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Wahlscheid, Juli 1935
Heidrun

„Mach´s gut. Und wenn ihr in Köln keine Bleibe mehr habt, dann kommt ihr zu uns aufs Land.“ Wilhelm und Anat verabschiedeten sich herzlich mit einer Umarmung. Auch die beiden Frauen, Wilhelms Frau Heidrun und Rinah, die Anat vor neun Jahren geheiratet hatte, drückten sich einen Kuss auf die Wange.

Der „Bahnhofs-Gustav“, in Personalunion Bahnhofs-Vorsteher, Schrankenwärter, Kneipenwirt und oberste Informations-Instanz im Dorf, runzelte die Stirn ob solcher Vertraulichkeit, murmelt sich einen Fluch in den grauen Bart und setzte Dienst-Mütze und -Miene auf, als der Zug heranrumpelte und mit Gefauche zum Stehen kam.

Anat, Rinah und ihre beiden Kinder Michaela und der kleine Daniel waren zur Sommerfrische zwei Tage am Wochenende auf dem Hof der Merkelbachs in Wahlscheid gewesen und wollten nun mit dem Zug nach Köln zurückfahren. Sie würden gut zwei Stunden unterwegs und rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit wieder in ihrer Wohnung in der Budengasse sein. So konnten sie einigermaßen sicher sein, nicht von einem Trupp Braunhemden aufgehalten und schikaniert zu werden.

„Die Kölner“, wie Heidrun die Liesenthals nannte, waren gerne hier auf dem Land, denn auf dem kleinen, aber gemütlichen Bauernhof waren sie keinen Angriffen ausgesetzt, die in der Stadt zwar nicht offen zum Ausbruch kamen, aber immer latent vorhanden waren. Trotz des Ansehens, das die Familie Liesenthal in Köln seit Generationen genoss, ließen sie auch die Menschen in ihrer näheren Umgebung spüren, dass sie als Juden nicht erwünscht waren. Da half es wenig, dass Rinah ein Mündel des Kaufhausbarons Leonard Tietz war, der bis zur Arisierung 1933 das größte Kaufhaus in Köln führte. Das war erst zwei Jahre her, aber man hatte den Eindruck, als läge eine Ewigkeit dazwischen.

Die beiden Männer waren ihr in den letzten Tagen merkwürdig bedrückt vorgekommen, hatten lange und mit ernster Miene auf der Bank neben der Scheune gesessen und miteinander geredet und auch jetzt, als sie der Dampflok mit den vier Waggons hinterher winkten, spürte Heidrun, dass ihrem Mann ein dicker Kloß im Hals steckte. Früher hatten die vier immer viel und ausgelassen gelacht, Anat hatte Wilhelm mit seinem überlegenen Wissen über Literatur gehänselt und Willi hatte mit dem Singen von Heimatliedern, die er im Männerchor gelernt hatte, gekontert. Anschließend waren sie dann über die Vorräte des Selbstgebrannten hergefallen und hatten sich köstlich amüsiert. „Man muss in Würde besoffen und alt werden können“, war ihr Leitspruch, den sie dann immer wieder glucksend und wie Kinder kichernd von sich gaben. Die beiden Frauen ließen sie gewähren, erzählten miteinander und nutzten die Zeit, sich näher kennen zu lernen. Heidrun hatte ihrer neuen Freundin ein altes Bergisches Rezept beigebracht: Dielsknall, auch Puttes genannt. Jedes Dorf in der Umgegend hatte einen anderen Namen für das deftige Gericht aus geriebenen Kartoffeln, Mettwurst und gekochtem Schinken. Hinzu kamen noch üppig Pfeffer, Rosinen, Pflaumen und Eier. Das Ganze wurde dann mit reichlich Schmalz zu einem Teig verrührt und in eine runde Backform gegeben, die mit Speckstreifen ausgelegt war. Eigentlich ein Gericht für kalte Winterabende, aber es war Anats Leibgericht und er riss Witze über das Stück Schweinefleisch, das ihnen im Frühjahr 1918 das Leben gerettet hatte. Er konnte geduldig vor dem alten Backes neben der Scheune sitzen und den ca. 2-stündigen Garprozess des Kartoffelkuchens abwarten, der sich dann, auf einen großen Teller gestürzt, als herrlich duftendes, krosses Backwerk präsentierte. Dazu liebte er einen guten Löffel von diesem schwarzen, klebrigen Rübenkraut und er hatte sein Vergnügen daran, wenn die drei Kinder am Tisch bis zu den Ellenbogen eingesaut waren.

