Читать книгу: «Aus Liebe zu Mutter Erde», страница 4

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Es dauert nicht lange, sich so mit Mutter Natur zu verbinden, es erfordert nur die Bereitschaft, sich zu öffnen und zuzuhören. Wir sind in einer modernen Gesellschaft aufgewachsen und haben gelernt, sehr rational und logisch zu denken; deshalb zweifeln wir unser Fühlen und unser intuitives oder durch innere Bilder gewonnenes Wissen leicht an. Doch was wir fühlen und imaginieren, ist mindestens so real wie das, was wir denken – eigentlich sogar noch viel realer. Die Wesen der Natur verbinden sich von Herz zu Herz, nicht über das Denken. Um uns mit Einbeinern, Vierbeinern und »Keinbeinern«, mit all unseren Brüdern und Schwestern auf dieser lebendigen Erde zu verbinden, müssen wir unsere Herzen öffnen und dürfen uns nicht davor fürchten, mit ihnen zu fühlen. Wir dürfen keine Angst davor haben, offenherzig zu sein, vielleicht von Freunden oder Verwandten für albern oder verrückt gehalten zu werden, weil wir mit Bäumen, Tieren und Pflanzen reden. Wir müssen lernen, wieder zuzuhören und in eine enge Beziehung zu all den Kindern unserer Mutter Erde zu treten, zu all unseren Brüdern und Schwestern, die mit uns sprechen und uns helfen wollen.

Dem Unsichtbaren trauen:
die Lektion des Brunnens

Seit meiner Kindheit bin ich dem Tod viele Male begegnet. Mein physischer Körper war häufig krank; ich hatte Nieren- und Herzprobleme und verletzte mich oft. Ich war ziemlich abenteuerlustig (mancher würde vielleicht sagen: tollkühn) und begab mich gerne an dunkle, schmuddelige Orte (wo die eigentlichen Reichtümer des Lebens verborgen sind), um dort irgendwelches »Viehzeug« zu finden. So bewegte ich mich immer auf einem schmalen Grat. Ob ich wollte oder nicht, ich geriet immer wieder in extreme Situationen und war oft nahe dran, dieses Leben zu verlassen. Und so manches Mal schaltete sich in solchen Grenzsituationen zwischen Leben und Tod Spirit in Form einer machtvollen Vision oder einer Stimme ein, die zu mir sprach und mich führte. Bei einer dieser Gelegenheiten rettete eine Stimme mein Leben und lehrte mich eine kostbare Lektion darüber, der inneren Führung zu vertrauen, welche Form sie auch hat und wie unverständlich sie in der Situation auch sein mag.

Ich war etwa fünf Jahre alt. Es war ein gewöhnlicher Sonntag; meine Familie war in der Kirche gewesen und danach wie jeden Sonntag zu meinen Großeltern väterlicherseits zum Essen gegangen. Diese Großeltern waren nie sehr nett zu mir. Aus einem mir unbegreiflichen Grund behandelten sie mich wie das schwarze Schaf der Familie. Alle wussten darum und akzeptierten diese Situation, also schlich ich mich nach dem Essen hinaus auf den Hof, während die anderen zusammensaßen und redeten oder Fußball guckten. Auf dem Hof gab es außer ein paar alten, aus Abfallholz und Brettern lieblos zusammengenagelten Schuppen nicht viel zu sehen. Es machte mich traurig, wie schlecht die Tiere gehalten wurden. Mein Großvater schien vor nichts Respekt zu haben, schon gar nicht vor seinen Tieren. Und er behandelte meine Geschwister und mich ähnlich wie seine Tiere, als wir unser Haus verloren hatten und eine Weile bei ihm und meiner Großmutter wohnen mussten. Am schlimmsten war es, wenn meine Eltern fort waren. Also war ich immer froh, sein Haus verlassen zu können. Es machte mir auch Spaß, die vielen Schuppen und den Ziegenstall zu erforschen oder nach den Kaninchen Ausschau zu halten, die darunter ihre Baue hatten. Manchmal ging ich dabei auch an Orte, wo ich, wie ich wusste, nicht hingehen sollte. An jenem Sonntag zog es mich zu dem alten Brunnen, der aus nichts weiter bestand als einem Dreckhaufen an der Westseite des Hauses und der genauso lieblos angelegt worden war wie alles andere auch.

