Читать книгу: «Aus Liebe zu Mutter Erde», страница 5

Шрифт:

Die Angst vor dem
Unbekannten bewältigen:
die Lektion in der Nacht

Während meiner ganzen Kindheit habe ich immer wieder ähnliche Lektionen wie die Lektion mit den zwei Bäumen erhalten, wo eine vertraute Stimme zu mir sprach. Ich lerne auch heute noch, doch inzwischen kommen die Lektionen in Form von Visionen und Bildern zu mir: Ich sehe sie auf einer Art Bildschirm, der sich vor mir öffnet, und nicht mehr durch die Stimme. In der Vergangenheit kamen die gesprochenen Lehren oft, wenn ich ihrer dringend bedurfte. Eine, die mich sehr viel über Angst gelehrt hat, ist mir besonders unvergesslich geblieben.

Es war Ende Juli, und das Gras unten am Fluss reichte mir bis zur Taille. Ich war wieder einmal so schnell ich konnte zu meinem besonderen Platz gelaufen. Dort leerte ich meinen kleinen Rucksack und breitete vor mir aus, was ich immer dabei hatte: mein Taschenmesser, meine Kapuzenjacke, mein Feuerzeug. Die Dämmerung setzte ein, und ich sammelte Holz für mein nächtliches Feuer. Als ich genug beisammen hatte, baute ich aus den Lavasteinen, die es in jener Gegend gab, eine Feuergrube. Es wurde schnell dunkel, aber das kümmerte mich nicht. Ich saß immer gerne im Dunkeln am Feuer, ich empfand es als schützend, als wäre die Welt in der Dunkelheit nicht so groß (den meisten Leuten geht es genau anders herum).

An jenem Abend war ich sehr in Gedanken und mit den Ereignissen des vergangenen Tages beschäftigt, und so bemerkte ich erst spät, dass sich ein ziemlicher Sturm entwickelt hatte. Ich rückte noch dichter an den Baumstamm, an dem ich lag, und kuschelte mich tiefer in mein Bett aus weichem Chico Bush. Ich ordnete das Feuer für die Nacht und hatte gerade die Augen zugemacht, als ich ein Geräusch hörte, das mir die Haare zu Berge stehen ließ. Es klang wie der Entsetzensschrei einer Frau. Ich hatte noch nie etwas Derartiges gehört und konnte es nicht einordnen. Mich im Freien zu fürchten war neu für mich. Normalerweise fühlte ich mich in der Natur weit sicherer als unter Menschen. Ich setzte mich auf, presste mich an den Baumstamm und versuchte, in die Dunkelheit jenseits des Scheins meines Feuers hineinzuspähen. Ob der Schrei noch einmal ertönen würde? Doch ich hörte nur das Rauschen der Bäume. Ich verhielt mich ganz still und versuchte, das Geräusch zuzuordnen. Ich hatte kein Gefühl dafür, was es sein könnte, und je mehr mir klar wurde, dass ich nicht wusste, womit ich es zu tun hatte, desto mehr fürchtete ich mich. Ich legte mehr Holz aufs Feuer, um mehr Licht zu haben, und dann hörte ich es wieder. Diesmal war der Schrei so laut und schrecklich, dass mir das Blut in den Adern gefror. Mein Verstand malte sich die schrecklichsten Dinge aus, die hier im Tal gerade passieren könnten. Ich wusste nicht, was tun. Sollte ich hingehen und versuchen zu helfen? Würde ich dann auch ermordet?

Mit zitternden Händen tastete ich herum und suchte nach etwas, mit dem ich mich verteidigen konnte. Schließlich fand ich einen halb vergrabenen Zaunpfosten. Mit dem Pfosten als Waffe kroch ich zurück zu meinem Baum und starrte in die Nacht. Immer wieder ertönten die Schreie. Ich konnte mich nicht erinnern, mich in der Dunkelheit schon jemals so gefürchtet und so hilflos gefühlt zu haben. Ich war bereit, auf alles einzuschlagen, was in meine Nähe kam. Mein Herz schlug heftig in meiner Brust, und heiße Tränen liefen mir über mein dreckiges Gesicht.

Da wallte plötzlich jenes bekannte Gefühl der Schwere und Wärme in meinem Körper auf, und ich hörte die vertraute Stimme von Spirit. Sie war wie immer friedvoll, angenehm und beruhigend. Klar und sanft fragte sie: »Kind, warum fürchtest du dich?« Ich senkte meinen Stock ein wenig und sagte: »Dieses Geräusch – ich fürchte mich vor diesem Geräusch!« Es folgte eine Stille, und in meiner Panik schrie ich: »Komm zurück!« Die sanfte Stimme kam wieder und versicherte mir, bei mir zu sein. Sie fragte mich noch einmal: »Kind, sag mir, wovor fürchtest du dich?« Ich versuchte, meinen Atem zu beruhigen und zog die Knie unters Kinn. Ich wusste, ich musste über die Antwort nachdenken. Schließlich sagte ich immer noch bebend: »Ich fürchte mich, weil ich nicht weiß, was da vor sich geht, was dieses Geräusch ist.«

Die Stimme erklärte mir daraufhin, es seien die Schreie von zwei Berglöwen, die sich auf der anderen Seite der großen Wiese paarten. Sofort entspannte sich mein ganzer Körper, und die Angst verpuffte – einfach so. Die Stimme sprach weiter und ich lernte viel. Ich begriff, dass wir uns nur vor dem fürchten, was wir nicht kennen; wir schlagen nur auf das ein, was wir nicht verstehen. Sobald ich genau wusste, was für ein Geräusch das war und woher es kam, fragte die Stimme wieder: »Kind, fürchtest du dich?« Natürlich grinste ich jetzt und schüttelte den Kopf. Jetzt wusste ich, es steckten Tiere dahinter, die etwas ganz Natürliches taten, und so brauchte ich mich nicht mehr zu fürchten.

Die Stimme sprach noch etwa eine Stunde lang weiter, und ihre Worte prägten sich mir stark ein, weil ich so erregt gewesen war. Sie redete davon, wie die Angst vor dem Unbekannten die Menschen seit Urzeiten dazu bringt, alles Mögliche zu verurteilen, einander zu verfolgen und sich zu bekriegen. Sie sagte nachdrücklich, wie wichtig es für die Menschen sei, zu verstehen, dass sie auf das Unbekannte oft im ersten Augenblick mit Gewalt und Aggression reagieren. Sie zeigte mir, wie auch ich in jener Nacht so voller Angst und so bereit gewesen war, zuzuschlagen, dass ich nicht mehr vernünftig denken konnte – und wie ich sofort aufgehört hatte, mich zu fürchten, nachdem ich wusste, woher das Geräusch stammte.

Wenn ich heute als Erwachsene an diese Lektion zurückdenke, scheint mir, Spirit wollte mir ein tiefes Verständnis dafür vermitteln, dass wir uns oft nur fürchten, weil wir etwas Wichtiges nicht verstehen: Wir sind alle Kinder einer einzigen Mutter, wir sind eher gleich als verschieden, eher vertraut als unbekannt. Meine furchterregende Erfahrung wurde glücklicherweise von der geistigen Welt unterbrochen, und ich erwachte daraus wie aus einem Albtraum, als wäre ein riesiger Schatten auf der Wand durch das Anschalten des Lichts entlarvt worden.

Vielleicht gilt für alle unsere Ängste und Schrecken das Gleiche: Sie sind nicht so real, wie wir meinen, und das erkennen wir, wenn wir uns für das Licht von Spirit öffnen und uns Zeit nehmen, das Unbekannte und Fremde mit dem Herzen zu verstehen.

Die Wildnis der Verzweiflung
und ein Grund zu leben

In jedem Leben gibt es bedeutende Ereignisse, die uns nachhaltig prägen. Auch familiäre Ereignisse können das Leben aller Beteiligten verschlechtern oder verbessern. Ich erzähle die folgende Geschichte nicht, um Eindruck zu machen oder zu erschrecken, sondern in der Hoffnung, anderen jungen Menschen zu helfen, denn sie zeigt, wie wir auch durch in jungen Jahren erlebte schwierige Situationen stärker und offener werden für die späteren Segnungen von Spirit. In meiner Familiengeschichte prägte uns alle ein einschneidendes Ereignis: Mein Vater verlor seine Schafranch. Ich war damals fünf Jahre alt.

