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Köln, November 1938
Anat

Am nächsten Morgen wachten Anat und Rinah sehr früh auf. Es war noch dunkel draußen und auf die Scheibe der kleinen Dachluke tropfte dicker, nasser Schneeregen. Gemeinsam schlichen sie zum Treppenhaus und in ihre Wohnung im ersten Stock. Draußen schien alles ruhig, kaum ein Laut drang von der Straße herein. Vorsichtig spähte Anat durch die Gardinen auf die schwach beleuchtete Straße hinunter. Vor dem kleinen Krämerladen gegenüber lagen Holzteile von Regalen, Glas von der zertrümmerten Schaufensterscheibe, Konservendosen und andere Waren auf dem schmalen Bürgersteig. Auf einem Pappschild, das an der Laterne vor dem Haus befestigt war, hatte jemand „Hier wohnte eine Judensau“ geschmiert. Eine Frau, die einige Häuser weiter wohnte und von der Anat wusste, dass sie nachts beim Stadt-Anzeiger arbeitete, bog in die Straße ein, stockte kurz, als sie den Trümmerberg wahrnahm und stiefelte dann, ohne dem zerstörten Geschäft ihres Nachbarn weitere Aufmerksamkeit zu gönnen, zu ihrer Wohnung. Die Inhaber des Ladens Margot und Werner Spiegel waren keine ausübenden Juden und kamen nur sehr selten zur Synagoge. Sie lebten bereits in der dritten oder vierten Generation in der Stadt und waren als korrekte Geschäftsleute bekannt. Anat sollte die beiden und ihre 10-jährige Tochter nie wiedersehen.

Er atmete einmal tief ein und aus. „Es geht los! Schau mal auf die Straße raus.“ Rinah trat ans Fenster und wich erschreckt wieder zurück, als sie auf die Reste des Lädchens sah. „Jesse!“, entfuhr es ihr unwillkürlich.

„Es muss etwas geschehen, und zwar sofort. Du bleibst mit den Kindern im Haus. Ich gehe heute noch mal zum Ühm. Er muss mir seinen Wagen leihen, damit ich die Sachen aus der Rheinstraße wegschaffen kann.“

„Sei vorsichtig!“, mahnte sie. Anat erzählte ihr noch einmal von seinem Besuch bei Rinahs Großvater. „Der Ühm hat versprochen, uns zu helfen.“ Sie wusste, wie schwer es ihrem Mann gefallen sein musste, den alten Knochen um Hilfe anzugehen.

„Was hast du vor?“, Rinah bebte. Sie liebte ihre Heimatstadt. Neuerungen und Änderungen in ihrem Leben waren ihr nur schwer zu vermitteln. Sie hatte viele trübselige Monate verbracht, nachdem sie vor drei Jahren aus dem großen Haus ausziehen mussten, als die Nazis es beschlagnahmten und ihnen die kleine Wohnung zuwiesen. Und nun sollten ihr auch die letzten Wurzeln ausgerissen werden.

„Warum willst du die alten Sachen wegschaffen? Und wohin damit?“ – „Wilhelm und Heidrun kommen doch am Wochenende. Ich wollte sowieso mit ihnen darüber sprechen, ob wir die Werkzeuge und das Material aus der Rheinstraße nicht irgendwo bei ihnen auf dem Hof lagern können. Wir können das unmöglich hier zurücklassen, und wenn die uns heute oder morgen abholen, kriegen wir das nie mehr da heraus.“

„Was ist an dem alten Kram so wertvoll, dass du unsere Freunde da mit hineinziehst?“ Rinah war immer noch nicht klar, worum es eigentlich ging. Sie wusste, dass Anat mit dem alten Hannes, seinem letzten Angestellten, den er voriges Jahr hatte entlassen müssen, die Werkzeuge aus der Goldschmiedewerkstatt in das Lager in der Rheinstraße gebracht hatte.

