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I Visionen: »Pandemie stoppt Klimawandel!«

…, so schallt es zum Ende des Schicksalsjahres 2021 aus allem Medien. Völlig überraschend hatten die Vereinten Nationen einen weitreichenden Durchbruch in der Klimapolitik erzielt. Von den Erfolgen bei der Bekämpfung der Coronapandemie angespornt, einigten sich die Mitgliedsstaaten darauf, die klimaschädlichen Emissionen binnen zehn Jahren auf null zu senken. Ein Sofortprogramm, das erneuerbare Energien, Biolandwirtschaft, nachhaltige Mobilität und klimagerechtes Bauen großzügig fördert, wurde im Hochgeschwindigkeitstempo umgesetzt. Dafür sorgte ein Klimanotstand, den alle Mitgliedsstaaten der United Nations (UN) akzeptierten. Vom UN-Generalsekretär António Guterres ausgerufen, stattete er die Regierungen mit weitreichenden Sondervollmachten aus, die allerdings vor ihrer Anwendung einer demokratischen Legitimation durch Parlamente und Transformationsräte bedurften. In der Europäischen Union, Vorreiterin bei der Nachhaltigkeitsrevolution, griffen erste Maßnahmen. Nach einer kurzen Übergangszeit hatten die zuständigen Behörden sämtliche Autobahnen für den individuellen PKW-Verkehr gesperrt. Zeitgleich wurden Autos aus den Stadtzentren und Ortskernen verbannt. Wer den Highway trotz eines Tempolimits von 110 Stundenkilometern benutzen will, fährt mit Elektrobussen, die, ebenso wie Züge, mit grünem Wasserstoff angetrieben werden. Flugreisen sind kontingentiert und müssen ab sofort mit individuellen CO2-Budgets abgeglichen werden. Die Ticketpreise verzeichnen allerdings einen drastischen Anstieg, weil es keine Subventionen für Flugbenzin gibt.

In Klimawerkstätten, die sich auf Recycling, Müllvermeidung und die Reparatur beschädigter Geräte konzentrieren, sind großflächig neue Beschäftigungsfelder entstanden. Unternehmen haben auf die Produktion langlebiger Güter umgestellt. Es gibt noch immer Autos, aber ausschließlich solche, die, etwa auf dem Lande, wirklich sozialen Mobilitätsbedürfnissen dienen. Sofern sie überhaupt noch im Privatbesitz sind, werden PKWs von Einzelpersonen nur einmal gekauft, denn sie laufen über eine Lebensspanne hinweg weitgehend störungs frei oder sind zumindest jederzeit reparabel. Das Auto ist aber nur eines von zahlreichen Beispielen für den Übergang zu nachhaltigen Produkten und Produktionsformen. Dieser Übergang hat auch zu einer Umwälzung der Eigentumsverhältnisse in großen Unternehmen geführt. Konzerne, die sich der Produktion für das Gemeinwohl verweigerten, wurden sozialisiert und gehören nun denen, die die Arbeit leisten. Öffentliche Infrastrukturinvestitionen, der Ausbau sozialer Dienstleistungen und großzügig angelegte Weiterbildungsprogramme haben einen wirtschaftlichen Take-off eingeleitet. Dessen Nutzen wird allerdings nicht mehr anhand der Kriterien des Bruttoinlandsprodukts (BIP), sondern mithilfe von Entwicklungsindikatoren gemessen, die unbezahlte Sorgetätigkeiten, informelle Arbeit, aber auch ökologische Belastungen wirtschaftlicher Aktivitäten (»destruktives Wachstum«) einbeziehen.

Eine großzügige Rückverteilung von den alten und neuen Zentren der Weltwirtschaft in die Peripherie und von den einkommensstärksten zehn Prozent hin zur unteren Hälfte der Weltbevölkerung hat dafür gesorgt, dass die Lasten der sozial-ökologischen Transformation einigermaßen gerecht verteilt werden. In einem ersten Schritt hatte die Staatengemeinschaft Coronaimpfstoffe zu einem öffentlichen Gut erklärt. So wurde mit dem Impfstoffnationalismus auch die Pandemie besiegt. Im nächsten Schritt konnten Hunger und extreme Armut weltweit beseitigt werden. Alle Geberländer haben sich bereit erklärt, die dazu nötigen Mittel aus ihren Haushalten aufzubringen. Zwecks Finanzierung verzichteten sie auf die Produktion zusätzlicher Rüstungsgüter. Große Vermögen werden seither, so sie denn überhaupt noch entstehen, progressiv besteuert. Ein strenges Erbschaftsrecht sorgt dafür, dass angesammelter privater Reichtum sich in Eigentum auf Zeit verwandelt. Auf allen administrativen Ebenen überwachen Nachhaltigkeitsräte die Transformation.

Die Erfolge der 2021 eingeleiteten Nachhaltigkeitsrevolution sind durchschlagend. Schon im ersten Jahr wurden die Klimaziele übererfüllt. Allerdings waren Folgeschäden der Erderhitzung nicht mehr in allen Erdregionen umzukehren. Wo Wetterextreme und der Anstieg des Meeresspiegels ganze Landstriche unbewohnbar gemacht haben, sorgen nun großangelegte Migrationsprogramme für Entlastung. Die Einwanderung von Klimaflüchtlingen in bewohnbare Weltgegenden regelt ein Nansen-Pass1, der die Hauptverantwortung der reichen Länder für die Erderhitzung anerkennt. Über die genaue Ausgestaltung des globalen Migrationsregimes wird politisch noch immer heftig gestritten, doch die Möglichkeit, Regionen mit hohem Katastrophenpotenzial zu verlassen, ist nun ein unhintergehbares Menschenrecht. Saubere Luft, nutzbare Böden, die Versorgung mit Wasser, Elektrizität und existenznotwendigen Lebensmitteln sind, ebenso wie Mobilität, der Zugang zu Bildung und zu digitaler Kommunikation, zu öffentlichen Gütern geworden. Eine weltweit vorhandene soziale Infrastruktur wird durch gesellschaftliche Fonds garantiert, in die alle Erwachsenen der Weltbevölkerung einzahlen. Als Gegenleistung haben sie Anrechte auf eine bedingungslose Grundzeit, die ihnen für finanzierte Tätigkeiten ihrer Wahl zur Verfügung steht. Im Verhältnis von Erwerbsarbeit und arbeitsfreier Zeit kommen die neuen Gesellschaften dem nahe, was Thomas Morus einst auf seiner Insel Utopia vorfinden wollte. Weil die Erwachsenen

nur sechs Stunden bei der Arbeit sind, könnte man vielleicht der Meinung sein, es müsse daraus ein Mangel an lebensnotwendigen Arbeitsprodukten entstehen. Weit gefehlt! Im Gegenteil genügt diese Arbeitszeit nicht nur zur Herstellung des nötigen Vorrats an allen Erzeugnissen, die zu den Bedürfnissen oder Annehmlichkeiten des Lebens gehören, sondern es bleibt sogar noch davon übrig.2

Mit größeren, frei verfügbaren Zeitbudgets ausgestattet machen sich die wichtigsten Veränderungen bei der politischen Partizipation bemerkbar. In allen Gesellschaften ist es zu einem Engagement gekommen, wie es die Welt noch nie erlebt hat. Druck durch soziale Bewegungen, Klimastreiks in großen Unternehmen, staatliche Reformen, aber auch nachhaltige Produktions- und Lebensformen, die sich zunächst in Nischen entwickeln konnten und sich dann ausbreiteten, haben dafür gesorgt, dass tatsächlich eingetreten ist, was weitblickende Kapitalismuskritiker vorausgesagt hatten. Die Profitwirtschaft und ihre herrschenden Klassen haben abgedankt. Vielen Akten »kollektiver Selbstermächtigung«3 ist zu verdanken, dass der Kapitalismus aufgehört hat, uns als »schicksalsvollste Macht des modernen Lebens«4 zu beherrschen.

Welchen Namen die neuen Gesellschaften tragen sollen, die sich mit dem Niedergang der kapitalistischen Moderne als nächste herausgebildet haben, ist, wie so vieles, umstritten. Von den 31 ihrem Selbstverständnis nach postkapitalistischen Formationen, die im Parlament der Vereinigten Staaten von Europa vertreten sind, verstehen sich nur einige explizit als sozialistisch. Andere lehnen das S-Wort als Bezeichnung für die neu entstandenen Gesellschaften ab. Doch das ist bei weitem nicht der einzige Konflikt. Von den Prioritätensetzungen in öffentlichen Haushalten über Verteilungsrelationen bis hin zur Zusammensetzung der Nachhaltigkeitsräte wird über fast alles gestritten, diskutiert, verhandelt. Was den nichtkapitalistischen Block zusammenhält, ist allein seine prinzipielle Gegnerschaft zu den Parteien der prokapitalistischen Wende. Die Bürgerfront zur Wiedereinführung der freien Marktwirtschaft stagniert bei Wahlen zum Europäischen Parlament seit Jahren bei einem Drittel der Stimmen. Ihre Konkurrenz auf der äußersten Rechten kämpft mittlerweile um die Überwindung der Sperrklausel von drei Prozent. Gelegentlich hat die Bürgerfront in einzelnen Ländern triumphieren können, doch die Ergebnisse ihrer Regierungszeit waren für die Wählerschaft des prokapitalistischen Bündnisses frustrierend. Kaum hatten sie marktwirtschaftliche Reformen auf den Weg gebracht, waren die Front-Parteien in der Regel schon wieder abgewählt. Auch wegen der regulativen Funktion der Nachhaltigkeitsräte war und ist ihre politische Durchsetzungskraft vergleichsweise gering, wenngleich sie bei der Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat und Markt immer wieder konstruktive Vorschläge unterbreiten und durchsetzen konnten.

Trotz hoher Integrationskraft bieten die neuen, nachhaltig sozialistischen Gesellschaften das Gegenteil eines harmonistischen Stelldicheins. Heftige Konflikte prägen selbst den sozialen Nahbereich. An Vermögen, Einkommen und Bildungschancen gemessen sind die Menschen so gleich wie nie zuvor; und gerade aus diesem Grund treten ihre individuellen Besonderheiten umso stärker hervor. Das führt zu einer Vielfalt an Lebensformen und Lebensstilen, die alles andere als harmonisierend wirkt. Nachhaltigkeit beispielsweise ist ein dehnbarer Begriff, der Zielkonflikte beinhaltet. Wofür soll das gesellschaftlich erzeugte Mehrprodukt eingesetzt werden? Sollen die Einkommen für große Bevölkerungsgruppen steigen, oder steht das im Widerspruch zu ökologischer Nachhaltigkeit? Welche Stimme ist legitimiert, in politischen Entscheidungsprozessen für die Natur zu sprechen? Wie hoch darf der Preis sein, um bedrohte Tierarten zu retten? Sucht man Problemlösungen für ökologische Belastungen im technologischen Wandel, oder ist es sinnvoller, sich natürlichen Kreisläufen ohne zusätzliche technische Hilfsmittel anzupassen? Welche Vorstellungen vom »guten Leben« sind legitim, welche sind es nicht? Müssen an den Hochschulen in den sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächern demnächst Männerquoten eingeführt werden, um auf längere Sicht annähernd Geschlechtergerechtigkeit herzustellen, oder ist die Frauendominanz der legitime Preis, den Männer für den Verlust jahrtausendealter Privilegien zu zahlen haben? Macht die Vielfalt sexueller Orientierungen und geschlechtlicher Identitäten derart polarisierende Fragestellungen gar gänzlich überflüssig? Das sind nur einige der Themen, an denen sich die Geister scheiden. Das Leben ist für alle, jede und jeden ständige Herausforderung, permanenter Kampf. Es ist anstrengend und eben deshalb schön. Denn eines ist sicher – trotz des Streits kann man sich darauf verlassen, dass allen, die in Not geraten, von anderen geholfen wird.

Mit groben Pinselstrichen gemalt, sind das die Konturen einer möglichen nächsten Gesellschaft. Sie zeigen uns kein Paradies. Dennoch enthält das Bild einen utopischen Überschuss, der dazu anspornen kann, aus der wünschbaren eine erreichbare Zukunft zu machen. Es ist dies die ins Bild gesetzte nachhaltig sozialistische Zukunft. Wollen wir sie erreichen? Haben wir die Chance dazu?

Szenenwechsel. Blicken wir noch einmal auf das Auditorium Maximum der Leipziger Universität im Mai 2019. Haben diejenigen, die sich dort zu einer Bewegung formieren wollen, tatsächlich das Zeug, den Kapitalismus aus den Angeln zu heben? Wollen sie das überhaupt? Gegenargumente lassen sich leicht finden, denn die Mehrzahl der bei Fridays for Future Aktiven agiert keineswegs mit antikapitalistischem Selbstverständnis. Ein erheblicher Teil der Anwesenden hat sich überhaupt zum ersten Mal für ein politisches Engagement entschieden. Andere Aktive verorten sich im rot-grünen Parteienspektrum und handeln eher pragmatisch-lösungsorientiert als radikal und mit systemkritischer Grundhaltung.5 Auch die Forderungen, die auf der Vollversammlung beschlossen werden, klingen keineswegs sonderlich radikal. Ohne zu zögern, votiert eine überwältigende Mehrheit zugunsten einer CO2-Steuer – ein Instrument, das ohne soziales Korrektiv unweigerlich diejenigen mit den geringsten Einkommen am stärksten belasten würde. Sofern man überhaupt von einer ökologisch-sozialistischen Strömung sprechen kann, repräsentiert sie selbst innerhalb des linken Flügels der Klimabewegung allenfalls eine Minderheit. Und dennoch sind es diese jungen Leute, die eine zukunftsträchtige sozialistische Option in der Gegenwart am glaubwürdigsten verkörpern. Es ist die Grundidee, die überzeugt. Wie selbstverständlich werden die ökologische und die soziale Frage zusammengedacht. Deshalb kommt auch ein Betriebsratsvorsitzender aus dem Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) Leipzigs zu Wort, der als heimlicher Star der Veranstaltung zu Bündnissen von Klimabewegungen und Gewerkschaften aufruft.

Zu den Kräften progressiver Veränderung zähle ich ausdrücklich auch jene Teile der Klimabewegungen, die sich im De- oder Post-Growth-Spektrum verorten und ihre Wurzeln bevorzugt im Kosmos anarchistisch-libertärer Ideen suchen. Aktive aus dieser Strömung arbeiten sehr bewusst, fantasievoll und kreativ an Alternativen zu kapitalistischen Produktions- und Lebensformen.6 Sozialismuskonzepten, die auf Marx und Engels zurückgreifen, begegnen diese libertären Strömungen freilich mit Skepsis. Es mangelt denn auch nicht an Versuchen, den noch jungen Bewegungen altbekannte Feindbilder zu liefern. Manch neuere Bemühung um eine Wiederbelebung anarchistischer Utopien präsentiert sich in recht altbackener Manier als »kritisches Korrektiv gegenüber rechts- und linksautoritären Versuchungen«.7 Attackiert wird eine vermeintliche bürgerlich-marxistische »Fortschrittsideologie und Utopiefeindlichkeit«8, die sich als Kontrastfolie für eine positive Akzentuierung des eigenen Freiheitsverständnisses nutzen lässt.

Tatsächlich, das sei hinzugefügt, gibt es für Warnungen vor autoritären Versuchungen von links immer wieder neue Anlässe. Andreas Malms Plädoyer für einen »Ökoleninismus« bietet ein Beispiel, das in Teilen der Klimabewegungen auf Widerhall stößt.9 Lange vor Malm zeigten sich Ökosozialisten wie Wolfgang Harich und Rudolf Bahro10, die gegen den SED-Staat opponierten, ebenfalls für Autoritarismus anfällig. Doch einmal davon abgesehen, dass sich die ökosozialistische Traditionslinie nicht auf autoritäre Entgleisungen einiger Vordenker reduzieren lässt, wurzelt eine unbewältigte Schwierigkeit des Anarchismus darin, dass die Realisierungsversuche libertärer Visionen in der Regel über einen – mitunter durchaus innovativen – Nischensozialismus nicht hinausgekommen sind.11

Einen wunden Punkt trifft die libertäre Kritik dort, wo sie offenlegt, dass alle bekannten Sozialismen immer wieder zu einer Klassenherrschaft ihrer Eliten tendierten. Bei der Ursachenanalyse springt anarchistische Staats- und Bürokratiekritik jedoch dann zu kurz, wenn sie den Eigenwert parlamentarischer Demokratien unterschätzt oder völlig ignoriert. Ein zentraler systemimmanenter Fehler der verblichenen Staatssozialismen wurzelte darin, dass deren politische Systeme ohne entwickelte demokratische Institutionen und Prozesse über kein wirksames Korrektiv verfügten, welches der diesen Gesellschaften inhärenten Tendenz zur Akkumulation politischer Macht hätte Grenzen setzen können. Hannah Arendt hat die Mechanismen des Vorauseilens politischer Machtakkumulation vor der Kapitalakkumulation am Beispiel expansionistischer Ideologien des historischen Imperialismus in brillanter Weise analysiert:

»Durch eine unbegrenzte Akkumulation von Macht, das heißt von Gewalt, die kein Gesetz begrenzt, konnte eine unbegrenzte oder jedenfalls erst einmal unbegrenzt scheinende Akkumulation von Kapital vonstatten gehen«, konstatiert sie12 und macht deutlich, dass sich in stalinistischen Systemen ähnliche Mechanismen finden. Wie die Kapitalakkumulation benötigt auch das unersättliche Streben nach immer größerer Machtfülle, das diesen Systemen eigen ist, permanent neues Material. Sofern nicht erfolgreich, das heißt mithilfe demokratischer Institutionen und Verfahren, gegengesteuert wird, mündet totales Machtstreben unweigerlich in Repression, Terror oder gar in Krieg.

Alle staatssozialistischen Regime sind auch an dem Problem gescheitert, dass sie starke Institutionen für eine Kontrolle und Begrenzung zentralisierter politischer Macht nicht zu entwickeln vermochten. Dies begünstigt ein monistisches Bestreben, das von der Fiktion einer von oben hergestellten Klasseneinheit über die erzwungene Einheit der Partei bis hin zu Führerverehrung und Personenkult führen kann. In verschiedensten Variationen finden sich derartige systemische Mängel nicht nur in den implodierten staatssozialistischen Gesellschaften oder bei den nominalsozialistischen Regimen Chinas oder Nordkoreas. Auch politische Formationen, die aus nationalen, postkolonialen Befreiungsbewegungen hervorgegangen sind, bilden früher oder später Formen bürokratischer Klassenherrschaft aus. Neben Vietnam und Kuba stellen Südafrika, Nicaragua, Venezuela und selbst das Bolivien eines Evo Morales, der die Verfassung seines Landes zwecks Wiederwahl beugen wollte, prominente Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart dar.

II Begriffe: Radikaler Humanismus, Postwachstum, Neosozialismus?

Systemische Mängel und Zusammenbrüche real gewordener Sozialismen vor Augen, erscheinen alternative Bezeichnungen für bessere Gesellschaften manchen heute attraktiver als das belastete S-Wort. Für den Journalisten und einflussreichen Kapitalismuskritiker Paul Mason ist das der Grund, einem radikalen Humanismus das Wort zu reden.1 Doch Mason ergeht es wie manch anderen, die ähnlich vorgehen. Seine Argumentation wirkt gelegentlich so, als sollten sozialistische Zielsetzungen in einer begrifflichen Hülle verfolgt werden, die sie vor einer Kontamination durch geschichtliche Belastungen bewahrt. Das klingt an, wenn der radikale Humanismus mit einem kritischen Rückgriff auf Marx begründet wird. Zwar benennt Mason »wesentliche Konstruktionsfehler« der Marx’schen Theorie, stellt aber sogleich klar, »dass der Marxismus, wenn er von seinen autoritären Impulsen gereinigt wird, weiterhin eine wichtige Grundlage für eine radikale Strategie des Widerstands sein kann«.2 Das klingt ein wenig nach Mogelpackung, denn Marx sah die Alternative zum Kapitalismus zweifelsohne in einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft. Diese Zielsetzung begriffs-strategisch auszublenden, halte ich für einen Fehler. Denn jede Suche nach einer besseren Gesellschaft muss in Erinnerung behalten, was im »Zeitalter der Extreme«3 im Namen revolutionärer Absichten geschehen ist. Deshalb ergibt es Sinn, die höchst widersprüchliche Geschichte des Sozialismus nicht zu verdrängen, sondern sie zu reflektieren, wenn es um die Bezeichnung für postkapitalistische Gesellschaften geht. Das kann nur gelingen, indem der Sozialismusbegriff, statt ihn voreilig ad acta zu legen, mit neuem Inhalt gefüllt wird.

Neo-Soul und Neosozialismus

So vorzugehen, besitzt noch einen weiteren Vorteil. Zum wiederholten Mal für eine andere Moderne zu plädieren oder es beim vagen Begriff einer demokratischen Postwachstumsgesellschaft zu belassen, bedeutet im Grunde, sich hinsichtlich der Konturen einer nächsten Gesellschaft bedeckt zu halten. Sofern man möglichst wenig Reibungsverluste erzeugen möchte, ist das sicher eine gute Taktik. Die Abgrenzung zu autoritären, produktivistischen Praktiken früherer Staatssozialismen kann so durchaus gelingen.4 Doch sobald die Degrowth-/Postwachstumsperspektive in einem progressiven Sinne konkretisiert wird, landet man in gewisser Weise wieder beim Mason-Problem. Das, was über die Strömungsdifferenzen hinweg als »gemeinsamer Kern«5 der Veränderungen hin zu Postwachstumsgesellschaften präsentiert wird, ist problemlos in eine neosozialistische Agenda zu integrieren. Eine Schwierigkeit bei den Kernforderungen der Degrowth-/Postwachstumsbewegungen wurzelt indes darin, dass unklar bleibt, wie das, was in der postkapitalistischen Gesellschaft verteilt werden soll – etwa die Arbeitszeit mittels Arbeitszeitverkürzung für alle und bei Einkommensverlusten nur für die oberen 10 Prozent –, durch eine effiziente Produktion materiell abgesichert werden soll. Anders gesagt, die Kernforderungen der Degrowth-Bewegungen sind gut, wenn es um das Verteilen geht, doch sie blenden das Produktionsproblem aus. Belässt man es dabei, Postwachstumsgesellschaften mithilfe eines nicht näher spezifizierten bedingungslosen Grundeinkommens bestimmen zu wollen, dem, ebenso unverbindlich, ein wenig Umverteilung und ein bisschen Wirtschaftsdemokratie hinzufügt wird6, kann man diese Schwierigkeit vielleicht verdecken. Sobald die gesellschaftliche Transformation nach Konkretion verlangt, dürfte sich beim Publikum aber rasch Desillusionierung einstellen. Ohne genauere inhaltliche Festlegungen bleibt die Postwachstumsperspektive derart diffus, dass sie für nahezu alles und jedes benutzt werden kann. Eine Abkehr von Wachstumszwängen fordern Linke wie Rechte, Konservative ebenso wie Progressive, ja, selbst Faschisten und Antifaschisten.7 Deshalb ist es wichtig, in der Auseinandersetzung mit dem Expansionszwang und Wachstumsdrang kapitalistischer Gesellschaften genauer zu argumentieren.

Größere Präzision ist insbesondere deshalb angebracht, weil, wie sich zeigen wird, kapitalistische Postwachstumsgesellschaften in gewisser Weise bereits existieren. In den alten industriellen Zentren haben wir es überwiegend mit nur noch schwach wachsenden Ökonomien zu tun. Diesem Phänomen mit Formeln wie der von Wachstumsgesellschaten ohne Wachstum beikommen zu wollen, ist wenig hilfreich. Wer die Abkehr von systemischen Wachstumszwängen einfordert, muss die Wachstumstreiber, aber auch die Mittel und Wege zu ihrer Überwindung so genau wie möglich beschreiben und die Vorschläge zu ihrer Überwindung im Spektrum konkurrierender politischer Philosophien verorten. Die von vielen Wissenschaftler:innen gern behauptete Abkehr von gängigen Links-rechts-Schemata trägt hier wenig zur Klarheit bei.8

›Postwachstumsgesellschaft‹ eignet sich als Bezeichnung für alle zeitgenössischen sozialen Ordnungen, die ohne rasches und permanentes Wirtschaftswachstum auskommen müssen. Mein Vorschlag lautet, den Begriff analytisch und ohne normative Aufladung zu verwenden.9 Geht es jedoch um Weichenstellungen zugunsten einer besseren, weil ökologisch angepassten, egalitär-demokratischen und deshalb nachhaltigen Gesellschaft, spreche ich lieber von und schreibe über ›Sozialismus‹. Für erste Überlegungen hatte ich die Bezeichnung Neosozialismus gewählt. Neosozialismus, so schien mir, funktioniert wie Neo-Soul. Die Grundelemente bleiben gleich, sie wiederholen sich, werden aber anders interpretiert, rekombiniert, variiert, auseinanderdividiert und wieder zusammengesetzt, bis etwas völlig Neues entsteht. Wer würde bestreiten wollen, dass Sault, die Band des Jahres 2020, aufregende Musik macht. Mit Alben wie Rise und Black is hat das Musikkollektiv unbekannter Zusammensetzung den Soundtrack zu den Black-Lives-Matter-Protesten geliefert. Im Internet ist zu lesen, die Gruppe kombiniere Rhythm and Blues, House und Disco auf höchst originelle Weise und forme daraus etwas Innovatives, Aufregendes, Neuartiges. Für mich ist das Neo-Soul – großartige Klänge, noch dazu verbunden mit einer klaren politischen Botschaft.

Die Neoliberalen haben vorgemacht, dass es politischen Philosophien ähnlich ergehen kann wie dem Neo-Soul. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs völlig am Boden, hatte sich der Wirtschaftsliberalismus in neuem Gewand zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einigen Teilen der Welt de facto als eine Art Staatsreligion etabliert. Weder die Parteien mitte-rechts noch diejenigen mitte-links stellten die grundlegenden Koordinaten eines ansonsten variantenreichen Paradigmas – Primat der Marktkoordination, angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, Freihandel, Privatisierung, Steuersenkungen, Haushaltsdisziplin und Flexibilisierung der Arbeitswelt – grundsätzlich infrage. Der Aufstieg des neuen Marktradikalismus hatte in kleinen Zirkeln begonnen, die sich untereinander durchaus bekämpften. Mit dem Ordoliberalismus, der Wiener Schule eines Friedrich von Hayek oder den sogenannten Chicago-Boys um Milton Friedman sind Netzwerke entstanden, die in der Ökonomik Paradigmen setzten und die Politikberatung dominierten.

Warum sollte dem Sozialismus nicht Vergleichbares gelingen? Ausgerechnet in einem Land, dessen bürgerliche Öffentlichkeit Sozialismus in all seinen Schattierung lange Zeit mit dem Vorhof zur Hölle assoziierte, haben die Democratic Socialists um Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez vorgemacht, wie sich mit dem S-Wort erfolgreich Politik gestalten lässt. Offenbar ist die Praxis diesbezüglich weiter als die Theorie. Gleichwohl, ›Neosozialismus‹ klingt sperrig, für das politische Handgemenge ist der Begriff untauglich.10 Erik Olin Wright nennt ein weiteres Argument, das gegen eine Verbindung von Neo und Sozialismus spricht und eine andere Wortkombination an deren Stelle setzt. In den USA ist es die äußerst populäre Beifügung democratic, die dem S-Wort gerade bei jungen Leuten den Schrecken nimmt.11 In Kontinentaleuropa und Deutschland liegen die Dinge anders. Hier ist die distinktive Kraft eines demokratischen Sozialismus gering. Die Bezeichnung klingt zu sehr nach ausgelaugter Sozialdemokratie, als dass sie zum Attraktionspunkt innovativer Debatten werden könnte. Bob Jessop schlägt deshalb den Begriff ›demokratischer Ökosozialismus‹ als Alternative vor.12 Doch dessen Verwendung beinhaltet ein ähnliches Problem, wie es dem demokratischen Sozialismus innewohnt. In Deutschland erinnert Ökosozialismus an politische Positionen, die von den siegreichen Mehrheitsströmungen in der grünen Partei als Fundamentalismus bekämpft und erfolgreich marginalisiert wurden.

Schon zu Zeiten der Auseinandersetzung zwischen grünen »Fundis« und »Realos« war die ökosozialistische Strömung allerdings plural, und ihr Scheitern bedeutet nicht zwangsläufig, dass tragende Ideen überholt wären. Deshalb werde ich die Beifügung ›ökologisch‹ gelegentlich verwenden, um zu präzisieren, was mit einem neuen Sozia lismus gemeint sein kann. ›Nachhaltiger Sozialismus‹ ist nach meiner Auffassung aber besser geeignet, um zu konkretisieren, worum es in Zukunft geht. Nachhaltigkeit beinhaltet Antworten auf den ökologischen Gesellschaftskonflikt, sie schließt aber auch soziale Zielsetzungen ein und ist von ihrer Begriffsgeschichte13 her betrachtet sowohl global ausgerichtet als auch universalistisch angelegt. Nachhaltiger Sozialismus existiert, wie etwa auf der Leipziger Studierendenvollversammlung, in der Gegenwart nur in den Vorstellungen und Praktiken von Aktiven in sozialen Bewegungen. Eine demokratische und zugleich nachhaltige sozialistische Gesellschaft ist hingegen nirgendwo verwirklicht.

Vom Sozialismus als Bewegung oder gesellschaftlicher Ordnung muss Sozialismus als Gegenstand wissenschaftlicher Beobachtung unterschieden werden. Für die letztgenannte Bedeutung wird eine Heuristik benötigt, die es erlaubt, einen Gegenstand in ständiger Veränderung mit wissenschaftlichen Methoden zu erfassen und für Forschungszwecke zu operationalisieren.

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