Meine ganze Kindheit über waren wir sehr arm. Die meisten Menschen können sich nicht vorstellen, wie eine siebenköpfige Familie in den USA von neunhundert Dollar im Monat überleben kann, aber wir taten es viele Jahre lang. Mein Vater war Farmer und Ranch-Arbeiter, er hatte nichts anderes gelernt. Mein Urgroßvater war einst im Planwagen über die Prärie gekommen und hatte die kleine mormonische Gemeinde im ländlichen Colorado mit begründet. Seit sich jene ersten, zähen Pioniere hier niederließen, hatten die Menschen vom Land gelebt. Es gab kaum andere Jobs als auf den Farmen und Ranches, und so tat mein Vater, was er konnte, um ein Auskommen zu haben.

Als ich etwa drei Jahre alt war, hatte er genug zusammengekratzt, um eine bescheidene kleine Farm am Rande einer Siedlung namens Blanca zu kaufen, die am Fuß des Mount Blanca liegt, einem der höchsten Berge von Colorado. Mit seinen letzten Dollars kaufte er die Lämmer, die er brauchte, um einen Anfang zu machen. Er wollte hier auf diesem schönen Stück Land eine Ranch aufbauen und seine Kinder großziehen. Doch dann geschah das Unvorstellbare.

Eines Nachts stahl sich jemand auf unser Land, lud mitten in der Dunkelheit alle Schafe und Lämmer auf einen Anhänger und machte sich davon. Das war das Ende aller Pläne und Träume meines Vaters. Unsere Familie war am Ende. Es gab keinen Rückhalt, keine Ersparnisse, keine Versicherung. Wir mussten das Haus verlassen und waren obdachlos, einfach so. Ich erinnere mich, wie wir all unser Hab und Gut auf einen Pick-up-Truck luden. Wir fünf Kinder saßen hinten auf der Ladefläche und hielten alle irgendwelche Haushaltsgegenstände fest, während wir den Feldweg entlang von unserem Haus wegfuhren, ohne zu wissen, wo es hinging oder was wir jetzt tun würden.

Ich kann mir kaum vorstellen, wie sich meine Eltern gefühlt haben müssen, mit fünf Kindern, ohne zu wissen, wohin, ohne jedes Geld, ohne ein Zuhause. Vier meiner Geschwister haben eine angeborene Behinderung, eine genetische Erkrankung namens »Fragiles X-Syndrom«, die dem Down-Syndrom ähnelt, aber ohne die mongoloiden Gesichtszüge. Das machte die Situation noch schwieriger. Bei meinen beiden Brüdern ist es stärker ausgeprägt (wie meistens bei Männern) als bei meinen beiden Schwestern, bei denen es eher einer Lernbehinderung ähnelt. Inzwischen sind meine Brüder in ihren Zwanzigern, doch ihre Entwicklung entspricht der von Zehnjährigen. Sie sind unbedarfte Engel.

So führte meine Familie den größten Teil meiner Jugend einen echten Überlebenskampf. Monatelang ernährten wir uns von nichts als Kartoffeln. Ich erinnere mich, dass meine Mutter in besonders harten Zeiten eine Stange Sellerie herumreichte, von der jeder einmal abbeißen durfte. Wir waren oft hungrig. In unserer ländlichen, religiös geprägten Gemeinde verbargen es die Leute, wenn sie arm und bedürftig waren. Nicht genug zu haben, war schambesetzt, und man bat nicht um Hilfe. Auch staatliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen, war höchst peinlich, aber es ließ sich irgendwann nicht mehr vermeiden. Ich weiß noch, wie meine Mutter sich dafür schämte und lieber in den nächsten Ort fuhr, damit niemand sah, dass sie mit Essensmarken einkaufte. Aber es musste sein.

Diese Verzweiflung führte dazu, dass wir ins Haus der Eltern meines Vaters einzogen. Es war als vorübergehende Lösung gedacht. Mein Vater wollte selbst ein Haus zusammenzimmern, indem er nach und nach das Baumaterial kaufte, so wie er Geld übrig hatte. Leider dauerte das Jahre, die wir als Bedürftige im Haus meiner Großeltern zubrachten. Jene Jahre waren für keinen von uns gut. Meine schrecklichsten Erinnerungen sind aus jener Zeit, und meine Geschwister und ich mussten dort die furchtbarsten Dinge erdulden. Mein Großvater behandelte meine Mutter und uns Kinder, als wären wir Bettler von der Straße. Meine Mutter ging die ganze Zeit wie auf Eierschalen, um nichts verkehrt zu machen. Sie versuchte, sich so unsichtbar wie möglich zu machen und auch uns Kinder möglichst ruhig und aus dem Weg zu halten. Wir lebten zu siebt in einem Zimmer, schliefen in zwei großen Betten. Wir wussten, dass wir immer für irgendetwas beschuldigt wurden, und verhielten uns deshalb so still wie möglich, aber es war nie genug. Mein Großvater ließ uns immer seine Ablehnung spüren und behandelte uns wie Hunde.

Er war ein typischer Unterschichtmensch, der seine Tiere schlug, ständig schlecht über andere redete und sich beklagte, nur das Nötigste an Arbeit tat und das Geld schneller ausgab, als er es verdiente. Bildung galt ihm nichts, überhaupt interessierte er sich für nichts als seine eigene kleine Existenz. Er gehörte zu jenen Menschen, die ohne Würde leben. Sein ganzer Besitz war schäbig, abgenutzt und schlecht zusammengeflickt. Nichts strahlte Stolz aus. Sein Haus war krumm und schief, die Veranda bestand aus alten Schiebetüren, notdürftig von Nägeln, Klebeband und Draht zusammengehalten. Scheune und Schuppen wurden nie gereinigt, und der Mist stand mehrere Fuß hoch in den Ställen. Die Schuppen waren voller alter Fernsehgeräte, Radios und Waschmaschinen. Dazwischen lebten irgendwie die Tiere. Auch der Hof war voller Schrott und Gerümpel. Der einzige Kommentar meines Großvaters dazu war: »Für die, die hier leben, ist es gut genug.« Dieser Mangel an Würde und Anstand hatte nichts mit Armut zu tun. Er beruhte auf einer geistigen Verfassung, unter der wir alle leiden mussten.

Wir Kinder wurden für alles beschimpft, was wir im Haus aßen. Wir bekamen von ihnen nur Brot mit Mayonnaise, Ketchup oder Senf. Wenn wir durstig waren, bekamen wir Ziegenmilch. Bis heute dreht sich mir beim Geruch von Ziegenmilch oder Ziegenkäse der Magen um. Nachts lagen wir Kinder mit knurrendem Magen im Bett, während wir hörten, wie unsere Großeltern Popcorn, Chips und andere Leckereien aßen, die sie vor uns versteckten und die wir nie bekamen. Ich war krank vor Wut darüber, dass meine süßen, unbedarften Brüder nachts hungrig wach liegen und sich das anhören mussten. Ich erinnere mich daran, wie einer meiner Brüder einmal an den Kühlschrank schlich und dafür verprügelt und gedemütigt wurde. »Hass« ist ein starkes Wort, aber ich hasste es, wie sie uns behandelten.

Doch dann kam es noch schlimmer. Meine Schwester Kelsy wurde sehr krank und brauchte eine Herzoperation. Meine Eltern mussten mit ihr zum Kinderkrankenhaus nach Denver, zuerst für viele Untersuchungen, dann wegen mehrerer Operationen. Sie waren manchmal wochenlang weg, lebten dort in einem Haus der Ronald-McDonald-Kinderhilfe und versuchten, meiner armen Schwester das Leben zu retten. Es war hart für meine Geschwister und mich, bei den Verwandten zurückzubleiben, aber für meine Eltern muss es ebenfalls schrecklich gewesen sein, sich so um ihre todkranke Tochter zu sorgen und zu wissen, dass die anderen Kinder lieblosen Leuten ausgeliefert waren. Die Herzoperation lief nicht so gut wie erhofft, und meine Schwester musste drei Monate lang auf der Intensivstation bleiben. Meine Eltern hatten ihre liebe Not, sich selbst jeden Tag zu ernähren und all die Extrakosten zu bezahlen, während meine Schwester zwischen Leben und Tod hing. Schließlich schaffte sie es jedoch und konnte mit meinen Eltern nach Hause kommen. In der Zwischenzeit schien es uns, unsere Eltern wären ewig weg und wir wären auf uns selbst gestellt. Wir waren unseren Verwandten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Und manche von ihnen überschritten in dieser Zeit die Grenze zwischen häuslicher Grausamkeit und krimineller Gewalt.

Mein Vater war ein ehrbarer, hart arbeitender Mann, aber einige seiner Geschwister waren es nicht. Sie schienen den Sadismus und die Gemeinheit ihres Vaters geerbt zu haben. Während dieser Zeit begann mein Onkel, der in derselben Straße wohnte, mich zu misshandeln. Er band mich in der Scheune fest und peitschte mich aus. Es bereitete ihm ein perverses Vergnügen, mich leiden zu sehen. Bald darauf begann mein anderer Onkel, mich sexuell zu demütigen und zu missbrauchen. Dieser verhasste Onkel beobachtete mich ständig. Wenn ich zu meiner über alles geliebten Urgroßmutter ging, stand er da und beobachtete mich von der anderen Straßenseite. Wenn ich hinter unserem Haus in die Felder lief, sah er mir nach. Ich begann, mich wie eine gejagte Beute zu fühlen, immer in Angst und Schrecken davor, wann ich wieder verletzt werden würde. Ich begriff, dass ich den Erwachsenen um mich herum nicht vertrauen konnte.

Unter dem Eindruck der Grausamkeiten meines Großvaters und des Sadismus meiner Onkel wollte ich einfach nur verschwinden. Die einzige Erwachsene, bei der ich mich sicher fühlte, war meine Urgroßmutter, die ich »Grandma Jensen« nannte. Grandma Jensen war der einzige Mensch, der sich um mich kümmerte und mich mit etwas Fürsorge bedachte. Sie war eine altmodische, willensstarke, spirituelle, etwas strenge, aber sehr liebevolle Frau. Manchmal schlief ich unter ihrem Schlafzimmerfenster, nur um ihr nahe zu sein. Wir hatten eine besondere Verbindung, doch auch sie konnte mich nicht vor dem schützen, was vor sich ging. Ich erzählte ihr nie davon, um ihr nicht das Herz zu brechen. Es waren schließlich ihre eigenen Kinder und Enkel, die diese schrecklichen Dinge taten. Ich lernte, wegzulaufen und meine Sicherheit in der Natur zu finden, in der Wildnis, wo mich keiner finden konnte. Doch mein Lebenswille wurde allmählich davon untergraben, dass mich so viele Erwachsene in meinem Leben misshandelten.

Es schmerzt mich heute, wie verschreckt, gefühlstaub und einsam ich als Kind war. Ich sehe mich oft mit hohlen Augen, verschmiertem Gesicht und mattem, verfilztem Haar in dem alten Apfelbaum neben dem Haus meiner Großmutter oder hinter ihrem Hühnerstall sitzen und meine Wunden lecken. Ich hing meistens zwischen Schrecken und Starrheit. Glücklich war ich nur, wenn ich mit Tieren spielte oder die Natur erkundete. Ich dachte, ich würde es nie schaffen, erwachsen zu werden. Seit ich selbst Kinder habe und mir größte Mühe gebe, ihnen Sicherheit zu geben, sie zu lieben und gut zu versorgen, ist mir noch bewusster geworden, wie verzweifelt ich als Kind war. Es ist mir unbegreiflich, dass niemand etwas bemerkte oder einschritt, wo doch die Zeichen der Misshandlung und Vernachlässigung so deutlich waren.

Am schmerzlichsten ist die Erinnerung an jenen Tag, an dem ich beschloss, es sei jetzt genug. Ich war gerade wieder von meinem Onkel verhöhnt und gedemütigt worden. Ich hatte es geschafft, vor ihm wegzulaufen, und mich in einer alten Scheune bei den Ställen meines Großvaters versteckt. Dort hockte ich, völlig benommen, verletzt, beschämt, bloßgestellt und verschreckt. Die einzige Lösung, die ich noch sah, war, wegzugehen von dieser Familie, von diesem Ort, für immer. Ich passte hier einfach nicht her. Die Familie meines Vaters hasste mich ganz offen und quälte mich, ich fühlte mich nicht wahrgenommen und vernachlässigt. Ich konnte nicht einmal mehr weinen – ich war in einen Zustand tiefster Hoffnungslosigkeit, Gefühlstaubheit und Leere versunken. Kein Kind sollte so etwas je fühlen.

Überall lag fingerdicker Staub. An einer Wand hing ein altes Ziegenfell, an der anderen stand ein Fass mit Korn, neben der Türe hing Pferdezaumzeug, und auf einer schmuddeligen grünen Kiste mit alten Einmachgläsern lag ein altes Seil. Mein Blick blieb an dem Seil hängen. Ich wusste, was ich zu tun hatte. Das Seil war alt, aber noch fest, und während ich es in die Hand nahm und sorgfältig eine Schlaufe band, blieben kleine Hanfsplitter in meinen Händen stecken.

Ich sah keinen anderen Weg mehr. Ich konnte über diesen Zustand nicht hinausdenken. Ich würde einfach weg sein. Weg von dieser Familie, die mich anekelte, die mir wehtat und vor der ich mich fürchtete. Weg von den anderen Schülern, den Mädchen, zu denen ich nicht passte, und den Jungen, die mich komisch ansahen, obwohl ich mich wie ihresgleichen fühlte und benahm. Einfach weg! Ich nahm das Seil und kletterte an der Scheunenwand hoch zu dem Balken. Langsam band ich das Seil um das Holz und zog das andere Ende über meinen Kopf. Die Schlaufe lag auf meinen Schlüsselbeinen. Dieses Leben würde gleich vorbei sein, und alles würde wieder grün sein, wie die Erde nach einem frischen Frühjahrsregen.

Meine nackten Füße glitten zum Rand des Balkens, auf dem sich seit Jahren der Staub gesammelt hatte. Meine Zehen krümmten sich um den Rand. Ich schloss die Augen, lehnte mich nach vorne, um das Gleichgewicht zu verlieren, und in jenem Sekundenbruchteil zwischen diesem Leben und meinem Entrinnen hörte ich etwas, das mir das Herz zusammenzog und mich vor Schreck erstarren ließ: Eine helle, vertraute Stimme rief meinen Namen. Es war mein kleiner Bruder Kent! Ich fing meinen Sturz mit den Händen an einem Balken der gegenüberliegenden Wand ab, krallte mich an das grobe Holz, so gut es ging, kämpfte dagegen an, nicht weiter zu fallen. Meine Hände bluteten, riesige Splitter stachen sich in meine Finger, während ich meine Füße weiter gegen den Balken presste, um mich in dieser fast horizontalen Position zu halten. Ich hörte seine Stimme wieder. Durch die Spalten zwischen den Brettern sah ich ihn näher kommen. Ich fing an zu weinen und betete gleichzeitig, flehte Gott an, dafür zu sorgen, dass er die Scheunentür nicht aufkriegen würde. Ich wollte nicht, dass er dies sah! Seine helle Stimme kam näher. »Kieshaaa!«

Meine Muskeln begannen vor Erschöpfung zu zittern, und meine Hände brannten und bluteten, doch ich war völlig auf den kleinen Schatten konzentriert, der vor der Scheune entlangging. Wenn ich fiel, würde er den Lärm hören und seine Schwester an einem Seil baumeln sehen, und wenn er jetzt die Tür öffnete, wäre der Anblick fast genauso schlimm. Ich sah, wie sich sein kleiner Schatten allmählich entfernte. Ich nahm eine Hand von der Wand und streifte mir das Seil vom Hals. Dasselbe Seil, das mich von hier wegbringen sollte, rettete mir jetzt das Leben. Ich zog mich mit seiner Hilfe langsam wieder auf den Balken, und dort saß ich dann erst einmal. Ich konnte an nichts anderes denken als daran, wie selbstsüchtig ich gewesen war und wie sich Gott meiner schämen musste. Mir wurde ganz übel bei dem Gedanken, mein Bruder Kent müsste ohne mich sein oder könnte mich gar so finden. Mein Magen krampfte sich zusammen, und ich musste mich vornüber neigen und mich vor Schrecken immer wieder übergeben.

Schließlich kletterte ich nach unten, wischte mir an meinem Hemd den Mund ab, stopfte meine blutenden Hände in die Taschen und presste sie gegen den Stoff, um das Bluten zu stoppen, während ich zu meinem Bruder lief, der inzwischen weinte, weil er mich nicht fand. Ich rief seinen Namen, rannte zu ihm und fiel vor ihm auf die Knie. Ich hielt ihn ganz fest umarmt und schluchzte, während er mir immer und immer wieder sagte: »Ich konnte dich nicht finden, ich konnte dich nicht finden …«

Dieser schreckliche Tag hat sich mir fest ins Gedächtnis gebrannt und erinnert mich immer daran, wie kostbar das Leben ist. Ich spürte, es gab nur einen einzigen Grund dafür, hier auf der Erde zu bleiben, in dieser Familie: Ich musste meinen Geschwistern eine liebevolle Beschützerin sein. In jener Nacht lag ich im Bett, meinen kostbaren Kent eng an mich gekuschelt, und spürte seinen Atem an meinem Hals, während ich ihn festhielt. Es gibt Tage, da kann man in die Sonne schauen, ohne geblendet zu werden – genau so sah ich ihn. Ich war benommen, wie verzaubert, und war ihm mit meinem ganzen Wesen dankbar. Ich schwor mir, mein Leben für ihn, für meinen anderen Bruder und meine Schwestern zu leben. Mir war absolut klar, dass ich um ihretwillen geboren war. Dieser kleine Junge brauchte mich, und ich brauchte ihn. Dieser Tag prägte mir eine ungeheure Lektion ein, eine Lektion von umfassenderer Liebe, Selbstlosigkeit und der Kostbarkeit menschlicher Wärme. Es war nicht mehr wichtig, was noch auf mich zukommen würde, welchen Stürmen ich ausgesetzt sein würde oder welch schreckliche Misshandlungen ich durchleiden müsste: Ich würde stark und tapfer sein und ein mitfühlender, liebevoller Mensch werden. Ich glaubte, dass mir vielleicht so schreckliche Dinge widerfuhren, um meine Geschwister vor ihnen zu bewahren. Das gab mir die Kraft, mich der Situation zu stellen, es gab meinem Leben einen Sinn. Ich konnte mich selbst nicht schützen, aber ich würde bis zu meinem letzten Atemzug kämpfen, um meine Geschwister vor allem Schaden zu bewahren. Es wurde zu meinem Lebensziel, dafür zu sorgen, dass sie nie unter meinen Onkeln zu leiden hätten, dass sie nie ihre Wut zu spüren bekamen, dass ihre Unschuld nie beschädigt würde. Als das Kind, das ich war, glaubte ich wirklich, sie vor Leiden beschützen zu können.

Das klingt vielleicht, als ob sich meine Welt in jenem Augenblick veränderte. Sie tat es nicht, aber mein Denken über die Welt veränderte sich. Ich fing an, eine umfassendere Schönheit im Leben zu sehen, das Leben als Geschenk zu betrachten, trotz der weiterhin stattfindenden Schläge und Misshandlungen. Ich lief immer noch weg, in die Felder oder zu den Ställen. Ich verlor mich immer noch auf meiner Suche nach Tieren, die ich dann stundenlang beobachtete, auf die Geschichten lauschend, die sie zu erzählen hatten. Ich kletterte auf Bäume und blieb stundenlang dort, Tag und Nacht, wiegte mich in den Zweigen und hörte dem Wind zu, wie er in den Blättern rauschte. Die Natur wurde zu meiner besten Lehrerin, sie gab mir immer Antwort. Wenn ich lange genug stillhielt und wirklich hinschaute, sah ich die Welt als lebendig, atmend, in ständigem Tanz.

Ich habe aus dieser schmerzhaften, beinahe tragischen Erfahrung unter anderem Folgendes gelernt: Wenn das Leben unerträglich erscheint, kann es lebensrettend sein, zu erkennen, wie wichtig wir für andere sind. Die Liebe, die wir empfangen und geben, kann Leben retten, und selbst wenn Hass und Missbrauch uns schweres Leid zufügen, gibt es einen Teil in uns, der nicht besiegt werden kann – jenen Teil, der die Schönheit des Lebens sehen will, der diese Schönheit empfangen kann, der leben will! Dieser Aspekt ist zu einer großen und gebenden Liebe fähig, selbst wenn wir persönlich nie geliebt worden sind. An jenem Tag beschloss ich, für die Liebe zu leben, das Leben nicht dahinfahren zu lassen. Liebe hielt mich hier, und Liebe hält mich noch heute hier, trotz der vielen großen Herausforderungen, die mir seitdem widerfahren sind.

Бесплатный фрагмент закончился.

1 339,67 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
301 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783867287272
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают