Читать книгу: «Lied vom stillen Sommernachtstraum», страница 2

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Meine Hütte ist durch einen schmalen Eingang betretbar, im Inneren gibt es nur einen etwa zwölf Quadratmeter großen Raum, etwas Müll liegt auf dem sandigen Boden, ich räume mir eine Ecke frei. Es ist dunkel, aber immerhin gelangt etwas Licht durch eine kleine Spalte. Dieser Bunker hier ist eigentlich genau der Ort zum Verweilen, den ich mir gewünscht habe: geschützt gegen Regen und Wind, draußen eine tolle Aussicht aufs Meer, Ruhe, niemand würde mich hier oben auf der Düne beim Sterben stören, den Strand sehe ich nicht, also auch keine Menschen. Der nächste Ort ist weit genug entfernt, wie die meisten Orte hier etwa fünf Kilometer hinter der Küstenlinie, weil zwischen Düne und Ortschaft der Wald als Auffangbecken der Unmengen von Sand dient, die durch Wind kilometerweit ins Landesinnere transportiert werden. Ich setze mich neben den Bunker, um zu schreiben. Etwas Last kann ich dabei abwerfen. Ich denke den ganzen Tag schon an das Himmelfahrtsfest, das ich die letzten zehn Jahre immer mit meinen Jungs von den Paparazzis in Leipzig gefeiert habe, bei Achim im Garten, mit viel Bier, geselliges Zusammensein aller Fanclub-Mitglieder, zum Mittag leckere Wurst vom Fleischer, dazu Brötchen, am Nachmittag ein Kick auf der Parkwiese, mit Bierflasche in der Hand, danach Grillen … oh weh, ich wusste ja anscheinend gar nichts in meinem Leben zu schätzen. Nun bin ich allein, keine warme Mahlzeit, gerade noch fünf Kekse und drei Kippen im Rucksack, vier lächerliche Cent im Portemonnaie, am Ende. Die melancholische Musik hilft da auch nicht … wieder läuft Song to Siren … Here I am. Here I am … wie schon an der Sagrada Família … wie vor drei Jahren in Fredericia, auch damals mit Blick aufs Meer … nur da wartete noch eine Familie auf mich … Ich steigere mich immer mehr in meine Wehmut hinein, aber was solls, denn Reue ohne Weh wäre auch keine Reue.

Von wegen meine Ruhe. Ich penne bereits vor 20 Uhr ein, wenig später werde ich aufgeschreckt, weil jemand gegen meinen Schlafsack tritt. Ein älterer Mann schaut zu mir runter – dachte hier läge nur Müll, womit er auch nicht ganz im Unrecht lag – reicht mir die Hand, entschuldigt sich und verschwindet gleich wieder, „bonne nuit“. Der Rest der Nacht ist wirklich gut, ich kann jedenfalls nicht meckern und kann ausgeruht in den Tag der Entscheidung starten. Der Himmel ist grau, aber es bleibt weiterhin trocken in Frankreich. Auf der D652 geht es weiter nach Norden, von kurzen Pausen in den aller paar Kilometer kommenden Dörfern unterbrochen … mit der Motivation steht es heute gar nicht so schlecht, pro Pause gibt es einen Stimmungsaufheller, entweder eine Kippe oder einen Keks, immer im Wechsel. Erstaunlicherweise bin ich damit zufrieden, so verändern sich die Maßstäbe … vor zwei Wochen wäre ich noch ziemlich ernüchtert gewesen. Ich gerate endlich mal wieder richtig ins Rollen, in den letzten Tagen habe ich eindeutig zu wenig Strecke gemacht. Zwischen zwei Ortschaften komme ich an einem Restaurant vorbei, gehe spontan hinein, keine Gäste, frage die Kellnerin ob sie irgendwelche Essensreste in der Küche hätten. Sie scheint Mitleid mit mir zu haben und würde gern, muss aber erst ihren Chef fragen. Ein Mann im Che-Shirt kommt nach vorn und beantwortet meine Bitte mit einem einfachen „no!“ … okay, ich gehe trotzdem zufrieden heraus, denn ich habe es wenigstens versucht, was mir viel Überwindung abverlangte … außerdem werde ich in meiner Meinung bestätigt, dass nicht jeder, der Ches Konterfei herumträgt, auch wie Che denkt, nicht einmal ansatzweise, es ist und bleibt eine Modeerscheinung … für mich jedoch wird Che immer ein Vorbild sein. Auch im Guerillakrieg wurden die Rebellen nicht überall, wo sie vorbeikamen, unterstützt. Aber sie mussten es versuchen, immer wieder. Also starte ich im Dorf Lit-et-Mixe einen zweiten Versuch … diesmal eine Pizzeria (Restaurant Camping L'univers), erneut kaum Autos auf dem Parkplatz davor, was die Hemmschwelle geringer werden lässt … gleich vier Menschen hinter der Bartheke … eine ältere Frau, ein Mann im mittleren Alter, daneben wohl seine Frau und noch eine Jugendliche … also wahrscheinlich drei Generationen einer Familie. Ich frage erneut auf Französisch, um so etwas Bonuspunkte zu sammeln. Die Jugendliche hilft mir, spricht als einzige in der Familie Englisch und übersetzt für die anderen. Sie fangen an zu lachen, ich lache mit … die Chancen scheinen gut … ich soll auf dem Barhocker Platz nehmen und warten. Wenig später kommt die Frau der mittleren Generation zurück, reicht mir einen Teller mit einem halben Baguette, mit Schinken belegt … der Mann stellt mir ein Glas Wein neben den Teller. Ich bin glücklich und bedanke mich freudestrahlend vielmals. Ich bin weniger glücklich, etwas Ordentliches in den Bauch zu bekommen, als vielmehr, dass ich endlich nette Menschen in Frankreich getroffen habe, das bringt neue Zuversicht. Als ich fertig bin, bedanke ich mich noch mal bei allen; die ältere Frau meint, dass ich Gott danken soll … vermutlich hat sie Recht …

Die Département-Straße ist zum Glück recht leer, was die schmale Straße einigermaßen erträglich macht. Bei den Pausen bleibt es dabei, entweder Keks oder Kippe … auf dem Rathausplatz von Saint-Julien-en-Born ist es ein Keks … auf einer Grünfläche vor der Kirche von Bias eine Kippe … das letzte Stück auf der D652 nach Mimizan ist dann doch noch etwas stressig, deutlich mehr Autos, muss immer mal zur Seite springen, so dass ich erleichtert bin, endlich in der kleinen Stadt zu sein, durch der auch ein Jakobsweg führt. Vor einem großen Supermarkt sehe ich einen alten VW-Bus, intuitiv schaue ich nach dem Kennzeichen … oh, aus Deutschland … ich gehe hin, weil ich einen Mann neben dem Fahrzeug stehen sehe, eine Frau steigt aus … sie wollen gerade in den Supermarkt gehen, als ich sie anspreche, was ja so gar nicht meine Art ist … die Not ändert den Charakter eines Menschen … ich frage geradeaus, ob sie etwas Essbares für mich hätten … beide fühlen sich offensichtlich etwas von mir überrumpelt … wir unterhalten uns ein wenig, ich erwähne meine Probleme mit meiner Geldkarte und dass ich schon seit Spanien unterwegs bin … beide scheinen dann doch ein gutes Gefühl bei mir zu haben, öffnen noch einmal den Bus, um ein paar Lebensmittel für mich zusammenzusuchen … er gießt mir noch ein Glas Apfelsaft ein und reicht mir einen Fünf-Euro-Schein … wenn man nur noch vier Cent hat, fühlen sich fünf Euro wie der Jackpot im Lotto an … dementsprechend bedanke ich mich bei Karsten und Ilse aus Königsdorf (Bayern) und ziehe beglückt weiter, das bevorstehende Wochenende ist schon mal gesichert ... Weil ich gerade so einen Lauf habe, versuche ich es dann auch noch beim Bäcker, frage nach Backwaren nach, die sie morgen nicht mehr verkaufen können, aber die gute Frau holt mich zurück auf die Erde, sie hat nichts für mich. Man darf auch nicht zu gierig werden, wobei ich hier einfach nur mal sehen wollte, ob ich auch ohne Not zu leiden um Hilfe bitten kann. Auf dem Rathausplatz von Mimizan bin ich ganz allein, alles hat bereits geschlossen, es ist kurz vor sieben Uhr. Ich komme in den Genuss endlich mal wieder richtiges Schwarzbrot zu essen. In der öffentlichen Toilette kann ich auch endlich mal meine Füße waschen und die völlig durchlöcherten Socken entsorgen. Der Himmel hat sich den ganzen Tag über nicht aufgelockert, eine Regennacht droht.

Etwas außerhalb von Mimizan komme ich am See Étang d'Aureilhan vorbei, hier will ich mir einen Schlafplatz suchen. Nur noch wenige Leute sind am etwa zwei mal drei Kilometer großen, vom Wald umschlossenen See unterwegs. Ein Wanderweg führt um den See, dabei sieht man sogar hin und wieder eine Jakobsmuschel. Ein stoischer Dachs steht am Ufer, schaut mich an, schaut wieder zum See raus … erst als ich ganz nah komme, springt er ins Wasser und dreht ein paar Showrunden in Ufernähe, es scheint mir, als würde er mir sogar winken … Mücken scheint es zurzeit keine zu geben, zumindest werde ich verschont. Ich würde gern zum Feierabend hier am See eine rauchen, aber nichts mehr da. In einer ruhigen Ecke des Sees, abseits der Campingplätze, wo auch keine Autos lang können, beschließe ich unter einem großen Baum mein Nachtquartier aufzuschlagen, nur fünf Meter vom Ufer entfernt. Das Blätterdach des Baumes und der umliegenden Bäume imponiert nicht wirklich. Da es ein perfekter Tag war, hoffe ich, dass mein Glück anhält und es in der Nacht trocken bleibt. Eine Nacht an einem See ist ganz nach meinem Geschmack, denn ich mochte schon immer diese Idylle, die von einem See ausgeht, der mitten im Wald liegt. Vielleicht liegt es an irgendwelchen eingestaubten Kindheitserinnerungen, keine Ahnung, aber mir gefällts. Nachdem ich noch etwas gespeist habe, gehe ich auf dem Wanderweg am Ufer spazieren, nach nur 200 Metern sehe ich ein Zelt, direkt am Wasser aufgebaut. Ein junges Pärchen sitzt daneben, mit Bier, Zigaretten, Zelt, zwei Angelruten und Schlauchboot … ach ja … an einem romantischen Ort wie hier fehlt sie mir am meisten … noch einmal unschuldig jung sein, Zweisamkeit ausleben, sich oft und überall lieben, davor und danach ein Bier trinken … oder auch als Familie hier sein, zusammen sein, nur das zählt … ich spreche die Beiden an, bitte dabei um eine Zigarette … sie lächeln, der Kerl reicht mir eine Kippe … ich gehe wieder zurück zu meinem Nachtquartier, möchte sie in diesem schönen Moment ihres Lebens nicht stören. Aber auch mein Tag war schön, ein voller Erfolg. Fast 50 Kilometer gelaufen. Genug zu essen. Angenehme Begegnungen. Wieder ein paar Euro in der Tasche. Ein idyllischer Schlafplatz. Sogar eine Gute-Nacht-Kippe habe ich nun … morgen ist ein neuer Tag! Nun genieße ich den Augenblick, liege in meinem Schlafsack, blicke auf den Wasserspiegel, rauche, während sich das letzte Tageslicht in der Nacht verliert.

Ab zwei Uhr beginnt es zu nieseln, im Halbschlaf verkrümle ich mich noch tiefer in meinen Schlafsack, darauf hoffend, dass es gleich wieder aufhört. Die Strafe folgt wenige Minuten später, es gießt aus vollen Kübeln. Ich stehe auf, krame schnell meine Sachen zusammen, suche unter einem anderen Baum Schutz, was aber auch nichts bringt, weil es nun auch zu stürmen anfängt. Es ist stockduster, ich sehe fast gar nichts, habe schwer damit zu tun meine Sachen einzupacken, hier und da ein Blitz bringt etwas Licht. Ich brauche schnell einen Platz, wo ich geschützt bin. Es ist erst das zweite Mal, dass ich mein Nachtquartier wegen Regen verlassen muss. Vom Weg hierher weiß ich, dass vierhundert Meter zurück ein paar Baracken eines Wassersportvereins stehen. Also renne ich dorthin, habe Glück im Unglück, weil sich die Kajaks unter einer großen Zeltplane befinden. Dort muss ich als erstes aus meinen nassen Klamotten heraus, lege mich dann in meinen Schlafsack, der Gott sei Dank nur außen klitschnass ist. Das Schlafen fällt schwer, da es stundenlang schüttet, am schlimmsten ist der starke Wind, der mir die Regentropfen unter die Plane weht. Der Boden neben mir wird immer schlammiger, mitten drin mein Rucksack, immerhin hat die Plane keine Löcher und ist fest genug angebunden, um nicht fortzufliegen. Gegen acht Uhr höre ich die ersten Stimmen, junge Männer und ihr Coach. Dieser begrüßt mich mit einem „bonjour“, ich befürchte, nun auch noch mit meinen nassen Klamotten fortgejagt zu werden … aber kein Problem, der Mann ist nett, wir kommen ins Gespräch. Er ist begeistert, dass ich schon fast viertausend Kilometer in den Beinen habe. Der Trainer geht zu seinen Nachwuchssportlern, redet über mich, sagt soviel wie: schaut, was man alles mit Willensstärke erreichen kann. Ändert freilich nichts an der Tatsache, dass ich im Dreck liege, wie ein begossener Pudel. Der Trainer errät was ich brauche, bittet einen der Jugendlichen, mir die Kabine zu zeigen, wo ich mich duschen und meine Sachen reinigen kann. Ich bin dankbar, so durchnässt und schmutzig nicht aufbrechen zu müssen. Stattdessen breite ich meine nasse, schmutzige Ausrüstung in der ganzen Kabine aus, befreie alles nach und nach vom Schlamm und lass es noch etwas neben der Heizung trocknen. Auch die erste Dusche in Frankreich tut gut. Ich bin erstaunt, dass die jungen Kerle, die sich bereits umgezogen haben, ihre Sachen hier mit mir allein lassen, anscheinend nicht damit rechnen, dass ich etwas stehlen könnte. Das ehrt mich, weil ich rein äußerlich sicherlich einen Vorzeigelandstreicher abgebe. Zu weiteren Gesprächen kommt es jedoch nicht. Erst nach zwei Stunden bin ich soweit wieder gereinigt, vor allem mental, um aufbrechen zu können. Ich bin froh, dass es aufgehört hat zu regnen, zwischen den kleinen Ortschaften findet man so gut wie keinen Regenschutz. Ich bedanke mich beim Coach, der lächelt, wahrscheinlich wird er später seiner Frau von mir berichten. Netter Gedanke.

Auf Radweg geht es 15 Kilometer zum nächsten See Lac de Biscarrosse et de Parentis, recht groß, etwa 25 Kilometer Gesamtuferlänge, nur fünf Kilometer vom Atlantik entfernt. Im kleinen Ort Gastes setze ich mich auf eine Bank bei einem Spielplatz, direkt am See. Obwohl keine Sonne scheint, hänge ich meine nassen Klamotten auf den Ästen mehrerer Bäume auf, nebenbei schreibe ich in meinem Tagebuch. Nur kurz, denn ein 14jähriger Junge kommt von der Schaukel direkt zu mir und wir plaudern etwas auf Französisch. Es ist leicht zu merken, dass er schnell Gefallen an mir findet, in gewisser Weise zu mir aufschaut … sein zarter, verträumter, nachdenklicher Charakter gefällt mir, daraus sind oft die schönsten Menschen hervorgegangen. Obwohl wir nicht alles verstehen was der andere sagt, weiß er schnell wie er mir eine Freude bereiten kann. Er sagt zu mir, dass ich kurz warten soll, und verschwindet auf einem nahen Campingplatz. Nach fünf Minuten taucht er wieder auf, mit einem Beutel, wo sich ein Baguette, eine Konserve Wurst und eine Tüte Chips befinden. Ich bin erstaunt, habe ich ja um nichts gebeten, auch nicht erwähnt, dass ich nichts zu essen habe. Ich bin beeindruckt von soviel Feingefühl, als Jugendlicher hätte ich so etwas nie zustande gebracht … wahrscheinlich nicht mal jetzt, trotz aller Erfahrungen, die ich seitdem sammeln durfte. Eine Frau kommt zu uns an die Bank, fragt mich ob ich auf dem Weg nach Santiago bin. Sie verrät mir, dass ihr Mann und sie vor drei Jahren den Camino Francés gelaufen sind und dass sie sogar mal ehrenamtlich in der Pilgerherberge von Saint-Jean-Pied-de-Port ausgeholfen haben. Sie lädt mich auf eine Tasse Kaffee ein, im Wohnwagen nur ein paar Meter hinter meiner Bank. Ich nehme gern an, möchte aber noch ein paar Minuten mit Thomas, so heißt der Junge, verbringen. Es beginnt dann wieder zu regnen, gemeinsam sammeln wir meine Klamotten zusammen und finden anschließend unter dem Dach einer Spielanlage Schutz. Mit seinen Eltern macht er hier am See Campingurlaub. Es scheint Thomas hier zu gefallen, jedoch fehlt ihm irgendetwas … immer wieder bewundert er meinen Mut und wünscht sich auch eines Tages so mutig zu sein, um ein bisschen von dieser Welt zu entdecken. Wie alle jungen Menschen, die ein reines Herz haben, wird auch Thomas vor der Herausforderung stehen, sich gegen alle Schikanen des Lebens die Reinheit seines Herzens zu bewahren. Ich wünsche es ihm sehr. Denn die Welt braucht gute Menschen, jeden einzelnen, überall auf der Welt. Er sieht meine leeren Wasserflaschen und geht diese auf dem Campingplatz für mich auffüllen, bringt mir auch ein Messer mit, damit ich mir die Wurst aufs Baguette schmieren kann. Das mach ich auch gleich, Thomas selbst möchte nichts, es gab vorhin erst Mittag. Nach meiner Mittagsmahlzeit gehen wir zurück Richtung Bank, es nieselt noch etwas, als uns ein Mann entgegenkommt … er reicht mir die Hand, stellt sich als Joël vor … er ist der Mann von Josette, die vorhin bei uns an der Bank war … ich bin nun bereit für einen Kaffee im warmen und trockenen Wohnwagen, verabschiede mich herzlich von Thomas, der mir in seiner ganzen Zartheit eine gute Reise wünscht …

Bei Joël und Josette im als Wohnwagen ausgebauten Mercedes-Transporter begegne ich der Offenheit und Freundlichkeit, die ich mir schon seit Tagen in Frankreich gewünscht und erhofft habe. Wir unterhalten uns über das Pilgern, Joël spricht etwas Englisch, was ich gleich ausnutze, um mir das ein oder andere in Französisch übersetzen zu lassen. Der heiße Kaffee tut gut, dazu gibt es eine Rührkuchenspezialität aus der Region. Das ältere Pärchen entpuppt sich immer mehr zu einer glücklichen Begegnung für mich. Sie können mir nämlich wertvolle Tipps für das Pilgern in Frankreich geben. Zum Beispiel könnte ich morgen in Sanguinet (etwa 25 km entfernt) ins Rathaus gehen, um nachzufragen, ob noch ein Platz in der kostenlosen Pilgerherberge des Ortes frei ist. Hier in Frankreich soll das in den kleineren Orten oft möglich sein, einfach im Rathaus nachfragen. Ein guter Tipp. Das beweist, dass der Kontakt zu den Einheimischen einige Vorteile bringen kann, erst recht wenn man nichts mehr zu verlieren hat. Joël und Josette kommen aus Pau, vor drei Jahren liefen sie die achthundert Kilometer auf dem Jakobsweg, es war gleichzeitig der Abschluss ihres Berufslebens. Beide arbeiteten mit behinderten Kindern und finden es schön, dass ich auch in Zukunft mit Kindern arbeiten möchte. Immer wieder bieten sie mir etwas von dem leckeren Rührkuchen an, ich lange ordentlich zu … auch eine zweite Tasse Kaffee gibt es … sie wollen mir etwas Gutes tun und Josette ruft im nächsten Ort Parentis-en-Born im Rathaus an, ob es dort eine kostenfreie Schlafmöglichkeit gibt. Sie erfährt, dass wir zu einem Campingplatz fahren sollen und dort noch mal nachfragen müssten.

Das machen wir dann auch, nach wenigen Minuten erreichen wir Camping Municipal Le Pipiou, drei Kilometer außerhalb von Parentis-en-Born, nun an der Ostseite des gleichen Sees. Zum Wochenende ist die Rezeption unbesetzt, Josette ruft wieder an, wenig später kommt eine junge Frau. Übernachtung? Kein Problem. Es ist für Pilger kostenlos, die Gemeinde von Parentis macht dies möglich, denn hier läuft auch einer der französischen Jakobswege lang. Da morgen Sonntag ist, könnte ich auch bis Montag bleiben. Ich habe allen Grund begeistert zu sein, denn wieder mal bin ich überrascht, was einem Vagabunden so alles widerfahren kann. Man kommt in Situationen, mit denen man am Morgen nie und nimmer gerechnet, diese sich nicht einmal erträumt hätte. Joël und Josette freuen sich mit mir, er will mir einen Zehner geben, als Josette meint, dass es hier doch gar keinen Supermarkt gibt, und stattdessen mir einen Proviantbeutel zurechtmacht. Dank Kaffee, Äpfel, Joghurt und einem Päckchen Kartoffelsuppe, dazu die Sachen von Thomas, ist auch für die Abendverpflegung und das Frühstück am Morgen gesorgt … Schritt für Schritt geht es voran, die Hauptsache ist nur, dass ich immer weiterlaufe, nirgendwo festklebe. Nach einer herzlichen Verabschiedung brechen Joël und Josette auf, ich bin ihnen zutiefst dankbar. Nach der Horrornacht, die Sachen sind noch immer durchnässt, habe ich nun die Möglichkeit, wieder alles in Ordnung zu bringen … und auch mein Körper wird mir etwas Ruhe und Komfort danken. Die nette Frau an der Rezeption gibt mir noch eine Übersichtskarte vom Campingplatz, erklärt das Wichtigste und dann kann ich mit einem Schlüssel in der Hand über den großen Campingplatz stolzieren, auf der Suche nach Appartement 488. Der Platz ist gut gefüllt, auch deutsche Kennzeichen sind zu sehen. Erst als ich mit dem Schlüssel die Tür meines kleinen, schmucken Häuschens öffne und eintrete, fühle ich mich sicher; es ist kein Witz, ich darf wirklich bleiben und hier übernachten – es ist einer dieser wunderbaren Glücksmomente.

Ich schaue mich im Appartement um, alles da was man braucht, modern eingerichtet, zwei Schlafzimmer. Nur mit dem Gasherd habe ich meine Probleme, obwohl die Gasflasche offen ist, zündet nichts. Ich frage bei meinen französischen Nachbarn nach. Erst kommt ein Mann, dann ein anderer, aber sie haben auch keine Ahnung – weshalb ich mich nicht mehr ganz so dämlich fühle. Ein Campingplatzarbeiter tauscht die Gasflasche aus, aber auch nichts. Erst die Frau einer meiner Helfer weiß Rat, indem unter der Spüle ein Hahn aufgedreht werden muss – Frauen sind gar nicht immer so doof wie Mann denkt. Ich bedanke mich bei meinen Helfern, am liebsten hätte ich sie alle auf ein Bier eingeladen … das ist doch mal ein Tag! Nun auch in der Praxis die Erkenntnis: Franzosen können ja nett sein! Da ich viel Zeit habe, kümmere ich mich erst einmal eine Stunde um meine Kleidung. Draußen am Wäscheständer aufgehängt und als es wieder zu regnen beginnt, drehe ich alle Heizkörper auf, um die Klamotten bis morgen zu trocknen. Die letzte akkurate Wäsche gab es bei Joao Miguel in Lissabon, das ist nun doch schon einige Wochen her. Zum Abendessen gibt es einen ganzen Liter Kartoffelsuppe, wobei der größte Teil an Kartoffeln von den von Thomas spendierten Chips stammt, was dem Ganzen etwas Würze bringt. Als Dessert gibt es Joghurt und ohne Unterbrechung Kaffee oder Tee. Einen Fernseher gibt es nicht, dabei hätte ich große Lust auf das Champions League Finale zwischen Bayern und Chelsea. Halb neun breche ich zum Abendspaziergang auf, in der Hoffnung ein Restaurant zu finden, das Fußball überträgt. Das auf dem Campingplatz liegende Restaurant ist voll, aber Fußball läuft nicht. Weiter am See lang, die Sonne geht gerade darüber unter … nach ein paar hundert Metern eine Kneipe, meine letzte Chance … ich gehe hinein, keine Gäste, frage im besten Französisch, das mir möglich ist, ob sie hier das Spiel übertragen … gestehe aber auch gleichzeitig ein, dass ich blank bin und mir kein Getränk leisten kann. Der Wirt und sein Mitarbeiter lachen … geht in Ordnung, ich darf mich setzen, sie schalten um, das Spiel beginnt gerade … endlich mal wieder auf einem Barhocker, nebenbei schreibe ich im Tagebuch, zum vollkommenen Glück fehlt nur noch ein Bier … im nächsten Moment steht ein kaltes, gezapftes Pils vor meiner Nase … geht aufs Haus … es gibt tatsächlich Tage, da funktioniert alles … nicht so toll sind die Tage, wo es genau andersrum läuft. Zum Finale drücke ich mal ausnahmsweise den Bayern die Daumen … sie sind drückend überlegen, nur ein Tor will nicht fallen … schon nach der Hälfte der ersten Halbzeit führen sie nach Ecken gefühlte 30:0. Ich bin der einzige Gast, ironischerweise aber ohne einen Cent in der Tasche. Ab und an springen ein paar kleine Kinder und ein Mops in der kleinen Kneipe herum, gehören anscheinend zur Familie. Es gibt nur einen einzigen Tisch hier … dieser wird schließlich gedeckt, wo die Familie, einschließlich der Mutter, speist. Ich trinke genüsslich mein Bier, schaue das Spiel, schreibe, genieße den Moment der heute nicht enden wollenden Euphorie. Ich muss an das Endspiel von vor zwei Jahren denken, damals verlor Bayern gegen Inter Mailand, ich war in einem Pub in der Dresdner Altstadt, gegenüber der Frauenkirche, allein, mit Guinness und Live-Musik … das war toll, aber dieses Finale hier wird sich auch in mein Gedächtnis brennen … in der 83. Minute, kurz vor halb elf, erlöst Müller die Bayern, endlich das hochverdiente 1:0 … zum Glück keine Verlängerung, nicht dass der Wirt nur wegen mir noch nicht dicht gemacht hat … Gäste werden nun auch keine mehr kommen … erste Ecke für Chelsea und Tor, Drogba wars … manchmal ist Fußball echt ungerecht … Abpfiff, Verlängerung … ich frage nach, ob sie schließen wollen, nein ich kann zu Ende schauen … Le Lagon Bleu heißt die Bar hier, das Oberstock dient als Pension, ich sehe kurz eine Familie, die hier untergekommen ist … juhu, Elfmeter, nun aber! Robben und … verschossen … irgendwie mit Ansage, warum schießt auch nicht Schweinsteiger? … Bayern vergibt noch zwei weitere Großchancen … Elfmeterschießen … Olic gehalten, Schweini Innenpfosten, Drogba Tor … der Wirt und sein Kumpel trösten mich („im nächsten Jahr klappts!“) … ich bedanke mich für die Freundlichkeit, dass ich das Finale hier sehen konnte … ärgere mich, dass Bayern verloren hat; was wäre das erst geworden, wenn meine Bundesligalieblinge aus Dortmund das Finale verloren hätten, jedoch auch müßig darüber nachzudenken, weil der BVB wohl niemals mehr im Finale der Champions League stehen wird … am Nachthimmel zwei Sterne, trocken, es ist ruhig am See, angenehme Atmosphäre. Zurück im Appartement verbringe ich meine erste „zivilisierte“ Nacht in Frankreich. Sich am Abend glücklich und zufrieden hinlegen, welch eine Seltenheit, wenn man mitten im Alltag steckt. Aber ein Vagabund kennt keinen Alltag, man nimmt wie es kommt und es kommt oft besser, als man glaubt.

Am frühen Morgen sind die Sachen trocken. Dass ich noch immer kein Tier bin, merke ich daran, dass ich zum Frühstück Teller, Tasse und Besteck benutze. Endlich mal ein entspanntes Frühstück, wo mir nicht der futterneidische Wind den ein oder anderen Krümel raubt. Ich stöbere in meinem Kartenmaterial, auf der Suche nach der besten Route nach Bordeaux. Draußen sieht es grau und trostlos aus, immerhin keine Autogeräusche, dafür Vogelverkehr … ich überdenke noch einmal den ursprünglichen Plan, nach einer Nacht weiterzuziehen. Wenn es mir schon angeboten wird … Ich beschließe noch einen kleinen Spaziergang zu machen, zum See und mit der Hoffnung, noch in ein Gespräch verwickelt zu werden. Aber so früh am Morgen ist noch niemand der anderen Camper draußen unterwegs, die meisten Autos haben französischen Kennzeichen, und nach nur fünf Minuten (einmal zum See) beginnt es zu regnen, also wieder zurück und darin bestärkt, heute endlich mal wieder einen Ruhetag – erst der Dritte nach Lagoa Formosa und Lissabon – einzulegen. Ich setze mich an den Tisch, nutze die gebrauchten Teebeutel ein zweites Mal, um etwas Warmes in den Bauch zu bekommen. Mein einziges Problem ist, dass ich die Vorräte am Abend und am Morgen fast komplett aufgebraucht habe. Mir bleiben ein Apfel zum Mittag und eine kleine Packung Chips zum Abendessen. Punkt elf nehme ich einen zweiten Anlauf in Sachen Spaziergang, es hat aufgehört zu regnen. Neben einem Wohnwagen aus Deutschland steht ein Mann an seinem Fahrrad. Ich spreche ihn an, er will gerade zum Supermarkt nach Parentis (3,5 Kilometer) radeln. Das ist schon mal eine gute Nachricht, darum kehre ich um, schnappe mir meine fünf Euro und vier Cent und laufe in die kleine Stadt mit ihren 5.000 Einwohnern hinein. Nach dem Einkauf bleiben mir 12 Cent … also zum vierten Mal völlig pleite, aber für die nächsten drei Tage eingedeckt. In meinem Appartement bereite ich mir Makkaroni mit Tomatensauce zu.

Am frühen Nachmittag verfliegt auch das letzte schlechte Gewissen darüber, dass ich einen Tag „opfere“. Auch am dritten Ruhetag ist das Wetter bescheiden, hin und wieder regnet es … an einem sonnigen Tag würde ich mich schon ärgern, wenn ich faul herumläge. Wie hier im Bett, eine Tafel Schokolade neben mir, Vorhang zu, meine Lektüre verlorener Gedanken vor den Augen, wo ich auf die Gedanken stoße, die ich zu den letzten knapp einhundert Büchern, die ich vor meiner Reise gelesen habe, notiert habe. Es ist ein Zufall, dass das Büchlein mit einem Sartre beginnt und auch endet. Es ist auch ein Zufall, dass ich Kerouacs On the road am 2. Februar 2011 begonnen hatte, also exakt ein Jahr vor Beginn meiner Wanderung in Barcelona. Beim Lesen der Gedanken muss ich feststellen, dass sich in meinem Reisetagebuch weit weniger dieser Gedanken – die man fast schon philosophisch nennen könnte – finden lassen … also kaum einer dieser für sich alleinstehenden Gedanken, die hier und jetzt nur wie kleine, seltene Geister durch mein Tagebuch spuken. Ich bin unterwegs und null inspiriert? Das kann eigentlich nicht sein, was soll das dann mal für ein bescheuertes Buch werden? Bin ich abgestumpft? Werde ich etwa alt? Wo ist die kindlich, naiv fragende Jugend? Wo Feingefühl und Melancholie? Wo sind die aus meiner eigenen Feder entstandenen Gedanken, die auf mein eigenes Hirn großen Eindruck machen? Ist das der Preis einer gesteigerten Philanthropie? Muss ich wieder häufiger die Einsamkeit suchen? Wo ist die Natur? Habe mich zu ihr gesehnt und nun fliehe ich vor ihr, um Menschen kennenzulernen? Ist das Jahr 2012 doch das Ende? Mein Ende? Das Ende der Originalität? Mein Tagebuch ist ausschließlich ein Bericht, kann das mein Anspruch sein? Aber was ist, wenn ich es auch einfach nicht (mehr) draufhabe? Jetzt gerade in meinem Appartement mache ich mir doch auch Gedanken, sind sie etwa alle Produkte des Müßiggangs? Dann will ich wieder Müßiggänger sein! Zuhause habe ich mir Gedanken über die Welt gemacht, und jetzt wo ich in ihr unterwegs bin, kommen mir keine Gedanken? Warum muss es einem immer erst schlecht gehen, dass man die Feder zückt und die besten Sachen schreibt? Ich verliere hier meine einzige Fähigkeit, nämlich mit wenigen Worten viel zu sagen. Es ist weg, ich schreibe viel, ich schreibe nichts. Nein, ich will nicht erwachsen sein, weg mit der Sachlichkeit! Gib mir meine Träumereien zurück, meine Melancholie, meine Depressionen, meine Einsamkeit! Wo ist das Rehlein in mir? Und überhaupt kann etwas mit mir nicht stimmen, wenn ich mich überhaupt nicht mehr in die Arme einer schönen Frau sehne … Eigentlich wollte ich den Ruhetag nutzen, um endlich den Hamsun zu beginnen, aber meine eigenen Sachen fetzen irgendwie auch.

Wieder pleite zu sein beunruhigt mich. Wenn ich aber zurückblicke, dann hatte ich am ersten Tag geglaubt, bereits aufgegeben zu haben. Nun bin ich in der 16. Wanderwoche, an Tag 109 … Anfang Februar musste ich mich noch viel mehr durchbeißen, vergiss das nicht … du wirst schon nicht verhungern. Apropos „verhungern“, da ich keine Zutat zu der anderen Hälfte des Kilogramms Nudeln habe, beschließe ich gegen 20 Uhr vor zu dem deutschen Campingwagen zu gehen. Ich klopfe an, frage das Pärchen nicht direkt nach Essen, sondern stattdessen ob sie eine Idee haben, wie ich zu Fuß am besten nach Bordeaux komme. Lothar holt einen Autoatlas heraus, was mir aber auch nicht weiterhilft. Seine Frau Pamela lächelt mich die ganze Zeit an, was Zuversicht bringt. Sie machen zwei Wochen Urlaub in Frankreich … morgen geht es auch für sie nach Bordeaux weiter, verlockend, ich überlege kurz ob ich sie frage, ob sie mich mitnehmen könnten. Aber nein, es wird auch so schon gehen. Wir plaudern übers Reisen, von meiner Tour … bis Pamela schließlich aufsteht, im Wohnbereich des Wagens verschwindet und kurze Zeit später mit 30 Euro auftaucht und diese mir in die Hand drückt. „Wenn jemand so etwas macht, müssen wir das unterstützen“, sagt Pamela. Lothar nickt zustimmend. Ich strahle mal wieder wie ein Kind und bin mal wieder schlagartig euphorisch. Ich erfahre, dass die Beiden aus Brühl bei Heidelberg kommen, wo sie mehr oder weniger auch Nachbarn der Familie Graf sind, wobei Steffi nur noch selten zu sehen sei. Ich erinnere mich an meinen eigentlichen Grund für die Ruhestörung, eine Zutat zu meinen Nudeln. Sie haben aber nichts Passendes da, dafür aber eine Konserve Linseneintopf. Ich danke den Beiden überschwänglich und wir wünschen einander eine gute Reise. Auf dem kurzen „Heimweg“ blicke ich ganz automatisch hoch zum Himmel … den ganzen Tag über war er griesgrämig und nun lächelt er mich an, nur mich. Danke. Mit 30 Euro in der Geldbörse kann sich ein Vagabund ein eigenes Königreich schaffen, und in diesem für einige Wochen lang den Thron in Anspruch nehmen, wenn er mit dem Reichshaushalt sparsam umzugehen lernt. Beglückt lege ich mich ins Bett, die Nachttischlampe an, noch ein Blick in die Lektüre verlorener Gedanken … eine (vorerst) letzte überraschende Entdeckung ist Santiago, der Protagonist aus Coelhos Alchimist, denn ich wusste ja gar nicht mehr, dass Santiago auch in Tarifa war, damals beim Lesen hatte ich mir nichts dabei gedacht, den Ort noch nie gehört und mir auch nie vorgenommen, dort mal einige Stunden zu verbringen. Santiago brach von Tarifa aus nach Ägypten auf … und fand sich selbst.

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440 стр. 1 иллюстрация
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9783753185378
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