Überhaupt hatten auch die drei „Pänz“ eine Menge Spaß miteinander. Die beiden Stadtkinder genossen es, alle paar Monate einige Tage durch die Wälder, Wiesen und Scheunen der Umgebung zu streunen. Heidrun und Wilhelms Sohn Werner wurde 1925, ein Jahr nach ihrer Heirat geboren, Michaela war ein Jahr jünger und der kleine Daniel würde bald sechs werden.

Hoffentlich würden sie sich in Köln durchsetzen können. Gegen diesen Hass und die Gleichgültigkeit konnte auch all das Geld, das ihr Vater verdient hatte, nicht ankommen, ging es Heidrun durch den Kopf. Traurig hatte Anat berichtet, dass die braune Flut nun auch den Kölner Karneval erreicht hatte. Seit die Gestapo ihr Hauptquartier für den Gau Köln-Aachen mitten in der Stadt eingerichtet hatte, war man in der Kölner Innenstadt nicht mehr sicher und im Rosenmontagszug, wichtigste Ikone Kölner Brauchtums, waren Wagen mit antisemitischen und rassistischen Hetzparolen mitgefahren. Die Kölner Karnevalsvereine hatten sich weitgehend mit den neuen Herren arrangiert, denn wer aufmuckte oder der humorlosen Bande den Spiegel vorhielt, wurde drangsaliert und bekam Auftrittsverbot, wie der Büttenredner Karl Küpper, der den dämlichen Nazigruß mit „Eß et am rähne?“ oder „Bei uns im Keller litt der Dreck esu huh!“ veräppelte. Anat hatte sich jahrelang im von Max Salomon gegründeten und allseits respektierten jüdischen Karnevalsverein „Kleiner Kölner Klub 1922“ engagiert, aber mittlerweile war auch der Kölner Fasteleer von den braunen Rotten infiltriert und er wurde kaum noch eingeladen. Ein Vereinsleben war ihm als Jude ohnehin verwehrt, aber seine finanziellen Zuwendungen wurden vom Komitee gerne angenommen, hatte ihr Rinah erzählt.

„Komm, wir fahren heim.“ – Willi riss seine Frau aus ihren Gedanken. „Willst du nicht noch auf ein Bier und einen Schnaps in den Bahnhof?“ Trotz der gedrückten Stimmung gestern Abend hatten die beiden Freunde zwar eine gute Portion Alkohol gehabt, aber sie wollte ihrem Mann nicht seine gewohnte Einkehr nehmen. „Nein – ich will heim, mir ist nicht nach Gustav“, meinte er mit einem Blick auf den Bahnhofsvorsteher, der in seiner Strickjacke jetzt wieder wie ein Wirt aussah und mit seinem alten Kumpel, dem Kürten-Scheng, auf der Bank saß und sich von seiner Schwester den Schnaps bringen ließ. Eine Frau hatte Gustav nicht und außer seiner Schwester Gertrud hätte es auch kaum eine Frau bei diesem ewig greinenden und vor sich hinknurrenden alten Dickschädel ausgehalten.

Der wahre Grund, warum Willi nach Hause wollte, war Heidrun nicht verborgen geblieben. An der Theke in der Gaststätte saß Richard Schiermeister, der „Dorfschulze“, wie er von allen genannt wurde. Bei der Gemeindewahl 1933 war er mit seinen wirren Hetz-Parolen mit Pauken und Trompeten durchgefallen, aber ein Jahr später wurde er nach der neuen Reichs-Gemeindeverfassung vom Landrat in Siegburg als „Gemeindeschulze“ eingesetzt. Willi war schon mehrfach aufs Übelste mit dem grobschlächtigen Schwätzer aneinandergeraten, vor allem Willis Freundschaft zu einem Juden wurde von ihm ständig böse kommentiert.

Sie stiegen in den Wagen, Wilhelms ganzer Stolz: ein Brennabor Typ P von 1919, den ihm sein Onkel, der im Nachbarort die Tochter des Kohlenhändlers geheiratet hatte, vor ein paar Jahren geschenkt hatte. Das Gefährt stammte aus der ersten Serie von Fahrzeugen, die nach dem Krieg wieder in Brandenburg gebaut worden waren und entsprechend anfällig war der 8-Zylinder mit seinen 24 PS auch. Aber Willi war ein geschickter Handwerker und er bekam so allerlei wieder ans Laufen.

Wahlscheid, August 1938
Joachim

Als er des Nachmittags mit seinem Vater durch den Ort fuhr, hatte Joachim die beiden schon gesehen, als sie aus dem Zug stiegen: Das Judenmädchen und ihr kleiner Bruder, die wieder mal im Dorf auftauchten und von den Merkelbachs abgeholt wurden, um bei den Judenfreunden zu schmarotzen, wie sein Vater das nannte. Der musste es wissen, denn er war der Ortsvorsteher.

„Lass bloß die Finger von denen“, hatte ihn sein Vater gewarnt. Dass das keine richtigen Menschen sind, hatte er schon kapiert, aber das schöne, hochgewachsene Mädchen mit den langen schwarzen Haaren interessierte ihn doch, seit er nachts trotz der sommerlichen Hitze das dicke Plumeau bis zum Kinn hochzog, damit nur ja niemand merkte, dass er wieder und wieder Hand an sich legen musste, um den Druck seiner knapp 14 Lenze loszuwerden. Natürlich plagte ihn das schlechte Gewissen, aber es war an der Zeit, das gierige Gerede seiner Schulfreunde zu überprüfen. Sonst war er überall der Wortführer, aber mangels praktischer Erfahrung konnte er in dieser Hinsicht nicht viel zu den Halbwahrheiten und den Phantastereien der Beuede* beitragen. Er hatte keine Schwester oder Cousine, wo er mal am Badetag durchs Schlüsselloch spinksen* konnte, und so beschränkten sich seine optischen Eindrücke auf einige Zeichnungen und zerknitterten Fotos, die seine Kumpels in der Tasche ihrer kurzen Lederhosen mit sich herumtrugen, um damit anzugeben.

Nein – er musste endlich eigene Erfahrungen sammeln und warum nicht mit dieser Judengöre, die ja ohnehin kein richtiges Mädchen ist, aber offensichtlich über die geeigneten Attribute verfügte, um als Anschauungsmaterial zu dienen. Da konnte sein Vater eigentlich nichts dagegen haben. Außerdem wollte er sich ja auch nicht erwischen lassen. Er wusste, dass die Kölner Freunde der Merkelbachs in den beiden Zimmern des Anbaus wohnten, wenn sie auf dem Hof waren. In dem Anbau hatten Willis Eltern gewohnt, bis sie vor einigen Jahren kurz hintereinander starben und ihrem einzigen Sohn den Bauernhof überließen. Und nun nisteten sich die beiden Judenbälger hier ein, um ein paar Tage der Sommerferien auf dem Land zu verbringen. Die Weide reichte fast bis an das Haus heran und lediglich ein Weg aus Steinplatten, in deren Zwischenräumen Gras und Unkraut hervorguckten, trennte den Zaun aus handgedrehtem Stacheldraht von der Hauswand. Der helle Mond stand auf der anderen Seite des Hauses und er konnte unbemerkt und im Schlagschatten bis an das Fenster herantreten in der Hoffnung, durch die kleinen Sprossenfenster einen vorwitzigen Blick nach innen werfen zu können. Gefahr drohte ihm nicht, denn er hatte gesehen, dass Wilhelm Merkelbach mit seinem Sohn Werner und dem kleinen Daniel zu einem Hochsitz gewandert waren, um Wild zu beobachten. Die Bäuerin hielt sich in der Küche auf und putzte Gemüse.

Michaela saß am kleinen Tisch an der Wand rechts von ihm und las in einem Buch. Links standen zwei Betten, die durch zwei schmale, hohe Nachtschränkchen voneinander getrennt waren. Das Mädchen hatte ihr sonst streng nach hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenes Haar offen über den Schultern hängen. Ihr Kleid, die hellrosa Bluse und die Schürze lagen achtlos hingeworfen auf einem kleinen Teppich. Auch ihr war es offensichtlich viel zu warm nach diesem heißen Sommertag und so trug sie nur eine Unterhose und ein dünnes ärmelloses Hemd. Der Raum war durch zwei Kerzen auf dem Tisch und einer Spirituslampe an der Decke beleuchtet. Der Hof verfügte zwar über Strom, aber die Leitungen reichten offensichtlich noch nicht bis in diesen Anbau. Die Tür zum dunklen Flur gegenüber stand offen, um etwas Frischluft in das Zimmer zu lassen. Wahrscheinlich hatte das Mädchen die Fenster geschlossen, um die Mücken fernzuhalten. Sie hatte ihren Kopf in die linke Hand gestützt, ihre rechte lag auf dem nackten Oberschenkel. Das flackernde Licht der Kerze beleuchtete ihr gespannt lesendes Gesicht und er konnte sehen, wie ihre Augen über die Seiten flogen. Ab und zu blätterte sie um. Fasziniert beobachtete Joachim, wie sich ihre Schenkel rhythmisch öffneten und schlossen, offenbar in nervöser Anspannung, die die Geschichte in dem dicken Wälzer hervorrief. Er konnte sich nicht satt sehen. Plötzlich klappte sie das Buch zu, stand auf und räkelte sich, streckte die Arme nach beiden Seiten und hinter den Kopf. Die kleinen Brüste drückten gegen den Stoff, als sich der junge Körper dehnte. So etwas hatte Joachim noch nie gesehen. Gebannt starrte er durch die Scheibe, als Michaela plötzlich mitten im herzhaften Gähnen und Strecken innehielt und ihre Augen weit aufriss.

„Was machst du da, du Schwein?!“ Joachim erstarrte. Sie hatte ihn entdeckt. Jetzt musste er sehen, dass er fortkam und zwar schnell. Noch konnte er hoffen, dass sie ihn zwar gesehen, aber nicht erkannt hatte. Notfalls konnte er alles abstreiten. Sein Vater würde ihn windelweich hauen, wenn er erführe, dass er einem Judenmädchen hinterher stieg. In wilder Panik versuchte er, über den Stacheldrahtzaun zu klettern, um über die Weide zu entkommen. In der Dunkelheit verfehlte er den untersten Draht und riss sich ein gehöriges Loch in sein Hemd, als er abrutschte. Ein heißer Schmerz durchzuckte seinen rechten Oberschenkel und die linke Hand, als die gebogenen Nägel in sein Fleisch schnitten.

Er hörte noch, wie das Fenster aufgestoßen wurde und die Bäuerin irgendwas hinausrief, als er endlich den Zaun überwunden hatte und sich humpelnd davon machte. Das würden sie ihm büßen, die verdammten Juden, diese blöde Kuh – wehe, sie würde ihm mal in die Finger geraten.

New York, Mai 2003
Christina

Die zehn Stunden im Flieger hatten Christina gutgetan. Sie hatte fast vier Stunden fest geschlafen und die restliche Zeit über Notizen und Unterlagen gebrütet. Der Mittelplatz links neben ihr war frei geblieben und der junge Mann am Fenster hatte während des Fluges kaum einen Mucks getan, sich ab und zu kichernd in T.C. Boyles Africa-Epos „Water Music“ vertieft oder vor sich hingeschlummert.

