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Das elementare Dreieck gesellschaftlicher Nachhaltigkeit

Am besonderen Charakter der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise ändern solche Überlegungen nichts. Das Spezifische dieser Krise wurzelt darin, dass ein »›Aufschließen‹ aller nationalen Ökonomien zu den Produktions- und Konsumptionsweisen der am stärksten entwickelten Industriegesellschaften […] den Planeten unbewohnbar machen« würde.55 Die dadurch heraufbeschworene Krise muss jedoch, was Nachhaltigkeitsziele wie das einer vollständigen Dekarbonisierung der europäischen Wirtschaft bis 2050 einklagen, ein Ende finden, wenn die Störungen des Erdmetabolismus nicht außer Kontrolle geraten sollen.

Das formationsprägend Kapitalistische dieser Krise wird durch einen besonderen Modus Operandi bewirkt, der den Stoffwechsel zwischen menschlicher und außermenschlicher Natur im Netzwerk des Lebens organisiert. Wie gezeigt, beinhaltet das dem Kapital eigene rastlose Streben nach Aneignung von Mehrarbeit ein expansives Verhältnis zu Naturressourcen, das die letztendlich absoluten, innerhalb unterschiedlich großer Handlungskorridore aber äußerst variablen Grenzen missachtet, die jeder metabolischen Ordnung eigen sind. Immanente kapitalistische Bearbeitungen des Widerspruchs zwischen planetarischen Grenzen und unendlichem Expansionsdrang bewegen sich im Rahmen des sogenannten Lauderdale-Paradoxons, das einen Spezialfall kapitalistischer Landnahmen darstellt. Demnach kann privates Vermögen an Boden und Naturschätzen nur durch die Zerstörung öffentlichen Vermögens ausgeweitet werden. Auf diese Weise wird Mangel an etwas erzeugt, das, wie Wasser, Boden und saubere Luft, als Gemeingut zuvor reichlich vorhanden war. Genau so funktioniert der soziale Mechanismus, mit dessen Hilfe der Klimawandel im Kapitalismus bearbeitet wird. Die Biosphäre, zuvor Gemeingut, wird eingepreist, Emissionsrechte werden zu mehr oder minder knappen, in jedem Fall aber handelbaren Gütern, und die Erderhitzung erweist sich im optimalen Fall als lukratives Anlagenfeld. Das jedenfalls besagen marktaffine Theorien, die sich in der Praxis hingegen zumeist als Versuche erweisen, den Pudding an die Wand zu nageln.

Abb. 3: Elementares Dreieck gesellschaftlicher Nachhaltigkeit


Quelle: eigene Darstellung.

Das Kapitalozän, so lässt sich resümieren, taugt nicht als Gegenbegriff zum Anthropozän, angemessener lässt es sich als formationsspezifische Konkretion der allgemeineren Definition eines neuen Erdzeitalters verstehen. Aus den Besonderheiten der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise und dem Übergang zum Anthropozän-Kapitalozän ergeben sich die elementaren Koordinaten gesellschaftlicher Nachhaltigkeit, die den Eckpunkten der beiden zuvor skizzierten Dreiecke übergeordnet sind. Das elementare Dreieck gesellschaftlicher Nachhaltigkeit umfasst (a) eine gemeinsame Nutzung der Natur, was private Inbesitznahmen natürlicher Ressourcen ausschließt; (b) eine rationale Regulierung des Erdmetabolismus durch frei assoziierte Produzent:innen, die sich an sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitskriterien orientieren, sowie (c) eine Befriedigung gemeinschaftlicher Bedürfnisse, die auch den Bedarfen künftiger Generationen Rechnung trägt.

Dieses Dreieck entspricht im Wesentlichen der Nachhaltigkeits-Formel, wie sie Ulrich Grober pointiert formuliert hat. Danach muss sich jede Politik künftig an zwei Kriterien »messen lassen«56; erstens: Reduziert sie den ökologischen Fußabdruck, und sinken die Emissionen? Zweitens: Steigt – für jede und jeden frei zugänglich und auch für künftige Generationen – die Lebensqualität? Das im Anschluss an John Bellamy Foster57 entwickelte Dreieck gesellschaftlicher Nachhaltigkeit, das ich vorschlage, geht noch einen Schritt über Grobers Formel hinaus. Es signalisiert, dass der Zwang zu permanenten Landnahmen gebrochen werden muss, um eine Wende zugunsten sozialer wie ökologischer Nachhaltigkeit einleiten und verstetigen zu können. Doch ist der in dem von mir vorgeschlagenen Dreieck angedeutete Zusammenhang von Zangenkrise, Nachhaltigkeit und ökologischem Sozialismus wirklich zwingend?

