Читать книгу: «Cardiff am Meer», страница 4

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»Oh, doch – sehr wohl. Gerard ist zwar kein sehr geselliger Zeitgenosse – wie du sicher gemerkt hast! – aber er ist ein sehr verlässlicher Arbeiter. Er mäht Wiesen, schneidet Bäume, kehrt Laub mit einem richtigen Rechen zusammen, nicht mit solch einem fürchterlichen Laubbläser – nein, mit einem riesigen, riesigen Rechen, wie man ihn gar nicht mehr kaufen kann. Er wird graben, graben, graben, wo immer man es braucht. Er befreit die Zufahrten vom Schnee. Er arbeitet im Regen – im Schnee. Er kann Gebüsche lichten. Er kann Hausdächer reparieren, Kamine. Er kann kaputte Fenster austauschen. Er kann Malerarbeiten erledigen – so gut wie jeder Profi und viel preiswerter. Natürlich kann er auch eine Waffe benutzen – Gewehr, Schrotflinte. Man kann ihn anheuern, um Murmeltiere zu schießen, Waschbären – Schädlinge, die den Garten zerstören. (Gerard schießt aber keine Rehe – obwohl Cardiff überflutet ist von Weißwedelhirschen. Es ist gesetzlich verboten, Rehe innerhalb der Stadtgrenzen zu jagen, aber Gerard wird sie, wenn man ihn darum bittet, wegscheuchen.) Es gibt tatsächlich Damen entlang der Acton Avenue, die sehr von ihm abhängig sind – ›Was täten wir nur ohne Gerard Donegal!‹, sagen sie. Er hatte sich als Neunzehnjähriger im Priesterseminar eingeschrieben, wollte Gott als Priester dienen, und eine ganze Zeit lang war er auch glücklich dort. Seine Mutter war so stolz auf ihn – wir waren alle sehr stolz auf ihn – aber dann …«

»Also – neunzehn war einfach jung –«

»Neunzehn war nicht jung. Nicht für einen Seminaranfänger.«

»Neunzehn war jung, Gerard war einfach zu jung – blauäugig, sagten manche. Zu gottesfürchtig.«

»Was er alles auf sich genommen hat, diese harte Arbeit, Latein zu lernen, sich so sehr zu bemühen, des Priesteramtes würdig zu sein –«

»– gut zu sein –«

»– ein Gefäß, das mit Gott gefüllt werden will –«

»– mit Jesus –«

»– einfach zu viel für den armen Gerard – glauben wir –«

»Und dann – unsere Familientragödie …«

»Der arme Gerard! Alles endete so – abrupt …«

»Ah, was sagst du da? Du meinst, der arme Conor

»Conor, Gerard – unsere geliebten Neffen! – Gott sei uns allen gnädig.«

Clare hat aufmerksam zugehört. Sie fühlt sich wie ein Kind inmitten boshafter Erwachsener, die sich unverständlich schnell in einer Art Geheimcode unterhalten. Sie kann die Bedeutung der Worte nicht verstehen. Sie muss mit jeder Faser ihres Seins zuhören. Was wollen die Großtanten ihr sagen?

Clare hört sich selbst mit schwacher Stimme stammeln: »Das – heißt – dann – wohl – dass – sie – nicht mehr – leben? Also, meine Eltern?«

Bestürzte Stille. Elspeth und Morag tauschen schnell einen flüchtigen Blick, antworten aber nicht, so als ob ihre ahnungslose junge Verwandte etwas wirklich Obszönes von sich gegeben hätte.

Selbstverständlich sind deine Eltern tot. Niemand spricht mehr von ihnen.

Was hast du denn geglaubt – dass sie alle diese Jahre gelebt und nur auf dich gewartet haben?

Clare möchte ihre Großtanten gar nicht anschauen, möchte gar nicht sehen, wie sie sie anschauen – mitleidig? mitfühlend? entrüstet?

Sie bedankt sich für das Frühstück und bietet ihre Hilfe an, den senfgelben Tisch abzuräumen, doch mit einem Zischen gibt Elspeth ihr zu verstehen, still zu sein.

»Bitte, Clare! Das wollen wir gar nicht hören. Du bist doch Gast in Maude Donegals Haus.«

Morag stimmt ihr nachdrücklich zu. »So ist es. Ich räume den Tisch ab. Jetzt beginnt meine Schicht, glaube ich.« Sie hievt sich hoch auf ihre kurzen Beine und prustet los, wie nach einem fragwürdigen Witz.

