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Kapitel 13

Justus

Es geschah einige Jahre zuvor, nachdem er mit sechzehn seinen Realschulabschluss gemacht hatte und auf das Gymnasium wechselte. Bis zu dem Tag hätte er sein Leben als durchschnittlich bezeichnet. Seine Eltern legten sehr großen Wert darauf, dass er das Abitur machte. Schließlich stellte das die besten Voraussetzungen dar, um später die Reederei seines Vaters zu übernehmen. Was sonst sollte man in Bremerhaven anfangen, wenn nicht etwas, das die Seefahrt beinhaltete?

„Ist der Platz noch frei?“ Er hasste seine Unsicherheit. Neue Gesichter, neue Räume, neue Schule, alle kannten sich, er war der Eindringling.

„Nein. Der Typ, der da sitzt, wurde Opfer der letzten Chemiestunde. Er trug seine Schutzbrille nicht, als wir das Unsichtbar-Serum testeten.“

Beinahe die gesamte Klasse lag am Boden vor Lachen. Nur sie nicht. Die Rothaarige schlug dem Fiesling vor ihr auf den Hinterkopf. „Musst du dich gleich bei dem Neuen unbeliebt machen, Frank?“

„Hast du etwa Angst, er ruft seinen Papi, Kriemhild?“

Sie ignorierte die Gelächter einbringenden Worte. Ihr Blick galt Justus, nur ihm. Dann das Lächeln; rein und fließend.

„Der Platz neben mir ist noch frei“, sagte sie mit engelsgleicher Stimme.

Frank holte zum nächsten theatralischen Schlag aus. „Kriemhild, die Edle, schwor einst ihrer Mutter ewige Keuschheit. Bis Sigfried in ihr Leben trat.“

Wieder grölte die Klasse.

„Frank, halt endlich die Klappe!“

Justus nahm Platz und schaute in ihre meergrünen Augen. „Danke.“

„Kein Thema. Frank tut alles, um seine Unterbelichtung im Kostüm des Klassenclowns zu verstecken. Du bist Justus?“

Das war der wahre Beginn seines Lebens. Der erste Lichtstrahl jener Sonne, um die sein Planet fortan kreisen würde. Es war nicht länger nur durchschnittlich. Sie machte sein Leben außergewöhnlich.

Kriemhild ahnte bis zur Mitte der zwölften Klasse nichts von ihrer Liebe zu ihm, das spürte er an ihrer abwehrenden Haltung. Doch Justus konnte warten. Seine Liebe wuchs mit jedem Tag. Die Art, wie Kriemhild sich bewegte, wie sie sprach, wie der Wind ihr Haar zerzauste, das alles trieb ihn fast in den Wahnsinn. Er hatte einen günstigen Moment abgepasst und ihr Parfum auf ein Stück Papier gesprüht. Sie bewahrte das Fläschchen immer in ihrem Rucksack auf. Zu Hause roch er daran. Es versetzte ihn jedes Mal in Trance.

Er wusste, dass sie keinen Freund hatte. Obwohl die Hälfte der männlichen Mitschüler alles darum gegeben hätte, sie rumzukriegen. Doch in Wahrheit liebte sie ihn, dessen war er sich einfach sicher. Justus spürte die einzigartige Verbindung; er wusste, dass ihr das irgendwann auch klarwerden würde. Und der Tag kam.

„Hey, Kriemhild.“ Sie saß in der Freistunde auf dem Schulhof in der Sonne. Wie gut es tat, in ihrer Nähe zu sein.

„Was gibt’s? Ich wollte mich eigentlich etwas entspannen, bevor wir Mathe haben.“

„Klar, schon kapiert. Hast du wen gefunden, mit dem du das Referat vorbereitest?“

Sie schaute ihn an. Ihre smaragdgleichen Augen reflektierten das Sonnenlicht.

„Deutsch? Nein, ich wollte Sara später fragen.“

Sie hatte noch niemanden. Das mit Sara hatte sie nur gesagt, um ihm zu signalisieren, dass das seine letzte Chance war, zu fragen. Eine andere Erklärung ihrer Worte gab es für Justus einfach nicht. Kriemhild verstand es, in einer verschlüsselten Sprache eine Botschaft zu übermitteln, die nur Justus zu deuten wusste. Er nahm all seinen Mut zusammen.

„Hättest du vielleicht Lust … es mit mir vorzubereiten?“

Sie zögerte und schaute unsicher. Das tat sie, um ihn zappeln zu lassen. Und er allein war privilegiert, ihre geheimen Gesten zu verstehen.

„Hm, keine Ahnung. Ich frage erst mal Sara, sonst hat sie nachher keinen Partner. Wir hatten fast schon abgesprochen, dass wir es machen.“

„Ich bin sicher, Sara findet jemanden. Ich hab da so ein paar Schwierigkeiten mit dem Roman. Wenn Frank und die Jungs dann in meine Gruppe kämen … das wär sicher nicht so gut.“

„Okay, dann komm halt zu uns. Wir machen es zu dritt, einverstanden?“

Die Worte okay und einverstanden ließen Justus zwei Zentimeter größer werden. Sie liebte ihn! Das war der erste, zaghafte Beweis. Er hatte ihre Worte richtig gedeutet.

Kapitel 14

Kriemhild

Das Haus, das sich vor ihr in den Dünen auftat, verschlug ihr fast die Sprache. Wenn Brooke es coole Villa genannt hatte, war das mehr als untertrieben gewesen. Die Sandberge, in denen es lag, machten es noch widersprüchlicher. Das Haus passte einfach nicht dorthin. Riesige weiße Balkone wechselten sich mit Glasfronten und grauen Holzbalken ab. Im rechten Obergeschoß prangte ein Türmchen, gedeckt mit roten Schieferpfannen. Eine Garage öffnete sich wie von Geisterhand, als der Jeep vorfuhr. Das Tor war mindestens halb so groß wie die Villa selbst.

Kriemhild kam aus dem Staunen nicht heraus, während Samuels Worte in ihr nachhallten.

Plötzlich hatte sie Mitleid mit ihm. Er hatte ihr gleich zwei Mal an einem einzigen Tag geholfen. Sie war es ihm schuldig, ihm in der Sache mit seinem Vater beizustehen.

Der Wagen stoppte und Sam zog den Schlüssel aus der Zündung.

„Danke.“ Wieder blieb sein Blick nach vorn gerichtet.

„Wofür?“

„Dafür, dass du hier bist. Jede andere hätte mich für verrückt erklärt.“

„Wer sagt dir, dass ich das nicht auch tue?“

Er stieg aus und sie folgte ihm. In den Dünen kreischten Möwen und die Brandung klang so nah, dass Kriemhild irritiert nach den Wellen suchte.

„Du kannst sie nicht sehen. Gleich hinter diesem Hügel ist eine Klippe. Dort nisten Lummen. Es geht ziemlich steil runter, sehr reizvoll zum Klippenspringen. Hast du das schon mal gemacht?“

Sie pfiff verächtlich durch die Lippen und schaute weg.

„Sorry, ich hab ganz vergessen, dass du Nichtschwimmerin bist. Das … meine ich nicht böse, versteh mich nicht falsch.“

„Vergiss es einfach.“

Jedes Mal, wenn er das aussprach, lief der grauenvolle Film vor ihren Augen ab. Als wollte das Meer sie daran erinnern, wieso sie es hasste.

Er steckte den Schlüssel in das Türschloss, als ihm von drinnen jemand zuvor kam.

Es war ein Mann mittleren Alters, der ebenfalls erstaunlich gut aussah, und fast so gut durchtrainiert war wie Sam. Der einzige Unterschied war die kühle Arroganz, die von ihm ausging, und etwas wie … Macht. Er begrüßte Kriemhild mit blitzenden Zähnen und sie konnte nicht sagen, worüber sie mehr staunte; über seine akzentfreie Anrede in Deutsch oder darüber, dass er ihren Nachnamen kannte.

„Herzlich willkommen, Frau Bergmann.“ Die blauen Augen durchdrangen sie, als schaute er auf den Grund eines Wasserglases.

„Guten Tag, Mister Dawson. Sie kennen meinen Namen?“

„Samuel erwähnte ihn mal, nehme ich an.“

„Samuel kennt meinen Nachnamen nicht.“

Er lachte und wechselte einen schnellen Blick mit seinem Sohn.

„Kommt doch herein, ihr beiden.“

Sie traten in eine Art Eingangshalle. Von der Mitte aus führte eine riesige Steintreppe in die erste Etage. Die Fensterfronten reichten beinahe bis hinauf zum Dach.

An den hellen Wänden, die zur Hälfte vertäfelt waren, hingen Unterwasseraufnahmen von Fischen, Korallen, Höhlen und Delfinen. Meeresbiologen, dachte Kriemhild.

Über der Tür, durch die Sams Vater sie ins Wohnzimmer führte, prangte ein riesiges, rundes Gebiss. Sie betrachtete im Vorbeigehen die messerscharfen Zahnreihen und ahnte, dass sie der Kreatur besser nicht lebendig begegnen wollte. Mister Dawson bemerkte Kriemhilds Gesichtsausdruck und verzog die schmalen Lippen zu einem kühlen Lächeln.

„Das ist von einem weißen Hai. Imposant, nicht wahr?“

„Ziemlich.“ Und gruselig, sich sowas im Haus aufzuhängen, wollte sie sagen.

Er bot ihnen einen Platz auf der weichen, weißen Couch an, die sich durch den halben Raum erstreckte.

„Darf ich Ihnen was zu Trinken anbieten? Samuel?“

„Nein, danke.“

„Für mich auch nichts, Dad.“

Sie hätte viel lieber erfahren, wieso sie dort war.

„Bestimmt fragen Sie sich, aus welchem Grund ich Sie eingeladen habe, Kriemhild? Ich darf Sie doch so nennen?“

„Sicher.“

Er nahm ihnen gegenüber Platz. Jede seiner Bewegungen war geschmeidig, lautlos.

„Nun ja. Die Ereignisse der letzten Tage haben mich … nennen wir es einmal neugierig gemacht. Mein Sohn lässt sich kaum zu Hause blicken, er prügelt sich wegen eines Mädchens … ein Police Officer schellt an der Tür. Sie verstehen, dass man sich da als Vater Gedanken macht. Vor allem, wenn es mit der Polizei zu tun hat.“ Er warf seinem Sohn einen intensiven Blick zu. „Das kann Samuel sich wirklich nicht erlauben. Ihr Vater würde mir da unter diesen Umständen sicher zustimmen.“ „Mein Vater ist tot.“ Samuel sah zu ihr herüber und sie bemerkte ehrliches Mitleid in seinem Blick.

„Oh, das wusste ich nicht.“

„Woher auch?“

„Es tut mir leid, Kriemhild.“ Sein Dad rieb sich verlegen die Hände.

„Mister Dawson, ich verstehe, dass sie sich Sorgen machen. Aber die Sache mit der Schlägerei und der Polizei hat sich bereits als Missverständnis herausgestellt.“

„Das freut mich zu hören. Was ist da noch gleich geschehen? Sie sind ins Wasser gefallen und mein Sohn hat sie herausgezogen?“

„So in etwa war es wohl. Samuel muss ein sehr guter Schwimmer sein, um bei dem Wellengang jemanden retten zu können.“

Für einige Sekunden herrschte berstende Stille im Raum. Die beiden wechselten einen seltsamen Blick, bis Sam schließlich den Kopf schüttelte und zu Boden sah.

„Ein guter Schwimmer“, flüsterte Mister Dawson. „Das ist er in der Tat. Hat er Ihnen erzählt, dass er mal bei den Rettungsschwimmern war?“ „Ja, hat er.“

Sein Dad erhob sich. Er ging an eine kleine Anrichte und nahm sich ein Glas Wasser.

„Kriemhild, ich will ganz offen zu Ihnen sprechen. Sie sind eine überdurchschnittlich hübsche, präsente und bemerkenswert kluge junge Frau. Was auch immer meinen Sohn und Sie verbindet, es wird nicht von Dauer sein. Samuel beginnt zum Herbstsemester an der Harvard University sein Studium. Und Sie werden zu diesem Zeitpunkt – Sie verzeihen – längst wieder in Deutschland sein. Dazwischen liegt ein tiefer Ozean. Sie verstehen, worauf ich hinaus will?“

Sie kam sich ziemlich dämlich vor. Was bildete der Typ sich ein? Kriemhild stand auf und war bereit heimzufahren, trotz des Gefühls einer seltsamen Form von … Gravitation. Alles in dem Raum hüllte sie in Wohlbehagen. Die perfekte Schönheit, die alle umgab.

„Nun, da kann ich Sie beruhigen, Mister Dawson. Ich hege weder die Absicht, Samuel von seinem Studium abzuhalten, noch verbindet Ihren Sohn und mich irgendetwas. Wenn Sie einverstanden sind, dann würde ich jetzt gern nach Hause fahren.“

„Dad, es reicht!“ Sam fand endlich auch mal ein Wort und wollte eben loslegen, als sein Vater ihn mit einer Geste zu schweigen bat.

Nein! Ich lasse nicht länger über mein Leben bestimmen! Was dieses Studium angeht, hat weder Kriemhild, noch du, oder sonst wer zu entscheiden! Und Amy, halt mal für ‘ne Sekunde deinen Mund! Ständig mischt du dich in Dinge ein, die dich nichts angehen!“

Plötzlich schwiegen alle und sein Dad warf Sam einen tödlichen Blick zu. Kriemhild begriff nicht. „Amy?“

Sam lachte leise und fuhr sich durch die Haare. Offenbar ein Anzeichen dafür, dass er nervös wurde.

„Amy … das ist … das ist meine neugierige Schwester. Sie steht dort hinter der Tür.“

„Hat sie denn was gesagt?“ Kriemhild versuchte sich zu erinnern.

„Frau Bergmann, ich denke, meine Frau wird Sie jetzt nach Hause fahren. Meine Familie und ich haben da einige Dinge zu klären.“

Der unterkühlt wirkende Hausherr kam auf sie zu und schob sie sanft aus dem Raum.

Mrs. Dawson lächelte sie mitleidig an. Sams Mutter war von außergewöhnlicher Schönheit. Allein die Tatsache, dass sie seine Mutter war, verwirrte Kriemhild. Denn ging man von ihrem Äußeren aus, hätte sie sie allerhöchstens auf Anfang dreißig geschätzt. Mrs. Dawson trug ihre langen, blonden Haare hochgesteckt und ihre zarte Haut glänzte alabasterfarben. Anmut lag in jeder Bewegung. Kriemhild konnte nicht anders, als sie anstarren. Mrs. Dawson musste es längst bemerkt haben. Allein der Höflichkeit halber wandte sie den Blick von dem schmalen Gesicht ab. Es war perfekt. Kriemhild fand nicht den geringsten Makel in den Zügen seiner Mom. Dazu die Stimme. Sie ähnelte einem säuselnden Gesang.

„Es tut mir leid, dass Sie die Familie unter diesen Umständen kennenlernen mussten. Tom – mein Mann – ist sonst nicht so. Er ist lediglich besorgt, Sie verstehen? Das Studium an der Harvard … wir alle haben sehr dafür gekämpft, dass Samuel den Platz bekommt.“

„Meinetwegen. Ich habe nichts gegen dieses Studium einzuwenden. Wieso auch? Warum denken alle, da wäre etwas zwischen ihm und mir?“

Mrs. Dawson lächelte und fuhr aus den Dünen auf die Straße. Für sie schien der Gedanke alles andere als abwegig.

„Nun ja, Samuel wird nachlässig. Zumindest, was sein Praktikum in Woods Hole anbelangt. Wir dachten, Sie seien vielleicht der Grund. Übrigens, Ihre Haare gefallen mir.“

„Danke. Ich bin nicht der Grund. Was genau macht er in Woods Hole?“

„Mein Mann und ich forschen dort unten am MBL. Samuel hat einen Kurs belegt. Sensorische Biologie und Verhaltensökologie.“

„Hört sich interessant an. Und was genau erforschen Sie, wenn ich fragen darf?“

In Mrs. Dawsons glasklarem Blick lag Verwunderung. Entweder kam es nicht oft vor, dass jemand sie danach fragte, oder aber, die ganze Welt – außer Kriemhild selbst – wusste längst darüber Bescheid.

„Ich hatte keine Ahnung, dass dieses Thema Sie interessiert. Nun, es geht hauptsächlich um Aquakultur. Die kontrollierte Aufzucht von aquatischen Organismen. Reproduktion, Genetik, Pathologie. Die Meere sind so überfischt, dass dies immer notwendiger wird.“

Sie schaute ziemlich besorgt. Kriemhild spürte, dass all ihr Herzblut in ihrer Arbeit steckte.

„Ja, es ist schlimm, wie die Meere ausgebeutet werden. Ich darf gar nicht drüber nachdenken. Wissen Sie, ich stamme von der Nordsee. Diese ganzen Ölkatastrophen, Bohrinseln, dieser ganze Dreck … Mein Leben lang bekomme ich das hautnah mit.“

Mrs. Dawsons Lächeln war darum bemüht, die Begeisterung über Kriemhilds Interesse in Grenzen zu halten. „Wenn Sie wollen, dann kommen Sie uns doch im MBL mal besuchen. Samuel würde Sie sicher gern herumführen.“

„Danke, ich denk drüber nach. Da vorn können Sie mich rauslassen.“

Kapitel 15

Tom

Samuel saß auf dem weißen Sofa und schaute betreten zu Boden. Amy kam mit gesenktem Kopf hinter der Tür hervor. Sie fürchtete offenbar die Konsequenzen, die das alles für sie und ihre Hochzeit haben könnte. Doch Toms Ärger fokussierte sich ausschließlich auf seinen Sohn. Während Amy neben ihrem Bruder Platz nahm, bemerkte er, wie Samuel seine Hand auf die sicher noch warme Stelle des Polsters legte, auf der das Mädchen zuvor gesessen hatte. Tom rang um Beherrschung.

„Ich habe Kriemhild eingeladen, um zu prüfen, wie viel sie bereits weiß!“, donnerte er und hätte dem Jungen am liebsten jedes Haar einzeln gekrümmt. „Und ich habe bemerkt, dass sie gar nichts weiß! Bis du Amy erwähnt hast. Das wird ihr sicher zu denken geben. Hoffen wir, dass sie dich für verrückt erklärt.“

Samuel schaute auf, um sich zu verteidigen.

„Das alles wäre nie passiert, Dad! Wie wär’s, wenn du deiner Tochter Amy sagen würdest, dass sie sich in Zukunft aus meinen Gedanken halten soll! Ständig schwatzt sie mir rein! Das ist unerträglich! Da ist es nur verständlich, wenn ich die Gesellschaft von Menschen vorziehe; die sind wenigstens nur dann laut, wenn sie ihre Lippen bewegen.“

Tom hob eine Braue und wurde hellhörig.

„Du hast Recht, Sam. Wir alle sollten wieder lernen, uns an die Gesetze zu halten. Mir ist aufgefallen, dass wir darin immer nachlässiger werden. Das darf einfach nicht passieren.“

„So? Dann bin ich jetzt also die Schuldige?“ Amy verschränkte wütend die Arme vor der Brust. „Als wenn ich die Einzige in diesem Haus wäre, die in den Köpfen der anderen steckt.“

Tom seufzte. „Das bist du nicht, Schatz. Ich sagte, wir alle. Aber da du bald zurückkehrst, solltest du als Erste damit anfangen, dir unsere Gesetze wieder zu verinnerlichen.“ „Darf ich dann gehen? Diese Sache hat schließlich Sam vermasselt.“ „Ja, lass uns bitte allein“, bat er. Sie stand murrend auf und verschwand über die Steintreppe.

„Und nun zu dir, Samuel.“ Tom nahm das Glas Wasser mit, als er sich zu ihm setzte. „Bisher ist alles gut verlaufen. Wir sind hier, wir leben unauffällig, integriert, du hast den Platz an der Harvard sicher, dein Praktikum verläuft besser, als Lynn und ich uns erhofft hatten. Was ist nur los mit dir? Ich dachte, die Pubertät hätten wir seit fünfzehn Jahren hinter uns?“

„Witzig, Dad. Wirklich. Wenn ich Zeit habe, werde ich drüber lachen.”

„Im Ernst. Muss ich mir Sorgen machen? Das mit diesem Mädchen hat keine Zukunft. Siehst du nicht, wo das Problem liegt? Du in Harvard, sie in Deutschland. Wie soll das gehen? Mal angenommen, du kannst vor ihr verbergen, was du wirklich bist. Willst du ihr all die Jahre etwas vormachen, um sie dann zu verlassen? Still und heimlich?“ Er legte seine Hand auf Sams Knie. „Ich kann sehr gut nachempfinden, was da passiert ist. Dieses Mädchen ist außergewöhnlich. Nicht nur ihr Äußeres. Sie scheint extrem empfänglich für mentale Dinge zu sein. So einen feinfühligen Menschen habe ich bisher nicht kennengelernt. Aber, Samuel, sie ist keine von uns. In unserem Volk gibt es unzählige hübsche Mädchen, die sich glücklich schätzen würden, dich eines Tages als Mann an ihrer Seite zu haben. Ich ermahne dich, keine Bindung mit ihr einzugehen, hast du das begriffen?“

Tom wusste, dass sein Sohn ihn stets als guten Berater geschätzt hatte. Doch in den vergangenen Monaten hatte Samuel sich immer weiter von ihm entfernt. Was jedoch die aktuelle Angelegenheit betraf, würde Tom ganz sicher nicht nachgeben. Dazu war die Sache einfach viel zu brisant.

„Es ist alles gut, Dad. Keine Sorge.“ Sams Stimme klang besänftigend. „Ich hab das im Griff. Gib mir einen Tag und ich habe sie vergessen. Bitte, halte den Marianen da raus, ja? Er liegt mir sehr am Herzen. Ich will ihn nicht enttäuschen. Vor allem will ich Amys Hochzeit nicht unnötig gefährden.“

Tom klopfte Samuel auf die Schulter. Für den Moment musste er darauf vertrauen, dass er die Wahrheit gesagt hatte. „So kenne ich meinen Sohn. Jetzt ist er wieder der Alte.“

Er leerte sein Glas, stellte es ab und schaute auf die Uhr.

„Ich muss los, Sam. Wir sehen uns heute Abend.“

Kapitel 16

Margarethe

Währenddessen saß Margret in ihrem Lehnstuhl. Jacob lag treu an ihrer Seite und ließ sich wohlgefällig hinter den Ohren kraulen. Ihr Blick ging in die Weite und ruhte irgendwo draußen am Horizont.

„Geht es dir gut, mein Herz?“

„Ja, John, ich danke dir.“

„Du solltest endlich damit abschließen. Wie lange willst du dich noch quälen? Das alles ist doch fünfzig Jahre her.“

Sie versuchte zu lächeln. „Für dich vielleicht. Wenn ich Kriemhild anschaue, dann kommt es mir vor, als sei die Zeit zurückgelaufen.“

„Hat der Brief dir nicht geholfen?“

„Vielleicht. Frag mich das in ein paar Wochen nochmal. Hast du die Blumen am Grab auch gegossen? Heute ist es ziemlich warm, findest du nicht?“

Seine Blicke überhäuften sie mit Liebe. John legte seine Hand auf ihr Knie.

„Natürlich habe ich sie gegossen. Wie jeden Tag.“

Jemand kam durch die Haustür. Jacob stellte die Ohren auf und ließ ein leises Bellen hören. Margret blickte auf die Uhr. Es war nach vier. „Kriemhild? Bist du es?“

„Ja, Tante, ich bin zurück.“

„Komm doch einen Moment zu uns.“

John erhob sich und küsste Margrets Stirn.

„Ich muss den Wagen in die Werkstatt bringen. Seit Tagen klappert der Auspuff.“

Er begrüßte Kriemhild und verschwand über die Veranda. Margret erschrak bei ihrem Anblick. Das Mädchen schaute deprimierter drein als am Tag ihrer Anreise.

„Komm, mein Kind, setz dich doch. Wie war es in der Stadt?“

Kriemhild zögerte. Sie stand am Fenster und blickte hinaus in die Dünen.

„Weißt du, ich … war gar nicht in der Stadt. Samuel hat mich seinen Eltern vorgestellt. Sie hörten von dem Vorfall auf der Party und wollten mich kennenlernen.“

„Er hat was?“ Der Junge war schon seltsam genug. Tagtäglich saß er am Strand und schaute stundenlang aufs Meer hinaus. Es war okay, dass Kriemhild ihn kennengelernt hatte, aber wieso um alles in der Welt stellte er sie nach ein paar Tagen seinen Eltern vor? Margret erhob sich aus dem Schaukelstuhl und ging zu ihr hinüber. „Du hast seine Eltern getroffen? Was hat das zu bedeuten?“

„Keine Ahnung, ich weiß selbst noch nicht, was ich davon halten soll. Seine Familie ist mir ein Rätsel, Margret.“

„Ja, sie leben sehr zurückgezogen. Diese Wissenschaftler sind alle seltsam, wenn du mich fragst.“ Sie nahm die dichten, roten Haare ihrer Nichte und legte sie zu einem Zopf zusammen. Margret hegte da so einen Verdacht. Vielleicht täuschte sie sich auch.

„Sag mal, Kriemhild, kann es sein, dass du diesen Jungen magst?“

Das Mädchen drehte sich ruckartig um. Der Zopf fiel aus Margrets Händen und löste sich auf.

„Fang du nicht auch noch damit an! Was soll das? Ich bin nicht hergekommen, um mir den Nächstbesten anzulachen. Diese Sache mit Justus setzt mir ohnehin genug zu – Verzeih mir, Tante Margret. Ich wollte nicht laut werden.“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du bist jung. Und dieser Junge ist anders als die anderen. Das habe selbst ich bemerkt, obwohl meine Blicke in all den Jahren immer trüber geworden sind.“

Ein scheues Lächeln huschte über Kriemhilds Züge. Geschickt wechselte sie das Thema.

„Wie geht es dir heute? Du siehst müde aus.“

Margret senkte den Blick und dachte an das Couvert auf ihrem Nähtisch.

„Willst du lesen, was dein Großvater geschrieben hat?“

„Ich soll den Brief lesen? Ich weiß nicht. Ich denke, es ist eine Sache zwischen ihm und dir.“

„Komm her, setz dich. Du sollst ihn lesen, ich will deine Meinung hören.“

Margret zog einen Stuhl heran und reichte ihr das Papier. Kriemhild entfaltete den Brief und begann die Zeilen in sich aufzunehmen. Margret kannte längst jedes Wort auswendig.

Margarethe,

ich weiß, dass du mich hasst. Und ich weiß, dass die Schuld, dass alles so gekommen ist, auf mir lastet. Ich habe mir immer vorgenommen, mit dir zu reden. Irgendwann. Jetzt ist es zu spät; nicht mehr lange und das Leben wird mich verlassen. Wenn man es als Leben bezeichnen kann, was mich da verlässt.

An jenem Tag habe ich eine schwere Last auf mich genommen, eine schwere Schuld auf unsere Familie. Ich weiß nicht, warum ich so ausgerastet bin. Vielleicht wollte ich, dass du einen gestandenen deutschen Mann heiratest. Der Krieg hat uns alle gebeugt. Ich hatte Angst, dir nicht die Zukunft bieten zu können, die ich mir für dich gewünscht hätte. Ich war ein harter Mann. Aus heutiger Sicht würde ich anders handeln.

Ich brauche dir nichts über den Schmerz zu sagen, den man empfindet, wenn man ein Kind verliert. Glaub mir, er ist derselbe. Egal, ob der Verlust selbstverschuldet ist, oder nicht. Seit fünfzig Jahren lebe ich mit diesem Schmerz. Und ich werde mit ihm sterben. Ich werde mich vor dem Herrgott dafür verantworten müssen. Was soll ich sagen? Was soll ich Ihm sagen? Wo ich zu feig war, mit dir zu sprechen?

Doch ich werde Ihn um Verzeihung bitten. So, wie ich auch dich um Verzeihung bitte. Es gibt keine Entschuldigung für die Angelegenheit. Mir bleibt einzig die Hoffnung auf Barmherzigkeit.

Wie wünschte ich mir, du wärest hier, an meinem Sterbebett. Wie wünschte ich, mein Leben würde noch einmal dort beginnen, wo die Chance auf Versöhnung bestand. Ich wünschte, ich hätte das Glück durch mein Tun nicht getrübt. Dein Glück und das Glück deiner Ehe. Das Glück, das ich mir immer für dich gewünscht habe. Johns Glück, der zum wichtigsten Mann in deinem Leben wurde. Ich habe ihn falsch eingeschätzt. Vielleicht wäre auch das Kind bei euch geblieben, hätte es meinen Segen gehabt.

Verzeiht mir. Irgendwann. Ich weiß, dass ich dich liebe. Seit deiner Geburt.

Dein Vater

Kriemhild legte das Blatt beiseite und Margret bemerkte die Tränen in ihren meergrünen Augen. Ein Moment des Schweigens verstrich.

„Was sagst du dazu? Dieser alte Sturkopf!“

Kriemhilds Stimme flüsterte. „Kannst du ihm verzeihen, Tante?“

„Auf Dauer bleibt mir keine Wahl. Ich werde jedenfalls keine neunzig Jahre alt, um es zu tun.“

Das Mädchen wischte sich über die Augen. Ein Beben ergriff Besitz von ihr. „Weißt du, wie oft ich mir gewünscht habe, mein Vater hätte die Gelegenheit bekommen, sich in einem Brief von mir zu verabschieden? Stattdessen war er einfach weg. Ohne ein Wort. Ich werde nie erfahren, was er mir noch alles hätte sagen wollen.“

Margret nahm sie in die Arme. Kriemhild weinte bittere Tränen. So hatte sie es noch gar nicht gesehen. Das Kind hatte Recht mit dem, was es sagte.

„Du vermisst ihn sehr, nicht wahr?“

„Ich dachte, es würde besser, je älter ich werde. Aber … die Gewissheit, dass er an den entscheidenden Punkten meines Lebens fehlen wird …“

„Komm, ich möchte dir etwas zeigen.“

Langsam erhob Margret sich. Sie nahm Kriemhild bei der Hand und auch ihre Augen blieben nicht länger trocken. Sie führte ihre Nichte hinaus auf die Veranda, die Stufen hinab in den Garten. Leichter Wind wehte vom Meer herüber; er vereinte das Salz der Wellen mit dem ihrer Tränen. Hinter einer Rosenhecke traten sie an ein kleines Beet.

„Ich erzählte dir bereits, dass ich schwanger war.“ Sie schluckte den Schmerz hinunter und bemühte sich, die Fassung zu bewahren. „John und mir wurde einst eine kleine Tochter geschenkt. Und kurz darauf die Gnade, uns von ihr verabschieden zu dürfen. Wenn auch ein Teil von ihr hiergeblieben ist. Hier, ganz nah bei uns.“

Kriemhild blickte auf. In ihren bezaubernden Augen lag tiefe Ehrfurcht. „Wenn es nicht zu viel verlangt ist, würde ich gern mehr über euer Kind erfahren.“

„Gern, ich finde, du hast ein Recht darauf, es zu erfahren. Komm,“ sie deutete auf die Veranda, „setzen wir uns.“

Margret schaute in die Ferne und hielt Kriemhilds Hand in ihrem Schoß.

„Im Oktober ‘61 – nicht lange nachdem wir das Sommerhaus der Gilberts bezogen hatten – stand die Geburt kurz bevor. Ich hatte zu dem Zeitpunkt bereits einige Wochen im Bett verbracht, eine dumme Grippe. Kriemhild, hättest du je einen Herbst in Neuengland miterlebt, wüsstest du, dass der Indian Summer einem mit seiner Pracht glatt den Verstand rauben kann! Wie auch immer – ich hielt es keinen Tag länger im Haus aus, geschweige denn in meinem Bett. Die ganze Natur lag in einer Art Goldrausch, die Wälder, der Zuckerahorn … Alles leuchtete Scharlachrot, Orange, Gelb und Braun.“ Margret seufzte. Vielleicht gab sie sich noch immer die Schuld daran, dass sie sich in ihrer Naivität zu so einer solchen Dummheit hatte hinreißen lassen. „Johns Vater besaß diese neue Motoryacht, eine 27` Chris Craft. Ich war ganz verrückt danach, einen Spaziergang zu unternehmen, und überredete John, mit mir hinauszufahren. Er wollte nicht. Heute bereue ich, dass ich damals nicht auf ihn gehört habe.“ „Du darfst dir keine Vorwürfe machen, Tante Margret. Das ändert den Lauf der Dinge nicht mehr.“

„Wie Recht du hast, Liebes. John gab mir nach. Wie sooft, in so vielen Dingen. Er ist einfach zu gut für mich. Er brachte mich in den Hafen auf diese Yacht, die der ganze Stolz seines Vaters war. Er ließ den Dieselmotor an und fuhr hinaus in die Bucht. Meiner Schwäche und den Schmerzen wollte ich keinerlei Bedeutung zumessen. Heute weiß ich, dass ich noch immer gefiebert habe.“

„Trotzdem bist du rausgefahren?“, fragte ihre Nichte.

„Ich war kaum siebzehn … Viel zu unreif, selbst noch ein Kind. Das Leben hatte mich viel zu früh ins kalte Wasser geworfen. Irgendwann steuerte John auf einen Hafen zu, wir gingen an Land und ich konnte es kaum erwarten, in die Pinienwälder zu gelangen. Ich rannte ihm einfach davon, hinein in die bunte Herbstlandschaft. Es tat so gut, nach der langen Bettruhe an der frischen Luft zu sein.“ Sie hielt inne und schüttelte unmerklich den Kopf. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Was wäre eine weitere Woche des Liegens gewesen gegen das Leben ihres Kindes? Eine Träne stahl sich über Margrets Wange davon.

„Du musst nicht weiterreden, Tante.“ Kriemhild entging scheinbar nicht eine einzige Geste.

„Doch, du sollst alles erfahren“, fuhr sie fort. „Wir wanderten stundenlang durch die Wälder, bis wir eine hübsche Lichtung erreichten und ein Picknick machten. Erst als ich saß, wurden die Schmerzen stärker. Ich hatte mir nichts weiter dabei gedacht, schließlich waren noch drei Wochen Zeit bis zum Geburtstermin. John bemerkte, dass etwas nicht stimmte, und wurde ziemlich ärgerlich. Er wollte mich heimbringen, aber … Es war zu spät. Ich konnte nicht mehr aufstehen. John wollte seinen Vater holen, doch ich hielt ihn zurück. In der Angst, allein zu sein, und … weil seine Familie mich nie gewollt hatte. Ebenso wenig wie dieses Kind.“

Margret konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Kriemhild drückte ihre Hand und lehnte sich an ihre Schulter.

„Dann … hast du es dort im Wald bekommen?“, fragte sie zaghaft.

Margret nickte. „Es ging vermutlich viel zu schnell für das erste Kind. John gab sein Bestes, mir beizustehen. Aber er konnte nicht wirklich helfen. Ich war so erschöpft … der Schüttelfrost, das viele Blut … und dann hielt er sie mir hin. Unsere Tochter. Wir haben sie Sue genannt. Ein so wunderhübsches kleines Mädchen …“ Margret streichelte über Kriemhilds Kopf. „Sie hatte rotes Haar. Ganz genau wie du.“

Sie schluchzte und ihre Nichte schlang die Arme um ihren Hals. Es war, als umarme ihre eigene Tochter sie.

„Sue … hat nicht geschrien“, fuhr Margret leise fort. „Sie … sie hat nicht mal geatmet. Ich weiß nicht, was passiert ist. Alles ging so schnell, es war so … unwirklich. John brachte uns in ein Krankenhaus. Einen Tag später kam Pastor Jonas zu mir. Der mitfühlendste, liebenswerteste Mensch, der mir je begegnet ist. Er hat sich um alles gekümmert. Um Sues Beisetzung.“

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