V Gründe: Warum nachhaltiger Sozialismus?

Um herauszuarbeiten, weshalb die Zangenkrise nach einer sozialistischen Transformation verlangt, ist es sinnvoll, einige strukturelle Konfliktlinien des Umbruchs genauer zu betrachten: die Tendenz zu ökonomischer Stagnation, die zunehmenden vertikalen Ungleichheiten sowie das Aufschaukeln ökonomischer Großgefahren. Diese Konfliktachsen prägen zumindest in den alten Zentren einen finanzialisierten Kapitalismus im Endstadium, einen Postwachstumskapitalismus, der jede Wende zu sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit behindert. Nur eine Nachhaltigkeitsrevolution vermag diese Blockade zu überwinden. Die Zukunft des Kapitalismus, aber auch die des Sozialismus hängt maßgeblich davon ab, ob und auf welche Weise es deren dominanten Akteuren gelingt, eine solche Nachhaltigkeitsrevolution in Gang zu setzen. Betrachten wir zunächst die wichtigsten Konfliktfelder des Übergangs.

Wachstum und Stagnation

Bis zur Jahrtausendwende war die (finanz)marktgetriebene Landnahme eines der erfolgreichsten Wachstumsprojekte in der Geschichte des Kapitalismus. Allerdings ließ die Wachstumsdynamik schon vor Beginn der großen Finanzkrise von 2007-2009 nach. Zwar ist die Weltwirtschaft ab 2010 rasch auf einen Wachstumspfad zurückgekehrt, doch in den alten kapitalistischen Zentren sind die Wachstumsraten trotz eines Jahrzehnts der Prosperität vergleichsweise niedrig geblieben. Das gilt insbesondere für die Staaten der Europäischen Union (EU). In wichtigen Ländern wie Italien stagniert die Wirtschaft seit langem. Griechenland, dessen Ökonomie im Jahrzehnt nach Krisenbeginn um ein Drittel schrumpfte, hätte selbst ohne Coronarezession noch bis in die 2030er Jahre benötigt, um die Folgen des brutalen Austeritätsdiktats nur annähernd hinter sich zu lassen. Doch auch im Durchschnitt der EU-Staaten hat der Finanzcrash tiefe Spuren hinterlassen. So lagen die Infrastrukturinvestitionen in den Ländern der EU-27 plus Großbritannien 2018 noch immer unter dem Vorkrisenniveau.1 Dieses Phänomen verweist auf strukturelle Wachstumsblockaden. Tatsächlich war die außergewöhnlich lange Prosperitätsphase, die sich bereits vor der Coronapandemie Anfang 2019 ihrem Ende zuneigte, in den alten kapitalistischen Zentren eine ohne Hochkonjunktur und Inflation. In Hochwachstumsgesellschaften wie der Chinas sind die Wachstumsraten zurückgegangen. Die Zinssätze sind niedrig geblieben, und der Investitionsmotor ist nie richtig in Gang gekommen. Über die Gründe wird innerhalb der Ökonomik gerätselt.