Wie es aussieht, wechseln die Großtanten sich mit der Hausarbeit ab. Sie erklären Clare, dass sie bis zum Termin beim Nachlassgericht und bis alle Grundstücksangelegenheiten abgewickelt sind, gezwungenermaßen die Zahl der Hausangestellten verringern müssen.

»›Abwechseln‹ – hör sich einer das an! Ich tue hier die meiste Hausarbeit.«

Morag lacht lauthals auf.

»Tust du nicht! Das ist eine Verleumdung.«

»Was? Verleumdung?«

»Ich erledige alle finanziellen und geistigen Arbeiten, was viel anstrengender ist …«

Während das Gezänk der Schwestern hin- und hergeht, schweift Clares Blick durchs Fenster nach draußen. Wohin ist Gerard verschwunden? Sie kann nur eine Ligusterhecke sehen, die wild über einen Weg aus gebrochenen Steinplatten wächst, Regentropfen. Es scheint, als ob Gerard in diese Richtung verschwunden wäre, aber keine Spur von ihm.

»Gerard lebt mit euch in diesem Haus zusammen?«, fragt Clare.

»Gerard lebt in diesem Haus, wie wir auch«, sagt Elspeth.

»Wir sind keine Donegals, weißt du – Morag und ich. Unser Familienname ist Lacey.«

Elspeth spricht mit einem Anflug von Stolz, so als ob der Name Lacey Clare beeindrucken könnte. Morag korrigiert: »Unser Mädchenname ist das – Lacey.«

»Sei nicht albern! Lacey ist unser Familienname, nicht unser Mädchenname – weil wir doch gar nicht verheiratet sind.«

»Ja, natürlich sind wir nicht verheiratet! Ich auf jeden Fall nicht.« Morag lacht noch einmal von Herzen.

»Und deswegen können wir gar keinen ›Mädchen‹namen haben, wenn wir gar nicht verheiratet sind. Wir haben doch nur unseren eigenen Familiennamen. Manchmal habe ich wirklich das Gefühl, ich spreche mit einem dickköpfigen Idioten, der nicht die einfachsten Dinge versteht.«

Elspeth lacht verbittert, rollt ihre Augen in Clares Richtung.

Aber Morag ist fest entschlossen, Clares Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen. »Maude war die einzige Lacey-Schwester, die sich getraut hat, zu heiraten. Sie hatte den Mut, der den anderen fehlte. Diese Herausforderung, ›die Spezies zu reproduzieren‹ –, eine Aufgabe, die für manch anderen zu groß ist.«

»Und sie hat sehr gut gewählt. Einen älteren Herrn –«

»– Le-land –«

»Sie hat uns aber nie im Stich gelassen – oder nicht sehr lange.«

»Was meinst du damit – nicht sehr lange? Maude war immer sehr großherzig zu ihrer Familie –«

»– fast immer –«

»– und als dann diese Tragödie über ihr Leben hereinbrach, brauchte sie ihre Schwestern nah bei sich.«

Tragödie? – das muss der Autounfall sein, denkt Clare. Aber sie traut sich nicht, die Großtanten auf dieses sensible Thema anzusprechen.

Die Großtanten erzählen Clare, dass Gerard kurz vor seiner Priesterweihe aus dem Seminar hatte aussteigen müssen. Eine furchtbare Tragödie für einen jungen Mann, wo er doch fünf, sechs Jahre so hart dafür gearbeitet hatte. »Wie lange es auch immer dauert, Jesuit zu werden. Es ist eine sehr lange Zeit. Er war tiefgläubig – spirituell – so ganz anders, als er jetzt ist. Und es war Gerard, der den Unfall – entdeckt hat.«

Clare steht stocksteif, hört zu. Den Unfall?

»Solch ein Anblick, das war eine traumatische Erfahrung für Gerard. Er hat sich nie wieder erholt. Er erlitt einen Nervenzusammenbruch, wie es so heißt – hat sich nie davon erholt.«

»Und welch Tragödie für die Kirche, solch einen tiefgläubigen Priester zu verlieren! Jeder, der ihn kannte, sagte, er sei dazu bestimmt, Priester zu werden – schon als er ein kleiner Junge war, konnte man die Gottergebenheit in seinem Gesicht sehen.«

»Er sang im Chor – ein glockenreiner Knabensopran …«

»Ganz anders als Conor – der war kein Typ, der alles in der Welt aufgegeben hätte für Gott, so wie Gerard …«

»Oh, Conor! Er hat auch einen hohen Preis bezahlt – weil er die Welt zu sehr geliebt hat.«

»Weil er sie zu sehr geliebt hat.«

»Ach ja! Gott hab ihn selig.«

»Gott hab sie alle selig.«

Clare hört gespannt zu, dankbar. Sie? War damit ihre Mutter gemeint, Kathryn? Sie glaubt, dass die Großtanten ihr in ihrer wahnsinnig verqueren Art wichtige Informationen mitteilen werden. »Der Unfall – meinst du den Unfall, in dem meine Eltern gestorben sind? Ein Autounfall?«

Elspeth fängt Morags Blick ab, so als ob sie sie warnen wollte – Kein Wort.

