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Der weberianische Marxismus

An dieser Stelle sollen historische Kontroversen über Kapitalismus und Sozialismus nicht erneut ausgetragen werden. Im Rückblick wird aber überdeutlich, dass es hochgradig problematisch ist, besondere Strukturmerkmale, die kapitalistische Gesellschaften für eine bestimmte Periode auszeichnen, zu überhöhen, um sie sodann zu allgemeinen Voraussetzungen für sozialistische Gesellschaften und entsprechende Transformationsstrategien zu erklären. Gleich ob reformistisch oder revolutionär, es genügt eben nicht, die Kommandohöhen der Wirtschaft und des Staates zu übernehmen, um von dort aus die Gesellschaft umzugestalten. Strategisches sozialistisches Handeln, das so verfährt, unterschätzt die Komplexität moderner kapitalistischer Gesellschaften. Dieses Problem spricht ein »weberianischer« Marxismus an, der sich in seinen Ursprüngen mit den Namen Georg Lukács und Antonio Gramsci verbindet.24

Lukács hat als einer der ersten Marxisten hellsichtig die Ausdifferenzierung bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften analysiert. In Anlehnung an Max Weber begreift er die Durchrationalisierung aller gesellschaftlichen Sphären als fortschreitende Verdinglichung. Damit ist gemeint, dass mit der Ausbreitung der kapitalistischen Warenform »dem Menschen seine eigene Tätigkeit, seine eigene Arbeit als etwas Objektives, von ihm Unabhängiges, ihn durch menschenfremde Eigengesetzlichkeit Beherrschendes gegenübergestellt wird«, und »dies sowohl in objektiver wie in subjektiver Hinsicht«.25 Strukturell zerfällt die Gesellschaft in Teilsysteme, deren Zusammenwirken subjektiv nicht mehr nachvollzogen werden kann:

Das Aufeinanderbezogensein der Teilsysteme ist auch bei normalstem Funktionieren etwas Zufälliges. Die wahre Struktur der Gesellschaft erscheint vielmehr in den unabhängigen, rationalisierten, formellen Teilgesetzlichkeiten, die miteinander nur formell notwendig zusammenhängen. […] Denn es ist ja klar, daß der ganze Aufbau der kapitalistischen Produktion auf dieser Wechselwirkung von streng gesetzlicher Notwendigkeit in allen Einzelerscheinungen und von relativer Irrationalität des Gesamtprozesses beruht.26

Antonio Gramsci antwortet mit seiner Hegemonietheorie auf das aus sozialer Differenzierung und Komplexitätssteigerung resultierende Strategieproblem sozialistischer Transformation. Für Gramsci beruht demokratische Herrschaft im integralen Staat auf Hegemonie, auf einem basalen Konsens zwischen Herrschenden und Beherrschten27, der aus den sozialen und symbolisch-kulturellen Konflikten der Zivilgesellschaft erwächst. Jeder Konsens ist mit Zwang gepanzert und in einen historischen Block eingebettet, der Klasseninteressen in die Sphäre der Politik übersetzt, transformiert und sie so weitgehend unsichtbar macht.28 Zwang meint hier nicht in erster Linie offene Gewalt, wenngleich auch diese keineswegs verschwindet. Solange die kapitalistische Eigentumsordnung fraglos vorausgesetzt wird, bedarf der stille ökonomische Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft keiner besonderen Legitimation. Deshalb können »außerökonomische Güter« wie soziale Bürger- und Freiheitsrechte oder die Gleichstellung von Geschlechtern, Ethnien und Nationalitäten relativ egalitär verteilt werden, denn sie lassen den Kern kapitalistischer Herrschaft unberührt.29 Im integralen Staat eines halbwegs rationalen Kapitalismus wird das Recht zu einer Regulationsform, die auch Interessen beherrschter Klassen berücksichtigen kann. Der Kompromisscharakter des Rechts ermöglicht es, wie Wolfgang Abendroth am Beispiel des (west)deutschen Grundgeset zes gezeigt hat, Demokratie als eine transformative zu denken. Basale Rechtsnormen sind demnach, mit der Institutionalisierung des Rechts variierend, für antikapitalistisch-sozialistische Transformationsstrategien durchaus offen30, was nichts daran ändert, dass sich die Herrschenden und Mächtigen solchen Veränderungen höchstwahrscheinlich mit aller Macht, das heißt immer auch mit und ohne geeignete Rechtsmittel widersetzen werden.

Das elementare Dreieck sozialistischer Handlungsfähigkeit

Mögliche repressive Reaktionen kapitalistischer Eliten einmal beiseitegelassen, ergeben sich aus der im weberianischen Marxismus geleisteten Kritik am elementaren Dreieck sozialistischer Vergesellschaftung Kriterien für eine Heuristik, die Erik Olin Wright zur Neubegründung eines utopischen Sozialismus entworfen hat. Trennt man den Staat von der Zivilgesellschaft und lässt ferner außer Acht, dass Gramsci administrative und repressive Staatsapparate (Kernstaat) einerseits und die Netzwerke reicher Zivilgesellschaften andererseits im integralen Staat zusammenfügt, erhält man in der Verbindung mit ökonomischer Macht ein weiteres Dreieck, das die elementare Heuristik sozialistischer Vergesellschaftung keinesfalls ersetzt, aber doch erheblich modifiziert und erweitert. Das zuvor eingeführte elementare Dreieck des Sozialismus lässt offen, wie die rationale gesellschaftliche Kontrolle über den Produktionsprozess hergestellt und substanzielle Gleichheit in einer modernen, ausdifferenzierten kapitalistischen Gesellschaft erreicht werden soll. Jeder Konkretionsversuch führt zum Problem strategischer sozialistischer Handlungsfähigkeit, das Erik Olin Wright zum Angelpunkt seines Dreiecks macht, für das ökonomische, staatliche und zivilgesellschaftliche Machtressourcen konstitutiv sind (siehe Abb. 2).

Zur Begründung dieser Heuristik schlägt Wright eine Definition vor, die den Sozialismus sowohl dem Kapitalismus als auch dem Etatismus entgegensetzt: »Kapitalismus, Etatismus und Sozialismus können als alternative Wege gedacht werden, die Machtbeziehungen, durch welche ökonomische Ressourcen alloziert, kontrolliert und genutzt werden, zu organisieren.«31 Sozialismus ist für Wright eine ökonomische Struktur,

Abb. 2: Elementares Dreieck sozialistischer Handlungsfähigkeit


Quelle: Wright, Erik Olin (2012): Transformation des Kapitalismus, in: Dörre, Klaus/Sauer, Dieter/Wittke, Volker (Hg.): Kapitalismustheorie und Arbeit. Neue Ansätze soziologischer Kritik. Frankfurt a. M./New York, S. 462-487, hier: S. 471. Eigene Darstellung.

in der die Produktionsmittel sich im gesellschaftlichen Besitz befinden und Allokationen wie der Gebrauch der Ressourcen für verschiedene gesellschaftliche Zwecke von der Ausübung ›gesellschaftlicher‹ Macht beeinflusst werden können. › Gesellschaftliche Macht‹ ist eine Macht, die in der Fähigkeit gründet, Menschen für kooperative, freiwillige kollektive Aktionen verschiedener Art zu mobilisieren. Dies impliziert, dass die Zivilgesellschaft nicht nur als Arena von Aktivität, Geselligkeit und Kommunikation angesehen werden sollte, sondern auch als reale Macht.32