Angebotsseitig zählen Bevölkerungsentwicklung bzw. Arbeitskräftepotenzial und Arbeitsproduktivität zu den entscheidenden Wachstumstreibern. In alternden Gesellschaften, in denen das Volumen bezahlter Arbeitsstunden trotz Einwanderung nicht wächst oder im Verhältnis zur Erwerbstätigkeit sogar abnimmt, fällt die Bevölkerungsentwicklung als Wachstumsmotor aus. Deshalb bleibt auf der Angebotsseite als Wachstumstreiber hauptsächlich die Arbeitsproduktivität. Doch trotz des hohen Technikeinsatzes sind die Steigerungsraten bei der Arbeitsproduktivität seit geraumer Zeit rückläufig. Das ist der Grund, weshalb Ökonomen wie Richard J. Gordon für die alten kapitalistischen Zentren eine säkulare Stagnation mit vergleichsweise niedrigen Wachstumsraten diagnostiziert haben.2 Einiges spricht dafür, dass die Zeit der Billigressourcen – billige Natur, billiges Geld, billige Arbeit, Fürsorge, Nahrung und Energie – sich insgesamt ihrem Ende zuneigt.3 Der Ökonom James Galbraith prognostiziert für die Zukunft gar einen »Würgehalsband-Effekt«. Damit ist gemeint, dass sich die Effizienz einer ressourcen- und energieintensiven Wirtschaft nur steigern lässt, solange »die Ressourcen billig bleiben«.4 Ressourcenintensität bedeutet aber auch hohe Fixkosten, die sich allenfalls langfristig amortisieren und daher nur zu rechtfertigen sind, wenn »das System voraussichtlich profitabel bleibt und über längere Zeit einen Gewinn erzielt«.5 In einer zunehmend unsicheren Welt sind private Investitionen, die sich nur langfristig rechnen, jedoch mit hohen Risiken behaftet und deshalb mit niedrigen Gewinnerwartungen verbunden. Politische und gesellschaftliche Stabilität ist daher eine zentrale Funktionsbedingung ressourcenintensiven Wirtschaftens.

Kostenintensive Infrastrukturinvestitionen können von privaten, gewinnorientierten Unternehmen offenbar immer weniger garantiert, geschweige denn getätigt werden. Deshalb stoßen marktradikale Regime an ihre Grenzen. Sie werden sukzessive von einem neuen Staatsinterventionismus abgelöst, der jedoch keine Rückkehr zum keynesianisch-sozialdemokratischen Staat des 20. Jahrhunderts bedeutet. Durch die Coronapandemie forciert, interveniert der Staat nunmehr als Ressourcenbeschaffer, Planer und Finanzier von Infrastruktur, Garant von Eigentumsrechten, Seuchenmanager und – im besten Falle – als Beschleuniger sozial-ökologischer Innovation. Nicht ob, sondern wie Staatsinterventionen künftig aussehen, wird zu einer entscheidenden Frage für die Überlebensfähigkeit des kapitalistischen Systems. Ungeachtet dessen bleibt als wichtige Erkenntnis, dass es auf der Angebotsseite strukturelle Gründe gibt, die den Kapitalismus in seinen alten industriellen Zentren in einen Kapitalismus mit schwachen Wachstumsraten, einen Postwachstumskapitalismus, verwandeln.

Ungleichheit als Wachstumsbremse

Systemische Ursachen für eine nachlassende Wachstumsdynamik finden sich nicht nur auf der Angebots-, sondern auch auf der Nachfrageseite. Zwar ist eine Anpassung an schwaches Wachstum auch in kapitalistischen Ökonomien prinzipiell möglich; die vorindustriellen Kapitalismen beruhten durchweg auf relativ geringen Wachstumsraten. Politisch erweisen sich solche Anpassungen in den entwickelten Kapitalismen jedoch als äußerst schwierig, weil Armut, Prekarität und Verteilungsungerechtigkeit auch bei Niedrigwachstum zunehmen. Dergleichen ließe sich nur vermeiden, wenn systemstabilisierende Umverteilungsmaßnahmen greifen würden. Das ist aber in den kapitalistischen Zentren über lange Zeiträume hinweg nicht der Fall gewesen. Da dauerhaft sinkende Wachstumsraten nur zeitverzögert auf die Renditen der Unternehmen durchschlagen, wirken sie bei ausbleibender Umverteilung als Ungleichheitsverstärker. Die Vermögens- und Einkommenskonzentration nimmt zu, klassenspezifische, aber auch mit ethnischen und geschlechterspezifischen Abwertungen oder sozialräumlichen Benachteiligungen verbundene Ungleichheiten prägen sich noch stärker aus, die Marktmacht der Vermögensbesitzer wächst, und die Wahrscheinlichkeit, solche Machtressourcen in politische Lobbymacht zu transformieren, erhöht sich deutlich.6 Die Wirkungen dieses sozialen Mechanismus sind empirisch mittlerweile in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen worden. So entwickelten sich die Profite der Top 2000 unter den transnationalen Unternehmen und die Anteile der Arbeitseinkommen am weltweiten Bruttoinlandsprodukt zwischen 1995 und 2015 der Tendenz nach umgekehrt proportional. Immer dann, wenn die Gewinne der größten transnationalen Unternehmen gestiegen sind, hat der Anteil der Lohneinkommen am BIP tendenziell abgenommen. Zwar haben die Lohnquoten in den OECD-Staaten seit 2013 wieder zugelegt, sie verharrten jedoch vor der Coronarezession auf relativ niedrigem Niveau.7