Doch jetzt sprechen alle so offen. Clare vermutet, dass man von ihr erwartet, alles mitzubekommen und nachzufragen.

»Du hast gesagt, Gerard habe den Unfall ›entdeckt‹? Heißt das – auf der Straße? Auf der Autobahn? Ist er rausgefahren, um zu schauen, wo sie geblieben sind? Willst du das damit sagen?« Clare fühlt sich wie ein strampelnder Schwimmer kurz vor dem Ertrinken. Doch die Großtanten blicken sie nur stumm an, als beobachteten sie sie von Land aus, neugierig abwartend, nicht sehr wohlwollend.

Elspeth seufzt wieder einmal, gereizt. Morags schmaler Mund verzieht sich, um ein Lachen zu unterdrücken.

»Wer hat denn gesagt, dass Gerard jemanden auf der Autobahn entdeckt hat? Niemand. Gerard war derjenige, der – (wir kennen überhaupt keine Einzelheiten darüber, sie wurden uns vorenthalten) – sie entdeckt hat –«

»– die Körper …«

»– die Überreste, wollte ich sagen. Überreste heißt das doch, glaube ich.«

»Überreste ist ein schrecklicher Begriff! Hör auf damit.«

»Hör du auf. Mach dich nicht lächerlich.«

Clare fühlt sich benommen, orientierungslos. Es macht ihr Mühe, die beiden betagten Damen weiterhin freundlich anzulächeln, wenn die beiden ihrerseits nur sich gegenseitig anblicken und Clare ignorieren, so als ob das Gespräch sie gar nichts anginge.

Sie haben eine Salve kleiner Pfeile in ihr Herz geschossen. Und sie hat keine Ahnung, wie schwer sie jetzt schon verwundet ist.

»Entschuldigt mich! Es reicht«, sagt sie, bevor sie sich auf den Weg die Treppe hoch in ihr Zimmer macht. In dem antiquierten Bad neben ihrem Zimmer muss sie vor der altertümlichen Toilette hockend einem Würgeanfall nachgeben, sie schwitzt, fühlt sich hundeelend; sie schafft es lediglich, eine dünne, widerlich schmeckende Flüssigkeit auszuspucken. Doch das, was sie so krank fühlen lässt, ist ein harter und klebriger kleiner Ball in ihrem Magen, der sich nicht so leicht rauswürgen lässt.

Hassen sie mich, weil ich Erbin des Anwesens ihrer Schwester bin? Weil ich nicht eine von ihnen bin, kein Recht habe, hier zu sein? Haben sie mich etwa vergiftet – nochmals?

8.

Fest entschlossen hatte sie diese Gedanken ihr ganzes Leben lang verdrängt – die Gedanken an ihre (leiblichen) Eltern.

Jetzt ist sie besessen von den Gedanken an sie. Sie fressen sich wie Zecken tief in ihr Fleisch.

Winzige, verhasste Insekten, die man sich nicht traut mit einer Pinzette herauszuziehen, aus Angst, ihre schwarzen Körper in Stücke zu reißen, unwiederbringlich.

Will unbedingt wissen, ob ihre Eltern noch leben oder tot sind. Und falls gestorben, wie? Warum? Und warum wurde sie zur Adoption freigegeben, wenn die Donegals doch wohlhabend waren?

Clare wird nachfragen, wo ihre Eltern begraben sind. (Wenn sie überhaupt begraben sind. Egal, wo.) Ein Friedhofsbesuch hier in Cardiff. Wie auf einem traumgleichen Foto von Julia Margaret Cameron wird sie durch diesen grauen und gespenstischen Tag wandeln, unter schweren Wolken und prasselndem Regen.

Hartnäckig und trotzig wie ein Kind wird sie versuchen, sich ihre eigenen Gedanken zu verbieten. Vielleicht ist ja einer von den beiden noch am Leben, wenigstens einer. Kann doch sein.

Welch große Erleichterung, das bedrückende Steinhaus in der Acton Avenue verlassen zu können!

