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Christina war einigermaßen beeindruckt von der Lebensart der Menschen hier und auf der Rückfahrt in ihr Kölner Hotel sann sie darüber nach, wie sich ihr Vater wohl in die vitale Lebensgemeinschaft hier eingefügt hätte.

Werner stand noch eine ganze Weile nachdenklich in der Klöntür, nachdem der Mietwagen mit der jungen Frau längst von der Zufahrt auf die Hauptstraße abgebogen war. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sich da ein Unwetter zusammenbraute. Als sie sich herzlich verabschiedeten, hatte Christina versprochen, in ein paar Tagen wiederzukommen. Bis dahin wollte Werner einiges geklärt haben.

Köln, November 1938
Anat

Anat hatte es vorgezogen, zu Fuß bis zu seinem Lager in der Rheinstraße zu marschieren. Er hätte zwar ein Stück weit die Elektrische nehmen können, aber er wollte heute keine Menschen um sich haben. In den Straßen und Gässchen der Stadt kannte er sich gut aus und konnte einfach die Richtung wechseln, sollte er Menschen begegnen, die er sich ersparen wollte. Er würde zwar fast eine Stunde am Rheinufer entlang unterwegs sein, aber auf dem Marsch von der Innenstadt bis knapp vor Rodenkirchen hoffte er seine Gedanken ordnen zu können. Auf den Straßen war es ruhig geblieben und so hatten sie zwar wieder in ihrer Wohnung übernachtet, aber weder er noch Rinah hatten wirklich Ruhe finden können. Seine Frau hatte sich in einen unruhigen Schlaf geweint und Anat war erst in den frühen Morgenstunden eingeschlafen.

Gegen acht Uhr stand er auf dem kleinen Hof vor der knapp sechs Meter breiten und 25 Meter langen Lagerhalle aus roten Ziegeln. Er öffnete das fensterlose Holztor, trat ein und verschloss den Eingang hinter sich. Emil würde erst in einer Stunde kommen und so lange hatte Anat Zeit, alles vorzubereiten. Er schaltete das Licht ein und sofort wieder aus, als ihm einfiel, dass die hellen Jupiterlampen von draußen durch die kleinen Fenster mit den blinden Scheiben gesehen werden konnten. Links stand eine Reihe Regale, die bis unter die schräge Dachkonstruktion reichten. Die fünf Meter lange Leiter lehnte am obersten Regalboden. Er erinnerte sich, dass sein Vater immer böse geworden war, wenn er sich als Kind nach oben gestohlen hatte und über die Regale geturnt war. Auf der rechten Seite standen über die gesamte Länge Werkbänke, an denen früher etliche Hilfskräfte Halsketten und andere Schmuckstücke in Serien produziert hatten. Mit dieser Billigproduktion, u.a. für die Kaufhäuser der Familie Tietz, waren die Liesenthals über schlechte Zeiten hinweggekommen.

Am hinteren Ende der Halle war durch eine Wand aus Glasfenstern ein kleines Büro abgetrennt, in dem sich der Sekretär oder ab und zu sein Vater aufhielten und die Arbeiten überwachten. Überall standen Möbel und Gerätschaften herum, die Anat noch rechtzeitig aus ihrem Haus hatte schaffen können, als er den Tipp bekam, dass die Nazis seine Villa in Hahnwald beschlagnahmen würden. Auch einige der Glasvitrinen aus seinem Schmuckgeschäft in der Innenstadt waren hier abgestellt. Bisher hatten sich die Nazis noch nicht für diesen Schuppen interessiert, aber das konnte sich jeden Tag ändern.