Wieder und wieder musste sie die alten Fotos betrachten und in dem Stapel alter Schulhefte stöbern. Christina hatte sie vor einigen Wochen in einem Karton im Nachlass ihrer Großmutter gefunden. Es waren ihre Tagebücher und sie reichten zurück bis ins Jahr 1936, als sie gerade mal 10 Jahre alt war und endeten Mitte 2002, einige Wochen bevor sie starb. Die Lebenslinie konnte man an der Handschrift über die Jahrzehnte hinweg ablesen, von der schnörkeligen, Stil suchenden Schrift der Kindheit bis zur geübten geradlinigen Hand einer erwachsenen Frau. Erst die Eintragungen der letzten Monate waren von ihrem Krebsleiden gezeichnet, zittrig, zuletzt kaum noch lesbar. Die Kriegsjahre 1940 bis 1945 fehlten zwar, aber die abenteuerlichen Geschichte ihrer Flucht aus Köln waren in einer Kladde des Jahres 1946 nacherzählt. Christina hatte Hinweise gefunden, dass die Oma Ihre Tagebücher aus der Kriegszeit auf ihrer Flucht hatte zurücklassen müssen. Christina war froh, dass sie während ihres Studiums einen Lehrgang in Sütterlin absolviert hatte. Die Einträge der ersten Jahre waren in dieser kompliziert aussehenden deutschen Schrift verfasst, erst später war ihre Großmutter zu der normalen lateinischen Schreibschrift übergegangen.

Christina war in die Fußstapfen ihres Vaters getreten, der sie und ihre Mutter zwar schon vor langer Zeit verlassen und einen Lehrauftrag in Pennsylvania angenommen, aber dennoch einen nicht geringen Einfluss auf die Erziehung und ihre geistige Entwicklung genommen hatte. Sie hatte an der State University Europäische Geschichte und Geographie studiert und nebenbei intensiv Deutsch gelernt.

„Frieden finden .…“ – so lautet der letzte Eintrag in den Tagebüchern; ohne Datum, die Sehnsucht einer Sterbenden. Von ihrer Mutter wusste Christina, dass Oma Michaela Liesenthal im Frühjahr 1943 über Holland nach England gekommen war. Während der Flucht vor dem Nazi-Regime war ihre Tochter Heidemarie, Christinas Mutter, zur Welt gekommen. Die damals 18-jährige Jüdin war auf einem Boot mit anderen Flüchtlingen auf die britische Insel gebracht worden und hatte dort einige Monate bei einer jüdischen Familie gewohnt, bis sie im Mai 1945 endlich eine Schiffspassage nach New York erhalten hatte. Dort angekommen hatte sie einige Tage gebraucht, um in diesem brodelnden Schmelztiegel zurecht zu kommen und die Familie ihres Großonkels Joseph Liesenthal zu finden. Dieser war schon vor dem Ersten Weltkrieg ausgewandert und seine Nachkommen betrieben gemäß der Familientradition Goldschmiedegeschäfte in Manhattan. Es kostete Michaela einige Mühe, mit holprigem Englisch und dem Kleinkind auf dem Arm mit Hilfe der Angestellten bis zu dem großen Anwesen des Clans in Westchester County vorzudringen. Immerhin bot ihr die Familie eine neue Heimat und eine Beschäftigung im Haushalt und später als Verwalterin des familieneigenen Gestüts an. Erst viele Jahre später, 1972, zog sie nach Brockport im Monroe County, als ihre Tochter den Geschichtsprofessor Joseph Hudson heiratete, der an der dortigen State University Geschichte und Politik lehrte. Sie selbst hat nie geheiratet und Christina fand in den Tagebüchern auch keine Hinweise auf Liebschaften mit Männern, wohl aber eine Reihe von Andeutungen, die man mit etwas Phantasie als eine unterdrückte Sehnsucht nach nicht ausgelebten, gleichgeschlechtlichen Beziehungen interpretieren könnte. Nirgends gab es einen Hinweis auf den Vater ihrer Tochter. Wenn später einmal die Rede von Heidemaries Vater war, hieß es immer, er sei Deutscher und im Krieg geblieben.

