promo_banner

Реклама

Читать книгу: «Die Utopie des Sozialismus», страница 3

Шрифт:

Exkurs: democratic marxism, Soziologie und Sozialismus

Dabei kann eine Methodik helfen, wie sie im angelsächsischen Sprachraum mit den Ideen eines sociological oder democratic marxism verbunden wird.14 Forschende, die mit diesem paradigmatisch angelegten Konzept arbeiten, verstehen sich als »marxian«, nicht als »marxist«. Zu parteioffiziellen Marxismen verhalten sie sich kritisch.15 Die Beifügung democratic signalisiert eine Sensibilisierung für den Eigenwert pluralistisch-demokratischer Institutionen und Prozesse. Das ist kein Zugeständnis an hegemonial-bürgerliches Denken, wie manche Kritiker:innen meinen. Vielmehr entspricht die Aufgeschlossenheit einer emanzipatorischen Praxis, wie sie etwa während des südafrikanischen Anti-Apartheid-Kampfs selbstverständlich war. Aus den Erfahrungen solcher Freiheitsbewegungen heraus gelten plurale parlamentarische Demokratien als unverzichtbare Basis aller Versuche, Alternativen zum Kapitalismus überhaupt zu diskutieren.16 Zum Selbstverständnis eines democratic marxism gehört eine prinzipielle Offenheit für andere – etwa feministische, ökologische oder indigene –Strömungen kapitalismuskritischen Denkens. Das heißt in der Konsequenz: Es gibt nicht den Marxismus, sondern nur eine gewisse Pluralität an Konzeptionen, die sich in unterschiedlicher Weise auf Marx beziehen.17 Diese Pluralität ist im Fragment gebliebenen Werk selbst angelegt. Anregend sind aus der heutigen Perspektive gerade die Brüche und Ungereimtheiten in den theoretischen Arbeiten des Karl Marx und seiner zahlreichen Interpret:innen. Solche Inkohärenzen zu ignorieren hieße deshalb, einem »faulen Marxismus«18 das Wort zu reden.

Jenseits dogmatischer Erstarrung beinhaltet die Marx’sche Theorie in ihren zahlreichen Weiterentwicklungen und Verästelungen noch immer eine herausfordernde Kapitalismuskritik – »die gründlichste, kompromissloseste, umfassendste jemals vorgebrachte Kritik dieser Art«.19 Sie ist eine Theorie, in deren Namen »große Regionen der Erde umgestaltet« wurden.20 Damit hat sie jedoch zugleich ihre Unschuld verloren. Jede Spielart des Marxismus muss heute selbstreflexiv sein und sich um ein kritisches Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte und der durch sie legitimierten Praxis bemühen. Wer sich der Methodik eines soziologischen Marxismus verpflichtet fühlt, steht deshalb für eine niemals abgeschlossene Reinterpretation klassischer Texte unter Berücksichtigung des zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Wissens. Zum »pragmatischen Realismus«21 so verstandener Theoriebildung gehört es, Begriffe wiederzuentdecken oder Bedeutungen zu reanimieren, die seitens der marxistischen Orthodoxie längst ad acta gelegt waren. Sozialismus ist ein solcher Begriff, den zu reinterpretieren eine wissenschaftliche und damit auch eine soziologische Aufgabe darstellt.

Eine Methodik, die entsprechend verfährt, muss einigen Anforderungen genügen, die hier kurz genannt seien. Die erste dieser Anforderungen kann als Reinterpretation, Thesenbildung und Prüfung bezeichnet werden. Eine kritische Reinterpretation klassischer Sozialismus-Texte zu betreiben, ist unabdingbar. Dabei gewonnene Thesen müssen aber zumindest ausschnitthaft und exemplarisch einer empirischen Prüfung unterzogen werden, mit deren Hilfe sich theoretische Vorannahmen korrigieren lassen. Daraus folgt für soziologische Erkundungen einer nächsten sozialistischen Gesellschaft, dass sie experimentell und ergebnisoffen angelegt sein müssen. So hat Erik Olin Wright akribisch untersucht, welche Alternativen zur kapitalistischen Produktionsweise sich bereits in bestehenden Gesellschaften herausbilden, ob und unter welchen Umständen sie Bestand haben und auf welche Weise sie tatsächlich zu einem besseren Leben beitragen können. Prozesse des Scheiterns zu dokumentieren, ist in dieser Methodik ebenso angelegt wie eine Wertschätzung von Projekten einer solidarischen Ökonomie oder genossenschaftlicher Selbstorganisation, die sich zuerst in Nischen der kapitalistischen Produktionsweise durchsetzen.22