Draußen ist die Luft frischer. Sie kann tief durchatmen. Der verhangene Himmel scheint sich Schicht für Schicht in durchscheinende Wolken aufzulösen. Sie schaut herum, fragt sich, ob sie ihn sieht – wen? Eine hinkende Gestalt …

Aber nein. Niemand.

Fährt in die Innenstadt von Cardiff zu Lucius Fischers Kanzlei. Ihr Termin ist um elf Uhr morgens, und sie möchte auf keinen Fall zu spät kommen. Ihre Gedanken sind ein heilloses Durcheinander, zerfahren. Weiß nicht, was sie von ihren Großtanten halten soll – ob sie auf ihrer Seite sind.

Möchte sich nicht lächerlich machen. Natürlich meinen die betagten Großtanten es gut mit ihr. Sie sind nervtötend, zum Verzweifeln – aber im Grunde sind sie ihre Freundinnen.

Trotz allem – Clare hat das Gefühl, dass die beiden sich manchmal über sie lustig machen. Sie verhöhnen, gehässig.

Als sie versucht, sich zu erinnern, was sie ihr über ihre Eltern erzählt haben, fällt ihr nichts ein. Es fühlt sich an, als ob ein grober Stoff vor ihrem Gesicht hinge – durch den sie weder sehen noch hören kann.

Leben sie, oder – nicht? Bitte sagt es mir.

Noch immer ist sie wacklig auf den Beinen nach dem Würgeanfall. Die Übelkeit ist nahezu weg, doch der klebrige Brocken Haferbrei drückt weiterhin in ihrem Bauch.

Sie nimmt sich vor, noch am selben Nachmittag das Donegal-Haus zu verlassen. Direkt nach dem Termin mit Fischer. Kann es nicht erneut riskieren, dort eine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Selbst wenn die Tanten nicht versuchen, sie zu vergiften, kann das Essen, was sie ihr geben, doch verdorben sein, vergammelt.

Je nachdem, was Lucius Fischer ihr mitteilt, wird sie möglicherweise schon am folgenden Morgen nach Bryn Mawr zurückkehren.

Ihr Erbe ausschlagen, wäre möglich. Ja.

Eine schnelle Entscheidung. Wie wenn man spontan nach einem Messer greift und sich die eigene Gurgel aufschlitzt.

So wie sie einmal einem Liebhaber mitgeteilt hat – aus heiterem Himmel – Das war’s. Es reicht. Ich glaube, wir sind am Ende.

Ihr einziges Erbe. Ihre einzige Verbindung zu Blutsverwandten. Verbindung zu ihren (verstorbenen) Eltern.

Sie könnte es ausschlagen. Sie braucht die Donegals nicht in ihrem Leben. Sie hat den größten Teil ihres Lebens ohne sie gelebt, warum sollte sie ihnen jetzt ausgeliefert sein?

Die Art und Weise, in der Gerard Donegal hart seinen Stuhl zurückgeschoben hat, sich auf die Füße hochgewuchtet und ihr den Rücken zugewandt hat, und wie er dann rausspaziert ist. Der Bruder meines Vaters. Nichts verbindet uns. Warum auch? Nichts.

Obwohl Clare mehr Zeit als genug hatte, um vom Haus in der Acton Avenue die drei Kilometer bis zum Treffpunkt zu fahren, ist sie jetzt spät dran. Erstaunt bemerkt sie, dass es schon fast elf ist, als sie die State Street, die Hauptstraße in Cardiff, ausfindig macht. Plötzlich findet sie sich in einem Labyrinth von engen Einbahnstraßen wieder, durch die ein dichter Autostrom fließt, so langsam und bedächtig wie bei einem Beerdigungszug, anschließend in einer einzigen Spur durch eine nicht enden wollende Baustelle. Läuft zu Fuß weiter, nachdem das Auto geparkt ist, kann aber die Adresse, die sie bekommen hat, nicht ausfindig machen, sie läuft verzweifelt einen Bürgersteig entlang in ein Viertel hinein, das nur aus dem Schutt abgerissener Häuser besteht …

Zu spät! Jetzt wird sie doch noch zu spät kommen.

Verdammt. Warum hast du das gemacht? Einen Anruf angenommen, ohne den Anrufer zu kennen.

Das war der ursprüngliche Fehler.

9.

»Miss Seidel! Bitte nehmen Sie Platz.«

Lucius Fischer schüttelt kräftig Clares Hand. Und lässt sie nahezu im selben Moment wieder los. So nüchtern und sachlich, wie er sie anschaut, dann wieder tief in Gedanken versunken, begreift Clare augenblicklich, dass es keine engere Beziehung zwischen ihr und diesem Rechtsanwalt mittleren Alters geben kann, keine besondere Verbundenheit. Druck und Anspannung, die sich in ihrer Brust zusammengeschnürt hatten, lösen sich langsam auf, rieseln hinab, wie Sand auf einen Haufen.

Wie dumm sie doch ist! Am Telefon hatte Lucius Fischers tiefe Baritonstimme sie in einer Art Zauber gefangen genommen. Als ob sie die Hoffnung haben könnte, in diesem weit entfernten Cardiff, einem Ort, von dem sie bis vor Kurzem noch nie gehört hatte, eine Art (unwahrscheinlicher) Romanze, ein sexuelles Abenteuer zu finden.

Oder wenigstens einen Freund. Jemanden, der sich um sie sorgte.

Fischer hatte ihr im Telefongespräch das Gefühl gegeben, er habe Vertrauen zu ihr. Sie konnte sich das doch nicht eingebildet haben – oder?

Er schien ihr versprochen zu haben – Ich lotse dich da durch, Clare. Du kannst mir vertrauen.

Sorgsam erklärt Fischer ihr, dass er sowohl der Testamentsvollstrecker von Maude Donegal sei als auch ihren letzten Willen damals zusammen mit ihr aufgesetzt habe. Er erklärt, dass das Testament ungewöhnlich kompliziert sei, da es über einen Zeitraum von zwanzig Jahren hinweg einige Male neu geschrieben werden musste.

»Es gab ein Originaltestament, das ein früherer Kompagnon dieser Kanzlei aufgesetzt hat«, sagt Fischer und erwähnt einen Namen, der Clare nichts sagt und der auch keinen Eindruck auf sie macht, »doch dieses Original wurde natürlich verändert. Und nach Leland Donegals Tod noch einmal angepasst.«

Clare fragt sich, warum er ihr dies alles erzählt. Gibt es irgendein Geheimnis, das das Testament ihrer Großmutter umgibt? Eine Art legaler Unregelmäßigkeit? Sie hört fasziniert zu, als er von den Lacey-Schwestern, Elspeth und Morag – »Ihre respekteinflößenden Großtanten – die beiden ledig gebliebenen Schwestern einer längst vergangenen Ära« spricht. Beide Frauen, Elspeth und Morag, schlossen ihr Pädagogikstudium in den 1960er-Jahren in der Universität von Maine ab. Beide wurden Lehrerinnen. Morag unterrichtete Mathematik und leitete das Bogenschützen-Team der Schule. Beide Frauen waren aktive Mitglieder der Gemeinde St. Cuthbert. Ihr Neffe Gerard – Maude Donegals jüngerer Sohn – besuchte mit Anfang zwanzig das Jesuitenseminar in Portland.

»Man sagte damals, dass Gerard eine sehr vielversprechende Karriere vor sich habe. Zu jener Zeit kannte ich Gerard natürlich noch nicht – ich wurde erst anschließend auf ihn aufmerksam.«

Anschließend? Clare stutzt.

Fischer sagt Clare, dass er die Familie Donegal ursprünglich durch Leland Donegal kennengelernt hatte, der nach der Pensionierung eines älteren Teilhabers in Fischers Anwaltskanzlei sein Mandant wurde. Leland hatte das Holzunternehmen der Familie Donegal – »eine jener alten Familien in Maine, die durch das Abholzen von Wäldern ein Vermögen verdient haben« – geerbt und es nach Cardiff-Maßstäben zu großem Wohlstand gebracht.

Wie sich später herausstellte, hatte Leland sich nicht sehr gut um seine Geschäfte gekümmert. Sein Wunsch war es, als berühmter Wohltäter in die Geschichte einzugehen, wie die Carnegies und die Rockefellers. Es müssen Millionen von Dollar gewesen sein, mit denen er Stipendien für amerikanische Studenten finanziert hat, Museen und Colleges, Krankenhäuser und die Kirche unterstützte – bis irgendwann sein Reichtum zur Neige ging.

»Offensichtlich passierte ihm dann etwas sehr ›Unangenehmes‹. Leland hatte dem Jesuitenseminar, in dem Gerard eingeschrieben war, eine Million Dollar zugesagt, aber dann – musste er diese Zusage zurücknehmen, eine Schmach für die ganze Familie. Und es gab noch eine Reihe ähnlicher Absagen.«

Clare möchte mehr über Gerard in jungen Jahren wissen: War er damals schon so menschenscheu, auf gewisse Art behindert, entstellt? Oder war ihm etwas passiert? Allerdings möchte sie bei Lucius Fischer auch nicht den Eindruck hinterlassen, sie sei eine neugierige Person.