Links am vorderen Ende des Regals stand ein Paar relativ neue Überschuhe wie feine Herrschaften sie trugen, wenn sie durch Dreckswetter zur Oper oder einem Empfang gingen. Anat hatte sie schon vor vielen Wochen hier deponiert. Unter die normale Sohle hatte er eine zweite, wesentlich kleinere Sohle von einem Kinderschuh geklebt. Die Spuren, die er in der dünnen Staubschicht des Bodens zurücklassen würde, würden die eines Kindes sein. Er schlüpfte hinein, kämpfte sich durch das verstaubte Chaos der Lagerhalle und versuchte, dabei eine kleine Gasse zu schaffen, indem er das eine oder andere Möbel ein wenig zur Seite schob. Unterwegs ins hintere Büro nahm er von einem der Werkbänke einen Stechbeitel und einen Hammer an sich. Der Schlüssel hing wie seit mehr als vier Jahrzehnten an einem Nagel oberhalb der Tür und Anat musste daran denken, dass ihn sein Vater oder Großvater dereinst dort eingeschlagen hatte. In dem kleinen Büroraum standen ebenfalls allerlei Gerümpel und sehr viele alte Akten, Pläne und Zeichnungen von Gegenständen, die hier gefertigt worden waren. Anat schaltete die kleine Schreibtischlampe an. Das schwache Licht würde von draußen nicht zu sehen sein. Er verspürte den Impuls, sich in die alten Unterlagen zu vertiefen, besann sich aber auf den Grund seiner Mission und begann, den riesigen Schreibtisch und den Teppich zur Seite zu schieben. Das ging nicht ganz ohne Lärm ab und Anat hoffte, dass niemand draußen herumstrich und ihn hörte. Denunziantentum stand hoch im Kurs und einen Juden bei einer derartigen Tätigkeit zu erwischen, konnte einen Bürger in der Gunst der braunen Brut ziemlich weit nach vorne bringen. Als er die Stelle endlich freigekämpft hatte, tauchte darunter eine ca. 80 x 80 cm große Klappe in dem Dielenfußboden auf. Anat schob seinen Zeigefinger in ein Astloch, hob den Deckel nach oben und stellte ihn zur Seite. Der etwa 50 cm tiefe Raum wurde von mehreren stabilen Holzkisten und zwei kleinen Säckchen aus grober Jute ausgefüllt.

Anat machte sich sofort daran, die erste der Holzkisten aus dem Loch zu heben, den vernagelten Deckel zu öffnen und den Inhalt aus dem leicht öligen Papier zu wickeln. Das Material, das er in Händen hielt, hatte seine Faszination auch in diesem staubigen Halbdunkel nicht verloren: Gold! Anat hielt inne und lauschte nach draußen, aber das Geräusch eines herannahenden Automotors wurde wieder dünner und nach einigen Sekunden war es wieder still um die Lagerhalle.

Er schleppte die Holzkisten, jede für sich sicher zehn Kilo schwer, nach vorne zum Eingang der Halle und stellte sie nebeneinander neben das Tor auf den Boden. Die Säcke öffnete er nicht, denn sie waren mit Siegeln der Notenbank verplombt. Er wusste auch so, was darin war und man konnte nie wissen, wozu die Siegel noch einmal gut sein würden. Die Münzen knirschten leicht aneinander, als Anat sich die beiden Säcke über die Schulter warf. Einer der beiden würde ausreichen, um einen Wagen wie den zu kaufen, der ihn gleich abholen würde, und dem Besitzer darüber hinaus einige sorgenfreie Jahre ermöglichen.

Nachdem alles umgeräumt war, überlegte Anat kurz, ob er das Loch geöffnet zurücklassen sollte, um die Nazis zu ärgern, sollten sie in Kürze diese Halle inspizieren. Das würde nicht mehr lange auf sich warten lassen und die Vorstellung, dass irgendein Nazibonze vor Wut schäumt, weil gerade erst ein wahrscheinliches Schatzkistchen ausgegraben und weggeschafft worden war, trieb Anat einen wohligen Schauer über den Rücken. Aber er musste vernünftig sein, seinen Plan einhalten und auch an die denken, die zurückblieben. Sicherlich würde man das Umfeld vom Ühm und damit Emil und wahrscheinlich auch seine Wahlscheider Freunde unter die Lupe nehmen. Also suchte er willkürlich ein paar alte Unterlagen aus dem Aktenschrank heraus, die ihm verdächtig genug erschienen und warf sie in das Loch. Die Spuren versuchte er so gut es ging wieder zu beseitigen und hoffte, dass die tumben Stiefelträger bei einer Durchsuchung bemüht sein würden, möglichst großen Schaden anzurichten und damit einige der Spuren verwischten.

Als alles wieder an seinem Platz stand, betrachtete er sein Werk und stieg dann auf den Schreibtisch, um auch dort einige Fußspuren zu hinterlassen. Er hoffte, dass seine Meinung über die Nazischergen richtig und sie verblödet genug waren, um die falsche Fährte zu schlucken.