Eine zweite Anforderung resultiert aus der Mehrebenenproblematik moderner Gesellschaften. Zu bedenken ist, dass Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse in ausdifferenzierte soziale Felder23 und gesellschaftliche Bewährungsproben24 eingebettet sind, deren eigensinnige Machtkonflikte und Wertigkeitsprüfungen empirisch erforscht werden müssen. Von Kapitalismus als sozialer Formation zu sprechen, bedeutet daher keineswegs, soziale Differenzierung, Vielfalt, Kontingenz, die Schwerkraft von Institutionen und daraus erwachsende Pfadabhängigkeiten in Abrede zu stellen. Im Gegenteil. Statt von einer determinierenden ökonomischen Basis auszugehen, die den gesellschaftlichen Überbau strukturiert, ist es sinnvoll, die kapitalistische Ökonomie und ihre Märkte als tiefgestaffelte soziale Felder25 zu betrachten, die mit zahllosen Variationen eines ökonomischen Habitus korrespondieren, der als verinnerlichtes Äußeres zu rationalem Handeln unter kapitalistischen Bedingungen überhaupt erst befähigt.26 Die methodologische Anforderung, die sich daraus ergibt, lautet: unbedingt das Mehrebenenproblem und die Ausdifferenzierung sozialer Felder beachten und dennoch nach feldübergreifenden Strukturähnlichkeiten suchen, um Aussagen über größere Zusammenhänge und Ereignisketten überhaupt erst zu ermöglichen. Ohne Vorstellungen von gesellschaftlichen Ordnungen, die dabei helfen können, empirische Einzelbefunde zu gewichten und in einen Zusammenhang zu bringen, sind weder Aussagen über die kapitalistische Gegenwart noch über eine sozialistische Zukunft möglich.

In keinem Fall dürfen gesellschaftliche Dynamiken auf einen einzelnen Kausalmechanismus zurückgeführt werden. Die Eigentumsfrage ist für die Grundlegungen eines ökologischen Sozialismus noch immer zentral, aber neue kollektive Eigentumsformen garantieren für sich genommen noch nicht, dass sich die mit ihnen verbundenen Wirtschaftsweisen tatsächlich als nachhaltig erweisen. Deshalb müssen ökologisch-sozialistische Praktiken ebenso wie neu entstehende gesellschaftliche Institutionen feldspezifisch begründet und evaluiert werden. Wie das politische System einer künftigen sozialistischen Gesellschaft aussieht, kann und darf keinesfalls aus deren ökonomischer Verfasstheit »abgeleitet« werden. Gleiches gilt für Kultur, Lebensweisen, Öffentlichkeit, Subjektivitäten, kurzum für sämtliche gesellschaftliche Sphären jenseits der Ökonomie. Aus dieser Komplexität ergibt sich als zusätzliche Anforderung, die Möglichkeit zu Selbstkorrekturen von Gesellschaftssystemen zu beachten. Der Kapitalismus besitzt die Fähigkeit, sich immer wieder zu häuten, um seine Kernstruktur zu bewahren. Staatssozialistische Gesellschaften haben die dazu erforderlichen Selbststabilisierungsmechanismen nicht im gleichen Maße ausbilden können, doch auch ihre Entwicklung war nicht mit der Geburtsstunde vorgezeichnet. Es gab immer wieder Wegscheiden, an denen eine radikale Selbstkorrektur möglich gewesen wäre, denn auch die staatssozialistischen Ordnungen waren und sind keine monolithischen Blöcke.27 Daraus folgt, dass auch aus dem Scheitern gelernt werden kann. So können beispielsweise die wirtschaftsdemokratischen Überlegungen der Prager Reformer28, die Plattform der bewegungsorientierten Strömung in der italienischen Kommunistischen Partei (PCI)29 oder die Thesen der ökosozialistischen Strömung bei den Grünen der 1980er und frühen 1990er Jahre30 als unabgegoltene Programmatiken betrachtet werden, die noch immer ein großes Anregungspotenzial besitzen, obwohl, vielleicht auch weil ihre Realisierungsversuche gescheitert sind.

Aus den genannten methodologischen Regeln ergibt sich als eine dritte Anforderung, dass die Verbindung von wissenschaftlicher Analyse und normativ begründeter Gesellschaftskritik unbedingt zu beachten ist. Ein demokratischer Marxismus unterscheidet sich auch methodologisch von sozialtheoretischen Versuchen, die auf eine normative Letztbegründung von Gesellschaftskritik zielen. Kritik des Marx’schen Typus entsteht aus der möglichst präzisen Beschreibung sozialer Verhältnisse, gefolgt von Analysen, die immanente Bewegungsformen dieser Verhältnisse und der durch sie hervorgerufenen Verwerfungen und Krisen aufdecken. So enthält die genaue Beschreibung der Lage arbeitender Klassen in England, die Friedrich Engels seinerzeit geleistet hat, bereits eine radikale Gesellschaftskritik. Für die normative Begründung dieser Kritik muss allerdings etwas anderes hinzukommen. Die ideologischen Selbstlegitimationen kapitalistischer Dynamik produzieren beständig Ansprüche, Erwartungen und auch Gerechtigkeitsvorstellungen, die in der sozialen Realität nicht erfüllt werden. Solche Diskrepanzen zwischen Sein und Sollen sind ebenfalls eine wichtige, wenngleich nicht die einzige Quelle von Gesellschaftskritik, wie sie ein democratic marxism anstrebt. Die normativen Maßstäbe dieser Kritik können aus dem hegemonialen »Geist des Kapitalismus«31, den Rechtfertigungsordnungen kapitalistischer Gesellschaften, herausgefiltert werden. Wie sich noch zeigen wird, stellen die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen32 eine normative Grundlage sowohl von Kapitalismus- als auch von Sozialismuskritik dar, denn sie eignen sich, um Bestehendes und Erreichtes mit dem Nötigen und Wünschbaren abzugleichen.

Als weitere methodologische Regel folgt daraus: Die Maßstäbe, an denen sich eine nächste sozialistische Gesellschaft messen lassen muss, dürfen nicht hinter das normative Fundament zurückfallen, das zuvor den Maßstab für Kapitalismuskritik lieferte. Rosa Luxemburg hat das in ihrer bereits angesprochenen Auseinandersetzung mit den Bolschewiki sehr deutlich gemacht. Die autoritäre Versuchung, vor der sozialistische Revolutionen nicht gefeit seien, stelle sich bereits ein, wenn das, was von außen, von politischen Gegnern als Notmaßnahme aufgezwungen werde und zeitweilig kaum vermeidbar sei, zur Normalität erhoben und als emanzipatorische Praxis verklärt werde.33 Um dergleichen zu vermeiden, benötigen sozialistische Gesellschaften einen institutionalisierten Zweifel, also öffentliche, wissenschaftlich fundierte Gesellschaftskritik, die – wie im Kapitalismus – ihre normativen Maßstäbe offenzulegen hat.