»Und – meine Eltern? Sind sie …«

Clare zögert. Denn sie kennt die Antwort.

Falls Clares Frage Fischer verwirrt, so ist er doch zu sehr Gentleman und zu sehr Profi, als dass er seine Verwirrung durchblicken ließe.

»Ihre Eltern, Miss Seidel? Sie wissen doch sicher – leider sind sie nicht mehr am Leben.«

Nicht mehr am Leben. Eine eigenartige Formulierung.

»Sie sind gestorben, meine Liebe – verstarben – am 6. Januar 1989.«

»Ah. Ich verstehe.« Ein ausdrucksloses Lächeln. Clare wischt sich die Augen. Selbst jetzt ist sie sich nicht sicher, ob sie es richtig verstanden hat. »Sagten Sie – beide? Ich meine … alle beide

»Leider ja. Alle beide.«

»Am selben Tag? Beide – gleichzeitig?«

»Hat Sie niemand informiert, Miss Seidel?«

»Ich – ich – glaube schon, doch. Aber …«

Natürlich weiß Clare Bescheid. Hat es immer gewusst. Muss es gewusst haben. Die Seidels haben es ihr erzählt. (Oder?) Aber das ist viele Jahre her. Ganz sicher ist das viele Jahre her.

Was für ein bemitleidenswerter Gedanke, dass einer oder beide Elternteile möglicherweise noch am Leben seien und dass sie, Clare, hier in Cardiff mit ihnen »wiedervereinigt« würde. Sie hat auf einmal das Bedürfnis laut zu lachen, ein hartes Lachen.

Bitte hilf mir. Ich bin so einsam. Bitte.

Clare schüttelt den Kopf, um ihn freizubekommen. Was um Himmels willen hat sie nur für Gedanken! Blut schießt ihr ins Gesicht und sie hat Angst, der (verdutzte, verwirrte) Anwalt könne ihre Gedanken lesen.

Steife, entschuldigende Worte von Fischer: »Es tut mir leid, dass ich Sie so aus der Fassung gebracht habe, Miss Seidel. Wenn ich irgendwie …«

»Ja. Sagen Sie mir bitte: Wie sind meine Eltern gestorben?«

»Wie Ihre Eltern starben? Also, ich glaube – das wurde nie mit Sicherheit bestätigt. Ich bin nicht mit allen Einzelheiten des Falles vertraut, weil ich zu jener Zeit nicht in Cardiff gelebt habe …« Fischer wählt seine Worte sorgsam, er zögert. »Der beste Rat, den ich Ihnen geben kann, ist der, die Todesanzeigen zu lesen, Miss Seidel. Und andere öffentlich verfügbare Dokumente. Wahrscheinlich können Sie die Todesanzeigen nicht online abrufen, aber es ist auf jeden Fall möglich, sie im Cardiff Journal auf Mikrofilm in der Zentralbibliothek einzusehen. Das wäre eigentlich die beste Idee.«

»Sie sind bei einem Unfall gestorben? Bei einem Autounfall?«

»Kann sein, dass es eine Art Unfall war. Möglich. Aber ich glaube, Sie sollten das nachlesen. Ich rate Ihnen, das nachzulesen.«

»Was für eine Art Unfall war es denn?«

Clare hat ein flammendes Inferno auf der Autobahn vor Augen. Ein Sattelzug, ein zermalmter PKW. Sie fragt sich plötzlich, warum sie damals nicht mit ihren Eltern in diesem Auto war. Wo war sie denn in jenem Moment?

»Ich habe versucht, es Ihnen zu erklären, Miss Seidel – ich habe zu jener Zeit nicht in Cardiff gelebt und hatte auch beruflich damals nichts mit Ihrem Großvater Leland Donegal zu tun.«

Pause. Zu viele flüchtige Informationen, um sie alle zu verarbeiten. Clare fühlt sich wie gefangen in einem bergab rasenden Auto auf einer kurvenreichen Straße. Außerstande zu steuern, außerstande zu bremsen.

Mit der Absicht, das Thema zu wechseln, fragt Fischer Clare, ob sie Kaffee möchte. »Unsere Sekretärin bringt Ihnen gerne einen, wenn Sie möchten.«

Clare lehnt ab, bedankt sich aber herzlich. In ihrer derzeitigen, leicht verletzlichen Gemütsverfassung werden kleine Freundlichkeiten hochgeschätzt.

Noch immer ist Fischer bemüht, Clare vom Tod ihrer Eltern abzulenken. Deswegen fragt er sie, übertrieben höflich, wie ihr Cardiff gefällt. Und ihre Großtanten? Und wie gefiel ihr die Fahrt entlang der Küste von Bryn Mawr?

Clare hört sich selbst herumstottern, nach Antworten suchen. Ein Teil ihres Gehirns versucht eine Art Konversation zu führen.

»Wussten Sie, dass Cardiff ursprünglich Cardiff-by-the-Sea hieß? Aber niemand nennt es mehr so und die meisten der Bewohner haben es auch längst vergessen.«

Es folgen persönliche Fragen, freundlich und zuvorkommend. Fischer bereitet sie sorgfältig vor, denkt sie. Hütet sich, sie in den engen Grenzen seines Büros zu beunruhigen.

Clare erzählt Fischer, dass sie den B.A. an der Universität von Minnesota abgeschlossen hat und einen Ph.D. in Kunstgeschichte an der Universität von Chicago, doch dass sie noch nicht sehr häufig Kunstgeschichte unterrichtet hat. Vielmehr hat sie sich um Forschungsstipendien beworben, um ihre Projektarbeit ungehindert fortführen zu können: Zunächst bekam sie ein Guggenheim-Stipendium, durch das sie frei und selbständig ihre Monografie zu Leben und Werk von Gertrude Stanton Kasebier fertigstellen konnte. Diese Arbeit wurde anschließend von angesehenen Zeitschriften der Kunstgeschichte publiziert und in kleineren Fachmagazinen rezensiert; ihr zweites Stipendium erhielt sie vom Institut für Geisteswissenschaften von Bryn Mawr. Nach dieser Aufzählung gewinnt Clares Leben – ihr schien es bisher immer so spärlich, minimalistisch, teilweise sogar klösterlich – enorm an Bedeutung. Fischer lächelt sie an, offensichtlich beeindruckt. Es liegt eine Art Romantik darin, ein Leben, in kleinen Anspielungen zu beschreiben.

»Ehrlich, Miss Seidel, ich beneide Sie. Sich mit Schönheit zu umgeben, statt mit – Gesetzen.«

Clare nickt stumm. Ja.

»In der Kunst ist selbst das Hässliche wunderschön, irgendwie. Stimmt’s?«

Clare nickt. Dasselbe hat sie auch schon häufig gedacht. Je kühner und geheimnisvoller die Hässlichkeit, desto größer die Schönheit. Ja.

»Ich glaube allerdings, dass der Grund Ihres Besuches heute eher die Modalitäten Ihrer Erbschaft sind – habe ich recht?«

Es scheint, als ob Clare nur eine von vielen ist, die Maude Donegal in ihrem Testament bedacht hat. Die Situation ist kniffliger als üblicherweise, gibt Lucius Fischer zu, denn Mrs. Donegal hatte mehrere Testamente zurückgelegt, zwei davon wurden nicht in Cardiff, sondern von einer Anwaltskanzlei in Portland aufgesetzt. Tatsächlich wurden die Begünstigten, auch Elspeth und Morag waren darunter, je nach Lust und Laune wohl raus- und wieder reingenommen, ihre Namen herausgestrichen und wieder eingefügt; wieder raus und wieder rein, häufig von Mrs. Donegal höchstpersönlich, in ihrer eigenen, spinnenhaft-krakeligen Handschrift. Häufig waren damals keine tauglichen Zeugen anwesend. Das letzte, von Fischer selbst im November 2017 verfasste Testament, das ihn als Nachlassverwalter benennt, nimmt selbstverständlich einen höheren Rang ein als alle vorherigen, doch von den in früheren Testamenten bedachten Personen sind jetzt Forderungen zu erwarten. Die früher Begünstigten werden wohl Entschädigungen bekommen, wenn ihre Forderungen nachvollziehbar sind.

Und es gebe noch eine weitere Komplikation, erklärt Fischer Clare, denn ihr Name tauche erstmals überhaupt erst im Testament von 2015 auf. Die Erbschaft wurde der »überlebenden Tochter von Conor Donegal« überschrieben. Lediglich im allerletzten Testament hatte Maude Donegal den Namen Clare Ellen Seidel notiert.

Wie merkwürdig, denkt Clare. Überlebende Tochter von Conor Donegal – so als ob Clare keine Mutter gehabt hätte …

Und überlebende Tochter hört sich so an, als ob es noch eine Tochter oder Töchter gegeben hatte, die nicht überlebten.

Trotz allem versichert Fischer Clare, dass es über ihr Erbe keinerlei Unklarheit gibt: knapp fünf Hektar Ackerland und Wald, ein Farmhaus und Nebengebäude im Norden von Ashford County, Post Road.

Tatsächlich: Eigentum. Clare fühlt eine Welle des Glücks bei diesem Gedanken.

»Schade, ich habe kein Foto von dem Anwesen für Sie. Ich habe es auch noch nie selbst gesehen. Der Norden von Ashford County ist, glaube ich, nur sehr spärlich besiedelt. Wunderschöne Landschaft, hügelig – entlang der Küste. Man erzählte mir, das Anwesen sei ziemlich heruntergekommen … Es gibt auch noch Steuerrückstände, die Sie begleichen müssen. Tut mir leid, aber so will es das Gesetz.«

Lucius Fischers So will es das Gesetz! hört sich fast vergnügt an.

Clare erfährt, dass sie frühestens in drei Monaten in den Besitz ihres Eigentums kommt. Weiß sie über die Feinheiten im Prozedere eines Nachlassgerichtes Bescheid …?

Clare schüttelt den Kopf, nein, sie weiß nur sehr wenig über das Nachlassgericht. Sehr wenig über Testamente. Sie fühlt sich schwindlig, orientierungslos.

Nicht mehr am Leben. Überlebende Tochter.

Fischer klärt sie darüber auf, dass sie laut Gesetz Geld leihen kann, um die Forderungen zu begleichen, wenn sie möchte.

»Machen die Leute das so? Einen Kredit aufnehmen auf ihr Erbe?« Clare ist verblüfft.

»Oh ja. Häufig.«

»Wirklich! Also ich würde das nicht tun.«

Jemand hat mich geliebt. Nach all diesen Jahren.

Hier ist der Beweis: Clares Großmutter hat die Anstrengung unternommen, ihren Namen in Erfahrung zu bringen und sie ausfindig zu machen. Nach so vielen Jahren, Clares Name in ihr Testament eingefügt.

»Die Menschen tun unerwartete Dinge«, sagt Fischer, als könne er Clares Gedanken lesen, »wenn sich ihr Leben dem Ende nähert. Manchmal spielt da das Gewissen eine Rolle – als ob ein halb begrabener Gott erwacht.«

Was für eine seltsame Bemerkung!, findet Clare. Es dämmert ihr, dass Lucius Fischer doch weniger durchschnittlich ist, als sie dachte.

»Mrs. Donegal war, soweit ich weiß, keine außergewöhnlich exzentrische Person, doch ihr Testament ist auf jeden Fall ein recht exzentrisches Dokument.«

Fischer hat Kopien jener Seiten gemacht, die Clares Erbe betreffen, damit sie zu Hause alles nachlesen kann. Das gesamte Testament umfasst mehr als dreißig Seiten komplizierter Juristensprache, das meiste davon hat gar nichts mit ihr zu tun.

»Vielen Dank! Das ist ja – wunderbar …«

Clare ist freudig erregt, sie wünschte, sie könnte dieses Gefühl mit jemandem teilen.

In meinem Alter. Aus dem Nichts heraus. Jemand sorgte sich um mich.

Fischer ist aufgestanden. Zeit, zu gehen. Wenn sie keine weiteren Fragen hat …

Sie hat das Gefühl, dass sie etwas vergessen hat … Aber was hat sie vergessen?

An der Wand hinter Lucius Fischers Schreibtisch hängt ein glänzender Mahagoni-Rahmen mit einem Diplom: LUCIUS M. FISCHER, UNIVERSITY OF MAINE LAW SCHOOL.

Für einen kurzen, verwirrenden Augenblick fragt Clare sich, ob das Diplom echt ist. Ob überhaupt irgendetwas hier – echt ist.

Ein Gefühl, als ob ihre Persönlichkeit sich auflöst. Wie Tau, den unbarmherzig die Morgensonne trifft.

Möchte mit der weinerlichen Stimme eines Kindes fragen – Sind meine Eltern noch am Leben oder tot?

Und: Wie sind sie gestorben? Und warum wurde sie zur Adoption freigegeben? Gab es niemanden in der gesamten Familie Donegal, der sie haben wollte?

Sie könnte auch fragen, wo ihre Eltern begraben sind. Wenn sie überhaupt begraben sind.

In ihrem Berufsleben zeichnet sich Clare durch ihre Redegewandtheit aus, niemals fehlen ihr die Worte, niemals zeigt sie Hemmungen, doch hier, in Anwesenheit von Lucius Fischer, ist sie voller Furcht vor den Antworten, die sie auf ihre heiklen Fragen bekommen könnte.

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