt den Gaskocher an, ich spendiere das Wasser zum Kaffee, den wir gemeinsam aus seinem Pfadfinder-Becher trinken. Aus einer Schüssel löffeln wir warmen Haferbrei, den wir mit zwei Bananen und einem Apfel noch aufgepeppt haben. Eines dieser seltenen Frühstücke dieser Reise, das diesen Namen auch verdient hat. Philipp ist auf dem Land groß geworden, wurde katholisch erzogen, besaß nie einen TV, ist in keinen sozialen Netzwerken im Internet zu finden. Das ist weise. Er schreibt lieber Postkarten an die Familie und an Freunde. Eine tägliche SMS an die Freundin darf auch nicht fehlen, damit sie sich keine Sorgen macht. Gegen halb neun stehen wir schließlich an einer Pistengabelung, der Zeitpunkt des Abschieds ist gekommen. Ich werde melancholisch, gestehe Philipp, dass ich gern manchmal jemand hätte, der auf mich wartet oder der zusammen mit mir die Welt erobern möchte. Er hat da seine Freundin, ist vielleicht dadurch sogar motivierter als ich. Aber da ist nun mal nichts zu ändern: Ich habe niemand, niemand steht hinter mir, ich bin allein … es ist okay. Wir umarmen uns, wünschen dem anderen eine gute Reise und schon bin ich wieder allein unterwegs. So ist das Leben, Alleinsein gehört dazu.

Zum Fähranleger sind es noch zwei Kilometer. Eine lange Fahrzeugschlange hat sich gebildet. Ich habe es einfacher, laufe einfach durch, kaufe mir mein Ticket und springe an Bord. Suche mir einen Sitzplatz im Freien, es wird viel Deutsch gesprochen. Gutes Timing, die Fähre fährt wenig später ab. Es geht bei schlechter Sicht über den fünfzehn Kilometer breiten Mündungstrichter der Gironde ins vierte Département, Charente-Maritime, mit seiner Hauptstadt La Rochelle. Der erste Ort ist jedoch Royan (18.000 Einwohner), das 1945 bei britischen Luftangriffen zerstört und modern neu aufgebaut wurde. Keine schöne Stadt, viel Beton, selbst die große Kirche Notre-Dame wurde aus Beton gebaut. Ich laufe am großen Jachthafen vorbei und bin insgesamt knapp zwei Stunden in der Stadt unterwegs. Es ist Samstag, an den Marktbuden reihen sich die Menschen, mir etwas zu stressig. Bummeln kann ich nur außerhalb von Ortschaften. Auffallend ist aber, dass sehr viele Franzosen Beutel mit langen, unverpackten Baguettes durch die Gegend tragen … meist sind nur eins, zwei Baguettes im Beutel, nichts anderes. Es ist also ein absolut zutreffendes Klischee. Mir sind die Dinger aber zu teuer, ich muss mich von einer Packung Chips ernähren. Ich komme an einem Kiosk vorbei, erfahre dabei erst jetzt, nach knapp zwei Wochen in Frankreich, dass Sarkozy als Staatspräsident durch Hollande abgelöst wurde, das geschah in den Tagen, als ich vom spanischen ins französische Baskenland gelaufen bin. Unterwegs interessiert dich so etwas aber auch nicht, was spielt das schon für eine Rolle, wer französischer Präsident ist? Klar, ohne Sarkozy wird es nun noch etwas öder in der europäischen Politik. Das ist dann aber auch schon alles.

Zur Mittagszeit verlasse ich Royan, laufe dabei auf den Fußwegen entlang der flachen Felsenküste. Viele Strände hier, der starke Wind bläst mir meinen Hut vom Kopf. Die nächsten Orte reihen sich übergangslos aneinander. In Frankreich muss ich in der Regel Umwege in Kauf nehmen, wenn ich eine der großen Supermarktketten suche, um günstig einzukaufen … das geht in Frankreich nur bei Super U und Co. In Saint-Palais-sur-Mer habe ich Glück, ein Super U ist ausgeschildert, das ist meine erste günstige Einkaufsmöglichkeit seit Tagen. Problem in Frankreich: es gibt selten Entfernungsangaben, da kann der Supermarkt 500 Meter oder auch 5 Kilometer entfernt sein. So laufe ich also immer den Schildern nach, einmal links, dann wieder rechts, immer weiter, ich komme immer mehr aus dem Ort raus … „première à gauche“ steht schließlich geschrieben … okay, also die nächste Querstraße nach links, Sackgasse, nervig … irgendwann habe ich es dann doch geschafft, schnappe mir einen Korb (Anfängerfehler!) und zahle den in mir schlummernden Heißhunger Tribut. Der Korb ist voll, das mir übergebene „Blutgeld“ von Philipp ist schon wieder weg. Solche Heißhunger-Attacken sind jedoch auch entschuldbar, Philipp konnte meinen Hang zu Naschkram (vor allem in Form von Pausenbelohnungen) gut nachvollziehen. Auch er hat schon mal eine Packung mit acht Hörncheneis gekauft und alle hintereinander verdrückt. Dachte schon, dass außer mir sonst niemand auf so eine Idee kommt. Mit vier Kilogramm zusätzlichem Gewicht geht es weiter, da ich nicht alles im Rucksack verstaut bekomme, muss ich eine Plastiktüte mit diversen Keksverpackungen an den Rucksack hängen, das sieht vielleicht mal bescheuert aus! Ich muss mal wieder über mich selbst den Kopf schütteln. Ich lebe nach derselben Devise wie die meisten Menschen: „Was man hat, das hat man.“ Selbst ein Vagabund denkt in dieser Hinsicht nicht anders. Auf einem Picknickplatz lange ich kräftig zu: 500 Gramm Selleriesalat zum langen Baguette (in den großen Supermärkten finanzierbar), außerdem Wurst und Käse und 1,5 Liter billige Cola. Völlig vollgefressen schleiche ich weiter, immerhin ist das Wetter perfekt (Sonne-Wolken-Mix, 17 Grad Celsius). Man merkt jedoch sofort, ob man ein paar Kilo mehr im Rucksack hat. Nach zwei Kilometern zurück zum Meer brauche ich die nächste Pause. Ich studiere mein Kartenmaterial, damit in der Zwischenzeit mein Magen wieder mit sich und seinem schweren Leben klarkommt. Die große Übelkeit ist schließlich weg und ich kann auf einem küstennahen Radweg durch den Pinienwald in den Erholungsort La Palmyre laufen. Am Straßenrand liegt eine kleine Schlange, sie rührt sich nicht, aber es sind auch keine Verletzungen zu erkennen – irgendwie faszinierend, also Tiere aus nächster Nähe zu sehen, die man sonst praktisch nie zu Gesicht bekommt. Ich überlege kurz, ob ich sie noch etwas näher betrachten soll, finde aber nicht den Mut dazu … vor Schlangen habe ich Respekt, wie man so schön sagt, in Wahrheit habe ich natürlich einfach nur Schiss. Sie sind mir schlichtweg suspekt. Außerdem bilde ich mir ein, dass jede Schlange, der ich begegne, giftig ist. Wahrscheinlich würde ich auch eine Blindschleiche für eine giftige Schlange halten, dabei würde ich sogar gleich doppelt irren. Diese Schlange hier ist aber vielleicht wirklich giftig, denn nebenan befindet sich der Zoo, der angeblich meistbesuchte Zoo Frankreichs … La Palmyre schlägt Paris, das Leben bietet immer wieder große Überraschungen! Mich machen Zoos jedoch traurig. Genauso wie Hochzeitskolonnen.

So langsam aber sicher lassen die Sohlen meiner Sobrados nach. Ich mache mir Sorgen, obwohl noch zwei weitere Paar Schuhe an meinem Rucksack baumeln. Außerhalb der Ortschaften bleibt es ruhig, kein Straßenlärm, zum Samstag einige Leute auf ihren Fahrrädern unterwegs. Aus „bonjour“ wird nach einigen Stunden „bonsoir“ und schließlich stehe ich am großen, roten Leuchtturm Le Phare de la Coubre, etwas abseits des Fahrradweges. Ein paar wenige Familien sind noch auf der Düne oder am Strand unterwegs. Nur 25 Meter vom Leuchtturm entfernt steht ein zwei mal zwei Meter kleines Häuschen. Keine Fensterscheiben, keine Türen, aber intakte Wände und noch wichtiger: ein intaktes Dach. Es steht völlig verloren auf der Düne, niemand läuft in nächster Nähe daran vorbei. Ich kann gar nicht anders als hier zu bleiben, um die Nacht direkt neben dem Leuchtturm zu verbringen. Ich wollte zwar noch zehn Kilometer laufen, aber ich versuche nach wie vor die Geschenke des Weges anzunehmen und mich an ihnen zu orientieren. Ich ziehe also in das Häuschen ein, werfe den Müll nach draußen, streiche den trockenen Sandboden eben … ist noch nicht kuschelig und weich genug … ich schnappe mir ein in der Nähe liegendes Brett, schaufle noch einen Zentner Sand von draußen durchs Fenster hinein ins Innere. Wieder glattgestrichen, Matte so ausgerollt, dass ich im Liegen durch den schmalen Fensterspalt genau auf das Leuchtfeuer blicke. Perfekt. Auch die Tatsache, dass einmal mehr an einem Schlafplatz kein Zivilisationslärm zu hören ist. Man hört das 100 Meter entfernte Meer, die Vögel und den Wind. Ich bin dankbar für einen weiteren schönen Schlafplatz. Da die Sonne soeben am untergehen ist, verlasse ich meine Hütte für einen Moment und steige die Düne zum höchsten Punkt hinauf. Höre Musik, blicke zum Meer hinaus, die Sonne hinter einer dünnen Wolkenschicht am Horizont, esse zu Abend, trinke ein Bier, rauche eine Che, knipse Fotos, der 26. Mai findet einen triumphalen Ausklang.

Die Nacht ist fantastisch ruhig und angenehm warm. Immer wieder wache ich auf und sehe dabei das sich im Kreis drehende Leuchtfeuer – es ist einer meiner liebsten Schlafplätze. Halb sieben stehe ich auf, blauer Himmel; keine Menschen, keine Mücken … es gab da eine Zeit, da war für mich beides ein und dasselbe. Die ersten zwei Stunden geht es auf Radweg im Wald Forêt de la Coubre gut voran. Ich blicke rüber zur größten französischen Atlantikinsel Île d’Oléron. Ein Fuchs kreuzt meinen Weg. Die Stimmung ist gut. Erst im Badeort Ronce-les-Bains wird es wieder zivilisiert, mit entsprechenden negativen Begleiterscheinungen, allen voran Lärm. In der Mittagssonne und ohne den Schatten der Bäume ist es zu heiß, um stundenlang durchzulaufen. Eine Pause führt mich in die Touristen-Information, um mich nach dem Weg nach Rochefort und La Rochelle zu erkundigen. Ich erfahre, dass es vorerst nur auf Landstraßen weitergeht, die Stimmung bekommt einen Knacks. Hinter dem Ort nehme ich die einzige Brücke über den breiten Fluss Seudre und laufe auf der Straße zum Schloss Château de la Gataudière. Ich setze mich auf eine Mauer vor dem Eingang, esse Kekse, wobei ich viel mehr Bock auf ein kühles Bier hätte. Manchmal kommt ein PKW oder ein Wohnwagen vorbei, stoppt auf der Straße vor dem Eingang, Fenster wird heruntergelassen, ein Foto geknipst und die Fahrt fortgesetzt. Da ich mitten im Bild sitze und mir meine Kekse reinschlinge, steigt auch der ein oder andere aus, geht an mir vorbei, knipst ein Foto, steigt wieder ein und schon sind sie wieder weg. Es gilt keine Zeit zu verlieren, schon gar nicht im Urlaub. Nach einer Stunde geht es auch für mich weiter. Ich frage einen jungen Kerl, der gerade mit seinem Auto ins Schloss fahren will, ob ich auf dieser Straße richtig bin. Er hat keine Ahnung, ist noch nie die Straße in die Richtung gefahren, in die ich vorhabe zu laufen. Ich soll kurz warten, er geht zu einem Seiteneingang hinein, kommt nach etwa zehn Minuten wieder. Er hat gefragt und die da drinnen meinen, dass ich schon ganz richtig bin. Eine Einladung des Schlossherrn zu einem Festschmaus bekomme ich nicht. Solang ich meine Kekse habe, ist das auch nicht weiter tragisch, wenngleich ich gegen ein großes Stück Fleisch nichts einzuwenden hätte.

Nach einer weiteren Stunde auf der Landstraße im flachen, öden Binnenland mache ich auf einem Autorastplatz halt. Noch 20 Kilometer abseits der Küste bis nach Rochefort zu laufen ist ein frustrierender Gedanke. Ich setze mich an einen Tisch und picknicke. Außer mir ist noch ein älteres Pärchen aus den Niederlanden mit ihrem Wohnwagen da. Wir kommen ins Gespräch, übers Reisen kann man aber auch immer und überall reden. Die Beiden bieten mir an, mich bis nach Rochefort mitzunehmen. Ich nehme dankend an. Während der Fahrt stellt sich auch heraus, dass das eine gute Entscheidung war. Viel Verkehr auf wieder einmal engsten Straßen. Als wir an der Zitadelle von Brouage vorbeifahren, ärgere ich mich kurz nicht gelaufen zu sein. Hier hätte es vielleicht einen einzigartigen Schlafplatz gegeben. Andererseits ist die Vorfreude groß, mal wieder eine Nacht in einer Stadt zu verbringen. Neben der alten Schwebefähre geht es auf einem Viadukt über den Fluss Charente. Schon sind wir am Ortsrand von Rochefort. Meine niederländischen Chauffeure halten Ausschau nach einem Campingplatz, finden nichts und lassen mich schließlich bei einem Gewerbegebiet aussteigen. Ich danke und großmütig sage ich, dass man sich dann in einigen Wochen vielleicht in Alkmaar, ihrer Heimatstadt, wiedersieht. Sie lachen und düsen ab. Ich schnappe meinen Rucksack und muss mich erst einmal orientieren. Ich könnte auf der Straße weiter nach La Rochelle laufen, aber 40 Kilometer auf der einzigen und damit vielbefahrenen Straße sind wenig verlockend. Ich beschließe erst einmal ins Zentrum von Rochefort hineinzulaufen. Es ist windig und trotz der heißen Temperaturen fröstelt es mich. Ich fühle mich ziemlich schlapp. An einem Bahnhof ankommend, noch ehe ich wirklich das Stadtzentrum erreicht habe, schaue ich etwas mechanisch nach den Fahrpreisen für ein Ticket nach La Rochelle. Vier Euro empfinde ich als das Schnäppchen schlechthin. Ich erwache aus meiner Trägheit, habe mir sofort in den Kopf gesetzt, den anstrengenden Asphaltmarsch nach La Rochelle sausen zu lassen, um dafür schon heute Abend in La Rochelle zu sein. Vor einigen Jahren wäre ich dort schon mal fast gelandet, als ich mir einen Rundflug mit einer Billigflieger-Airline durch Europa zusammengebastelt hatte. Aber anstatt zwei Monate mehrere europäische Länder zu besuchen, fand ich alles Glück der Welt auf einer einzigen Insel: Irland. Dort hätte ich bleiben sollen. Warum ich damals geglaubt habe, dass ich unter dem Rock einer Frau noch mehr Glück finden könnte, erschließt sich mir heute nicht mehr. Ticket am Automaten gekauft, zehn Minuten später sitze ich auf meinem Platz, meine erste Zugfahrt in Frankreich.

Nach einer halben Stunde erreichen wir den Bahnhof von La Rochelle. Raus, ein Foto vom hübschen Bahnhofsgebäude gemacht, weiter Richtung Stadtzentrum marschiert. Der Alte Hafen (Vieux Port) und die umliegende Altstadt haben es mir angetan. Vor allem das Hafenportal mit dem Tour St.-Nicolas auf der einen und dem Tour de la Chaîne (Kettenturm) auf der anderen Seite. Die Hafeneinfahrt zwischen beiden Türmen ist keine 50 Meter breit. Auf keiner Postkarte von La Rochelle fehlt ein Bild dieses Hafenportals, dessen Anblick sich unwiderruflich ins Gedächtnis einbrennt. Nur selten gibt es Städte, die einem durchgängig positiv begegnen. La Rochelle und ich haben beide einen guten Tag erwischt. Ganz sicher hätte es auch ganz anders kommen können. Die Stadt ist voll, was mich heute aber nicht weiter stört. Auch die vielen Touriboote sind zum Sonntag gut gefüllt und pausenlos unterwegs. Marktstände sind aufgebaut, die Nachfrage scheint groß, auch die Café-Freisitze sind ausnahmslos gut gefüllt. Kinder fahren auf einem Karussell. Viele Kirchtürme sind zu sehen, die Läden in der Altstadt, mit den vielen Arkadengängen, haben geschlossen. Ich laufe durch den langgezogenen Parc Charruyer, der einen großen Teil der Altstadt umschließt und der Stadt zusätzlich Charme verleiht. Wenn man den Park von Nord nach Süd durchläuft, kommt man direkt zum kleinen Strand von La Rochelle. Es ist bereits halb acht, einige baden sogar, viele Familien und Jugendgruppen sitzen hier oder gehen spazieren. Ich setze mich auf eine Bank, rauche ein Che, überlege wo ich pennen könnte, meine Suche hat bisher nichts ergeben. Ich laufe am Tour de la Lanterne (Laternenturm) und der Wehrmauer vorbei zum nahegelegenen, bereits liebgewonnenen Hafenportal. Setze mich auf eine Bank bei einem Kriegerdenkmal und schreibe eine Postkarte an Stefanie, die erste in Frankreich. Mit Musik in den Ohren breche ich anschließend zum Abendspaziergang auf. Die Sonne geht über der Stadt unter, ich stehe so, dass ich das Hafenportal mit seinen Türmen und der dahinter untergehenden Sonne knipsen kann. Schöne Fotos. Ich bin berauscht, setze mich auf eine Bank, ziehe mir die Kapuze über den Schädel und genieße den Anblick der Abendröte. Es sind schöne, unvergessliche Stunden in La Rochelle. Auf der anderen Seite der schmalen Bucht laufe ich einen Spazierweg entlang, blicke immer wieder über das Wasser zur Altstadt mit seinen drei Türmen. Lichter gehen an, die Nacht ist da, auch das ist ein schöner Anblick.

Zurück am Vieux Port laufe ich an den Marktbuden vorbei, ohne irgendwo zu stoppen, weil ich kein Geld habe und noch wichtiger, weil mich die Leute erdrücken. Am letzten Verkaufsstand, in Richtung Hafenausfahrt, blickt der Verkäufer auf meinen Rucksack und spricht mich an. Er ist neugierig, wo meine Reise hingeht. Wir schwatzen kurz und dann zeigt er mir, was er und seine Frau verkaufen. Dabei handelt es sich um Schmuck (Halsketten, Armbänder), den vor allem sie herstellt. Sie haben sich für drei Tage den Stand gemietet, teuer, aber der Verkauf ist dank der vielen Touristen gut. Sie kommen aus den Pyrenäen. Sie spricht kein Englisch, ich versuche es auf Französisch und bin schon dankbar, wenn dabei überhaupt einmal etwas Verständliches aus meinem Mund kommt. Gegen Mitternacht werden die Zelte um die Verkaufsstände geschlossen, wenn ich möchte, kann ich die Nacht in ihrem Zelt verbringen. Sie räumen nachher alles zusammen und kommen am nächsten Morgen wieder. Ab und an kommt ein Sicherheitsmann vorbei, aber dieser könnte mich im Inneren des Zeltes nicht sehen. Falls er mich doch bemerkt, soll ich aber nicht sagen, dass die Beiden es mir erlaubt hätten, denn dann würden sie Ärger bekommen. Alles klar, ich danke.

Der Schlafplatz erweist sich als nicht die beste Wahl. Die Laternen bleiben die ganze Nacht über an, es ist recht hell und selbst drei Uhr ist noch Radau, vor allem Männer grölen auf dem schmalen Weg neben dem Zelt herum. Einer pisst gegen die Plane, der Gestank macht sich im ganzen Zelt breit, mir wird übel – die Nächte in der Zivilisation bringen auch den Gestank der Zivilisation mit sich. Ich sollte nicht mehr mitten in Städten pennen. Im ersten Tageslicht habe ich genug und ziehe weiter. Das ewig selbe Bild eines Stadtzentrums am frühen Morgen spielt sich vor meinen Augen ab, keine Touristen mehr, nur die Reinigungskräfte sind unterwegs, ansonsten Totenstille, wie angenehm. Der Gang raus aus La Rochelle ist wenig erfreulich, im Gegenteil, im Zickzack geht es durch Industriegebiet. Ich habe schon zehn Kilometer in den Beinen, als ich noch immer in La Rochelle bin und an der drei Kilometer langen Brücke zur Île de Ré stehe. Ein Ausflug auf die Insel bleibt aus, ich bin nicht gut drauf, will einfach nur vorankommen. Außerdem müsste ich den gleichen Weg wieder zurück, was ich ja beim Tode nicht ausstehen kann. Die Fähre zurück zum Festland – was eine schöne Abkürzung wäre – kann ich mir nicht leisten. Statt der Abkürzung muss ich um die Bucht l'Aguillon laufen, eine frustrierende Angelegenheit, denn die Bucht führt gerade kein Wasser, es ist warm und das Laufen auf dem Fahrradweg eine monotone Angelegenheit. Auch die Aussichtspunkte über das Naturreservat bringen keine Freude, lediglich kurze Verschnaufpausen. Ich schalte Musik ein, versuche mich abzulenken – wie so oft folgt einem glücklichen Tag ein Tag düsterer Melancholie. Ein paar Radler sind unterwegs, die meisten sind augenscheinlich Urlauber, so weiß wie sie sind. Um über den Fluss Sèvre Niortaise zu kommen, geht es einige Kilometer landeinwärts, der zweite Umweg heute. Nach der Mündung des Sèvre Niortaise macht das französische Festland einen großen Bogen zum Atlantik hin; woraus ein dritter Umweg resultiert, von zwei Tagesmärschen, im Vergleich zum direkten Weg nach Nantes. Aber weil ich am Meer bleiben möchte, nehme ich es in Kauf. In der Mitte der Brücke über den Sèvre Niortaise beginnt Département Nummer fünf meiner Frankreich-Wanderung: Vendée. Wie die anderen Départements zuvor noch nie gehört. In Vendée stehen 200 Kilometer Atlantikküste bevor, ansonsten scheint es hier nichts Besonderes zu geben, zumindest keine mir bekannten Städte. Ein Blick auf die Karte verrät auch nicht gerade viele Ortschaften in dieser Region. Einsame Tage stehen bevor, vorerst auch im Landesinneren, umgeben von Feldern und Kanälen, ohne Aussicht aufs Meer. Ich treffe auf ein älteres Pärchen, ausgerüstet mit Wanderstöcken, wir laufen ein paar Kilometer zusammen, sehr langsam. Sie verstehen kein Englisch, was die Unterhaltung recht lustig werden lässt, dank meines ungeheuren Talents, mich mit Mimik und Gestik zu verständigen. Bei einem Bauernhof verabschieden wir uns voneinander, sie geben mir noch Tipps zur Route und kehren um. Ich laufe gleich weiter. Der ohnehin schon frustrierende Tag bekommt seine Pointe, als ich feststellen darf, dass der Fahrradweg permanent im Zickzack verläuft, was locker das Doppelte an Strecke mit sich bringt und somit auch die Aussicht, am Abend zurück am Meer zu sein, aussichtslos werden lässt. An sich ist es gar nicht so übel zum Wandern, also die einsame Gegend, keine Straßen, der ausgeschilderte Radweg (gleichzeitig auch Fernwanderweg), Entfernungsangaben zum nächsten Ort, die vielen Vögel, aber irgendwie kann ich mich am ersten Tag noch nicht mit Vendée anfreunden. Ich werde nun einige Tage länger brauchen, um in Nantes die Loire zu erreichen. Hätte ich das Ziel nicht, spätestens bis Mitte November am Nordkap zu sein (sein zu müssen), wäre es nicht weiter beunruhigend, aber so … ich muss halt aufpassen, dass der Rückstand nie zu groß wird, ich darf nie in die Situation kommen, dass ich mein Ziel zu Fuß nicht mehr erreichen kann.

Nach 52 Kilometern an diesem Tag – und somit Einstellung der bisherigen Bestmarke – erfülle ich mir einen Wunsch, nämlich einmal mitten in einem Getreidefeld zu pennen. Das erweist sich schnell als Fehler, denn ich werde mitten in einer Mückenoase nächtigen. Aber der Erfahrung wegen! Die Sonne geht halb zehn hinter einem anderen Feld unter, weit und breit kein Haus zu sehen, Abendröte. Es wäre so schön romantisch, wenn nicht diese Biester wären, dieses pausenlose tzzzzzzzzzzzz macht mich ganz kirre, passt aber auch irgendwie zum ganzen Tag. Ich stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren, das hilft. Meinen Körper mumifiziere ich mit meinem Schlafsack, das hilft auch. Da ich aber nichts mehr höre, befürchte ich am Morgen von einem Trecker überrascht zu werden, spätestens dann, wenn er über mich rollt.

Ich schlafe jedoch gut, und mitten in der Nacht ist auch das tzzz verklungen, dafür schlägt nun die Nässe zu, ohne dass es regnet. Aber der Schlafsack hält und so war die Nacht doch viel besser, als zuerst befürchtet. Zum Sonnenaufgang packe ich meine Sachen, die Mücken schlafen noch, ein Trecker ist nicht zu sehen, und wenig später bin ich auch schon wieder auf dem Radweg unterwegs. Kurz darauf bin ich zurück am Meer, am Horizont macht sich die Île de Ré breit. In L'Aiguillon-sur-Mer habe ich Glück, finde einen Super U, wo ich meine leeren Nahrungsvorräte auffüllen kann. Nach dem Großeinkauf bleiben mir noch genau 18 Euro, davon kann man leben, zumindest in nächster Zeit. Im Zickzackkurs geht es weiter, Fahrradweg neben der Düne und im nächsten Moment wieder zwei Kilometer davon entfernt, bis ich genug davon habe und direkt am Ufer laufe, wo ich mich ohnehin am wohlsten fühle, trotz der zusätzlichen Anstrengung, die beim Laufen auf Sand vonnöten ist. Ich erreiche La Tranche-sur-Mer und ärgere mich, dass ich auch hier hätte einkaufen können, stattdessen so die letzten Kilometer mit unnötigem zusätzlichen Gewicht gelaufen bin, und dann noch bei dieser Hitze. Ich trinke fünf Liter an diesem Tag, der ereignisarm zu Ende geht. Drei Kilometer vor Saint-Vincent-sur-Jard lege ich mich am Waldrand hin, blicke aufs Meer und döse ein.

Immer weiter am Strand, stehe ich schließlich vor einer Sandwüste, durch die sich mäanderförmig ein Fluss schlängelt. Auf meiner Touristen-Karte ist davon nichts zu sehen, auch nicht zuvor auf den regionalen Karten am Wegesrand. Ich ziehe meine Schuhe aus, ziehe alles aus, bis auf die Boxershorts, laufe langsam, Fuß vor Fuß durch das Wasser, habe zwölf der siebzehn Meter geschafft und auf einmal fällt die Flussrinne ins Bodenlose. Wie zum blanken Hohn steht auf der anderen Uferseite ein Angler, stoisch, bemerkt mich vielleicht nicht einmal, reicht mir auch nicht die Leine, an der ich mich durch die Strömung ziehen könnte. Während ich so verloren im Wasser stehe, kommt auf einmal völlig überraschend ein Schauer runter … das muss ein Bild für die Götter sein: ein Bild eines Idioten, der durch den Fluss waten möchte, wo jeder andere sofort gesehen hätte, dass es ein unmögliches Unterfangen ist. Ich gehe zurück, genauso langsam wie zuvor, stehe wieder auf der Sandbank, der Regen hört schlagartig auf. Ich fühle mich veräppelt. Aber ans Aufgeben denke ich nicht. Laufe einige Meter flussaufwärts, suche eine andere Gelegenheit, versuche es ein zweites Mal und muss wieder kurz nach der Flussmitte mein Vorhaben abbrechen. Ich fühle mich schließlich dann doch beobachtet, zumal auf der anderen Uferseite eine Familie picknickt. Ich laufe auf Sand noch weiter am Flussufer lang und nach all den Biegungen weiß ich irgendwann gar nicht mehr wo ich bin. Die Sandbank findet ein Ende, ich laufe oberhalb des Flusses am Waldrand weiter, mitten durchs Gebüsch, aber es gibt einfach keinen Weg raus, eine Brücke ist kilometerweit nicht zu sehen, zu allem Überfluss spaltet sich der Fluss auch noch in zwei mäanderförmige Flüsse auf und schließlich versperrt mir ein Zaun den Weg, Privatgelände. Frustriert setze ich mich ans Flussufer, vertilge eine Packung Kekse, versuche mich durch Rauchen zu beruhigen und muss schließlich konsterniert einsehen, dass ich den Weg ganz genauso wieder zurückgehen muss, wie ich gekommen bin. Damit ich es mir nicht anders überlege, lässt der weitestgehend blaue Himmel noch einmal für einen kurzen Moment seine Schleusen öffnen … „ist ja gut“, schimpfe ich und begebe mich auf den Rückweg; bedeutet erst einmal fünf Kilometer zurück, um dann den regulären Weg durchs Landesinnere (fünfzehn Kilometer) zu laufen: Um also auf die andere Uferseite zu gelangen, stehen zwanzig Kilometer Wegstrecke an, wo mir hier gerade nur fünf bekloppte Meter fehlen, um den Fluss zu überqueren. Ich komme mir vor wie in der tiefsten Wildnis. Und genauso akzeptiere ich schließlich auch die Bestimmungen der Natur. Trotzdem bin ich froh, als ich zurück in der Zivilisation bin, genauer: im Ort Talmont-Saint-Hilaire. Eine reizende kleine Stadt, mit einer Burg und ansehnlichen Kirche. Ich frage mich, warum ich nicht gleich diesen Weg eingeschlagen habe. Ein Plakat erinnert mich daran, was ich in diesem Jahr nicht haben werde: die Spiele eines großen Fußballturniers (in dem Fall die EM) auf meiner Couch zu schauen, mit Bier, viel Bier, Chips, vielen Chips, und der Ruhe, die ein Mann beim Fußballschauen braucht. Nein, das wird es in diesem Jahr nicht geben. Für einen Moment bekomme ich Heimweh, denke mir schließlich aber, dass jeder Fußball schauen kann; durch Europa zu laufen gelingt nicht so vielen Leuten, und denen es gelingt, gelingt es nicht allzu oft.

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440 стр. 1 иллюстрация
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9783753185378
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