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Köln, Anfang November 1938
Anat

Anat trat aus dem Haus in der Budengasse, wo ihre Wohnung lag, und stand einen Augenblick auf der nassen Straße. Er hatte sich einen Termin beim alten Bankier Weber geben lassen und hoffte, dass er sich damit endlich Klarheit verschaffen konnte, wie sich sein Leben und das seiner Familie zukünftig gestalten sollte.

Die Nazis hatten ihm seine Goldschmiedewerkstatt dicht gemacht. Er musste seine elf Angestellten entlassen und auch sein Schmuckgeschäft hatte er schon vor zwei Jahren geschlossen, als die Angriffe gegen ihn zu massiv wurden. Einer seiner alten Kollegen beschäftigte ihn seitdem bei Bedarf als Uhrmacher. Jetzt kam ihm zugute, dass ihn sein Vater nach dem Krieg in eine Lehre gedrängt hatte. Er konnte von Glück sagen, dass er es mithilfe eines alten Angestellten geschafft hatte, einen Großteil der Goldvorräte und die Schweizer Vreneli-Münzen auf Seite zu schaffen und sie so dem Zugriff der Nazi-Schergen erst einmal zu entziehen. Seit April des Jahres mussten Juden Geldbeträge über 5.000 Reichsmark anmelden und Anat hatte pflichtgemäß sein Bankkonto angegeben, das rund 20.000 RM auswies, den Rest aber verschwiegen. Sie hatten ihn bis zum Gauleiter Grohé zitiert, wo er befragt wurde, aber letztlich ließen sie ihn wieder laufen. Offensichtlich waren die Nazis der Meinung, dass er sich irgendwann verraten würde und das Vermögen der Liesenthals dann ohne öffentlichen Skandal in die Hände des Volkes fiel, wo es ohnehin hingehörte, denn nach Meinung Josef Grohés hatten die Juden alles dem deutschen Volk gestohlen.

Er betrat das Vorzimmer des Bankiers und das grau gekleidete Fräulein gestattete sich einen abschätzenden Blick. Die Kleidung des ehemaligen Goldschmieds war tatsächlich nicht mehr zeitgemäß und an einigen Stellen geflickt, aber er und Rinah hatten beschlossen nicht zu zeigen, dass sie noch über nicht unerhebliche Mittel verfügten, um die Begehrlichkeiten der Nazis in Grenzen zu halten.

„Der Herr Direktor Weber hat gleich Zeit für Sie. Warten Sie einfach einen Moment ab.“ Sie bot ihm keinen Stuhl an. Noch vor vier Jahren hätte sie sich vor Freundlichkeit überschlagen und ihm eine Tasse Kaffee angeboten, aber die Denkmuster dieses einfach gestrickten Geschöpfs waren von den Einflüssen der Zeit nicht verschont geblieben.

Eine Tür in der schweren Eichentäfelung öffnete sich und der alte Bankier betrat humpelnd den Raum. Schwergewichtig mit hochrotem Kopf und Schwabbelkinn entsprach er voll dem Prototypen eines Bankers dieser Zeit. Einzig die listigen Augen unter den dicken Haarbüscheln seiner Augenbrauen zeigten eine gewisse Lebhaftigkeit. „Kumm rinn, Jung – un, Friedche, breng uns ene Kaffee, aber ne juute.“ Wenn Anat ihn so sah, konnte er seine stille Sympathie für den alten Knochen nicht verbergen. Er musste schmunzeln, weil der „Ühm“, wie ihn seine Freunde nannten, den Singsang seiner kölschen Zunge nicht verbergen konnte, auch wenn er versuchte, Hochdeutsch zu sprechen. Anat wusste, dass der schwer herzkranke Ühm neben Englisch und Französisch auch fließend Russisch sprach, sehr gebildet war, und lange Abende bei Schoppen und dicken Zigarren mit Gästen aus allen Schichten im Mohr-Baedorf am Neumarkt verbrachte und über Gott und die Welt philosophierte.

Dennoch: der alte Weber war ein knallharter Geschäftsmann und ein Nationalist wie er im Buche stand und hatte als solcher klar gesagt, was er von der Ehe zwischen seiner Enkelin Rinah und Anat hielt. Aber schon sein Sohn Hubert hatte einen eigenen Kopf gehabt, eine Halbjüdin geheiratet und sich komplett aus der Familie und dem Bankgeschäft seines Vaters zurückgezogen. Geld interessierte ihn nicht und so fristete er sein Leben als ebenso erfolg- wie mittelloser Musiker und Komponist in der Kölner Altstadt. Kurz nach Rinahs Geburt kamen er und seine Frau bei einem Brand ums Leben und Rinah wurde von der Familie Tietz aufgenommen, die als jüdische Kaufmannsfamilie von Posen an den Rhein gekommen war und von hier aus eine Kaufhauskette aufgebaut hatte. Sie waren Juden und als solche sehr um eine soziale Absicherung ihrer Gemeindemitglieder bemüht. Rinah zeigte sich als ruhiges, aber kluges und lernbegieriges Kind, und obzwar der Großvater Ühm Weber offizieller Vormund war, nahm Rinah doch sehr bald die Stelle einer Tochter in der Familie Tietz ein. Als sie dann 1925 den erfolgreichen Goldschmied Anat Liesenthal heiratete, konnte sich der Ühm kaum gegen die inzwischen mächtigen Kaufleute zur Wehr setzen und hatte der Verbindung schließlich seinen Segen gegeben.

„Ich hab immer schon jesagt, datt et besser is, wenn sich die Kulturen und Religionen nitt in et Jeheje kommen. Dä Onkel Max hatte schon recht, wenn er sagt, datt die Juden in der Wüste en eijenen Staat gründen sollten. Ich versteh janich, warum die Nazis denen nit einfach helfen. Dann sinnse die Plach doch los!“ Er meinte Max Bodenheimer, der schon vor dem Krieg einen eigenen Staat auf dem Boden Palästinas eingefordert hatte. Seine National-Jüdische Vereinigung wurde von den Nazis natürlich verboten. Die verfolgten da ganz andere Ziele.

Anat hatte wirklich keine Lust, sich mit seinem Schwieger-Opa in Grundsatz-Diskussionen einzulassen. Der über 70-Jährige hatte seine Meinung über Jahrzehnte geformt und in vielen weinseligen Stunden gefestigt; jeder Widerstand war da zwecklos. Er musste vielmehr versuchen, an die Güte des alten Mannes und an seine Vorstellung von der Trennung der Religionen zu appellieren.

Die Sekretärin betrat das Büro und stellte ein Tablett mit Kaffeetassen und einer Kanne auf den Tisch. Auf einem Teller lagen zwei dunkle Röggelchen, einige dicke Scheiben alter Holländer Käse und ein Stück geräucherter Bauchspeck, daneben ein Topf Senf, Zwiebeln und ein Stück Butter. Während sie sich weiter unterhielten, beschäftigte sich der Ühm abwechselnd mit dem fetten Frühstück und seiner Zigarre, an der er zwischen den Bissen genussvoll paffte. Anat lehnte dankend ab, als ihn der Ühm aufforderte zuzugreifen.

„Siehst du, Ühm“, setzte Anat das Gespräch fort, als die Frau das Zimmer verlassen hatte. „Das ist genau das, was wir wollen. Wir möchten weg aus Köln, aber wir wollen nicht warten, bis sie uns ausweisen. Dann müsste ich alles zurücklassen, was sich die Familie in über hundert Jahren aufgebaut hat. Und ich habe die Verantwortung für meine Familie. Meine Frau ist immerhin deine Enkelin. Und ob du das nun willst oder nicht, aber du bist der Urgroßvater meiner Kinder.“ Anat wusste, dass er den Nerv des Alten getroffen hatte.

„Warum jehst du nit nach New York?“ – „Damit ich als Lakai bei meinem Onkel anschaffen gehe?“ Er hatte noch in guter Erinnerung, wie ihn sein Onkel Joseph behandelt hatte, als er vor rund zehn Jahren bei der Beerdigung seines Bruders in Köln war.

„Wie ich in dingem Alter jewesen bin, wär´ ich froh jewesen, wenn mir einer so´en Anjebot jemacht hätte. Wer weiß, wie lang datt noch juht jeht, wie lang se euch noch in Ruh´ lassen. Un Amerika is jroß. Du muss ja nit bei dingem Onkel arbeiten.“

„Wir würden am liebsten in die Schweiz gehen.“ – „Damit et dir jenauso jeht, wie dem Tietz. Dem habense alles abjenommen. Da kann ich dir nit helfen. Aber ich kann dafür sorjen, datt ihr nach Holland kommt. Da habbich en paar Freunde, die mir noch watt schuldig sind und die euch helfen, auf en anständijes Schiff zu kommen. Drüben wird euch dann erst mal der Hannes helfen.“

Insgeheim musste er dem Ühm recht geben. Die Tietz´ waren vor einigen Jahren in die Schweiz geflüchtet, nachdem der Horten-Konzern ihnen mit Hilfe der Hamburger Commerzbank ihren gesamten Besitz, der immerhin aus dem größten deutschen Kaufhaus-Konzern mit zwei Dutzend Filialen bestand, für einen lächerlichen Betrag abgekauft hatte. Da war er eigentlich besser dran, weil sein Besitz wesentlich kleiner war und nicht aus unbeweglichen Immobilien bestand. Sollte er den Ühm einweihen? Letztlich wird er es müssen, wenn er sein kleines Vermögen mit in die Staaten nehmen wollte. Aber darüber musste er erst mal mit Rinah sprechen.

„Meinst du, dass das klappt?“ „Ihr seid nich die Ersten, die mir rausschaffen. Mir sin doch froh, datt mir die los sind.“

Sein Hausdiener Emil, der dem Ühm treu ergeben war, würde sich um die Einzelheiten kümmern und dafür sorgen, dass sie mit dem Nötigsten versorgt die Ausreise antreten könnten. Der Ühm nannte ihm noch ein paar Fakten und sie kamen überein, dass ihm Anat in der kommenden Woche Bescheid geben wolle. Für das Wochenende hatten sich Willi und Heidrun angemeldet und ohne den Rat seines Freundes wollte Anat keine Entscheidung treffen.

Es war Mittwoch, der 9. November 1938. Stunden später sollte nichts mehr so sein, wie es mal war.

Als Anat durch die Straßen Kölns nach Hause ging, fiel ihm schon auf, dass offensichtlich mehr Braunhemden unterwegs waren als gewöhnlich. Wahrscheinlich rotten sie sich wieder zu einer ihrer Kundgebungen zusammen, dachte er und machte, dass er in seine Wohnung kam.

Die Nacht war fürchterlich. Der Mopp draußen verschonte kein einziges jüdisches Geschäft, Hunderte wurden restlos zerstört. Die Synagogen in der Roonstraße und der Glockengasse brannten nieder und die Juden, die sich auf den Straßen sehen ließen oder von den Banden aus den Häusern getrieben wurden, wurden gedemütigt, verprügelt und viele abtransportiert. Die Nacht würde sich als „Reichskristallnacht“ in der Historie der Nazi-Diktatur wiederfinden.

Anat, seine Frau Rinah und die beiden Kinder verkrochen sich auf dem Dachboden und hofften, dass niemand auf die Idee käme, hier nachzuschauen, und die anderen Hausbewohner sie nicht verrieten. Denunzianten waren der Klebstoff, der dieses Regime zusammenhielt, und niemand war wirklich sicher, nicht von seinem Nachbarn oder Kollegen im Verein oder in der Fabrik angeschwärzt zu werden.

„Wir müssen hier fort – bald!“ Rinah nickte nur, zog die Kinder an sich heran und versuchte, nichts von dem hören zu müssen, was draußen vor sich ging. „Ich habe mit dem Ühm gesprochen. Er muss uns helfen, hier wegzukommen.“ Rinah nickte wieder. Ihr war alles egal. Nur weg von hier, weg aus Deutschland, weg von diesen Nazi-Schergen.

Anat dachte angestrengt nach. Sollte er den Ühm einweihen? Sollte er ihm verraten, was er unter dem Kellerboden seiner Werkstatt in der Rheinstraße verborgen hatte?

Wahlscheid, Juni 1955
Joachim

Der enge Feldweg am Bach vorbei bis zur Katharinenbach war mit Fahrzeugen aller Art zugestellt: Einige Autos, Traktoren, Motorräder, merkwürdig aussehende, dreirädrige Selbstbau-Gefährte mit Ladeflächen aus rohen Holzplanken, ein kleiner LKW und sogar ein Pferdegespann standen halb auf dem ausgefahrenen Weg und halb auf der Uferböschung des kleinen Wildbachs, der sich den Hügel herunterschlängelte.