So verstanden, wird Sozialismus zu einem graduellen Konzept, dem eine Vielfalt möglicher Konfigurationen zur Ausübung gesellschaftlicher Macht bei der Allokation von Ressourcen, der Kontrolle über die Produktion und der Distribution der erzeugten Güter entspricht. Wright unterscheidet sieben Wege zu gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit – den etatistischen Sozialismus, die sozialdemokratisch etatistische Regulation, eine assoziative Demokratie, den sozialen Kapitalismus, die kooperative Marktwirtschaft, eine soziale Ökonomie und den partizipatorischen Sozialismus.33

Ob diese Konfigurationen wirklich in jeder Hinsicht trennscharf sind, kann bezweifelt werden. Bemerkbar macht sich auch, dass Wright aus einer berechtigten Aversion gegen den etatistischen Sozialismus zu einer gewissen Überhöhung der Zivilgesellschaft jenseits des Kernstaates neigt. Für ihn ersetzt die demokratische Zivilgesellschaft im Grunde das revolutionäre Proletariat des klassischen Marxismus. Daran ist zunächst etwas Richtiges, denn es wäre fahrlässig, die sozialen Träger sozialistischer Handlungsfähigkeit auf Arbeiterbewegungen zu beschränken. Aber längst nicht alle in der Zivilgesellschaft präsenten Strömungen sind demokratisch und progressiv. Bewegungen Polanyi’schen Typs, die sich gegen kapitalistische Marktmacht auflehnen, können ausgesprochen reaktionäre, ja faschistische Züge annehmen.34

Diese Problematik wird nicht nur von Wright, sondern im sociological marxism insgesamt unterschätzt. Allerdings, das stellt Wright klar, sind Kapitalismus, Etatismus und Zivilgesellschaft keine Idealtypen, die einander ausschließen. Vielmehr überlappen sie einander und bilden gemischte Ökonomien, in denen sich positive Externalitäten wie Non-Profit-Organisationen, Genossenschaften oder eine Wissensallmende finden, die auf unterschiedliche Weise zu Ausgangspunkten sozialistischer Transformation werden können. Für Wright folgt daraus, und ich stimme ihm hier ausdrücklich zu, dass keiner der genannten sieben Wege für sich genommen zu einer stabilen ökonomischen Demokratisierung führen kann.35 Exakt dies, die umfassende Demokratisierung ökonomischer Entscheidungen, ist der zentrale Inhalt eines Sozialismusverständnisses, das nach maximaler zivilgesellschaftlicher Kontrolle über Produktion, Ressourcenallokation und Güterverteilung strebt.

Die Implikationen einer solchen Sozialismus-Konzeption sind ebenso originell wie aufregend. Sozialistische Handlungsfähigkeit kann in marktwirtschaftlich-kapitalistischen Gesellschaften auf höchst unterschiedliche Weise entstehen. Etatistische sozialdemokratische Regulation und Reform von oben sind unter Umständen ebenso zielführend wie eine kooperative Unternehmensorganisation, die genossenschaftliche Produktion in der Energiewirtschaft oder ein Journalistenkollektiv in Nischen der digitalen Ökonomie. Solche Wege zu gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit können durchaus mit Strategien korrespondieren, die den offensiven Bruch mit dem Kapitalismus, die Enteignung und Sozialisierung von Großkonzernen und die Entmachtung des gewinnorientierten Topmanagements anstreben. Das eine schließt das andere nicht aus. Im Gegenteil, nur eine substanzielle Entwicklung auf allen diesen Wegen zusammen würde »eine fundamentale Transformation der kapitalistischen Klassenbeziehungen und ihrer Machtstrukturen bedeuten«.36

Wie beim elementaren Dreieck des Sozialismus geht es auch bei der Heuristik sozialistischer Handlungsfähigkeit um Gleichheit. Wright verschiebt den Fokus jedoch von materiell-substanzieller Gleichheit stärker in Richtung von Entscheidungsmacht und demokratischer Partizipation. Zudem trägt das Dreieck gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit sozialistischem Pluralismus besser Rechnung als die ursprüngliche Heuristik. Zieht man unterschiedliche Wege zur Herstellung zivilgesellschaftlicher Handlungsfähigkeit in Betracht, gibt es keinen Grund, dass sich Sozialist:innen zu Beginn des 21. Jahrhunderts einsam fühlen müssten. Sie finden Verbündete in verschiedensten sozialen Bewegungen, in unterschiedlichen Parteien und auch in politischen Spektren, die das S-Wort bewusst ablehnen. In einem Cäsarismus, wie ihn Max Weber am Beispiel von Bismarcks Sozialreformen beschrieben hat, vermögen sie das zu erkennen, was an Überschüssigem über bloße Integrationsabsicht hinausweist. Reformen von oben, die von oppositionellen oder gar revolutionären Bewegungen erzwungen werden, können noch immer eine erfolgversprechende Strategie sozialistischer Handlungsfähigkeit sein. Wahrscheinlich sind sie in nächster Zukunft zumindest für Europa der einzige Weg, der mit einigen Erfolgsaussichten überhaupt beschritten werden kann. Doch um einen Reformpfad wirklich ansatzweise ausloten zu können, genügt auch Wrights Kompass sozialistischer Handlungsfähigkeit nicht. Wollte man allen politischen Kräften, die sich in Deutschland zumindest nominell und in positiver Weise auf kooperative Marktwirtschaft und sozialen Kapitalismus beziehen, sozialistische Handlungsfähigkeit bescheinigen, reichte das Spektrum von Teilen der Linkspartei bis zur AfD.37

IV Diagnose: Landnahme, Zangenkrise, Anthropozän

Der entscheidende Grund, über die bereits diskutierten Heuristiken hinauszugehen, ist allerdings ein anderer. Sowohl das elementare Dreieck des Sozialismus als auch das Dreieck sozialistischer Handlungsfähigkeit gehören aus meiner Sicht zwingend zu einem Kompass sozialistischer Transformation. Doch sie lassen systemische Störungen der Gesellschafts-Natur-Beziehungen als Kriterium sozialistischer Transformation weitgehend außer Acht. Deshalb sind sie nicht in der Lage, das Epochale des im Gange befindlichen Umbruchs zu erfassen. Zur Begründung dieser Sichtweise werden – in kritischer Auseinandersetzung mit dem tradierten marxistischen Produktivkraftoptimismus – das Landnahmetheorem und die These einer ökonomisch-ökologischen Zangenkrise eingeführt und mit der Diskussion um ein neues Erdzeitalter verbunden, um so Koordinaten für einen nachhaltigen Sozialismus gewinnen zu können.

Engels und der marxistische Produktivkraftoptimismus

Nicht allein die etatistische Ausrichtung, auch ihr Produktivkraftoptimismus hat die verschiedensten Sozialismen des 20. Jahrhunderts ökologisch in die Sackgasse geführt. Indizien für einen aus der heutigen Sicht fahrlässigen, historisch aber nachvollziehbaren Produktivkraftoptimismus finden sich sowohl bei Karl Marx als auch beim Erfinder des Marxismus, bei Friedrich Engels. Doch wie so häufig ist das Werk der beiden auch im Falle der Gesellschafts-Natur-Beziehungen widersprüchlich; es umfasst verschiedene Erkenntnisebenen, enthält Brüche und Revisionen.

Anders als oft suggeriert und kritisiert, hat das ursprüngliche Marx’sche Produktivkraftverständnis mit naiver Technikgläubigkeit wenig gemein. Vielmehr wird die Entfaltung der industriellen Produktivkräte, deren wichtigste die in freier Lohnarbeit genutzte Arbeitskrat ist, als materielle Voraussetzung der sozialistischen Revolution gedeutet. Nicht Technik und Organisation, sondern die mit der Industrialisierung wachsenden proletarischen Massen sind demnach die entscheidende Triebkraft sozialistischer Transformation. Hören wir wieder Friedrich Engels:

Die Besitzergreifung der sämtlichen Produktionsmittel durch die Gesellschaft hat, seit dem geschichtlichen Auftreten der kapitalistischen Produktionsweise, einzelnen wie ganzen Sekten öfters mehr oder weniger unklar als Zukunftsideal vorgeschwebt. Aber sie konnte erst möglich, erst geschichtliche Notwendigkeit werden, als die materiellen Bedingungen ihrer Durchführung vorhanden waren. Sie, wie jeder andere gesellschaftliche Fortschritt, wird ausführbar nicht durch die gewonnene Einsicht, daß das Dasein der Klassen der Gerechtigkeit, der Gleichheit etc. widerspricht, nicht durch den bloßen Willen, diese Klasse abzuschaffen, sondern durch gewisse ökonomische Bedingungen.1

Nicht die Entwicklung technisch-organisatorischer Produktivkräfte als solche, sondern die mit der industriellen Revolution einhergehende Entwicklung einer proletarischen Klasse, die aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess als erste überhaupt in der Lage ist, die Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft zu realisieren, gilt Engels als Gradmesser sozialen Fortschritts. Die Arbeit der von Löhnen abhängigen Klassen ist somit wichtigste Produktivkraft. Engels’ Redewendung von der »geschichtlichen Notwendigkeit« impliziert allerdings eine Zwangsläufigkeit und Ausschließlichkeit, die sicherlich kritisch hinterfragt werden muss. Im Werk der beiden Urväter des Marxismus finden sich aber auch Textpassagen, die eine deutlich andere, zeitgemäßere Interpretation kapitalistischer Dynamik nahelegen: »Die kapitalistische Produktion kann nicht stabil werden, sie muß wachsen und sich ausdehnen oder sie muß sterben […] Hier ist die verwundbare Achillesferse der kapitalistischen Produktion. Ihre Lebensbedingung ist die Notwendigkeit fortgesetzter Ausdehnung …«, notiert Engels in einem Vorwort, das er der deutschen Neuausgabe seines frühen Klassikers Die Lage der arbeitenden Klasse in England voranstellte.2 Präzise wird hier ein Grundverständnis von Kapitalismus in Bewegung benannt, das große Schnittmengen mit jenem Ansatz aufweist, den Stephan Lessenich, Hartmut Rosa und ich selbst zum analytischen Ausgangspunkt der Kollegforschungsgruppe »Postwachstumsgesellschaften« gemacht haben.3 Der Kapitalismus muss expandieren, um zu existieren, und es ist seine erfolgreiche Ausdehnung, die seine Bestandsvoraussetzungen untergräbt.

Kapitalistische Landnahme und das Expansionsparadoxon

Aus der von mir gewählten Landnahme-Perspektive ereignet sich kapitalistische Entwicklung als komplexe Innen-Außen-Bewegung. Ein »reiner Kapitalismus«, wie ihn Karl Marx mit seinen Reproduktionsschemata als logische Möglichkeit durchgespielt hat4, ist nicht überlebensfähig, zumindest ist er empirisch nirgendwo existent. Die der kapitalistischen Formation eingeschriebene expansive Dynamik beinhaltet daher stets die Internalisierung von Externem, die Okkupation eines nicht oder nicht vollständig kommodifizierten Außen. Sofern es kein funktional Anderes zu entdecken gibt, das in Besitz genommen, in Wert gesetzt, kommodifiziert und profitabel genutzt werden kann, geraten Gesellschaften mit eingebautem Expansionszwang an ihre Grenzen. Sie stagnieren und zerfallen. Kapitalistische Landnahmen beruhen somit auf einem Expansionsparadoxon. Der Kapitalismus muss sich ausdehnen, um zu existieren und seine Funktionsmechanismen zu reproduzieren. Dabei zerstört er im Zuge der Ausdehnung von Marktbeziehungen allmählich, was er für seine eigene Reproduktion benötigt. Je erfolgreicher die Akkumulations-, Wachstums- und Kommodifizierungsmaschine arbeitet, desto wirkungsvoller untergräbt sie die Selbstreproduktionsfähigkeit sozialer und natürlicher Ressourcen, ohne die moderne kapitalistische Gesellschaften nicht überlebensfähig sind.

Allerdings darf das kapitalistische Expansionsparadoxon weder mit einem Zusammenbruchsautomatismus noch mit einer überhistorischen Steigerungslogik verwechselt werden, die das System aus sich heraus an eindeutig fixierbare absolute Grenzen seiner Entwicklungsfähigkeit treiben würde. Der Zeitpunkt für einen möglichen Systemkollaps lässt sich, das belegt die Geschichte des Kapitalismus, immer wieder aufschieben und mithilfe von Selbststabilisierungsmechanismen über lange Zeiträume hinweg in die Zukunft verlagern. Das Finanz- und Kreditsystem, der Unternehmens-Innovationsnexus, Wohlfahrtsstaat und organisierte Arbeitsbeziehungen, Institutionen der Lebensproduktion sowie nicht zuletzt die Regulationen von Naturverhältnissen stellen solche Selbststabilisierungsmechanismen dar. Sie lassen gesellschaftliche Regulationsweisen entstehen, die unterschiedliche Spielarten des Kapitalismus möglich machen. Jede evolutionäre Weiterentwicklung von Selbststabilisierungsmechanismen fordert jedoch ihren Preis. Stets wird sie von einer neuerlichen Stimulierung expansiver Kräfte und einer Verschiebung des damit verbundenen Krisen- und Destruktionspotenzials begleitet. Selbstverständlich kann der Kapitalismus sterben. Sein Ende tritt aber nicht infolge eines plötzlichen Herzstillstandes mit nachfolgendem Systemkollaps ein. Die Überwindung dieser Gesellschaftsformation muss aktiv, in ausdifferenzierten Feldern und damit sozial, kulturell und politisch herbeigeführt werden. Sie benötigt die erfolgreiche Ausbildung und Ausübung sozialistischer Handlungsfähigkeit oder vergleichbarer antikapitalistischer Impulse, andernfalls kann selbst ein Kapitalismus mit akutem Katastrophenpotenzial sehr lange überleben.

Historisch betrachtet, thematisiert der Landnahmebegriff eine Entwicklung, die während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts, dem imperialen Zeitalter, einsetzte. Seit dieser Zeit werden Tempo und Wachstumsdynamik der Weltwirtschaft von kapitalistischen Kernstaaten vorgegeben, die den großen »Rest« der Welt beherrschen. Erst der Aufstieg von Schwellenländern, allen voran der Chinas, hat eine gewisse Trendumkehr eingeleitet. Das aus der ungleichen Entwicklung resultierende Privileg, in einem reichen Land geboren zu sein, hat über Jahrzehnte hinweg und in wachsendem Maße die Komposition globaler Ungleichheit bestimmt, und es ist eine, wenngleich nicht die einzige Ursache für weltweite Migrationsströme und zwischenstaatliche Konflikte.5

Rosa Luxemburg war eine der ersten marxistischen Theoretiker:innen, die diese Gleichzeitigkeit ungleicher Entwicklungen systematisch analysiert haben. Das strukturelle Problem der erweiterten Reproduktion des Kapitals besteht nach ihrer Auffassung darin, dass es für den zusätzlich erzeugten und sodann zumindest teilweise kapitalisierten Mehrwert der jeweils vorausgegangenen Produktionsperiode keine zahlungsfähige Nachfrage innerhalb interner kapitalistischer Märkte der Nachfolgeperiode geben kann. Der Sozialgeograf David Harvey hat das treffend als »Kapitalüberschuss-Absorptionsproblem«6 bezeichnet. Gemeint ist ein Komplex basaler Ursachen, der das Expansionsstreben des Kapitals antreibt. Das strukturelle Missverhältnis von anlagesuchendem Kapital und aufnahmefähigen Märkten erzeugt einen systemischen Wachstumsdrang, aber eben auch eine gegenläufige Tendenz in Gestalt periodisch auftretender und teilweise auch länger anhaltender Krisen.7

Dieses strukturelle Ungleichgewicht zwingt nach Auffassung von Rosa Luxemburg zur Ausdehnung von Absatzmärkten auf nichtkapitalistische Milieus: Die Akkumulation des Kapitals bleibe jederzeit an »nichtkapitalistische Kreise gebunden«8 und erst durch Einverleibung von nichtkapitalisierter Arbeitskraft und Erde erwerbe das Kapital »eine Expansionskraft«, die es ihm erlaube, »die Elemente seiner Akkumulation auszudehnen jenseits der scheinbar durch seine eigene Größe gesteckten Grenzen«.9 Der Kapitalismus, so die Zuspitzung Luxemburgs, sei die erste Wirtschaftsform mit der Tendenz, »sich auf dem Erdrund auszubreiten und alle anderen Wirtschaftsformen zu verdrängen«.10 Er sei aber auch die erste Gesellschaftsformation, die »allein, ohne andere Wirtschaftsformen als ihr Milieu und ihren Nährboden, nicht zu existieren« vermag.11 Je erfolgreicher sie expandiere, desto näher rücke der Zeitpunkt, an dem sie an ihrer inneren Unfähigkeit zerschellen müsse, eine »Weltform der Produktion«12 zu sein.

Luxemburg hat diese Überlegung zu einer Theorie externer Mehrwertrealisierung ausgebaut und versucht, damit den Imperialismus ihrer Zeit zu erklären. Dieser Ansatz ist aufgrund seiner immanenten Schwächen und logischen Fehlschlüsse nicht zu halten.13 Löst man sich jedoch von der engen politökonomischen Interpretation, öffnet sich der Blick für »eine völlig eigenständige Betrachtungsweise von Gesellschaftsformationen«, die »im Gegensatz zu den linearen und evolutionistischen Auffassungen von ›Fortschritt‹« steht, wie sie bei Engels anklingt.14 Diese eigenständige Betrachtungsweise impliziert, eine begrenzte Pluralität an sozialen Antagonismen und Ausbeutungsverhältnissen als gleichgewichtig anzuerkennen. Mit der systematischen Berücksichtigung nichtkapitalistischer Milieus nimmt Rosa Luxemburg eine Kapitalismusdefinition vorweg, wie sie später von Fernand Braudel und der Weltsystemtheorie formuliert worden ist. Das »Raster der Weltwirtschaft« zeigt »sozial gesehen das Nebeneinander der verschiedenen ›Produktionsweisen‹ von der Sklavenhaltung bis zum Kapitalismus auf, der nur im Kreise der anderen, auf Kosten der anderen« existieren kann.15 Verschiedene »Methoden der gesellschaftlichen Ausbeutung lösen einander ab, ergänzen sich letztlich gegenseitig«.16 Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen prägt auch die internen Austauschbeziehungen nationaler Kapitalismen; innere, das heißt sich in den Grenzen nationaler Gesellschaften vollziehende Landnahmen nichtkapitalistischer Produktionsweisen und Lebensformen sind jederzeit möglich. Im Grunde, so der Nestor der deutschen Arbeitssoziologe, Burkart Lutz, lässt sich jeder Wachstumsschub kapitalistischer Ökonomien als Landnahme verstehen, die mit der erfolgreichen Durchsetzung zugleich ihre sozioökonomischen und kulturellen Voraussetzungen unterminiert.17

Den basalen Modus Operandi kapitalistischer Landnahmen hat Thomas Morus in Utopia mithilfe des einprägsamen Bildes von menschenfressenden Schafen eindrucksvoll beschrieben. Gemeint ist eine Enteignungspraxis, bei der die Herrschenden den Pächtern das Weideland nehmen, um es für die profitablere Viehzucht zu nutzen:

[…] da lassen sich die Edelleute und Standespersonen und manchmal sogar die Äbte, heilige Männer, nicht mehr genügen an den Erträgnissen und Renten, die ihren Vorgängern herkömmlich aus ihren Besitzungen zuwuchsen; nicht genug damit, dass sie faul und üppig dahinleben, der Allgemeinheit nichts nützen, eher schaden, so nehmen sie auch noch das schönste Ackerland weg, zäunen alles als Weiden ein, reißen die Häuser nieder, zerstören die Dörfer, lassen nur die Kirche als Schafstall stehen und – gerade als ob die Wildgehege und Parkanlagen nicht schon genug Schaden stifteten – verwandeln diese trefflichen Leute alle Siedlungen und alles angebaute Land in Einöden. Damit also ein einziger Prasser, unersättlich und wie ein wahrer Fluch seines Landes, ein paar tausend Morgen zusammenhängendes Ackerland mit einem einzigen Zaun umgeben kann, werden Pächter von Haus und Hof vertrieben: durch listige Ränke oder gewaltsame Unterdrückung macht man sie wehrlos oder bringt sie durch ermüdende Plackereien zum Verkauf […].18

Thomas Morus beschreibt das Bauernlegen, die Einfriedung und private Inbesitznahme von Ackerland, die Marx später als ursprüngliche Akkumulation des Kapitals analysiert. Dabei handelt es sich um die historische Grundform kapitalistischer Landnahmen. Offene Gewaltanwendung zum Zwecke der Enteignung ist keineswegs das bestimmende Kriterium. Der entscheidende Punkt ist vielmehr die künstliche Verknappung von etwas, das zuvor, wenn nicht im Überfluss, so doch reichlich vorhanden war. Im Beispiel des Thomas Morus ist das Grund und Boden, der sich als Ackerland nutzen lässt. Dessen Verknappung erfolgt durch Anwendung eines Verfahrens, das Hannah Arendt hellsichtig vom »Besitz als einem dynamischen Prinzip«19 sprechen lässt. Die kapitalistische Aneignung eines nichtkapitalistischen Anderen ist von ihrer inneren Logik her betrachtet unendlich. Stets verlangt sie nach immer mehr Boden, Arbeitskraft, Geld und – wie wir noch sehen werden – nach Wissen und persönlicher Erfahrung. Denn Kapital, das sich, um Kapital sein zu können, permanent vermehren muss, sucht beständig nach neuen Anlagesphären.

Im Vollzug dieser expansiven Bewegung entstünden, so Luxemburg, die »seltsamsten Mischformen zwischen modernem Lohnsystem und primitiven Herrschaftsverhältnissen«20, wie das »Zerbröckeln« traditioneller Natural- und Bauernwirtschaften zeige. Als Beispiele nennt Luxemburg die »planmäßige, bewusste Vernichtung und Aufteilung des Gemeineigentums«, die die französische Kolonialpolitik in ihren arabischen Kolonien vornahm21, oder die »Zwangslohnarbeit«, welche spanische Eroberer zur Ausbeutung der indigenen Bevölkerung Lateinamerikas einführten.22 Ein aus heutiger Sicht besonders eindrucksvoller Fall ist die Zwangsarbeit ägyptischer Fellachen, die zur Finanzierung von Staatsanleihen beim internationalen Finanzkapital genutzt wurde.23 Landnahme bedeutet in den genannten Beispielen, dass unterschiedliche Formen unfreier, prekärer und nur teilweise kommodifizierter Arbeit über längere historische Perioden hinweg konserviert, neu kombiniert und so als Arbeit für das Kapital genutzt werden. Es bilden sich hybride Verbindungen aus Lohnarbeit und vorkapitalistischen Arbeitsformen in unterschiedlich strukturierten Märkten heraus, deren »Stoffwechsel« dominanten Akteuren Extragewinne verspricht.

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