Halten wir fest: Die Suche nach einer Neudefinition von Sozialismus kann methodologisch auf eine Reinterpretation klassischer Sozialismustexte und -konzepte zurückgreifen, sie hat analytischen Reduktionismus zu vermeiden und muss sich ihrer normativen Grundlage bewusst sein. Diesen methodologischen Anforderungen kann hier nur annäherungsweise entsprochen werden, denn sie klagen eine Systema tik ein, die ein Essay nur sehr bedingt einzulösen vermag. Bei dem Bemühen um eine Redefinition von Sozialismus gilt es außerdem zu bedenken, dass marxistische Begründungen sozialistisch-kommunistischer Gesellschaften nur eine Option unter anderen möglichen darstellen. Protagonist:innen der neuen Sozialismus-Debatte kommen häufig ohne umfassenden Rückgriff auf Marx’ Kritik der politischen Ökonomie aus. Die Autorinnen des Manifests Feminismus für die 99 % berufen sich vorzugsweise auf kapitalismuskritische Strömungen in der Frauenbewegung.34 Thomas Piketty grenzt seinen partizipativen Sozialismus ausdrücklich von marxistischen Konzeptionen ab.35 Michael Brie und Claus Thomasberger beziehen sich in ihrem Plädoyer für einen freiheitlichen Sozialismus stärker auf Karl Polanyi als auf Karl Marx und Friedrich Engels.36 Brigitte Aulenbacher verknüpft Polanyis Ideen mit Debatten um eine Care-Revolution37 und Evgeny Morozovs digitaler Sozialismus nimmt, wie Thomas Piketty, eher auf sozialdemokratischen Reformismus als auf revolutionäre Sozialismuskonzeptionen Bezug.38 Der Sozialismus eines John Stuart Mill findet ebenfalls wieder Anerkennung39 und manifestiert sich in zeitgenössischen Entwürfen als Spielart eines neuen Sozialliberalismus.40 Die Liste mit Referenzen für eine zukunftsträchtige Sozialismus-Diskussion ließe sich erheblich erweitern, und die Vielfalt der Interventionen kann, so sie denn zu konstruktiver Kontroverse anregt, zweifellos eine Stärke sein. Schon wegen der konzeptuellen Vielfalt müssen sich Sozialismus-Begründungen, die der Methodik eines democratic marxism entsprechen wollen, ihrem theoretischen Erbe behutsam und kreativ nähern, ohne es als einen Steinbruch zu betrachten, der nahezu jede beliebige Interpretation erlaubt. Blicken wir daher auf die Ursprünge des marxistischen Sozialismus zurück.

III Heuristik: Sozialismus – von der Wissenschaft zur Utopie

Nun kann es an dieser Stelle nicht um eine strenge Werkexegese gehen, die systematisch rekonstruiert, was Marx, Engels und ihre zahlreichen Interpret:innen zu Sozialismus und Kommunismus geschrieben haben. Ich beschränke mich darauf, Kriterien für eine Heuristik zu entwickeln, mit deren Hilfe sich tradierte von zeitgemäßen Sozialismen unterscheiden lassen. Als historischer Ausgangspunkt für dieses Vorhaben eignen sich Überlegungen, die Friedrich Engels in der Spätphase seines Lebens anstellte, als sozialistische und sozialdemokratische Parteien ebenso wie die Gewerkschaften sich anschickten, Massenorganisationen zu werden.

Die These

Beginnen wir unsere Entdeckungsreise in Sachen Sozialismus deshalb im späten 19. Jahrhundert. 1880 erschien, zunächst in französischer Sprache, eine Broschüre mit dem anspruchsvollen Titel Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft.1 Als Grundlage dienten drei Kapitel aus dem sogenannten Anti-Dühring2 – einer von Friedrich Engels verfassten Streitschrift, die sich gegen den Privatgelehrten und Verfechter eines antimarxistischen »Sozialismus des arischen Volkes«, Herrn Eugen Dühring, richtete. Die Intervention überlebte den Gegenstand ihrer Kritik und trug erheblich zur Popularisierung von Marx’ Theorie bei. Heute gilt das Bemühen, die von Hegel entliehene Dialektik nicht nur auf die Geschichte, sondern auch auf Mathematik und Naturwissenschaften zu übertragen, vielen als besonders dogmatischer Versuch, die Welt nach abstrakten Bewegungsgesetzen modellieren zu wollen. Sozialismus, so ein verbreiteter Vorwurf, werde zum Resultat eines vorprogrammierten geschichtlichen Verlaufs erklärt, den zu vollenden ausschließlich das revolutionäre Proletariat berufen sei.

Ohne Zweifel finden sich in Engels Schrift Formulierungen, die als Belege für ein teleologisches Geschichtsverständnis interpretiert werden können. Es sind aber auch völlig andere Lesarten jener Artikelserie möglich, die in der zitierten Broschüre als zusammenhängendes Ganzes präsentiert wird. Schon die ersten Zeilen stellen klar, dass der moderne Sozialismus »seinem Inhalt nach zunächst das Erzeugnis der Anschauung, einerseits der in der heutigen Gesellschaft herrschenden Klassengegensätze von Besitzenden und Besitzlosen, Kapitalisten und Lohnarbeitern, andrerseits der in der Produktion herrschenden Anarchie« ist.3 Die enge Koppelung von gesellschaftlichen Widersprüchen und sozialistischer Vision dient der Abgrenzung von einem utopischen Denken, dessen Anhänger den Sozialismus als »Ausdruck der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit« betrachten. Diese Wahrheit, so Engels süffisant, brauche »nur entdeckt zu werden, um durch eigene Kraft die Welt zu erobern«. Sie sei »unabhängig von Zeit, Raum und menschlicher geschichtlicher Entwicklung«; »bloßer Zufall« entscheide, wann und wo sie entstehe.4 Ewige Wahrheiten, die noch dazu bei »jedem Schulstifter verschieden«5 ausfallen, konfrontiert Engels deshalb mit einem wissenschaftlichen Anspruch, der den Sozialismus aus realen Bewegungen der Gesellschaft heraus zu begreifen beabsichtigt. 6

So verstanden, ist Sozialismus eben kein unabänderliches Endziel, das im Gang der Geschichte bereits angelegt wäre. Weder handelt es sich um ein geschlossenes, unabänderliches Theoriegebäude noch um ein starres Gesellschaftsmodell. Was Sozialismus sein kann oder sein soll, ändert sich mit der Entwicklung der kapitalistischen Formation und den Gegenbewegungen, die sie hervorbringt. Das ist der Grund, weshalb Engels sich, auch hierin seinem kongenialen Partner Marx eng verbunden, bei der genauen Beschreibung sozialistischer Gesellschaften zurückhält. Weil der Kapitalismus »nichts« ist, wenn er nicht in Bewegung ist7, wäre auch der Sozialismus missverstanden, würde er als fertiges Rezept begriffen, das soziale Bewegungen nur noch zuzubereiten hätten. Eher trifft das Gegenteil zu. So wie die Gesellschaft stetem Wandel unterliegt, muss sich auch die Rezeptur, müssen sich Ziele, Organisationsformen und Wege des Sozialismus verändern, um systemische Herrschafts- und Ausbeutungsmechanismen erfolgreich zu überwinden.

Deshalb kann es, wie Engels immerhin andeutet, nicht bei dem einen Sozialismus bleiben. Sofern es wissenschaftlichen Ansprüchen genügen soll, muss, das sei hinzugefügt, auch das S-Wort zwingend im Plural buchstabiert werden. Den Variationen des Kapitalismus entsprechen diverse Sozialismen. Das galt bereits für das Industriezeitalter und gilt für sozialistische Visionen am Beginn des 21. Jahrhunderts in besonderer Weise. Die Erstarrung und mitunter auch Pervertierung marxistischer Sozialismusvorstellungen in repressiven staatsbürokratischen Systemen hat, ebenso wie der Zusammenbruch dieser Herrschaftsvarianten und der Verschleiß konkurrierender sozialdemokratischer Konzeptionen, dazu geführt, dass Sozialismus heute wieder zur Utopie werden muss, um politisch wirken zu können.