Es würde wieder allerhand Volk unterwegs sein. Der „Schüereball“ auf dem kleinen Weiler oberhalb von Wahlscheid war in jedem Jahr Anlaufstelle für alle Schichten der Bevölkerung. Hier saßen „Drogi“, der Inhaber der kleinen Drogerie und der örtliche Autohändler neben dem polnischen Knecht, der auf irgendeinem Bauernhof in der Nähe schuftete, die Vorsitzenden von Sportverein und Männerchor versuchten mit dem Bürgermeister sich gegenseitig unter den Tisch zu saufen und die Dorfjugend nutzte den Abend für das eine oder andere Techtelmechtel und um die Angebetete zu mehr als einem flüchtigen Kuss ins Heu zu zerren. Auf diesem Fest, neben der Kirmes im August wichtigster Treff für kollektives Wirkungstrinken, wurde sich ebenso oft endgültig zerzankt wie wieder vertragen.

Ursprünglich gab es diese Feiern, um eine neu errichtete Scheune („Schüer“ oder „Schür“) einzuweihen, die tags zuvor in einer gemeinsamen Aktion der Bauern von den umliegenden Höfen errichtet worden war. Man half sich gegenseitig und der Lohn bestand dann darin, dass der Besitzer der neuen Scheune eine Sau schlachtete und ein Fass aufmachte. Dieser alte Brauch war längst vergessen, aber „der Baacher“, wie der Pächter der Katharinenbach genannt wurde, und seine Frau Elisabeth hatten die alte Sitte aufgegriffen und feierten einmal im Jahr das Scheunenfest, und das Volk nahm dankbar an, dass es zu kleinen Preisen reichlich kaltes Bier, jede Menge meist selbstgebrannten Schnaps und Berge deftiger Hausmannskost gab.

An diesem warmen Samstag in Juni war es denn auch wieder soweit und alles, was Rang und Namen hatte, fand sich in der leer geräumten alten Scheune der Katharinenbach ein. Das Heu vom letzten Jahr war von den wenigen Kühen, die der Bauer besaß, in den Wintermonaten aufgefressen und das neue Gras noch nicht gemäht und eingefahren. Die wenigen Maschinen, die Karren und den kleinen Traktor hatte man draußen geparkt und Platz für gut hundert Sitzplätze geschaffen. An einem der mit Birkenzweigen maßvoll dekorierten Balken hing ein Schild mit der Aufschrift: „He weet nit jeschmück und och nit jekränz, mir lije em Bett un maache Pänz.“ Auf dem Grill qualmten etliche Bratwürste und Koteletts vor sich hin, einer der Tische bog sich unter Schüsseln voll mit Kartoffelsalat, Wurst und Schinken. Zehn Jahre nach dem Krieg hatte sich das Landleben allmählich wieder normalisiert und die Menschen konnten sich ab und zu was leisten.

An einem der Tische saßen ein paar Frauen zusammen, tauschten Nachrichten aus oder erfanden neue. Ihre Männer gehörten der Freiwilligen Feuerwehr an, die nachmittags noch ausrücken musste, um irgendwo in einem der Dörfer einen kleinen Brand zu löschen. Das war schon ein paar Stunden her und sicher saßen die Kerle jetzt nach getaner Arbeit irgendwo in der Kneipe, um den Qualm aus der Kehle zu spülen. Sie würden entsprechend aussehen und von ihren Heldentaten erzählen, wenn sie gleich eintrudelten – selbstverständlich mit eingeschalteter Sirene des alten Magirus-Löschzugs.

Einer der Tische war als Theke umfunktioniert und davor hatten sich einige Männer eingefunden, um die ersten Testbierchen zu trinken und die Brandursache zu diskutieren. Ihr Wortführer Joachim Schiermeister, einziger Sohn des örtlichen Baulöwen, hatte sich nachmittags schon reichlich Bier in einer der Kneipen genehmigt und schwadronierte munter drauflos. Dieser Schiermeister-Clan hatte sich nach dem Krieg saniert, als Joachims Vater Richard wie aus dem Nichts Maschinen und LKW anschaffte, etliche Leute zu Hungerlöhnen einstellte und sich eine Reihe öffentlicher Aufträge unter den Nagel riss. Viele der Umstehenden waren „beim Boss“ angestellt und so konnte sein 30-jähriger Sohn sicher sein, eine Horde von Kopfnickern um sich zu haben.