Ich wusste, ich durfte nicht dorthin; das hatte man uns oft genug gesagt. Der Brunnen war tief und dunkel, und man konnte leicht hineinfallen. Ich kroch über den Lehmhügel langsam heran, um hineinzuspähen. Meine Neugier war groß, also kroch ich schließlich auf dem Bauch so weit vor, dass mein Kopf über dem dunklen Loch hing. Die Luft roch feucht und modrig, wie dunkle Erde und Moos. Ich versuchte, bis zum Grund zu sehen, und ließ ein paar Kiesel hineinfallen, um zu hören, ob es darin Wasser gab, aber ich hörte immer nur ein dumpfes Aufschlagen. Da offenbar kein Wasser drin war, nahm meine Neugier noch zu. Sicher waren da unten Kriechtiere, vielleicht Schnecken, Salamander oder Wasserschlangen. Ich dachte nur noch daran, dass da unten sicher etwas war, was ich noch nicht gesehen hatte. Der Grund war, so schätzte ich, so etwa drei Meter entfernt. Die Versuchung war gar zu groß; ich beschloss, hineinzusteigen. Ich brauchte eine Leiter. Wie mir einfiel, stand eine hinter dem Heuhaufen; die holte ich. Langsam ließ ich sie in das Loch hinab. Zu meiner Überraschung war die Leiter nicht lang genug. Ich ließ sie hineinfallen und dachte mir, ich würde sie dann schon mit den Beinen erreichen. Langsam ließ ich mich mit den Beinen voraus in das dunkle Loch hinab. Ich rutschte auf dem Bauch immer weiter zurück und suchte mit den Füßen nach der obersten Leitersprosse. Jetzt hing ich bis zu den Achseln im Brunnen und konnte immer noch keinen Tritt finden. Meine Arme begannen zu zittern und zu brennen, während ich versuchte, mich an dem glitschigen Rand festzuhalten. Ich wollte mich wieder hochziehen, aber ich war schon zu weit unten und hatte nicht die Kraft dazu; meine Füße fanden die Leiter noch immer nicht. Ich bekam Angst, denn ich merkte, ich konnte mich nicht mehr herausziehen. Wie tief würde ich fallen, wenn ich losließe, und was würde ich unten vorfinden? Und wie würde ich wieder herauskommen?

Ganz langsam, wie in Zeitlupe, gab der Boden unter meinen Armen nach und ich sah den Himmel verschwinden. Ich grub meine Finger mit aller Kraft in den Dreck, doch ich konnte mich nicht mehr halten. Ich fiel, aber nicht direkt nach unten. Irgendwo stieß ich mit den Knien an die Leiter und brach die ersten paar Sprossen. Dann traf ich auf feuchte, kalte Erde auf. Der Aufprall war so hart, dass ich mich fast übergeben musste. Meine Jeans war am Knie gerissen und ich merkte, dass ich darunter ziemlich übel verletzt war. Aber am schlimmsten war die Dunkelheit. Ich konnte absolut nichts sehen, es gab keine Spur von Licht. Ich wusste nicht, wie tief ich gefallen war, es fühlte sich an wie etwa vier Meter. Nach oben hin war nichts zu sehen. Ich langte an mein Knie und fühlte warmes Blut durch meine Hose sickern. Ich wusste nicht, wie schlimm die Wunde war, aber ein aufgeschlagenes Knie war nicht meine Hauptsorge – viel mehr beunruhigte mich, wie ich hier wieder herauskommen würde.

Die Brunnenwände waren nicht gemauert, sondern bestanden nur aus blanker Erde. Der Brunnen war etwa zwei Meter breit. Ich fühlte um mich, ließ meine Hände die Wände entlangwandern und versuchte, mich an den dünnen Wurzeln festzuhalten, die aus der Erde ragten. Doch jedes Mal, wenn ich versuchte, nach oben zu klettern, rutschte ich wieder zurück. Die feuchte Kälte drang mir schnell in meine dünnen Knochen. Ich zog meine Arme in mein kurzärmeliges Hemd und hockte mich mit dem Rücken an die Wand. Ich versuchte, mich zu beruhigen und klar zu denken. Ich rief, aber das Geräusch wurde von der Erde verschluckt. Ich merkte, wie weit weg ich von allem da oben war. Ich wusste, niemand würde nach mir suchen, denn ich lief oft tagelang weg. Niemand würde mich vermissen, und wenn man mich fände, würde ich sicher üble Schwierigkeiten kriegen, weil ich zum Brunnen gegangen war.

Noch einmal versuchte ich erfolglos, die Erdwände emporzuklettern, bis meine Arme völlig erschöpft waren. Ich hockte mich hin und fing an zu weinen. Ich weiß noch, wie ich mir mit meinem Hemdchen die heißen Tränen vom Gesicht wischte und das Kratzen des Drecks auf meinem Gesicht spürte. Ich schien mehr Dreck auf dem Gesicht und auf meinem Hemd zu haben als um mich herum. Ich war fast am Ende. Ich fror, alles tat weh, und ich bekam wirklich Angst, dass ich hier nicht mehr herauskäme. Ich steckte in einem dunklen, tiefen Loch und hatte nichts als eine zerbrochene, halb verrottete Leiter. Ich hatte alles probiert, und nichts hatte geholfen. Es musste langsam spät sein, bestimmt war die Sonne schon untergegangen. Meine Finger und Zehen wurden taub. So kniete ich mich schließlich hin, beugte meinen Kopf und presste die Hände zum Gebet zusammen.

Heute lächle ich ein wenig darüber, wie oft ich in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte und betete: »Lieber himmlischer Vater …, hm …, ich bin‘s schon wieder, Kiesha …« Und dann erzählte ich, in welches Schlamassel ich wieder einmal geraten war. Ich muss damals toll ausgesehen haben, von oben bis unten voller Dreck, mit tränenverschmiertem Gesicht, die Arme unters Hemd geschoben, die Hände betend zusammengepresst, mit nur einem Schuh und einer Socke, die andere hatte ich um mein blutendes Knie gebunden. »Himmlischer Vater, bitte hole mich hier raus!«, betete ich. »Bitte hilf mir!« Mir war kalt, ich mochte die schwarze Dunkelheit nicht, und ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. So betete ich und hockte mich dann an die Wand.

Während ich benommen dasaß, mir Dreck aus der Wunde klaubte und ab und zu mit den Händen vor dem Gesicht herumwedelte in der Hoffnung, etwas zu sehen, hörte ich ihre Stimme: »Kind …, Kind, nimm das Holz und grabe.« Ich saß still und sagte kein Wort, aber ich dachte: »Graben? Ich sitze hier in einem Brunnenloch – wie soll Graben mich da rausbringen?« In meinem Kinderhirn dachte ich: »Ich kann mir doch hier keinen Tunnel rausgraben!« Während ich so darüber nachdachte, hörte ich es wieder: »Kind, nimm das Holz und grabe in der Wand!«

Auf Händen und Knien krabbelte ich umher und suchte nach einem Stück der zerbrochenen Leiter, das zum Graben taugte. Nach ein paar Versuchen, bei denen das Holz zerbrach, fand ich schließlich ein Stück, das die richtige Größe hatte. Ich begann, leicht oberhalb meines Kopfs in einer Erdschicht zu graben; sie war weicher als die übrige Wand, die aus härterem Boden und vielen kleinen Steinen bestand. Der weiche Lehm fiel mir in Brocken zu Füßen, während ich mich in die Erde hineinarbeitete. Immer wieder hielt ich inne, um zu Atem zu kommen und mir die Haare aus dem Gesicht zu streichen, bis das Brennen in meinen Armen nachließ und ich sie wieder über meinen Kopf heben konnte, um weiterzugraben.

Ich hatte das Gefühl, ewig zu graben. Je länger ich mich abmühte, ohne einen Fortschritt zu sehen, desto frustrierter wurde ich. Mehrmals fing ich an zu weinen, wurde wütend und schmiss den Stock auf den Boden. Dann musste ich umherkriechen und ihn wieder suchen. Ich zweifelte an »ihr« und fühlte mich dann schlecht, weil ich zweifelte. Minuten wurden zu Stunden, und die Stunden wurden zu einer Ewigkeit. Ich war völlig erschöpft, meine Arme brannten, weil ich sie immer über meinen Kopf halten musste. Ich konnte nicht mehr. Ich hockte mich wieder hin, legte den Stock auf den Boden und weinte. »Ich schaff es nicht«, wimmerte ich.

In dem Augenblick fing es an. In großen Brocken fiel Dreck um mich herum zu Boden. Ich geriet in Panik, weil ich befürchtete, jetzt lebendig begraben zu werden. Ich drückte mich an die gegenüberliegende Wand hinter einen alten Eisenträger und hielt mir die Hände schützend vors Gesicht, um atmen zu können, falls ich begraben wurde. Überall um mich herum fiel Erde herunter – ich hatte keine Ahnung, wie viel, aber es war laut und ich spürte die Klumpen auf meinem Rücken und meinen Schultern. Nach ein paar Minuten hörte es auf und es war wieder still. Nur ein paar Stücke rollten noch hinterher. Ich nahm die Hände vom Gesicht und fühlte um mich herum.

Meine Beine steckten bis zu den Knien in Erde, ich musste mich ein bisschen abmühen, um mich aus meiner Stellung zwischen Wand und Eisenträger zu befreien. Ich langte nach der Wand, in der ich gegraben hatte: Sie war nicht mehr da. Aus der weichen Erdschicht, die ich angegraben hatte, war ein großes Stück herausgebrochen und hatte im Brunnen einen großen, schweren Erdhügel angehäuft. Ich kletterte den weichen Hügel hinauf, und als ich oben ankam, sah ich zu meiner unglaublichen Erleichterung die Sterne! Ich sah den Gürtel des Orion, meine drei Lieblingssterne. An ihrer Stellung konnte ich erkennen, dass es erst acht Uhr abends war.

Meine erste Reaktion war: »Erst acht Uhr?« Ich war mir sicher gewesen, schon die ganze Nacht in dem Erdloch zu sitzen, doch tatsächlich waren es etwa sechs Stunden gewesen. Als ich die Sterne sah, wusste ich, dass ich es herausschaffen würde. Ich musste mich noch etwas abmühen, aber schließlich gelang es mir, mich aus dem Loch zu ziehen.

Eine Weile lag ich mit dem Gesicht nach unten auf der Erde, außer Atem und voller Staunen. Ich war draußen! Ich hatte es geschafft! Ich brauchte noch etwas, um zu mir zu kommen, dann rollte ich mich auf den Rücken und schaute zu den Sternen hoch. Je mehr ich darüber nachdachte, was geschehen war, desto mehr erkannte ich, wie sehr mir da unten geholfen worden war.

Ich war nie ganz allein, es gab große Kräfte, die in jener Nacht gewirkt hatten. Sie kümmerten sich um mich. Vielleicht wollten sie, dass ich hier bin? Vielleicht gab es einen Grund dafür, den ich noch nicht verstand? Ich hatte nicht verstanden, was mir gesagt wurde, warum ich graben sollte; ich musste der Stimme einfach vertrauen. Ich musste tun, worum ich gebeten wurde, ohne mich darin zu verwickeln, wie es funktionieren könnte. Ich hatte gedacht, ich sollte mir einen Tunnel als Ausweg graben! Aber ich sollte nur graben, so gut ich konnte, und dann zeigte sich die Lösung. Eine Lösung, die ich nie hätte vorhersehen können. Es schien völlig gegen den gesunden Menschenverstand zu gehen – aber nur, weil ich im vorgegebenen Rahmen dachte und keine anderen Möglichkeiten sah.

Damals lernte ich, der inneren Führung zu vertrauen, auch wenn sie unlogisch oder wenig sinnvoll erscheint. Die Situation lehrte mich, immer zuzuhören und dem zu vertrauen, was mir gesagt wird. Ich habe auch gelernt, mit vollem Einsatz zu arbeiten und mich um das zu bemühen, was ich will – nur dann kommt das ersehnte Ziel in Reichweite oder die göttliche Vorsehung schreitet ein. Hätte ich gebetet und plötzlich wäre eine Leiter erschienen, über die ich bequem aus dem Loch gekrabbelt wäre, hätte ich nicht so viel gelernt. Manchmal kommt die Antwort auf eine Weise, die wir nicht mögen, und auch dann müssen wir vertrauen. Missachten wir die Lösung – oder hören wir auf die Stimme, auch wenn das, was sie sagt, weit hergeholt scheint? Der Sturz in den Brunnen lehrte mich, auf Spirit zu vertrauen, auch wenn ich keinen Sinn darin erkenne, sowie auf die Präsenz und Weisheit, die wir nicht sehen, obwohl sie uns ständig umgeben und so wirklich sind wie alles, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen.

Wahre Schönheit erkennen:
die Lektion der zwei Bäume

Als Kind lernte ich auf sehr direkte Weise, dass der Schlüssel zu allem Leben, zu seinem Sinn und seiner Erfüllung in der Natur liegt. Als lebendige, atmende Lebenskraft spricht Mutter Natur mit uns; sie bittet uns, zuzuhören, zu sehen und zu verstehen. Nicht nur das Leben schenkt sie uns in jedem Augenblick, sondern auch die Freude, die wir im Leben erfahren. Alles, was sie uns anbietet, ist lebendig und brummt vor Energie, Liebe und Erregung. Kein Grashalm bleibt unbemerkt, für jedes Sandkorn ist gesorgt. Sie ist die große Mutter von allem, und das ganze Universum ist ihre Familie. Ich lernte diese Dinge durch Erfahrung, durch ihre Fürsorge für mich als ihr Kind. Ich lernte durch ein reines, freudvolles Gefühl, dass alles Lebendige ständig fühlt und miteinander und mit uns kommuniziert. Ich lernte auch durch Geistwesen der anderen Seite, bei denen ich sicher aufgehoben war. Seit ich etwa acht Jahre alt war, spricht eine sanfte Frauenstimme zu mir, die mich lehrt und mir klare, direkte Informationen über das Universum und die Gesetze des Lebens vermittelt.

Ich weiß nicht, warum diese Lehren zu mir kamen. Des Öfteren wurden sie mir vermittelt, wenn ich mich in höchster Bedrängnis befand. Zu anderen Zeiten vernahm ich sie, wenn ich ganz still und im Einklang mit der Natur war. Die Stimme sprach mich immer sehr mitfühlend als »Kind« an. Wenn ich es nicht verstand, wurde die ganze Lektion wiederholt. Später, als ich mit dreißig den Ruf als Schamanin erhielt, sagte mir ein indianischer Ältester, die »Großmütter der Vergangenheit« hätten da mit mir gesprochen und die Ältesten wüssten, dass ich seit meiner Kindheit auf diese Weise belehrt würde. Bis zu meinem achtundzwanzigsten Lebensjahr hatte ich keiner Menschenseele von diesen Dingen erzählt, und auch seit dieser Zeit erzählte ich davon nur mit großer Angst. Ich war als gläubige Mormonin aufgewachsen. Hätte ich zugegeben, dass Stimmen mit mir sprechen, wären mir Hölle und Verdammnis sicher gewesen. Ich wusste ja selbst nicht recht, was ich davon halten sollte, ob es erklärbar war oder ob ich vielleicht verrückt war. Ich wusste nur: Ich fühlte mich dadurch anders als andere und wollte es lieber nicht erwähnen. Und ich war ungeheuer erleichtert, als all das, was ich durchgemacht hatte, bei jemandem auf Verständnis stieß und mir erklärt wurde, dass es einen Grund dafür gab und ich doch nicht verrückt war.

Zu diesen Lektionen, die ich lernte, gehörte eine, die mir auf unvergessliche Weise zeigte, wie ich wahre Schönheit und den echten Wert von etwas erkennen kann. In jenem Sommer war ich gerade eine junge Frau geworden. Ich saß mal wieder an meinem geheimen Platz am Fluss. Ich floh oft dorthin, um der Wirklichkeit der körperlichen und sexuellen Misshandlungen zu entrinnen, die meine beiden nebenan wohnenden Onkel mir antaten. Tief verwundet von dieser sinnlosen Grausamkeit und Demütigung hockte ich in meinem Versteck unter den Bäumen und rang um meinen Selbstwert. Ich weinte und fühlte mich, gelinde gesagt, wertlos und keiner Liebe wert. Ich war fassungslos darüber, wie Menschen so voller Hass und Grausamkeit sein konnten. Wie konnte jemand einem anderen Menschen solche Gewalt antun?

Vor allem beschäftigte mich ein Gedanke: Jetzt würde ich nicht in den Himmel kommen. Gott würde mich nicht lieben. Die hässlichen Dinge, die mir widerfahren waren, hatten mich, so fühlte ich, hässlich gemacht. Unsere Religion lehrte, dass vor der Ehe selbst ein Kuss eine Sünde vor Gott und ernsthaft strafbar sei. Mir war sehr viel mehr widerfahren als ein Kuss. Ich wälzte dieses Trauma wiederholt hin und her und war immer mehr davon überzeugt, ich sei Gottes Liebe und des Himmels nicht mehr würdig. Wer, so die Tradition der Mormonen, nicht in den Himmel kommt, ist nach dem Tod auch einer Wiedervereinigung mit seiner Familie nicht mehr würdig; das brach mir endgültig das Herz.

In meiner Verwirrung und meinem Schmerz fing ich an, durch das hohe Gras zu den Pinien hinüberzuwandern, um mich dort bei den Bäumen zu verkriechen. Ich fand den schönsten aller Bäume und setzte mich darunter. Er hatte die perfekte Form einer Pinie, seine Nadeln hatten einen herrlichen Grünton, er duftete geradezu berauschend, und seine Rinde war ohne jeden Makel. Mir erschien er als der absolut vollkommene Baum. Während ich dort saß, sah ich direkt vor mir eine andere Pinie, die ein wenig größer war. Ihre Rinde war tief aufgerissen, und das Harz aus dem Riss hatte den ganzen Stamm bekleckert. Das allein schon fand ich so abstoßend, dass ich kein Verlangen spürte, diesem Baum näher zu kommen. Er sah verunstaltet aus, der Blitzschlag hatte tiefe Narben in ihm hinterlassen. Ich saß da zwischen den beiden Bäumen und sann darüber nach, wie viel schöner doch der Baum war, unter dessen Krone ich saß, und wie hässlich der andere dort vor mir.

Plötzlich tauchte das merkwürdige, schwere Gefühl auf, durch das sich mir eine Botschaft von Spirit ankündigt. Also ging ich nach innen und öffnete mich für das, was da kommen würde. Ich wartete geduldig, dann hörte ich wieder die ruhige klare Frauenstimme, die schon öfter zu mir gesprochen hatte: »Kind, was siehst du?«, fragte sie. »Bäume«, antwortete ich laut. »Welcher von diesen beiden ist der großartigere Baum?«, fragte sie. Ich antwortete, es sei der schöne, vollkommene, unter dem ich saß. Es schien mir offensichtlich.

Doch dann erfuhr ich etwas über den anderen, hässlichen Baum, was ich nie vergessen werde. Die stärksten und wichtigsten Bäume im Wald, so sagte mir die Stimme, sind jene, die viel durchgemacht haben und tapfer ihre Narben tragen. Damit ein Baum einen starken Kern entwickelt, muss er etwas Hartes durchmachen, was seine Überlebenskraft anstachelt: einen schweren Winter, eine Dürre oder einen Blitzschlag. Wenn ein Baum derartig bedroht oder beschädigt worden ist, geht er entweder ein oder er wird zu einem der stärksten Bäume des Waldes. Jene Bäume, die den Kampf überlebt haben, bringen nicht nur die meisten, sondern auch die kräftigsten Samen hervor. Pinien, denen das Leben hart zugesetzt hat, treiben ihre ganze Lebenskraft in ihre Zapfen: Diese Bäume sind es, die dann vorrangig den Wald erneuern und seinen Fortbestand sichern.

Stundenlang saß ich da und dachte über das Gehörte nach. Und dann fragte mich die Stimme wieder: »Welches ist der großartigere Baum?« Diesmal fiel meine Antwort anders aus. Mit brennender Brust und Tränen in den Augen antwortete ich, es sei der mir hässlich erscheinende Baum vor mir. Der stärkste, schönste Baum war jener, der viel durchgemacht hatte und die Narben seiner Kämpfe trug. Er brachte Unmengen an Regenerationskraft hervor und spendete unendlich viel neues Leben.

Als die Lektion vorüber war und ich wusste, dass die Stimme nichts mehr sagen würde, setzte ich mich ans Wasser und sah mein Spiegelbild an. Da saß ein Mädchen mit einem gebrochenen Geist, dem Tränen über die Wangen rannen. Ich schaute mich intensiv an. Vielleicht war ja auch ich nicht so hässlich, wie ich gedacht hatte. Ich zog mir die Kapuze meines grünen Sweatshirts über den Kopf und trottete nach Hause.

Heute als Erwachsene erkenne ich, wie wichtig diese Lektion für unser Leben ist. Wie viele von uns tragen Narben von Lebenserfahrungen in sich, die sie lieber nicht durchlitten hätten? Wie viele von uns bedauern vergangene Härten, Schmerzen, die immer noch wehtun, und wünschen sich, sie würden verschwinden? Wie viele von uns fühlen sich nicht schön oder liebenswert oder meinen, einen tiefen Makel in sich zu tragen? Mir ist es als Kind so ergangen, und ich ringe noch heute manchmal damit. Ich glaube, wir alle tun das. Ich dachte, mit mir stimme etwas Grundlegendes nicht, weil ich als Kind nicht geliebt und beschützt wurde. Ich konnte nicht begreifen, warum mir das widerfuhr. So wie viele misshandelte Kinder dachte ich, Gott liebe mich nicht, ich sei es nicht wert, geliebt und beschützt zu werden. Meine religiöse Erziehung förderte die Ansicht, dass wir Menschen von Grund auf sündhaft und schlecht sind und uns unseren Zugang zum Himmel verdienen müssen, indem wir ein möglichst vollkommenes, reines Leben führen. Diese religiösen Wertvorstellungen stehen im Widerspruch zum Leben und richten viel Schaden an. Sie entsprechen in keiner Weise der Wahrheit, doch als Kind hatte ich gelernt, so zu denken.

Wir werden durch unsere Wunden stark – das ist die Lektion, die ich von den zwei Bäumen lernte. Unsere Unvollkommenheiten sind Zeichen dessen, was wir durchmachen und lernen mussten, um zu überleben. Unser Leiden kann uns weiser, verständnisvoller, mitfühlender und stärker machen. Die Seele ist unverwundbar. Nur unsere Vorstellung von dem, was wir sind, kann verwundet werden. Statt uns durch das, was wir durchlitten haben, befleckt oder minderwertig zu fühlen, können wir unsere Narben annehmen und uns bewusst machen, dass die größte Schönheit tief unterhalb der Oberfläche liegt. Wahre Schönheit und Güte lassen sich nicht von der Oberfläche her beurteilen – sie erfordern tiefes Zuhören und Schauen. Nur selten erkennen wir unseren Wert oder unsere eigene Schönheit. Andere mögen sie sehen, aber wir sind dazu oft nicht in der Lage. Für die meisten von uns ist es eine lebenslange Aufgabe, sich wirklich selbst zu lieben und die Gaben anzunehmen, die unsere Kämpfe und unser Schmerz uns geschenkt haben.

Als ich Ende zwanzig war, hatte ich endlich den Mut, anderen etwas von dem, was ich durchgemacht hatte, mitzuteilen. Eine liebe Freundin schrieb mir daraufhin eine Zeile, die ich nie vergessen werde. Sie half mir sehr, mich mit meiner Vergangenheit zu versöhnen und die Gaben zu verstehen, die mir mein Leiden brachte. Sie schrieb: »Die Wunde ist die Öffnung, durch die das Licht hereinkommt.«

Manche von uns ringen jahrelang mit der Frage, warum ihnen etwas widerfahren ist und welchen Zweck es gehabt haben könnte, vor allem wenn sie dabei einen Verlust erleiden mussten. Die Heilung von Missbrauch ist zwar meiner Ansicht nach ein lebenslanger Prozess, aber ich kann erkennen, wie ungeheuer viel Licht in mein Leben kam, einfach indem ich überlebte und mich entschloss, zu leben und ein liebevoller Mensch zu sein. Meine schmerzhaften Erfahrungen brachten mich an die Grenze zwischen Leben und Tod, und dabei wurde mancher Schleier zerrissen. Weil ich so offen und hilfsbedürftig war, schritt Mutter Erde ein und hüllte mich in ihre Liebe. Spirit schritt ein und lehrte mich, was ich wissen musste, um da bleiben und weiterleben zu können.

Wie viele von uns schon spüren, bewirken oft gerade intensive Notsituationen, dass wir uns dem Segen der geistigen Welt öffnen und tiefer schauen. Auch wenn mich heute noch manchmal die Frage umtreibt, warum ich so eine schwierige Kindheit hatte, weiß ich inzwischen doch eines: Dass ich hier mit dir rede, hängt direkt mit dem zusammen, was ich als Kind in der Wildnis gelernt habe. Und auf geheimnisvolle Weise steht dies auch in Verbindung mit den leidvollen Erfahrungen, die mich in die Wildnis und in die Arme des großen Mysteriums getrieben haben.

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