Im Klartext bedeutet dies, dass die Früchte des Wirtschaftswachstums, sofern sich Wachstum überhaupt noch einstellt, höchst ungleich verteilt werden. Eine winzige Minderheit der erwachsenen Weltbevölkerung hat vom Wachstumskuchen ein besonders großes Stück abbekommen, während die untersten 50 Prozent der Einkommensbezieher stark unterdurchschnittlich partizipieren oder gar verlieren. Das einkommensstärkste Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung, das auf allen Erdteilen, vorzugsweise aber noch immer in den alten kapitalistischen Zentren lebt, konnte zwischen 1980 und 2016 immerhin 27 Prozent der Wohlstandszuwächse für sich verbuchen, den unteren 50 Prozent flossen nur gut zwölf Prozent der Wachstumsanteile zu. Hauptverlierer dieser asymmetrischen Entwicklung sind die industriellen Lohnarbeiterklassen der USA und Westeuropas, deren Anteile am erzeugten Mehrprodukt erheblich geschrumpft sind.

Die Hauptgründe für wachsende Ungleichheit hat der Internationale Währungsfonds mit technologischem Wandel, daraus resultierender Ersetzbarkeit von Beschäftigten, der Marktmacht großer Unternehmen und anhaltender Schwäche von Gewerkschaften einigermaßen präzise benannt.8 Man könnte von einem Klassenkampf von oben sprechen, der überaus erfolgreich gegen die von Löhnen abhängigen Klassen geführt worden ist. Die zunehmende Vermögens- und Einkommensungleichheit innerhalb der meisten nationalen Gesellschaften fällt seit etwa drei Jahrzehnten allerdings mit einer leichten Abnahme der Ungleichheiten zwischen Staaten zusammen. Die Zeiten, in denen die Ärmsten in den reichen Ländern noch immer wohlhabender waren als die Bevölkerungen der sich entwickelnden Länder, sind vorbei. Auch die Welt der reichen Länder teilt sich mehr und mehr in Zentrum und (Semi-)Peripherie. Hinsichtlich der Einkommen und Vermögen, aber auch beim Wohnen, der Gesundheit, bei Bildung und sozialer Distinktion ist das wohlhabende Deutschland mittlerweile zu einer der ungleichsten Gesellschaften Europas und der OECD-Welt geworden.9

Klassenspezifische Ungleichheiten haben ein solches Ausmaß erreicht, dass sie zu einer ernsthaften Wachstumsbremse geworden sind.10 Für die kapitalistische Dynamik dysfunktional, erinnert das Niveau der Einkommens- und Vermögensungleichheit an vorrevolutionäre Zeiten. Allerdings – und das ist die eigentliche Krux – hat die finanzkapitalistische Landnahme des Sozialen wohlfahrtsstaatliche Institutionen, Gewerkschaften, die politische Linke und damit entscheidende Selbststabilisierungsmechanismen kapitalistischer Dynamik derart geschwächt, dass eine halbwegs gerechte Rückverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten der von Löhnen abhängigen Klassen, wenn überhaupt, so nur mithilfe eines intervenierenden Staates zu verwirklichen wäre. In allen Ländern der EU sind gewerkschaftliche Organisationsgrade und die Regulation der Arbeitsverhältnisse mittels Kollektivvereinbarungen rückläufig. Diese Feststellung gilt für sämtliche Varianten organisierter Arbeitsbeziehungen. Weniger als ein Drittel der abhängig Beschäftigten EU-Europas wird auf der Arbeitsplatzebene überhaupt noch durch irgendeine Form kollektiver Interessenvertretung repräsentiert.11

Deutschland mit seinen noch immer einigermaßen stabilen Arbeitsbeziehungen macht hier keine Ausnahme. 2019 waren nur noch 27 Prozent der West- und 16 Prozent der Ostbetriebe an Branchentarifverträge gebunden. Der Anteil von Beschäftigten mit Tarifverträgen sinkt ebenfalls kontinuierlich. Nicht einmal mehr die Hälfte der Lohnabhängigen arbeitet in Betrieben mit Branchentarifverträgen; 1996 galt das noch für etwa 70 Prozent der West- und 56 Prozent der Ostbeschäftigten. Rechnet man Firmen und Haustarife hinzu, waren 2017 47 Prozent der westdeutschen und 55 Prozent der ostdeutschen Lohnabhängigen in Betrieben ohne Tarifbindung tätig.12 Auch der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist gesunken. Lag er 2018 noch bei etwa 18 Prozent der abhängig Beschäftigten, ist er während der Coronapandemie weiter zurückgegangen. Das, was mithilfe neuer Rekrutierungsmethoden an Mitgliedern hinzugewonnen wurde, droht während der Pandemie wieder verloren zu gehen.13

Offenbar ist die Selbstreproduktionsfähigkeit gewerkschaftlicher Organisationsmacht in zahlreichen industrialisierten Ländern akut gefährdet. Die Bereiche mit organisierten Arbeitsbeziehungen schrumpfen, diejenigen mit geringer oder nicht vorhandener Gewerkschaftsmacht expandieren. Hinzu kommen die Herausforderungen einer digitalen Plattformökonomie, deren Unternehmen sich organisierter Interessenvertretung einfallsreich zu entziehen wissen. Zwar nehmen Konflikte auf Betriebs- und Unternehmensebene teilweise zu, politische Verdichtungen solcher Auseinandersetzungen gelingen jedoch nur in Ausnahmefällen. Diese Tendenz zu demobilisierten Klassengesellschaften wirft die Frage auf, ob die institutionellen Kapitalismen der Gegenwart überhaupt noch in der Lage sind, die zerstörerischen Folgen wachsender Ungleichheit mit systemkonformen Mitteln und ohne Staatsintervention zu korrigieren.

Störungen des Erdmetabolismus

Diese Frage stellt sich umso dringlicher, als die Zunahme sozialer Ungleichheiten Störungen des Gesellschafts-Natur-Metabolismus verursacht, die sich, wie bereits angesprochen, zunehmend als unumkehrbar erweisen. Ernst Ulrich von Weizsäcker hat die Gefahr eines drohenden Ökozids sehr pointiert auf den Punkt gebracht: »Es eilt sehr. Ein Systemkollaps ist eine reale Gefahr […]. Wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen, bedingt durch das rasante Bevölkerungswachstum, die Übernutzung der Ressourcen, die Veränderung des Klimas, den Verlust der Biodiversität, und insgesamt erleben wir einen schleichenden Verlust der Lebensgrundlagen.«14

Das dringlichste Problem ist gegenwärtig der menschengemachte Klimawandel. Folgt man den einschlägigen fachwissenschaftlichen Erkenntnissen, so wird das Zeitfenster für Weichenstellungen, die verhindern, dass die Erderhitzung außer Kontrolle gerät, immer kleiner. Die wichtigsten Klimastudien stimmen darin überein, dass sich schon in wenigen Jahren entscheiden wird, ob es noch gelingen kann, den menschengemachten Treibhausgasausstoß einigermaßen unter Kontrolle zu bringen. Gelingt es nicht, die klimaschädlichen Emissionen weltweit jährlich um mindestens 7,6 Prozent zu senken, drohen ökologische Zerstörungen unbekannten Ausmaßes. Die Schwankungsbreite bei dem verfügbaren Zeitbudget bewegt sich, von 2020 an gerechnet, zwischen dreißig Jahren und weniger als einem Jahrzehnt.15 Die Zeit drängt auch deshalb, weil die Erderhitzung schon in ihrem frühen Stadium katastrophale Auswirkungen nach sich zieht. So hat der Rückversicherungskonzern MunichRe allein für das Jahr 2017 734 schadensrelevante Ereignisse mit knapp 10 000 Toten gezählt. 93 Prozent dieser Ereignisse waren wetterbedingt. Die höchsten Gesamtschäden wurden durch drei aufeinanderfolgende Hurrikane verursacht. Keines dieser Geschehen lässt sich unmittelbar auf den Klimawandel zurückführen, aber nach fachwissenschaftlicher Expertise weist, wie bereits angesprochen, vieles darauf hin, dass Wetterextreme wegen der menschengemachten Erderhitzung wahrscheinlicher werden.16

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Meeresspiegel um ca. 20 cm gestiegen. Das Eis an den Polen schmilzt rascher als erwartet. Schon 2014 erreichte der westantarktische Eisschild einen Kipppunkt, der das gesamte Ökosystem destabilisiert und den Zerfall des Eisschilds beschleunigt. Das Ansteigen des Meeresspiegels bedroht zunächst kleinere Inseln und tiefergelegene Küstenregionen. Dass infolge der anthropogenen Erderhitzung bei Fortsetzung der Gegenwartstrends auch die Kultstrände von Ipanema und Copacabana geflutet werden könnten, wollten während des brasilianischen Soziologiekongresses von Caxambu gleichwohl die wenigsten der Anwesenden wahrhaben.17 Exemplarisch zeigt sich hier, was die Dynamik globaler ökologischer Risiken auszeichnet. Sie erschließen sich in ihrem vollen Ausmaß nur über wissenschaftliches Wissen. Bei der Ursachen- und Wirkungsforschung gibt es immer wieder zahlreiche Unbekannte. Deshalb machen sich Gefahrenquellen wie der Klimawandel lange Zeit eher graduell bemerkbar, bis sie an Schwellenwerte gelangen, die eine Umkehrung von Fehlentwicklungen verunmöglichen. Auch wegen ihrer Uneindeutigkeit und Wissensabhängigkeit sind ökologische Großgefahren gesellschaftlich umkämpft. Sie lassen sich für eine gewisse Zeit verdrängen. Das aber nur, um dann umso heftiger auf ihre Verursacher zurückzuschlagen.18

Wenn sie überhaupt einen Realitätsgehalt besitzt, ist das der eigentliche Katalysator für die Herausbildung einer Weltgesellschaft. Denn letztendlich sind ökologische Großgefahren nicht externalisierbar. Sie müssen an ihren wirklichen Ursachenherden bekämpft werden, um substanzielle Veränderungen herbeizuführen. Wie viele wissenschaftliche Beobachter vor ihm, weiß das auch der zitierte Ernst Ulrich von Weizsäcker. Und wie viele andere ökologische Aufklärer scheut auch er vor jenen radikalen gesellschaftlichen Schlussfolgerungen zurück, die seine Analyse eigentlich nahelegt. Er setzt darauf, dass bloße Appelle an die Vernunft ausreichen, um, so wörtlich, einem »Naturkapitalismus«19 den Weg zu ebnen. Der ökologisch angepasste als »natürlicher« und damit als unüberwindbarer Kapitalismus? Die Sprache ist verräterisch. Im Unterschied zu den utopischen Sozialisten, die Friedrich Engels kritisierte, will von Weizsäcker auf sozialistische Visionen gänzlich verzichten. Wie die vormarxistischen Sozialisten des 19. Jahrhunderts unterschätzt er jedoch die Konfliktträchtigkeit der anvisierten Transformation. Die Blockademacht realer Klassen- und Herrschaftsverhältnisse spielt bei ihm keine Rolle. Das ist fatal, weil auf diese Weise strukturelle Hemmnisse von Nachhaltigkeitszielen völlig aus dem Blick geraten. Das Problem der Klimagerechtigkeit mag veranschaulichen, wovon die Rede ist.

Offenkundig variieren die Anteile an der Produktion ökologischer Lasten mit der jeweiligen Klassenposition. Während die reichsten zehn Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung mit ihren luxuriösen Lebensstilen 2015 sage und schreibe 49 Prozent der klimaschädlichen Emissionen verursachten, war die untere Hälfte nur für zehn Prozent verantwortlich.20 An den Haushaltseinkommen gemessen, ergibt sich für EU-Europa ein ähnliches Bild. Die einkommensstärksten zehn Prozent der Haushalte von 26 europäischen Ländern sind für 27 Prozent der Emissionen verantwortlich, während die untere Hälfte der Haushalte etwa 26 Prozent der klimaschädlichen Gase verursacht. Allein das reichste ein Prozent verzeichnet einen Pro-Kopf-Ausstoß von 55 Tonnen CO2-Emissionen jährlich und liegt damit um etwa das Siebenfache über dem europäischen Durchschnittswert. Vor allem Flugreisen machen einen Unterschied. Beim einkommensstärksten Prozent verursachen sie mehr als zwei Fünftel der Emissionen, weitere 21 Prozent gehen auf das Konto des individuellen PKW-Verkehrs. Geflogen wird nahezu ausschließlich vom oberen Dezil der Haushalte (jährliches Nettoeinkommen von durchschnittlich 40.000 Euro). Zur Erreichung der Klimaziele müsste der Pro-Kopf-Ausstoß an klimaschädlichen Emissionen auf durchschnittlich 2,5 Tonnen im Jahr sinken; das reichste Prozent der Haushalte liegt um das 22-Fache darüber. Insgesamt bewegen sich nur fünf Prozent der erfassten Haushalte mit ihren Emissionen innerhalb der Klimaziele; das heißt, nahezu alle müssen ihren Lebensstil ändern, aber der Veränderungsdruck ist bei den reichsten Haushalten mit Abstand am größten.21

Zwar wurden unionsweit seit 1990 ca. 25 Prozent der Emissionen eingespart, doch dies ist ausschließlich das Verdienst einkommensschwächerer Haushalte. Während die Emissionen des reichsten Prozents der Haushalte zwischen 1990 und 2015 um fünf Prozent und die des einkommensstärksten Dezils um drei Prozent gestiegen sind, haben sie bei den ärmsten 50 Prozent der Haushalte um 34 Prozent und bei den 40 Prozent mit mittleren Einkommen im gleichen Zeitraum um 13 Prozent abgenommen.22 In Deutschland verursachten die reichsten zehn Prozent der Haushalte 26 Prozent der Emissionslast; die untere Hälfte war für 29 Prozent der Emissionen verantwortlich. Während das reichste Prozent nichts einsparte, reduzierte die untere Hälfte ihre Emissionen um ein Drittel. Bei den 40 Prozent der Haushalte mit mittleren Einkommen betrugen die Einsparungen immerhin 12 Prozent. Auch zwischen den europäischen Staaten ist die Emissionslast höchst ungleich verteilt. Allein die einkommensstärksten Haushalte von vier reichen Mitgliedsstaaten (Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien; gemeinsam ca. 28,8 Millionen Menschen) emittieren mehr als die Bevölkerung von 16 ärmeren EU-Mitgliedsstaaten.23

Zugespitzt formuliert bedeutet dies, dass die Produktion von Luxusartikeln für die oberen Klassen und deren Konsum zu einer Haupttriebkraft des Klimawandels geworden sind, unter dessen Folgen europa- und weltweit vor allem die ärmsten Bevölkerungsgruppen zu leiden haben. Mehr noch, der häufig erzwungene Verzicht unterer Einkommensgruppen bringt den wachsenden Anteil des einkommensstärksten oberen Zehntels der europäischen Bevölkerung im statistischen Mittel zum Verschwinden. Weltweit fällt die Klimaungerechtigkeit noch weit drastischer aus. Um es deutlicher zu sagen: Nur die zumeist erzwungene Tatsache, dass die unteren Klassen ihren Gürtel wegen sinkender Einkommen enger schnallen müssen, ermöglicht den Oberklassen ihre verschwenderischen Lebensstile. Deshalb, so kann geschlussfolgert werden, ist der Kampf gegen Klimawandel und ökologische Zerstörung stets auch einer zugunsten der Armen und Benachteiligten. Dies allerdings nicht in einem Sinne, der soziale Gerechtigkeit zu einer Vorbedingung von Nachhaltigkeit machen würde, ohne die zerstörerische Wirkung ökologischer Destruktivkräfte wirklich ernst zu nehmen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Klimawandel und Ressourcenverschwendung müssen bekämpft werden, um die Lage der Ärmsten nicht noch unerträglicher zu machen.

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