Ihre Großmutter war eine bildschöne Frau gewesen und Christinas Mutter hatte erzählt, dass es nicht an Gelegenheiten gemangelt hatte, nette und meistens steinreiche junge Männer kennenzulernen, die im Hause der Liesenthals ein- und ausgingen. Mit ihrem freundlichen, aber zurückhaltenden Wesen hielt sie sich indes alle Interessenten auf Distanz und bald wurde aus der „harten Nuss“ in Anspielung auf ihre deutsche Herkunft ein „everlasting Fraulein“. In ihrem Tagebuch hatte sie an einer Stelle dazu geschrieben: „… ewig dumm, ewig langweilig, ewig gleich, was wirklich ewig ist, wissen sie nicht.“ Andeutungen wie diese fanden sich zuhauf in den Heften und sie waren es auch, die Christina neugierig gemacht hatten, mehr über die Vergangenheit ihrer Großmutter zu erfahren.

Die Eltern, der Bruder sind tot – so viele sind gestorben, das böse Pack überlebt und hat alles genommen.“ Christina hatte diesen Eintrag zuerst auf die Judenpogrome und die Tatsache bezogen, dass in beiden neuen deutschen Staaten viele der Naziverbrecher weiterhin als unbescholtene Bürger leben und sogar hohe und höchste Ämter besetzen konnten. Nach und nach begriff sie aber, dass diese Anmerkungen sehr konkret auf Ereignisse anspielten, die in unmittelbarem Zusammenhang mit persönlichen Erinnerungen aus der Jugend Michaelas stehen mussten.

Einen deutlichen Beweis dieser These fand sie schließlich zwischen den vielen Papieren und Unterlagen, die Oma Michaela mit nach Brockport gebracht und dort auf dem Dachboden der Hudsons verstaut hatte. Der Brief aus dem Jahr 1959 stammte von einem Anwalt aus Bonn und war mit einer einfachen Schreibmaschine geschrieben und in deutscher Sprache verfasst. Vielfach auseinander- und wieder zusammengefaltet, hatte er arg gelitten. Überdies war das Papier irgendwann einmal feucht geworden und einige Textpassagen waren mit einem Tintenfüller unterstrichen. Nun war der Text nicht mehr vollständig zu entziffern.

… können wir Ihnen mitteilen, daß die Fa-----------Gemeinde Wahlscheid lebt und mehrere größere Gewerbebetriebe ----------------------handel unterhält. --------------- verheiratet und hat einen dreijährigen Sohn --------- …

Anbei lag eine Kostennote über 800 Deutsche Mark, darauf der handschriftliche Hinweis, dass die Rechnung bezahlt worden sei. Ihre Großmutter musste gute Gründe gehabt haben, sich mit Hilfe eines deutschen Anwaltes Auskünfte über Menschen in einer kleinen Gemeinde nahe Köln zu beschaffen. Möglicherweise hatte sie versucht nach dem Vater ihres Kindes zu forschen, aber die Suche irgendwann aufgegeben.

Ausgerechnet die Namen waren offenbar unterstrichen worden und dadurch nicht mehr lesbar und Christina hatte vergeblich versucht, die Fragmente durch Informationen aus den Tagebüchern zu ergänzen. Auch ein früherer Studien-Kollege, der sich mit alten Schriften beschäftigt hatte, konnte ihr nicht weiterhelfen.

In den Aufzeichnungen ihrer Großmutter fanden sich viele Hinweise auf Besuche eines Bauernhofs, der einer gewissen Familie Merkelbach gehörte. Offenbar waren Michaelas Eltern mit dieser Bauernfamilie eng befreundet gewesen und sie hatte noch im Jahre 1938 gemeinsam mit ihrem Bruder Daniel einen Teil der Sommerferien in Wahlscheid verbracht.

Im Internet hatte Christina weder Informationen über den Bonner Anwalt gefunden noch Hilfreiches über den Ort Wahlscheid oder deren Einwohner in Erfahrung gebracht. Sie hatte per Email Kontakt zu dem Betreiber einer privaten Homepage der Stadt Lohmar aufgenommen. Wahlscheid war in den 60er Jahren nach Lohmar eingemeindet worden und nurmehr Ortsteil der Stadt. Immerhin konnte ihr der ferne Webmaster mitteilen, dass ein Werner Merkelbach in einem Altenwohnheim lebt und sich offensichtlich guter Gesundheit erfreut. Die Homepage des Wohnheims sagte lediglich, dass ein „Relaunch“, eine Neugestaltung des Internet-Auftritts unmittelbar bevorstünde.

Christinas Mutter war ihr keine große Hilfe bei der Auflösung des Rätsels. Heidemarie lebte seit der Trennung von ihrem Mann vor 10 Jahren in einer Scheinwelt, verließ ihr Zuhause so gut wie überhaupt nicht mehr und saß nur im Wohnzimmer, um dümmliche Soaps im Fernsehen anzuschauen oder in Frauenzeitschriften zu blättern. Auf Fragen reagierte sie kaum und gab nur ausweichende Antworten, wenn die Sprache auf Ereignisse kam, die außerhalb der gemeinsamen Jahre mit ihrem Ehemann lagen.

So hatte Christina beschlossen, nach Deutschland zu reisen. Nach erfolgreichem Abschluss ihres Studiums hatte sie nun die Zeit dazu. Sie hatte etwas Geld von ihrem Vater erhalten und frei von Beziehungen sonstiger Art war sie auch. Was lag also näher, als sich ein wenig das alte Europa anzuschauen und dabei vielleicht etwas über ihre Großmutter und ihre eigene Herkunft herauszufinden. Ihre Mutter in dem Haus in Brockport allein zu lassen, fiel ihr natürlich schwer, aber sie dachte sich, dass sie sich vielleicht ein bisschen neu besinnen würde, wenn sie sich mal eine Weile selbst um die täglichen Belange kümmern müsse.

Christina starrte durch das kleine Fenster auf die Wolkendecke, die sich unter dem Flieger ausbreitete und dachte an die gemeinsamen Jahre mit ihren Eltern in dem kleinen Häuschen in der Nähe des Campus der Universität, an ihre stille, immer etwas bekümmert wirkende Mutter und ihren Vater, der die Attitüden des intellektuellen 68er-Studenten auch als Dozent einer Universität nie abgelegt hatte. Sie musste lächeln, als sie ihren Vater inmitten einer kleinen Schar von Studenten vor sich sah. Mit seinem Strubbelkopf, den fleckigen Jeans und dem alten T-Shirt sah er aus wie einer von ihnen, wenn sie nächtelang über Gott und die Welt diskutierten, Rotwein tranken und große Joints rauchten. Eine Zeitlang hatten sie das vor dem kleinen, rothaarigen Mädchen zu verbergen versucht, aber irgendwann hatte ihr Vater ihr erklärt, was es damit auf sich hatte, und sie hatte den qualmenden Gestank als eine der vielen Merkwürdigkeiten der Erwachsenen akzeptiert. Mutter verbrachte diese Stunden meist in der Küche, kochte Suppe und machte Sandwichs für die Bande.

„Madam – bitte schnallen Sie sich an. Wir landen in wenigen Minuten.“ Die Stewardess holte Christina in die Gegenwart zurück. Sie band ihre roten Locken zusammen, verstaute die Unterlagen wieder in die alte Ledertasche und ihren Laptop in den Rucksack.

Sie hatte in Köln ein Hotel gebucht und wollte sich dort zunächst ein paar Tage orientieren. Es war nicht weit nach Bonn, wo sie den Anwalt aufzutreiben hoffte, und auch das Nest Wahlscheid lag nur eine halbe Autostunde entfernt, wie sie auf ihrer Roadmap im Internet festgestellt hatte. Für die meisten Reisenden aus den USA war Köln eine „One-Stop-City“, eine Stadt, die man nur der einzigen Sehenswürdigkeit, des Doms wegen, besuchte. Sie wusste es besser, ein Kommilitone hatte eine Weile in Köln gelebt und ihr eine Menge mehr Interessantes über die Stadt erzählt.

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