„Pass jetzt genau auf, was ich dir sage!“ Anat trat dicht an seine Frau heran und sagte so eindringlich und dennoch so leise wie möglich: „Es sind nicht nur die Werkzeuge und ein bisschen Material. Ich habe fast 200 Kilo Gold in der Rheinstraße gebunkert. Das ist Gold, das unsere Familie seit vielen Jahren zurückgelegt hat. Das kann und darf den Nazis nicht in die Hände fallen. Wir müssen es wegschaffen. Ich kann doch nicht einfach zur Bank marschieren und das Gold zum Kauf anbieten, und den Ühm kann ich doch auch nicht einweihen. Wer weiß, was ihm dann einfällt. Aber ich brauche sein Auto. Ich wollte mit Willi darüber reden, wenn er am Wochenende kommt und ihm vorschlagen, dass wir es bei ihm auf dem Hof verstecken. Einen Teil davon würde ich ihm schenken. Das da drüben bei Spiegels ist kein Einzelfall. Wir müssen jetzt sofort etwas unternehmen.“

Wie in Trance hatte Rinah ihrem Mann zugehört. Sie drehte sich um und machte sich mit fahrigen Handbewegungen am Herd zu schaffen, um die restliche Glut neu zu entfachen. Anat stellte sich hinter sie und umarmte sie. „Es wird alles gut. Der Ühm und Willi werden uns helfen und in einigen Wochen sind wir in Sicherheit. Mach mir einen Tee, bitte. Ich hole die Kinder runter und gehe dann zum Ühm. Der ist ja immer früh auf den Beinen.“

Eine halbe Stunde später machte sich Anat zum zweiten Mal in dieser Woche auf den Weg zum Bankhaus Weber. Er betrat die weitläufige Schalterhalle und merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Atmosphäre wirkte irgendwie gedrückt. An dem kleinen Eichentisch links neben dem Eingang saß ein Kunde mit dickem Wintermantel und Pelzkragen. An dem Schalter mit dem Schild „Kasse“ stand eine Kundin und verhandelte mit dem Angestellten. Am Fuß der Treppe, die nach oben auf die Galerie und die Zimmer der leitenden Verwaltung führte, stand Emil, eine Art Faktotum des Bankhauses. Der lange, stets mit einem korrekt sitzenden Frack bekleidete Mann aus dem Norddeutschen war um die Fünfzig und stand wie immer kerzengerade bereit, um kleinere Handreichungen oder Botengänge für die Angestellten zu erledigen. Anat hatte ihn im Krieg kennen und schätzen gelernt. Emil war für sein Organisationstalent berüchtigt und bei den Küchenbullen und den Etappenhasen gefürchtet gewesen. Er klaute alles, was er kriegen konnte, und verschaffte seinen Kameraden so manch gute Mahlzeit. Nach dem Krieg war er plötzlich bei Anat in Köln aufgetaucht, und der Jude hatte dem Veteranen die Anstellung beim Ühm beschafft, dem er treu ergeben war, und Anat mutmaßte, dass er so manches kleine oder größere Geheimnis des Alten bewahrte.

Emil kam sofort auf Anat zu, als er ihn erblickte. „Ist das nicht schrecklich. Gut, dass du sofort gekommen bist.“

„Was ist denn Schlimmes passiert?“, fragte Anat. „Ja – weißt du denn nicht ….?“ Anat schüttelte verblüfft den Kopf. „Nein, erzähl!“

„Der Ühm ist gestorben. Gestern Abend. Ich habe noch den Peters gerufen, aber es war zu spät. Als der endlich hier war, war der Ühm schon tot. Das Herz, sagt der Doktor.“ Dr. Peters war Leibarzt der Kölner Prominenz und enger Freund des Bankers gewesen. Der wusste natürlich um die Herzschwäche seines alten Freundes und hatte ihn vielfach vor seinen Exzessen im Mohr-Baedorf gewarnt, was ihn aber nicht daran hinderte, eifrig selbst daran teilzunehmen.

Anat war geschockt. Auch wenn sein Verhältnis zum Großvater seiner Frau eher gespannt gewesen war, so fühlte er doch unmittelbar eine Traurigkeit in sich aufsteigen. Er dachte an Rinah, deren Leben heute schon reichlich aus den Fugen geraten war. Und natürlich waren seine Pläne zunächst vollkommen zunichte gemacht. Er musste seine Gedanken neu ordnen.

Wenn das erst einmal rund war, würde es hier in der Bank vor Leuten wimmeln. Das konnte er am allerwenigsten gebrauchen und Emil und Friedchen Ennenbach, die Sekretärin, würden sich um alles kümmern, was es an administrativen Dingen zu regeln gab. Erbschaftsangelegenheiten waren nicht zu klären. Die Bank gehörte schon seit der Weltwirtschaftskrise vor 10 Jahren einem Konsortium, das den alten Ühm lediglich als Gallionsfigur, als Symbol traditioneller Zuverlässigkeit, an die Spitze des Aufsichtsrates gestellt hatte.

Anat wendete sich zum Gehen, als er sich noch einmal zu Emil umdrehte und ihn am Ärmel bis zum unteren Treppenabsatz führte, wo ihn niemand belauschen konnte. „Sag mal, Emil. Du fährst doch auch den Horch* vom Ühm. Ich hatte mit ihm vereinbart, dass ich ihn in den nächsten Tagen mal ausleihen kann, weil ich einige Sachen aus meinem alten Lager ausräumen muss.“ Wohl fühlte er sich nicht dabei, den dienstbaren Geist in dieser Situation mit diesem Problem zu konfrontieren, aber für Anat und seine Familie war es lebenswichtig.

„An sich kein Problem. Wo soll es denn hingehen?“ Anat wusste, dass Emil kein Freund der Nazis war und kurz entschlossen entschied er, den alten Zerberus des Bankers ins Vertrauen zu ziehen – jedenfalls ein bisschen. „Ich denke, dass man mir in Kürze das Lager in der Rheinstraße abnehmen wird. Da lagern eine Menge Sachen, die ich rausnehmen will, bevor das in falsche Hände kommt, verstehst du?“ Emil verstand sehr gut. Er war ungewöhnliche Aufgaben gewohnt und immer für Schandtaten zu haben, zudem sich hier die wahrscheinlich letzte Gelegenheit bot, das herrliche, dunkelblaue Horch-Cabriolet 780 zu fahren, mit dem er seinen Chef so oft zu feuchtfröhlichen Festivitäten kutschiert oder von dort heimgekarrt hatte.

„Ein Freund von mir im Bergischen hat mir etwas Platz in seiner Scheune angeboten, aber ich muss das in den nächsten Tagen geregelt haben.“

Emil freute sich auf die Tour. „Sicher nach Wahlscheid, nicht wahr. Da waren wir doch schon ein paarmal. Da lebt doch dein Kriegskamerad. Wenn mich hier keiner braucht, können wir morgen fahren. Die hier in der Bank werden mich nicht vermissen, weil die denken, dass ich mit der Beerdigung oder so was beschäftigt bin. Da merkt keiner was.“

Anat war sich sicher, dass Emil nichts von den Plänen erzählen würde. Er erinnerte sich daran, dass Emil sie früher ab und zu ins Aggertal gefahren hatte. Der Ühm war mit seinen Freunden häufig über die Kneipe im Wahlscheider Auelerhof hergefallen und sie hatten feuchtfröhliche Stunden während der alljährlichen Kirmes dort verbracht. Er würde dem Wirt, dem alten Schiffbauer, erzählen müssen, dass der Ühm gestorben ist.

„Gut – dann komme ich dich morgen Vormittag in der Budengasse abholen“, schlug Emil vor. „Auf keinen Fall! Das ist viel zu auffällig.“ Anat dachte an das Aufsehen, das es geben würde, wenn diese Edelkarosse vor seinem Haus anhielte, um einen Juden abzuholen. „Ich bin um 9 Uhr in der Rheinstraße. Komm einfach dorthin.“ Anat nannte ihm noch die Hausnummer und verabschiedete sich dann von Emil.

Wie in Trance marschierte Anat nach Hause. Hatte er sich bei seinem Gespräch mit Emil noch zusammengerissen, wurde ihm nun nach und nach klar, was der Tod des alten Ühm für ihn und seine Familie bedeuten konnte. Der kleine, schwache Rettungsanker, den der Banker ihm zugeworfen hatte, war nun von einem Tag auf den anderen wertlos geworden. Immerhin war er froh, dass ihm die spontane Idee gekommen war, mit Emil zu sprechen, und er hoffte, dies nicht irgendwann einmal zu bereuen. Nun musste erst einmal Rinah erfahren, dass sie ihren letzten Verwandten verloren hatte.

Wahlscheid, Mai 2003
Christina

Die paar Tage in Köln hatten ihrem Deutsch gutgetan. Bisher konnte sie sich nur selten dieser Sprache bedienen und wenn, dann nur selten mit Muttersprachlern. Das kleine Hotel hinter dem Hauptbahnhof war von Kurzzeittouristen aus aller Welt bewohnt, das Personal sprach auch alles – außer gutem Deutsch. Ein kurzer Spaziergang um den großen Kirchenbau, auf den sie aus ihrem Zimmer blickte, brachte sie am Abend in ein Kölner Brauhaus. Vom Namen „Schreckenskammer“ angelockt, hatte sie sich bei Krüstchengulasch und Kölsch mit den Eigentümlichkeiten des Dialekts und dem sehr speziellen Humor der Bedienung vertraut machen können.

Von ihrer EMail-Bekanntschaft in Lohmar hatte Christina Werner Merkelbachs Telefon-Nummer erhalten und in der Früh dort angerufen. Sie hatte damit gerechnet, dass es einige Zeit dauern würde, einen der Heiminsassen an den Apparat zu rufen. Um so verwunderter war Christina, als ihr die Stimme am anderen Ende mitteilte, sie in die Wohnung von Werner Merkelbach durchzustellen. Statt der üblichen Kaufhausmusik in der Warteschleife, erzählte jemand Witze in kölnischer Mundart, die sie aber nicht verstand, bis sich Merkelbach meldete. Sie stellte sich kurz vor, erläuterte ihr Anliegen und Merkelbach erklärte ihr den Weg durch Wahlscheid, nachdem sie sich für zwölf Uhr verabredet hatten.

Christina fuhr mit ihrem Mietwagen die kurze Zufahrt zum Anwesen und stellte den gemieteten Golf auf dem Parkplatz vor dem Hofgelände ab. Ein Teil des mit Rasengittersteinen ausgelegten Platzes war mit einer Art Pergola überdacht, unter der einige Caddies standen, wie sie auf Golfanlagen übers Green hoppeln, und verwundert erblickte Christina eine original indische oder indonesische Fahrrad-Rikscha. Zwischen dem Parkplatz und dem ersten Gebäude war ein Garten mit Kräutern und Gemüse angelegt, der wild und etwas chaotisch, gleichzeitig aber auch liebevoll geordnet aussah – ein Ambiente, das Christina auf dem gesamten Anwesen wiederfinden sollte. Ein Kiesweg zum Haus führte sie an mehreren Gartentischen mit hochgeklappten Stühlen und einigen rostigen Eisenskulpturen vorbei: ein riesiger, auf der Schwanzflosse stehender Fisch, ein aus Tausenden von Muttern, Schrauben, Federn und anderen Eisenteilen zusammengeschweißter Drache, der sie aus drei Metern Höhe verschmitzt anlächelte und einige andere archaisch aussehende Skulpturen. Der breite Hof wurde von zwei neueren Gebäuden links und rechts sowie in der Mitte von einem großen, zweieinhalb Stockwerke hohem Fachwerkbau umfasst. Rechts am Haus stand ein kleiner Lieferwagen neben einer verschlossenen Eisentür, offenbar ein Lieferanteneingang. „Metzgerei und Partyservice Herchenbach“ war auf der Rückseite des Wagens zu lesen. Das obere rechte Viertel der doppelten Klöntüre in der Mitte des Fachwerkhauses stand offen und der Rest wurde gerade von einer älteren Frau aufgestoßen, die angeregt mit einer vielleicht 20-jährigen Farbigen schwatzend das Haus verließ. Beide trugen Bademäntel und rubbelten sich mit ihren Handtüchern die Haare. Über der Eingangstüre war vor einem der weiß gestrichenen Fachwerkelemente eine grellblaue Neonröhre angebracht, deren Schleifen den Namen „Carpe Diem“ formten.

Durch einen offen stehenden Windfang betrat Christina einen großen Raum, der mehr als die Hälfte der Gebäudefläche einzunehmen schien. Geradeaus vor ihr gab es eine lange Theke mit einigen Barhockern, dahinter konnte man durch mehrere offene Schiebefenster in eine professionell eingerichtete Küche blicken, in der sich jemand laut und falsch vor sich hinpfeifend an Geschirr und Töpfen zu schaffen machte. Im Raum standen etwa zehn Tische, die zu einer großen Tafel zusammengeschoben waren, darauf niedergebrannte Kerzen, verschiedene leere und halbleere Gläser und einige zerlesene Zeitungen. Das wenige Licht, das durch die Butzenfenster in den Raum gelangte, wurde durch versteckte, künstliche Beleuchtung und den freundlichen Anstrich aufgehellt. An den Wänden hingen Bilder, die jeweils mit einem kleinen Schildchen versehen waren, wie man es aus Museen oder von Ausstellungen her kennt. Rechts von der Türe nahm Christina jetzt eine kleine Empfangstheke wahr, hinter der eine ältere, sehr gepflegt aussehende Dame, mit einem kabellosen Headset professionell ausgestattet, telefonierte. Ihr gehörte wohl die gleiche Stimme, die Christina am Morgen zu Werner Merkelbach durchgestellt hatte. Ab und zu tippte die Frau etwas in die Tastatur oder bewegte die Maus. Offenbar gab sie eine Bestellung durch, jedenfalls arbeitete sie mit ihrem Gesprächspartner eine Liste ab.

Christinas Gefühl schwankte zwischen Befremden und Verwunderung. So hatte sie sich ein Altenheim eigentlich nicht vorgestellt, dennoch fühlte sie sich mit diesem Ort irgendwie verbunden.

„So – nun bin ich für Sie da“, die Stimme hinter der Empfangstheke richtete sich an Christina. „Was kann ich für Sie tun.“

„Ich habe heute morgen angerufen und mich mit Herrn Merkelbach verabredet.“ – „Ah, die Frau Hudson. Jaja, ich weiß Bescheid. Der Herr Merkelbach ist noch mit einem Lieferanten zugange, aber sie sind sicher gleich fertig.“

„Ich bin die Christel.“ Die Frau mochte Mitte Sechzig sein. Sie kam um die Theke herum und streckte der Besucherin die Hand entgegen. „Wenn unsere Sekretärin frei hat, schmeißen wir den Laden selber. Entschuldigen Sie bitte die Unordnung. Es hat gestern Abend eine ziemlich heftige Feier gegeben. Einer der Studenten hat das Examen bestanden und da ist es ein bisschen spät geworden.“

„Ich verstehe nicht ganz …“ – „Das tun die Wenigsten.“ Christel winkte ab und grinste: „Wissen Sie, meine Liebe, wenn wir Alten hier alleine wohnen würden, wären wir längst eingerostet. So halten sie uns am Leben und wir sorgen dafür, dass die Küken was Ordentliches zwischen die Rippen kriegen. Die Alternative heißt Altersheim und da will eigentlich vorläufig jedenfalls keiner von uns hin. Alles zu seiner Zeit. Kann ich Ihnen einen Kaffee oder einen Espresso anbieten? Kommen Sie, setzen Sie sich einen Moment an die Theke.“

„Ein Espresso wäre nicht schlecht.“

Christel schritt voran hinter die Bar und hatte im Handumdrehen einen Espresso, den Topf mit dem Zucker und ein paar Kekse auf die Theke gestellt. Ein Glas mit Wasser aus dem Wasserhahn an der Spüle stellte sie daneben. „Das ist bestes Talsperrenwasser und gesünder als die teure Brühe aus den bunten Flaschen. Wir versuchen uns hier ein bisschen Lebensart und Würde zu bewahren. Zwei- oder dreimal in der Woche haben wir diese Hütte als Restaurant geöffnet. Dann sind wir im Einsatz, um die Herrschaften zu bedienen, die sich unsere Küche leisten können. Von den Einnahmen bezahlen wir dann die Gasrechnung und schon mal den Dachdecker, wenn wieder mal der Kamin undicht ist.“ Christina stellte verwundert fest, wie sehr sich diese agile Lady von ihrer Mutter unterschied, und war umso gespannter auf das Gespräch mit dem früheren Bekannten ihrer Großmutter.

„Wenn ich fragen darf – wie alt ist Herr Merkelbach denn eigentlich jetzt?“ – „Der Werner? Ich glaube, er ist 25 geboren, dann müsste er jetzt 78 sein. Und immer noch ziemlich fit.“

„Die beiden Frauen, die eben aus dem Haus kamen, bevor ich eintrat – sind das –äh– Bewohner hier?“ Christina war irritiert, weil ihr nicht das richtige Wort einfallen wollte. Christel grinste. „Sagen Sie ruhig Bewohner, obwohl wir ja eigentlich nur Mieter sind. Aber wir sind Mieter bei einer GmbH, die uns selber gehört. Die beiden kamen aus unserem Jungbrunnen. Dahinten im Anbau ist eine Sauna, ein Fitnessraum und ein kleines Schwimmbad. Schließlich wollen wir gesund bleiben.“

Draußen hörten sie Reifen über den Kies knirschen und durch eines der Fenster konnte man den Lieferwagen davonfahren sehen. „Da fährt der Klaus. Jetzt wird der Werner sicher gleich kommen. Ich denke, ihr wollt in Ruhe reden und solltet in seine Wohnung rübergehen.“

Eine Tür in der Küche öffnete sich und Werner Merkelbach trat hinein. „Mir fallen die Zähne aus. Dein Geflöte ist schlimmer als das Getute vom Kerstin.“ Eine der Studentinnen, die ein Zimmer im Neubau bewohnte, hatte sich kürzlich ein Saxophon gekauft und übte ebenso fruchtlos wie penetrant. „Du willst doch nicht sagen, dass du noch Zähne hast, die dir ausfallen könnten.“ Die Stimme von Herbert dem Koch aus der Küche klang ziemlich respektlos, bevor sie wieder von der eigenwilligen „Hey Jude“-Interpretation abgelöst wurde. Herbert Linke, genannt „Boküß“, war die kulinarische Seele des „Carpe Diem“ und nach Jahren als Schiffskoch auf verwanzten Seelenverkäufern und noblen Kreuzfahrtschiffen in Wahlscheid gestrandet.

Jetzt bemerkte Werner den Besuch, der an der Theke saß und sich mit Christel unterhielt. Er trat durch die Tür hinter der Theke auf sie zu und blickte die junge Frau interessiert an.

„Du musst Christina sein. Genauso schön wie ihre Großmutter, nur mit blauen Augen und anderen Haaren. Oder sind die gefärbt? Heute weiß man ja nie …“ Er reichte Christina die Hand. „Ich bin Werner Merkelbach. Wir haben ein Rendezvous.“ Christina war beeindruckt von dem mittelgroßen, schlanken Mann mit den grauen, strubbeligen Haaren, der sie mit einem herzlichen, festen Händedruck begrüßte. Er trug eine blaue Arbeitshose und ein kariertes Hemd, das er achtlos mit einem Knopf im falschen Loch zugeknöpft hatte.

„Hallo Herr Merkelbach.“ Mehr kriegte Christina nicht über die Lippen.

„Nix mit Herr. Ich heiße Werner. Ich denke, wir gehen rauf in meine Wohnung. Da können wir in Ruhe reden. Was zu trinken gibt es da auch. Komm!“ Er zupfte Christina kurz am Ärmel und sie verließen den Raum durch eine Tür neben der Theke. Sie betraten einen langen Flur und gingen vorbei an den Toiletten und dem Teil, in dem offensichtlich die von Christel erwähnten Fitnessräume und das Schwimmbad untergebracht waren, wie sie an dem leichten Chlorgeruch bemerkte. Über die Treppe am Ende des Ganges gelangten sie zum oberen Stockwerk, wo Werner die rechte von zwei Wohnungstüren öffnete. Sie betraten eine kleine, gemütliche Zweizimmerwohnung. Die gesamte vordere Wand des großen Wohnraums bestand aus in die Dachschrägen eingearbeitete Glastüren, die den Blick freigaben auf eine große Terrasse und den Campingplatz, der sich ein Stück weit den Fluss entlang streckte.

„Kann ich dir einen Kaffee anbieten oder einen Saft oder ein Wasser?“ Christine entschied sich für einen Saft und Werner stellte ein Glas Apfelsaft auf den kleinen Tisch vor dem Fenster. „Setz dich und erzähl mir von deiner Oma Michaela.“

Zuerst stockend und zurückhaltend, dann – als sie mehr und mehr Vertrauen zu dem Mann gegenüber gefasst hatte – flüssig und gestenreich, erzählte sie von ihrer Großmutter, ihrer Mutter und von den Unterlagen, die sie gefunden hatte. Sie hatte einige der Tagebücher und den Brief des Bonner Anwalts eingesteckt und legte sie nun nebeneinander auf den Tisch. Werner schien sich besonders für das Schreiben des Anwalts zu interessieren.

„Das ist ja interessant“, meinte er und blickte Christina an. „Warum hat Michaela mich nicht direkt angeschrieben? Sie muss doch meine Adresse gekannt haben und selbst, wenn sie nicht gewusst hat, ob es mich noch gibt, hätte sie es doch einfach versuchen können.“

„Vielleicht hat sie es ja getan, aber es gibt nur Hinweise auf Sie – äh – auf dich und deine Familie aus den Jahren vor dem Krieg. Was könnte sie mit den Bemerkungen über das böse Pack gemeint haben, das alles genommen hat? Und wer sind die Leute, die der Bonner Anwalt gefunden hat? Den Anwalt habe ich übrigens nicht gefunden. Ist ja auch 50 Jahre her.“

„Hmm – keine Ahnung. Ich müsste mich mal umhören und einige Informationen zusammensuchen.“

„Erzähl´ mir was über meine Großmutter. Wie war sie?“ – „Nun, wir waren Kinder. Michaela und ihr kleiner Bruder kamen mit ihren Eltern vor dem Krieg oft nach Wahlscheid. In der Stadt wurde das Leben für Juden damals immer schwieriger. Seit der Krieg angefangen hatte, seit ´39 oder so, sind sie nicht mehr gemeinsam hier gewesen. Ihre Eltern sind wohl in einer der Bombennächte 1943 umgekommen und Michaela war damals noch einmal hier in Wahlscheid, wenn ich mich recht entsinne. Danach haben wir nie wieder etwas von ihnen gehört und du bist jetzt das erste Lebenszeichen seit damals.“

Werner war ans Fenster getreten und starrte hinaus. Es hatte wieder angefangen zu regnen. Auf der anderen Seite des Flusses konnte er einige Leute mit Gerätschaften auf den Hügeln des Golfplatzes sehen, der vor einigen Jahren dort angelegt worden war. Er hatte nie verstanden, wie man seine Zeit damit vergeuden konnte, für einen Haufen Geld kleine weiße Bälle durch die Gegend zu prügeln, die dem Gärtner dann beim Rasenmähen in Einzelstücken um die Ohren flogen.

„Hast du …“, Christina stockte. „Ich meine … du hast meine Oma gern gehabt, nicht wahr?“

Werner blieb am Fenster stehen und rührte sich nicht. Das Klingeln des Telefons ersparte ihm schließlich eine Antwort. Er atmete tief aus und fingerte erleichtert sein Handy aus der Hemdtasche.

„Ja? – Ist gut, ich komme runter.“ Er steckte das Gerät wieder in die Tasche zurück und wandte sich an Christina. „Tut mir leid, ich muss ‘runter. Es gibt wieder Ärger. Wir müssen später weiterreden. Lass die Sachen hier liegen und komm einfach mit.“

Auf dem Weg nach unten erläuterte er Christina, was passiert war. „Seit Jahren versuchen die mit allen Mitteln, uns das Leben schwer zu machen. Zuerst wollten sie die Kneipe schließen, angeblich wegen unsauberer Toiletten oder irgendwelcher Vorschriften, die wir in der Küche nicht eingehalten haben, und nun zaubern sie diese uralte Geschichte mit dem Aggerwasser wieder hervor. Angeblich ist das Wasser unterhalb unseres Campingplatzes mit Pestiziden verseucht. Dabei haben wir schon vor Jahren ein Gutachten vorgelegt, nach dem unsere Seite der Agger damit nichts zu tun haben kann. Ab übernächstes Jahr müssen die Mindestabstände von 30 Metern vom Fluss zu den ersten Campingwagen eingehalten werden. Bei uns ist das schon seit Langem der Fall. Aber wenn man hier nicht in der richtigen Partei ist, kriegst du halt laufend Ärger. Den Großkopferten, die mit ihren Golfschlägern gegenüber durch die Wiesen röcheln, ist der Platz sowieso ein Dorn im Auge.“

Als die beiden den Raum betraten, unterbrachen die drei Männer an der Theke des Restaurants ihr Gespräch, nur um sofort gleichzeitig auf Werner einzureden.

„Können wir uns darauf einigen, dass einer spricht und die anderen zuhören?“ Werner ließ klar erkennen, dass er nicht beabsichtigte, sich die Zügel aus der Hand nehmen zu lassen. Zwei der drei Männer waren Mieter auf dem Campingplatz und mit Werner seit vielen Jahren befreundet. Der Dritte im Bunde war ein junger Bursche von der Stadtverwaltung. Werner kannte ihn als Mitarbeiter des Ordnungsamtes.

„Nun – was gibt´s denn?“, wandte sich Werner an ihn. „Ich soll eine Wasserprobe am Campingplatz nehmen und diese Herren wollen mich nicht auf den Platz lassen. Sie haben mich bedroht und durch den Dreck über die Wiese gejagt.“ Werner blickte auf die bis zum Knöchel mit Lehm eingesauten Füße des städtischen Angestellten und musste grinsen, als er sich vorstellte, wie die beiden Rentner im Trainingsanzug den Bengel im Anzug durch die matschige Wiese an der Agger vor sich hergetrieben haben.

„Und jetzt kommen Sie mit diesen dreckigen Schuhen hier herein und sauen mir den Fußboden ein! Was würden Sie sagen, wenn ich solch einen Siff in Ihrem warmen Büro im Rathaus hinterlassen würde?“, schimpfte Werner und musste aufpassen, nicht laut loszuprusten. „Was hat eigentlich die Stadt mit der Angelegenheit zu tun? Das ist doch Sache der Unteren Wasserbehörde.“

„Darüber kann ich Ihnen nichts sagen. Ich habe von meinem Chef diesen Auftrag bekommen und ich finde es unerträglich, wenn ich derart …“

„Jetzt halt mal die Luft an, Jungchen.“ Werner erstickte den Wortschwall im Keim. „Hier hat niemand was zu suchen, der sich nicht ausgewiesen hat. Haben Sie das?“

Jungchen blickte verstört von einem zum anderen. „Siehst du, haste nicht“, nahm ihm Werner die Antwort ab. „Die beiden Herren hier haben vollkommen richtig und in meinem Sinne gehandelt. Schließlich wollen wir doch nicht, dass irgendwer schlimme Sachen ins Wasser kippt, nicht wahr? Und jetzt entspannen Sie sich und wir vertragen uns wieder.“ Den beiden Campern zwinkerte er zu: „Der Herr tut ja nur seine Pflicht.“

„Dürfen wir Ihnen einen Espresso oder einen Kaffee anbieten? Ihr zwei habt sicher Durst auf ein Kölsch“, schlug er nun wieder versöhnliche Töne an. „Wir warten gemeinsam das Schäuerchen ab und dann begleiten Sie die beiden Herren zur Agger hinunter und Sie können sich Ihr Pröbchen holen. Einverstanden?“

Einer der beiden Camper wollte schon hinter die Theke, um die Getränke fertig zu machen. Normalerweise war das auch kein Problem, wenn die Kneipe nicht geöffnet war, aber Werner hielt ihn am Ärmel fest und rief Christel hinzu. Er wollte dem Typen vom Ordnungsamt keine Handhabe geben, wenn sich jedermann bei ihm hinter der Theke zu schaffen machen konnte. Christel ließ dann auch sogleich die offene Keksschüssel und den Zuckertopf verschwinden und tauschte sie gegen ordnungsgemäß eingepackte Ware aus.

„Möchten Sie einen Cognac dazu?“ Werner gab Christel einen Wink und sie begriff sofort, was zu tun war. Sie goss dem Besuch einen ordentlichen Schluck ein und stellte den großen Weinbrandschwenker neben den Kaffee.

„Zum Wohl. Wenn man bei dem Wetter rausgeschickt wird, sollte man es sich wenigstens gut gehen lassen.“

Jungchen war zwar etwas verunsichert, ließ sich aber Kaffee und Schnaps schmecken.

„Sie müssen doch sicher auch oberhalb des Campingplatzes und gegenüber vor dem Golfplatz eine Probe nehmen?“ Werner war jetzt ganz charmant.

„Nein, eigentlich nur hier. Es soll wohl ein Gutachten angefordert werden.“ Er war in die Falle getappt und Werner wusste nun, was er wissen wollte. Die Gegenseite rüstete zu einem neuen Angriff. Es dauerte nicht lange und Werner hatte nach zwei weiteren Cognacs einiges an Informationen aus dem jetzt etwas angeschlagen wirkenden jungen Mann herausgefragt.

„Kümmert euch doch bitte um unseren Freund, es ist ja jetzt alles geklärt. Wenn der Regen aufgehört hat, begleitet ihn bitte zur Agger runter“, verabschiedete sich Werner nach einer Weile. „Wie ihr seht, habe ich Besuch.“

Als sie später wieder in seiner Wohnung aus dem Fenster blickten, sahen sie den Burschen mit den beiden Campern reichlich angeschickert über die Wiese zum Fluss hinunter stapfen. Seinen Besuch hier würde er so schnell nicht vergessen und Werner war sicher, dass er heute nicht mehr zu seinem Arbeitsplatz zurückkehren würde. Seine Freunde würden sich gut um ihn kümmern.

„Tja, Christina – wie kommen wir jetzt weiter? Mich interessiert natürlich auch alles, was damals passiert sein mag. Lass uns in ein paar Tagen noch einmal miteinander reden, wenn ich ein paar Erkundigungen eingezogen habe. Wenn du willst, kannst du so lange hier wohnen. Wir haben ein Gästezimmer, wo du einziehen kannst.“

Christina fand die Idee durchaus reizvoll, zog es aber vor, in der Stadt zu bleiben. „Ich möchte mir noch ein paar Tage die Stadt ansehen. Danach sehen wir weiter.“

„Dann komm wenigstens am Samstag in drei Wochen wieder her. Es werden eine Menge Leute hier sein und tüchtig feiern. Ich sag Christel Bescheid, dass sie dir das Zimmer reserviert. Dann musst du nachts nicht mehr nach Köln zurück.“

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