„Ist doch klar, dass diese alten Hütten abbrennen. Die Provinzial dürfte die gar nicht mehr versichern, diese alten Strohkaten. So was gehört abgerissen und neu gebaut. Stein auf Stein – wie es sich gehört.“ Beifälliges Murmeln und Kopfnicken. „Und für euch ist das doch jede Menge Arbeit. So machen wir aus dem Dorf das Schönste weit und breit. Die Allee-Bäume an der Hauptstraße bis zum Schloss machen wir nieder und verbreitern die Straße, damit endlich die LKW unbehindert durchfahren können. Der Papp hat den Antrag schon gestellt und bei der nächsten Sitzung vom Gemeinderat wird das genehmigt.“

Für die Arbeiter bedeutete ein solcher Auftrag Lohn und Brot für mehr als zwei Jahre. Dass der Boss den Auftrag einfangen würde, daran zweifelte hier niemand, denn Konkurrenten um die lukrativen öffentlichen Aufträge wurden regelmäßig verbellt. Da hatte der alte Schiermeister so seine Tricks. Die Seilschaften funktionierten auch heute noch, obwohl die Zeit, als er von den Nazis als Dorfschulze eingesetzt worden war, schon mehr als ein Jahrzehnt zurücklag.

Joachim bestellte wortreich noch eine Runde für die Männer, schnappte sich ein Bier und wankte zum Tisch, an dem seine Kumpel saßen. Als er am Tisch der Feuerwehr-Frauen vorbeikam, meinte er abschätzend: „Na – sind eure Kerle wieder am Katen löschen? Ich hab´ eher das Gefühl, dass die in der Kneipe sitzen. Aber Weiber wie ihr sind ja das, was die Katholiken in die Wirtshäuser treibt.“

„Du solltest dich was schämen.“ Eine der Frauen wollte das nicht so stehen lassen. „Wenn dein Vater das hören würde, der würde dir links und rechts ein paar um die Backen hauen.“ – „Der Boss ist viel zu sentimental für euch. Wenn ich demnächst das Sagen habe, geht das hier noch ganz anders rund.“ Er kippte sich das Bier in den Schlund und torkelte zu seinen Kumpanen, die ihm sofort einen Platz am Tisch frei machten.

Der alte Schiermeister hatte in der Tat seinen Sinn für die Vereine behalten, auch wenn ihm viele nicht verzeihen konnten, dass er sich in den Dreißigern, als die Nazis auch in Wahlscheid die Richtlinien zu bestimmen begannen, für den Posten des Dorfschulzen hatte einfangen lassen. Aber er war schlau genug, es sich mit seinen dörflichen Nachbarn nicht zu verscherzen. Den Ortsvereinen hatte er immer reichlich gespendet, dem Sportverein sogar das gesamte Material für das neue Vereinsheim am Sportplatz. Es war kaum anzunehmen, dass er das umnebelte Geschwafel seines Sprösslings gutheißen würde.

Nach und nach füllte sich die Scheune und auch draußen saßen reichlich Menschen auf improvisierten Bänken oder dem Karren, tranken Bier oder Wein und unterhielten sich. Aus irgendeiner Ecke dudelte ein Kofferradio und aus dem kleinen Backes neben der Haustüre duftete es verführerisch nach Schweinebraten, der dort seit ein paar Stunden vor sich hinschmurgelte, als der Magirus der Feuerwehr mit lauten Tatütata die Einfahrt heraufwackelte und neben der Scheune anhielt. Rund ein Dutzend Männer sprangen vom Wagen oder aus dem Führerhaus und traten in die Scheune, winkten kurz ihren Frauen zu und versammelten sich an der kleinen Theke.

Wider Erwarten hatten sie richtig ran gemusst, der Brand eines Schuppens neben einem alten Fachwerkhaus ist eine gefährlich Sache, und wenn es nicht völlig windstill ist, kann schnell ein ganzes Gehöft dran glauben müssen. Entsprechend groß war der Durst. Für die freiwillige Brandwache, die vor Ort geblieben war, würden sie das eine oder andere Bier mittrinken müssen, bis sie abgelöst wurde.

„Na ihr Helden! Habt ihr wieder ein Jehööch vor dem Aussterben bewahrt?“, ließ sich Joachim Schiermeister hören. Er war aufgestanden, zu den Feuerwehrmännern gewankt und starrte sie provozierend und unverschämt grinsend an.

„Halt du doch den Mund. Wo warst du eigentlich? Immerhin ist der Hof, wo deine Mutter geboren ist, fast abgefackelt. Eigentlich solltest du jetzt dort Wache schieben und nicht dein alter Ühm. Aber dazu bist du wieder viel zu besoffen.“ Herbert Pütz war Drehermeister und arbeitete wie viele andere in einer Maschinenfabrik im Nachbarort. Er musste den Schiermeisters nicht nach der Pfeife tanzen und konnte dem reichen Widerling gut einen einschenken.

„Was geht mich die alte Kate an? Gehört sowieso bald alles mir. Und es ist mir scheißegal, ob die Kate jetzt abbrennt oder ich sie niedermache und Wohnhäuser hinpflanze.“

„Du warst immer schon ein widerlicher Arsch. Wie kann man so über seine Familie sprechen. Wenn dein Alter das hören würde!“

„Wenn du noch einmal meinen Alten erwähnst, hau´ ich dir eine rein.“ Joachim ging drohend einen Schritt auf Herbert zu, der aber keinen Millimeter zurückwich. Da er den Betrunkenen um fast einen Kopf überragte, musste er sich auch nicht vor den Handgreiflichkeiten fürchten, die offenbar unmittelbar bevorstanden.

„Komm Herbert, lass den Idioten in Ruhe. Hier hat keiner Lust, sich wegen so einem Dummschwätzer den Abend verderben zu lassen. Wir wissen doch alle, dass das eine dumme Nuss ist.“ Werner Merkelbach hatte sich eingemischt, schob sich zwischen die beiden Kampfhähne und drehte Joachim demonstrativ den Rücken zu. „Zum Wohlsein!“ Er zwinkerte seinen Kameraden zu und hob sein Glas an die Lippen, als ihn ein heftiger Schlag am Kopf traf. Joachim hatte ihm die Faust an die Schläfe geschwungen, dabei aber das Gleichgewicht verloren und lag nun am Boden. Seine linke Hand blutete, weil er in das eigene Glas gefallen war.

„Ich glaube, der junge Mann braucht eine Abkühlung.“ Herbert zerrte den am Boden liegenden am Hosenbund nach oben. Einige andere Männer schnappten sich Arme und Beine und schleppten den wild um sich strampelnden Schiermeister hinaus. „Passt auf die anderen auf“, meinte Herbert noch beim Rausgehen, als er bemerkte, dass sich am Tisch von Joachims Freunden etwas rührte.

„Ihr bleibt brav da sitzen und trinkt euer Bier!“ Die Drohung einer der Feuerwehrmänner war unmissverständlich.

Inzwischen waren Herbert und seine Helfer draußen angekommen. Jeder wusste, was zu tun war. Einer hob den Deckel von der großen Regentonne am Ende des Dachablaufs des Wohnhauses, schaute hinein und meinte „Voll genug.“ Der Wasserpegel stand fast am Rand des alten Holzfasses, das die Hausfrau als Reservoir für Blumenwasser benutzte. „Ihr Schweine – das werdet ihr bezahlen.“ Joachim gefiel die Angelegenheit nicht, denn er wusste genau, was ihm bevorstand. Gegen das Dutzend starker Arme konnte er aber außer heftigem Zappeln und panischem Kreischen nichts ausrichten und so verschwand er kopfüber bis zu den Knien in der Regentonne.

Das Gezeter erstarb augenblicklich und der allgemeine Geräuschpegel wurde durch den Applaus der Umstehenden abgelöst. Joachim Schiermeister war alles andere als beliebt und die Abreibung gönnte ihm fast jeder hier. Aber alle wussten auch, dass diese Art der Bestrafung sehr gefährlich war. Der Delinquent konnte sich nämlich unmöglich selbst aus dieser misslichen Lage befreien. Man konnte sich nicht umdrehen, um den Kopf über Wasser zu bekommen, es war auch unmöglich, mit den Händen an den Rand des Fasses zu gelangen, um sich wieder hochzuziehen und die Unterschenkel knickten ziemlich hilflos über den Rand.

„Sollen wir erst in Ruhe ein Bier trinken oder nur langsam bis hundert zählen?“ Die Männer hatten ihre helle Freude an der Sache, aber sie waren sich natürlich bewusst, dass sie ihr Opfer wieder befreien mussten, bevor die Lunge voll Wasser war. „Ich glaube der hat genug. Holt ihn wieder raus.“ Werner Merkelbach war dazugetreten und hielt sich ein Taschentuch an den Schädel. Offenbar hatte Schiermeister mit dem Bierglas zugeschlagen, denn er blutete an der rechten Schläfe. Die Männer zerrten das nasse Bündel aus dem Fass und stellten es auf den Boden. Er hustete heftig und sog gurgelnd Luft in die Lungen.

„Was ist hier los?“ Die donnernde Stimme sorgte für unmittelbare Ruhe. Richard Schiermeister war soeben mit seiner Frau auf dem Fest erschienen und rollte mit seinen knapp drei Zentnern auf die kleine Gruppe am Fass zu. „Wie siehst du denn aus? Hast du dich wieder zum Deppen gesoffen?“ Eine schallende Ohrfeige unterbrach das Gekeuche seines plötzlich ernüchterten Sohnes, dem jetzt die Tränen die Backen runterliefen.

„Du machst dich jetzt sofort auf den Heimweg und von euch will ich wissen, was hier passiert ist.“ Auch wenn seine Zeit als Dorfschulze längst vorbei war, hatte er Macht und Einfluss nicht ganz verloren. „Willi! Was ist hier passiert?“ Er redete Willi Fielenbach, den Leiter der kleinen Feuerwehrtruppe, direkt an. Sie waren alte Freunde und Kegelbrüder und ihre Freundschaft hatte das Tausendjährige Reich und den Krieg überstanden.

„Dieses Arschloch da hat mich geschlagen!“ Bevor Willi etwas sagen konnte, hatte sich Joachim wieder eingemischt und zeigte mit dem Finger auf Werner Merkelbach.

„Du weißt genau, dass du Scheiße redest. Lass es gut sein. Hör auf deinen Vater und verpiss dich.“ Werner winkte ab, tunkte das blutige Taschentuch in das Wasserfass und stapfte zurück Richtung Theke. Unvermittelt sprang ihn Joachim von hinten an, brachte beide zu Fall und würgte den Hals seines Kontrahenten. „Du Judensau! Hast du sie gehabt, das kleine Judenfrettchen – ich bring dich um. Du und deine Brut habt euch schon immer gegen uns gestellt und jetzt meinst du, dass du davon kommst, du Schwein. Wolltest dich und deine Judenfreunde bereichern, was? Aber da haben wir dir einen Strich durch die Rechnung gemacht.“ Er prügelte nun wie von Sinnen auf Werners Kopf ein, der versuchte, sich umzudrehen und zur Wehr zu setzen.

„Jetzt ist Schluss – endgültig!“ Der alte Schiermeister stellte sich hinter seinen Sohn und trat ihm sehr heftig zwischen die Beine, sodass dieser laut aufheulend von seinem Opfer abließ und sich zusammengekrümmt die Hoden hielt. „Verschwinde! Sofort! Ich will dich hier heute nicht mehr sehen!“

Joachim Schiermeister machte sich, die Hände zwischen die Beine geklemmt, jammernd davon. Seine Mutter hatte die Szene mit angesehen und starrte nun ihren Mann an, die Hände vor den Mund gepresst.

„Geht rein, Männer. Der Boss gibt einen aus.“ Er klopfte dem einen oder anderen versöhnlich auf die Schulter, ging zu seiner Frau und legte ihr den Arm um die Schulter. „Komm, Erna. Da drinnen gibt es Kalte Ente“, meinte er laut vernehmlich und leise raunte er ihr zu: „Wenn du darüber, was der Junge eben gesagt hat, nur ein einziges Wort gegenüber irgendwelchen Weibern verlierst, brech ich dir alle Knochen. Haste verstanden?“

Erna konnte nur nicken, zu sehr steckte ihr der Schreck in den Gliedern.

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