Er blickte auf die Uhr – in wenigen Minuten würde Emil hier sein und Anat beeilte sich nun, die Tür zu verschließen, den Gang wieder mit Möbeln zuzustellen und die Überschuhe auszuziehen. Einen alten Besen stellte er außen vor das Tor. Er hatte gerade seine Kleider abgeklopft und geordnet, als er das typische Geräusch des Horch 12-Zylinders hörte. Dass er ausgerechnet jetzt an die vielen Streitgespräche denken musste, die dieses Auto immer wieder auslöste. Alle Welt meinte, dass das Fahrzeug ein 8-Zylinder sei, aber es war typisch für den alten Ühm, dass er eines der wenigen 12-Zylinder-Modelle der Baureihe ergattert hatte.

Es dauerte eine Weile, bis Emil den Motor abstellte, ausgestiegen war und die Tür zuklappte – „Anlegen“, wie er das nannte. Anat öffnete das Hallentor ein wenig und trat zu Emil. Der Wagen stand mit dem Heck zur Halle, das Verdeck des Cabriolets hatte Emil geschlossen.

„Mojn Mojn“ – Emil zog seine Handschuhe aus und warf sie durch das offene Fenster auf den Fahrersitz. „Wo ist denn das Klavier?“ Er schien guter Laune zu sein. Dass sein Chef noch keine zwei Tage tot war, konnte man ihm nicht anmerken, aber irgendwie ahnte er wohl, dass ihm die bevorstehende Aktion eher Vorteile bringen würde.

„Es sind nur ein paar Holzkisten mit alter Ware, die man vielleicht mal verkaufen kann. Die Möbel kann ich eh nicht mitnehmen.“ Anat wusste, dass ihm Emil kein Wort glaubte, aber das musste ihm egal sein. Der Fahrer versuchte, einen Blick in das Gebäude zu werfen, aber Anat schloss sofort die Tür und meinte: „Ich reiche dir die Kästen an und du bringst sie ins Auto. Es ist nicht nötig, dass wir uns beide dreckig machen.“

So verschwand also Anat einige Male in der Halle und reichte Emil die Kästen an, die dieser im kleinen Kofferraum des Roadsters verstaute. Der ging zwar ein wenig in die Knie, aber bei dieser Herrschaftskarosse würde das nicht weiter auffallen. Zwei Kisten ließ er zunächst in der Halle stehen.

„So – das war´s. Du kannst schon mal das Fahrzeug starten; ich komme sofort nach“, meinte Anat. Er wartete, bis Emil stirnrunzelnd zum Auto ging und verschwand noch mal in der Halle, um die beiden Säcke, die beiden restlichen Kisten und die Stiefel zu holen und neben dem Fahrzeug abzustellen. Er verschloss sorgfältig das Tor und fegte den vom Regen der letzten Tage aufgeweichten Boden zwischen der Halle und dem Fahrzeug, um die Fußspuren zu verwischen. Die Reifenspuren musste er in Kauf nehmen. Emil sah ihm im Rückspiegel misstrauisch zu, hielt sich aber mit Bemerkungen zurück. Anat warf den Besen in hohem Bogen auf einen Stapel Bauholz neben der Halle, schnappte sich die beiden Säcke und die Stiefel, verstaute sie neben den Kisten und ließ den Kofferraum mit einem satten Knall zufallen. Emil öffnete ihm von innen die Türe und sah zu, wie Anat die beiden letzten Kisten hinter den Beifahrersitz auf den Boden wuchtete und sich in den Sitz fallen ließ.

„Fahr los – einmal um die nächste Ecke.“ Emil startete den schweren Wagen, fuhr sanft an, bewegte den Wagen bis zum Rhein hinunter, bog dann links Richtung Innenstadt ab und hielt einige Meter weiter unter einem der Alleebäume an.

„Watt nu?“, fragte er und blickte Anat verschwörerisch an. „Für wie viele Jahre wandere ich in den Knast, wenn wir erwischt werden?“

„Hör zu – hinter meinem Sitz stehen zwei Kisten mit 10 Kilo Gold in Barren. Das ist die sicherste Währung, die es gibt. Sie gehören dir. Damit kannst du aus Deutschland verschwinden und dir locker ein Luxusleben leisten, wenn du nicht alles auf einmal auf den Kopp haust. Dafür bringst du mich jetzt mit dem anderen Kram sicher nach Wahlscheid und stellst keine Fragen.“

„Und wenn ich noch eine Kiste haben will?“ Emil wollte wenigstens einen Versuch wagen.

„Dann müsste ich dir sagen, dass in diesem Fall mein Plan nicht funktioniert, und du außerdem schon bis zum Hals in der Sache drinsteckst. Oder was glaubst du, würde die Gestapo sagen, wenn sie dich jetzt mit einem Juden und Kästen voller Gold erwischte.“

„Abgesehen von dem, was wir da sonst noch transportieren, solltest du noch dazu sagen.“

„Jetzt komm schon. Das sind fast hunderttausend Schweizer Franken in Gold. Damit musst du nie wieder arbeiten und kannst dir irgendwo ein Häuschen kaufen. Ist doch ein fairer Handel, und wenn der Ühm noch leben würde, hätte ich dir gar nichts abgeben müssen.“

„In Ordnung – fahren wir.“ Emil war schlau genug, um zu erkennen, dass es dem Anderen ernst war und er nicht mehr herausschlagen konnte. Im Grunde wollte er das auch gar nicht, denn er mochte die Liesenthals und es war ihm klar, dass Anat und seine Familie das Land verlassen mussten und dafür eine ziemliche Menge Geld brauchten.

Die Brücke über den Rhein in Rodenkirchen war seit einigen Monaten im Bau, aber noch nicht fertiggestellt und so mussten sie den Weg durch die Stadt und über Deutz nehmen. Sie würden schon eine gute Stunde unterwegs sein und Anat hoffte, dass sie nicht in irgendeine der Kontrollen gerieten, die die SS in letzter Zeit immer häufiger ohne Vorwarnung aufstellte.

Sie nahmen die Autobahn, die erst seit einigen Jahren in Betrieb war und für die sich der Führer als Innovator feiern ließ. Eigentlich musste aber jedem klar sein, dass diese Fernstraßen mit geklautem Geld gebaut wurden und mit Plänen entstanden, die schon in den 20er Jahren vom Verein HaFraBa entwickelt worden waren, um die Hansestädte im Norden mit Frankfurt und Basel zu verbinden, und Anat war dabei gewesen, als 1932 die erste Autobahn zwischen Köln und Bonn von Kölns Bürgermeister Konrad Adenauer eingeweiht wurde. Die Bahnen wurden kaum genutzt, denn nicht einmal jeder hundertste Deutsche konnte sich ein Auto leisten und Hitlers hilfloses Projekt, durch ein Sparmarken-System jeder Familie eines der von Porsche entwickelten Kleinfahrzeuge zu verschaffen, war ebenso jämmerlich gescheitert wie der Versuch, mit dem Autobahnbau die Millionen Arbeitslosen zu beschäftigen.

In diesen Gedanken versunken rumpelten sie über die Betonpiste bis zur Ausfahrt im Königsforst, um von dort die Landstraße nach Wahlscheid zu nehmen. Gegen Mittag fuhren sie auf dem Hof der Merkelbachs vor.

Heidrun kam sogleich aus dem Haus gelaufen, wischte sich die Hände an der Schürze ab. „Anat! – Was machst du hier? Und Emil?“ Heidrun war ziemlich erstaunt, drückte Anat einen kurzen Kuss auf die Wange und blickte fragend von einem zum anderen.

„Ich muss mit euch reden. Ist der Willi da?“ – „Willi ist auf dem Feld. Weil es ausnahmsweise mal nicht regnet, wollte er ein paar Zäune flicken. Werner kommt gleich aus der Schule heim. In einer halben Stunde gibt es Essen und dann sind beide da. Kommt doch solange rein.“

„Ich würde gerne etwas ausladen und für ein paar Stunden bei euch abstellen. Kann ich das mit Emil in den Anbau stellen? Es sind ein paar kleine Kistchen. Wir klären später, was damit gemacht wird, wenn Willi wieder da ist.“

Natürlich hatte Heidrun nichts dagegen, auch wenn ihr die Sache ziemlich merkwürdig vorkam, und so schleppten Emil und Anat die Kisten und die beiden Säcke in den kleinen Anbau, der für Anat und seine Familie so oft vorübergehende Heimat gewesen war, wenn sie am Wochenende oder in den Ferien zu Besuch waren.

Anat bat Emil noch, den Wagen in die Scheune zu fahren. Der Hof lag zwar etwas abseits vom Dorf, aber der auffällige Wagen musste nicht von jedem gesehen werden. Anschließend setzten sie sich in die Küche und warteten auf Wilhelm und Werner.

Dem neugierigen Augenpaar hinter den Brombeersträuchern im kleinen Kirschbungert entging nichts von dem, was auf dem Hof der Merkelbachs vor sich ging.

Wahlscheid, Mai 2003
Werner

Lange stand Werner Merkelbach vor dem Fenster und blickte hinaus auf die Wiese und den Fluss, an dem er nun seit vielen Jahrzehnten wohnte. Das Älterwerden hatte ihm nichts ausgemacht und er meinte, dazu auch keine Zeit zu haben. All die Jahre hatte er sich um Haus und Hof gekümmert. Heiraten war sein Ding nicht, auch wenn er nichts hatte anbrennen lassen. Sein Leben war dennoch in geordneten Bahnen verlaufen.

Er hatte den alten, kleinen Bauernhof seiner Eltern in einen respektablen Betrieb verwandelt und wenn nun auch keine Kartoffeln mehr auf seinen Äckern wuchsen, so konnte er doch seinen Studenten beim Wachsen zuschauen und sie mit den Mitteln, die ihm und seinen Mitbewohnern zur Verfügung standen, nach Kräften unterstützen, indem sie ihnen freies Wohnen während des Studiums gewährten.

Er ging hinüber zu der kleinen Kirschbaumvitrine, die er selbst vor einigen Jahren liebevoll restauriert hatte, und öffnete die untere, mit Broschüren vollgestopfte Schublade. Er konnte selbst nicht verstehen, warum er diese alten Reiseprospekte immer noch aufhob. Jetzt, in seinem Alter, würde er es doch nicht mehr schaffen, die „Inseln unter dem Wind“ zu besuchen. Darunter fand er, was er suchte: ein altes, in Leder gebundenes Fotoalbum. Seit dem Umzug aus der alten Kate in die neue moderne Wohnung hatte er das Album nicht mehr in den Händen gehalten. Fast ehrfürchtig öffnete er die ersten Seiten aus schwarzem Karton. Ein Hochzeitsfoto seiner Eltern im grauen Passepartout von 1925, er selbst als nacktes Baby, seine Großmutter als junges Mädchen, sein Vater in voller Kriegsmontur mit Pickelhaube, Gewehr und Rucksack – die Bilder unterschieden sich nicht von anderen Fotoalben aus dieser Epoche. Weiter hinten seine Eltern mit ihm im Wahlscheider Kurgarten vor den beiden großen Zwillingstannen, die irgendwann dem grauenhaften Flachdachbau hatten weichen müssen, links ein Stück der Auto-Werkstatt von Vaters altem Kumpel Max, verblichene Schwarzweißfotos von der Kirmes auf dem Parkplatz Auelerhof mit der Eisenbahnbrücke im Hintergrund, eine eingeklebte Postkarte vom Schloss Auel ohne den grässlichen, neuen Anbau. Auf den letzten Seiten fand er endlich, was er suchte. Vorsichtig trennte er die dünnen, durchsichtigen Zwischenblätter von den Fotos und betrachtete die Abbildungen seiner Eltern und einem Paar, an das er sich nur sehr dunkel erinnern konnte. Er fand auch Bilder von sich selbst und den beiden Kindern der Liesenthals. Der kleine Daniel musste damals, kurz vor Ausbruch des Krieges, etwa zehn gewesen sein, das wunderschöne, zarte Mädchen mit dem langen, schwarzen Zopf auf dem letzten Foto im Album vielleicht vierzehn Jahre alt.

Versonnen blickte Werner aus dem Fenster und langsam kehrten die Erinnerungen zurück an das Frühjahr ´43, an die dramatischen Ereignisse auf dem kleinen Hof seiner Eltern. Und an das Mädchen, das viele Jahre lang nicht aus seinen Gedanken verschwinden wollte, das ihm doch unerreichbar bleiben und irgendwann aus seinen Erinnerungen verschwinden sollte.

Er seufzte tief – fast ein Schluchzen, klappte das Album zu und verließ einmal tief durchatmend das Zimmer.

Wahlscheid, November 1938
Wilhelm

„Willst du dir nicht im Auelerhof ein paar Bierchen schlappen und einen Skat spielen?“ Emil war natürlich sofort klar, was Anat von ihm wollte: Er sollte für ein paar Stunden verschwinden, damit er und Wilhelm in Ruhe etwas aushecken konnten.

„Verstehe schon – der Familienrat tagt. Aber denk dran, dass wir uns um vier wieder auf die Socken machen müssen, damit wir rechtzeitig in der Stadt sind.“ Emil stand vom Tisch auf, an dem sie sich den deftigen Bohneneintopf hatten schmecken lassen, zwinkerte Anat verschwörerisch zu und verschwand zu Fuß Richtung Kneipe. Er würde auf Leute treffen, denen er beim Skat ein paar Biere abgewinnen konnte.

„Hast du keine Hausaufgaben zu machen, Werner?“ Der letzte Störenfried wurde von Heidrun in sein Zimmer geschickt, damit die Erwachsenen nun endlich ungestört miteinander reden konnten. „Der Pastor sagt, dass wir erwachsen sind, wenn wir konfirmiert werden, und ihr behandelt uns immer noch wie Kinder“, maulte der Sohn. „Eben – und das ist erst in einem halben Jahr der Fall und so lange tust du, was man dir sagt.“ Willi musste zwar über die kluge Schlussfolgerung seines Sohnes grinsen, aber er hoffte, dass dieser ihn in ein paar Monaten nicht beim Wort nehmen würde.

„Schieß los. Was führt dich nach Wahlscheid?“ Willi war nun sehr gespannt, was sein Freund ihm zu erzählen hatte.

Da nicht anzunehmen war, dass sich die Ereignisse der letzten Tage, die Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung, die Zerstörung der beiden Synagogen in der Roonstraße und in der Glockengasse und die Verhaftung von über 800 Juden durch die Gestapo, schon bis in das kleine Dorf an der Agger herumgesprochen hatten, berichtete Anat zunächst von seinen Erlebnissen der vergangenen Nacht. Auch ihm war damals noch nicht klar, dass es sich dabei nicht um Einzeltaten in Köln, sondern um eine von Goebbels angeordnete gesamtdeutsche Aktion gehandelt hatte und sich quasi als Rachefeldzug für die Ermordung eines deutschen Botschaftssekretärs in Paris durch einen 17-jährigen Polen gegen alle deutschen Juden richtete. Ein paar Tage zuvor hatte man 15.000 polnische Juden, die in Deutschland lebten, zusammengetrieben und zur polnischen Grenze geschafft. Darunter befanden sich auch die Eltern des 17-Jährigen, der daraufhin das Attentat auf den Botschaftsangehörigen Ernst vom Rath verübte und dabei festgenommen wurde. Den Nazis bot sich eine treffliche Gelegenheit, die Wut der Bevölkerung auf die Juden zu lenken. Auch später wurde die Reichskristallnacht in den Zeitungen im Reich als „Gerechter Volkszorn“ verfälscht.

Anat erzählte seinen Freunden von seiner Absicht, Deutschland so schnell wie möglich zu verlassen. „Wir wissen einfach nicht mehr weiter. Wenn die Nazis nicht so scharf auf unser Geld wären, hätten die uns wahrscheinlich längst festgesetzt. Außerdem gilt Rinah als Vierteljüdin, weil ihr Vater ja ein guter Deutscher war und ihre Mutter halbjüdisch. Das haben die Nazis in ihren Nürnberger Gesetzen vor drei Jahren so festgelegt. Das rettet uns, solange die Kinder noch klein sind. Aber jetzt kommt das Schlimmste: Der Ühm Weber, ihr habt ihn ja gekannt, ist gestern gestorben. Er wollte uns helfen, über Holland nach Amerika zu kommen. Der Ühm kannte dazu die richtigen Leute. Jetzt muss ich wieder neu anfangen und überlegen, was wir tun sollen.“

„Tja – da ist guter Rat teuer.“ Wilhelm sah die Verzweiflung in Anats Augen. Er wusste, dass es wenig Sinn machen würde, Anat und seine Familie hier in Wahlscheid zu verstecken, wo jeder Busch Augen hatte. Da waren sie in Köln besser aufgehoben, dort konnten sie eher in der Masse untertauchen. „Wo hast du denn dein Geld? Ich meine … ihr dürft doch nur noch ein paar Hundert Mark besitzen.“ – „Naja – das schon, aber ich habe natürlich was auf Seite geschafft. Und genau deshalb bin ich hier.“

Er erzählte nun den beiden von den Kisten im Anbau, von seiner Lagerhalle in der Rheinstraße und der Absicht, diese Kisten den einzigen vertrauenswürdigen Menschen nicht-jüdischen Glaubens zu überlassen, die er kannte.

„Ich habe jetzt schon keine Arbeit mehr, wir leben von den Rücklagen und versuchen, nicht aufzufallen. Die haben uns jetzt ein „J“ in den Pass gestempelt und wie ich hörte, haben die ein Gesetz in Vorbereitung, dass wir nicht mehr Auto fahren oder die Elektrische benutzen dürfen. Wer weiß, was den Nazis noch alles einfällt, um uns zu schikanieren. Die Lage wird sich in den nächsten Jahren eher verschlimmern, und wenn wir aus Deutschland verschwinden wollen, werden wir das Gold zurücklassen müssen. Da ist es bei euch besser aufgehoben als bei uns in Köln. Und wenn mir oder Rinah was passiert, dann sorgt ihr dafür, dass es die Kinder bekommen.“

Wilhelm sah ein, dass er dem Freund helfen musste, und er wusste ebenso wie seine Frau, dass das umgehend zu passieren hatte. Gemeinsam beschlossen sie, die Kisten in der Scheune zu verbuddeln. Der Boden bestand aus fest verdichtetem Lehm und sie würden eine Weile brauchen, bis sie ein genügend tiefes Loch gegraben hatten. Gemeinsam schleppten sie nun zuerst die Kisten vom Anbau in die Scheune gegenüber dem Hauseingang. Sie schafften einen Stapel Bauholz und grob zugeschnittene Zaunpfähle beiseite und hoben ein Loch aus, in das sie die Kisten, je zwei übereinander, unterbringen konnten.

„Ich habe noch eine alte Filzdecke, die voll Fett und Öl ist vom letzten Ölwechsel am Brennabor. Die können wir noch drüberlegen.“

„Was ist mit den Säcken, die noch im Anbau stehen?“ Heidrun hatte die Säcke mit den Goldmünzen entdeckt, die Anat fast vergessen hätte. „Ah ja! Die Münzen. In den Säckchen sind Vreneli-Goldmünzen, die sicherste Währung, die es zurzeit gibt. Es ist nur schwierig, dafür einen Gegenwert in Reichsmark zu bekommen. Ich kann ja schlecht damit zur Bank gehen. Es gibt unter den Juden im Rheinland einen Schwarzmarkt dafür, da kriegt man aber kaum einen reellen Gegenwert. Wenn wir fliehen müssen, werden wir Geld brauchen, um Leute zu bestechen oder eine Überfahrt werweißwohin zu bezahlen. Ich lasse euch einen Sack Münzen da. Mit dem anderen versuche ich unser Dasein in Köln zu finanzieren.“

„Was soll ich mit so viel Gold im Haus?“ Willi wollte sich gegen das Geschenk wehren, aber Anat bestand darauf.

„Wenn ihr es nicht haben wollt, dann legt es für Werner auf die Seite. Versteckt es gut oder bringt es nach und nach zur Bank, damit nicht auffällt, dass ihr plötzlich so viel Geld habt. Geht zu einer großen Bank nach Bonn oder nach Köln, um einzelne Münzen einzutauschen.“

Sie kamen überein, den Sack zu öffnen, die Hälfte der Münzen herauszunehmen und den angebrochenen Sack mit den Kisten zu vergraben. Die einzelnen Münzen wollte Wilhelm irgendwo im Haus verstecken.

So verschwand der Schatz unter der öligen Decke und darauf die Erde, die sie wieder platt klopften. Eine Schubkarre voll mit übrig gebliebenem Lehm fuhr Willi in den Garten und kippte ihn auf dem Kompost aus. Der zugeschüttete Boden wurde noch mit einigen Eimern Wasser aus der Regentonne getränkt. Anschließend kam das Bauholz wieder an seinen alten Platz, bis nichts mehr an die Aktion erinnerte.

Es war alles erledigt und alles gesagt. Die drei saßen um den Tisch herum, schwiegen und allen steckte ein dicker Kloß im Hals. Sie wussten, dass sie sich wahrscheinlich nie mehr wiedersehen würden. Das zukünftige Schicksal der Liesenthals war mehr als ungewiss.

„Wir werden versuchen, es noch eine Weile in Köln auszuhalten. Wir haben durch die Arbeit im Jüdischen Kulturbund Rhein-Ruhr, in dem sich Rinah seit Jahren engagiert, viele Freunde und gute Verbindungen. Vielleicht besinnt sich ja dieses Wahnsinnsregime eines Tages oder das Ausland reagiert endlich. Es kann doch nicht angehen, dass England oder Amerika tatenlos zusehen, wie hier ein Volk zugrunde gerichtet wird. Die müssen doch mitkriegen, dass von der Demokratie, die sie uns mit dem Versailler Vertrag aufgedrückt haben, nichts mehr übrig ist.“

Was sollten Wilhelm und Heidrun Merkelbach, Kleinbauern aus einem Nest im Bergischen, weit weg von der großen Politik, dazu sagen? Sie bekamen hier auf dem Lande kaum mit, was draußen in der Welt vor sich ging. Die Zeitungen berichteten, dass der Führer dem deutschen Volk viel Gutes bringt, dass es aufwärts geht, Straßen und Fabriken gebaut werden, bald jeder ein Auto fahren kann und die Folgen des von Anat soeben zitierten Versailler Vertrages endlich abgeschüttelt seien. Sogar ein ganzer Staat, nämlich Österreich, hatte sich im März 1938 dem Deutschen Reich angeschlossen. So schlecht, wie Anat das darstellte, konnte es doch kaum sein. Aber auch Willi fühlte, dass nicht alles mit rechten Dingen zugehen konnte. Als er vor einigen Tagen in Siegburg war, um Waren einzukaufen, hatte er mitgekriegt, wie ausgemergelt die Männer waren, die er beim Ausbau der Autobahn gesehen hatte.

„Aber da sind doch eine Menge Menschen, die jetzt Arbeit haben.“ Willi wollte wenigstens versuchen, Anats Thesen ins Wanken zu bringen. „Und es ist alles billiger geworden in den letzten Jahren. Ich zahle für einen Sack Saat die Hälfte von dem, was ich vor fünf Jahren bezahlt habe, und für die Milch kriege ich mehr von der Genossenschaft als früher.“

„Ist dir denn auch klar, woher das Geld kommt, dass dein Führer da für dich ausgibt. Seit 1933 sind Tausende von jüdischen Familien enteignet und zugrunde gerichtet worden. Das Geld haben sich die Nazis unter den Nagel gerissen und haben damit ihre Propaganda finanziert. Findest du es denn in Ordnung, dass man dir so einen widerlichen Popanz als Dorf-Polizisten vor die Nase gesetzt hat?“ Anat meinte damit den grobschlächtigen Richard Schiermeister, der vor einigen Jahren vom Landrat als „Dorfschulze“ eingesetzt worden war. „Der bespitzelt euch alle und ihr merkt das nicht einmal. Und weil wir gerade beim Unter-den-Nagel-Reißen sind: Österreich nennen sie jetzt Ostmark und diese Freicorps der Sudetendeutschen fallen seit Wochen über Einrichtungen in der Tschechoslowakei her. Vor zwei Wochen haben sie in Köln Hunderte von Polen zusammengetrieben und fortgeschafft. Das alles sind kleine Mosaiksteinchen, die irgendwann ein ziemlich grauseliges Bild unseres geliebten Vaterlandes ergeben werden. Du weißt, dass ich recht habe. Und übrigens: Deine Arbeiter an der Autobahn – das sind keine Arbeitslosen, denen dein Führer Lohn und Brot gibt. Das sind politische Häftlinge, die hier für deine Autobahn so lange schuften müssen, bis sie zusammenklappen.“

Wilhelm konnte den Argumenten seines Freundes nichts entgegensetzen. Im Stillen ahnte er, dass der belesene, intelligente Städter recht hatte, aber er hatte Angst vor der Zukunft, so wie er damals Angst hatte, als er nach dem verlorenen Krieg Anfang 1919 aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause kam.

„Ich bin mir sehr sicher, dass die Gleichschaltung auch vor den Vereinen bei dir im Ort nicht Halt gemacht hat. Dein Turnverein gehört nicht mehr zur Deutschen Turnerschaft, sondern ist in der HJ oder dem Reichsbund integriert. Schau dir die Vereinsfahne an – da ist bestimmt ein Hakenkreuz drin.“ Wilhelm wunderte sich, wie gut der Kölner Bescheid wusste. Tatsächlich mussten sich auch die wenigen Vereine in Wahlscheid immer mehr den Verordnungen der Partei fügen.

Der Bauer seufzte tief, stand auf, trat hinter Anat, zerzauste ihm liebevoll die Haare und öffnete die Tür des alten Küchenschranks, um drei Gläser und eine Flasche Klaren ohne Etikett herauszuholen.

„Du bist zwar der Schlauere von uns beiden, aber diesmal hast du hoffentlich mal nicht recht.“ Er goss zwei Gläser bis zum Rand und ein Glas halb voll. Heidrun liebte die großen Schlucke nicht. „Kumm – loss mer ons widder verdraare.“ Das war ihr alter Trinkspruch, den sie noch aus dem Schützengraben herübergerettet hatten. Damals hatten sie es immer dem Feind in der Nahdistanz zugerufen.

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