Gänzlich falsch wäre es indes, das als bloßen Rückschritt deuten zu wollen.8 Die Sozialismen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren Kinder der ersten industriellen Revolution. Die Sozialismen des 21. Jahrhunderts werden ebenfalls Kinder einer Produktivkräfte-Revolution sein, die sich nun aber unter völlig anderen Vorzeichen vollzieht als ihre historischen Vorläufer. Sozialistische Ideen des 21. Jahrhunderts müssen, so die hier vertretene These, ihre Überzeugungskraft aus der Notwendigkeit einer Nachhaltigkeitsrevolution beziehen. Sie entstehen zumindest in den frühindustrialisierten Ländern, künftig mehr und mehr aber auch in großen und kleinen Schwellenländern, aus der Kritik an wirtschaftlich-technischer Überproduktivität. Zwar rebellieren auch sie gegen die Herrschaft des Kapitals, doch das nicht allein wegen der Ausbeutung von Lohnarbeit. Die Sozialismen des 21. Jahrhunderts präsentieren sich als Alternative zu einem »Imperialismus gegen die Natur«9, wie ihn Karl Marx in seinen mittlerweile veröffentlichten Exzerptheften brandmarkte. Sie attackieren die Ökonomie der billigen Güter10 und mit ihr die Abwertung reproduktiver Tätigkeiten, und sie beanspruchen, gleichgewichtig mit der Beseitigung von Klassenherrschaft, eine Überwindung aller patriarchalisch, rassistisch oder nationalistisch legitimierten Herrschaftsmechanismen anzustreben. Aus der Perspektive gesellschaftlicher Naturverhältnisse beinhalten sie vor allem die Suche nach einem Notausgang, nach Auswegen aus einer epochalen ökonomisch-ökologischen Zangenkrise, die das Überleben menschlicher Zivilisation berührt.11

Das elementare Dreieck des Sozialismus

Gründe für einen Neosozialismus gibt es viele. Doch welche gesellschaftlichen Verwerfungen verlangen nach einer ökologisch-sozialistischen Vision? Die Beantwortung dieser Frage führt erst einmal zum ursprünglichen marxistischen Sozialismus-Verständnis zurück. In der zitierten Broschüre begründet Friedrich Engels die Notwendigkeit einer sozialistischen Transformation hauptsächlich mit dem Konflikt zwischen »gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung«.12 Es herrsche »Anarchie in der gesellschaftlichen Produktion«, und dennoch folge die wirtschaftliche Entwicklung den Zwängen der Konkurrenz, die sich als »blindwirkende Naturgesetze«13 hinter dem Rücken der Produzenten durchgesetzt hätten. Diese Zwänge bewirkten, dass die Produkte jene beherrschten, die sie herstellten. Erst die Aufhebung privatkapitalistischer Aneignung könne den gesellschaftlichen Reichtum, den die Produktivkraftentwicklung ermögliche, für die Entfaltung der Fähigkeiten aller Menschen erschließen.

Bis es so weit ist, hemmt die Aneignungslogik der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse laut Engels die Vergesellschaftungslogik der Produktivkraftentwicklung. Sozialismus ist demnach die gesellschaftliche Formel, mit deren Hilfe sich die Aufhebung des Dauerkonflikts zwischen kollektiver Produktion und privater Aneignungen politisch zuspitzen lässt. Aus Engels’ Kapitalismusanalyse ergibt sich, was als elementares Dreieck des Sozialismus bezeichnet werden kann. Das Privateigentum an Produktionsmitteln muss überwunden und durch kollektiv-gesellschaftliches ersetzt werden, um die Fesseln zu beseitigen, die die Produktivkraftentwicklung hemmen. Nur diese Umwälzung der Eigentumsverhältnisse erlaubt es, die gesellschaftliche Kontrolle über den Produktionsprozess zurückzugewinnen, indem er von den Arbeitenden selbst organisiert und an gemeinschaftliche Bedürfnisse rückgebunden wird. Hauptziel der Koordinaten im elementaren Dreieck des Sozialismus ist »substanzielle Gleichheit«.14

Dieses Ziel darf nicht mit Gleichmacherei verwechselt werden. Es geht zunächst nur darum, mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln die bestimmende strukturelle Ungleichheit aufzuheben, die den Kapitalismus konstituiert. Die damit verbundene Hypothese lautet, dass die Aufhebung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln auch die Überwindung anderer Ungleichheiten begünstigt, weil auf diese Weise Krisen zu verhindern oder abzumildern sind und egalitäre Verteilung als Produktivkraft genutzt werden kann.

Abb. 1: Elementares Dreieck des Sozialismus


Quelle: eigene Darstellung.

Diese marxistische Begründung sozialistischer Transformation ist auch heute nicht völlig falsch, aber sie reicht bei weitem nicht aus. Das elementare Dreieck des Sozialismus ist derart abstrakt und allgemein, dass es in konkurrierende Transformationsstrategien integriert werden kann. Engels hatte, als er seine Artikelserie anfertigte, bereits Ansätze eines oligopolitischen, finanzialisierten Kapitalismus vor Augen, dessen Herausbildung zum Gegenstand heftiger theoretischer wie auch politisch-strategischer Kontroversen innerhalb der Arbeiterbewegungen geworden ist. »Wenn die Krisen«, so Engels, »die Unfähigkeit der Bourgeoisie zur fernern Verwaltung der modernen Produktivkräfte aufdeckten«, so zeige »die Verwandlung der großen Produktions- und Verkehrsanstalten in Aktiengesellschaften und Staatseigentum die Entbehrlichkeit der Bourgeoisie für jenen Zweck.«15 Weiter heißt es: »Alle gesellschaftlichen Funktionen des Kapitalisten werden von besoldeten Angestellten versehen. Der Kapitalist hat keine gesellschaftliche Tätigkeit mehr, außer Revenuen-Einstreichen, Kupon-Abschneiden und Spielen an der Börse, wo die verschiedenen Kapitalisten untereinander sich ihr Kapital abnehmen.«16

Engels argumentiert hier mit einer Tendenz zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die sich noch innerhalb der kapitalistischen Hülle vollzieht. Die Herausbildung von Aktiengesellschaften und Staatseigentum interpretiert er als materielle Vorbereitung einer sozialistischen Gesellschaft. Aus dieser Deutung lassen sich jedoch höchst unterschiedliche strategische Schlussfolgerungen ziehen. Grob vereinfacht können im frühen 20. Jahrhundert zwei Hauptströmungen der Kapitalismusanalyse sowie darauf aufbauender Vorstellungen einer sozialistischen Transformation unterschieden werden. Das eine Lager betont die in der kapitalistischen Dynamik bereits angelegte Tendenz zur impliziten Vergesellschaftung der Produktivkräfte. Eduard Bernstein und später die russischen legalen Marxisten machen die Konzentration und Zentralisation von Kapital zum Ausgangspunkt für ihre, wie Rosa Luxemburg sie nennt, neoharmonistische Marx-Rezeption. Auch die Theoretiker des marxistischen Zentrums entwickeln sich in eine solche Richtung. Zunächst Begründung für einen revolutionären Sozialismus, mündet die Analyse einer sich selbst negierenden kapitalistischen Marktwirtschaft bei Karl Kautsky und Rudolf Hilferding in die Vorstellung von der allmählichen Herausbildung eines steuerungsfähigen »Generalkartells«.17 Früher oder später, so die Prognose, müsse die Konzentration des Kapitals in den Händen weniger und seine Zentralisation in Großunternehmen einen Punkt erreichen, an welchem die kapitalistische Wirtschaft von einer Instanz bewusst geregelt werde, die »das Ausmaß der Produktion in allen ihren Sphären« bestimme.18 Im Finanzkapital, verstanden als industrielles Kapital in der Verfügung der Banken, erlischt demnach der besondere Charakter des Kapitals.19

Diese Tendenz zur Vergesellschaftung der Produktivkräfte wird von reformorientierten Kapitalismustheoretikern in die Richtung eines sich weitgehend störungsfrei reproduzierenden Kapitalismus weitergetrieben. Für Otto Bauer sind, in seinem Reproduktionsmodell der Neoklassik ähnlich, Krisen der kapitalistischen Ökonomie temporäre Ereignisse, die früher oder später wieder zu Gleichgewichts märkten führen. Die Überzeichnung der Tendenz zu Rationalität und Planmäßigkeit im Kapitalismus schlägt sich in der problematischen Auffassung nieder, dass es nur noch einer schrittweisen Eroberung der Kommandohöhen wirtschaftlicher und politischer Macht bedarf, um den Übergang in eine Gesellschaft zu gestalten, die mit dem Kollektiveigentum an Produktionsmitteln zugleich die Anarchie kapitalistischer Märkte überwindet.

Solchen Auffassungen widersprechen Analysen der konkurrierenden Hauptströmung innerhalb des tief gespaltenen sozialistischen Lagers, deren führende Köpfe an einer revolutionären, disruptiven Überwindung des Kapitalismus festhalten. Die gleichen Phänomene der Konzentration, Zentralisation und Finanzialisierung von Kapital vor Augen, erklären sie diese zu Ursachen von zunehmender Krisenanfälligkeit, verschärfter imperialer Konkurrenz und erhöhter Kriegsgefahr. Für Wladimir I. Lenin ist der Imperialismus seiner Zeit denn auch nicht nur das »höchste Stadium des Kapitalismus«20, sondern zugleich Indiz für dessen parasitäre, in Fäulnis begriffene Verfassung. Fäulnis schließt ein »Wachstum des Kapitalismus nicht aus«21, im Gegenteil, im Großen und Ganzen wächst »der Kapitalismus bedeutend schneller als früher«, aber dieses Wachstum wird »immer ungleichmäßiger« und äußert sich »im besonderen in der Fäulnis der kapitalkräftigsten Länder«.22

Anders als neoharmonistische Kapitalismusanalysen haben die Vordenker:innen eines revolutionären Marxismus ein Sensorium für die Ungleichzeitigkeit kapitalistischer Entwicklung, die den großen Rest der Welt von einem kapitalistischen Zentrum abhängig macht. Aus diesem Grund brechen sie mit der Vorstellung, sozialistische Revolutionen seien nur in den industriell weit entwickelten Ländern möglich. Doch ein Grundproblem ihrer Analysen wurzelt darin, dass auch sie Strukturmerkmale des Kapitalismus verabsolutierten, die sich im historischen Verlauf als reversibel oder zumindest als veränderbar erwiesen haben. Folgt man Lenins Fäulnisthese, so hätte es den wohlfahrtsstaatlich regulierten fordistischen Kapitalismus, der sich nach 1945 in den kapitalistischen Metropolen durchsetzte, niemals geben dürfen. Der Imperialismus des frühen 20. Jahrhunderts war eben nicht das höchste und letzte Stadium des Kapitalismus, sondern nur eine, zweifelsohne höchst bedeutsame, Zwischenetappe kapitalistischer Entwicklung. Die Gründe für eine dynamische Kapitalismusanalyse, die einer Beschwörung von Endzielen und letzten Stadien kritisch gegenübersteht, hatte Friedrich Engels in einem Interview mit Le Figaro treffend auf den Punkt gebracht:

[…] wir haben kein Endziel. Wir sind Evolutionisten, wir haben nicht die Absicht, der Menschheit endgültige Gesetze zu diktieren. Vorgefasste Meinungen in Bezug auf die Organisation der zukünftigen Gesellschaft im einzelnen? Davon werden Sie bei uns keine Spur finden. Wir sind schon zufrieden, wenn wir die Produktionsmittel in die Hände der ganzen Gesellschaft gebracht haben […].23

1 611,72 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
475 стр. 9 иллюстраций
ISBN:
9783751803298
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip