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4.

Am folgenden Tag kommt die Post von Lucius Fischer an. Clare erfährt, dass sie knapp fünf Hektar Land, ein Haus mit Nebengebäuden in der Post Road 2558, in Ashford County, Maine, geerbt hat.

Grundbesitz! Besser als bares Geld, das keinen bleibenden Wert hat; Grund und Boden, das ist etwas, das Clare besitzen kann.

Viele Male überfliegt sie den Begleitbrief des Rechtsanwalts, doch sie kann keine neuen Informationen entdecken. Keinen persönlichen, freundlichen Nachsatz – Herzlichen Glückwunsch, Miss Seidel!

Wirklich nur ein ordnungsgemäßer, formeller Brief auf steifem Papier mit dem Briefkopf

ABRAMS, FISCHER, MITTELMAN, & TROTTER.

Fischers Unterschrift ist nahezu unleserlich. Sie hatte einige Tage zuvor solch eine merkwürdige, innere Nähe zu ihm verspürt …

So haben wir uns kennengelernt. Durchs Telefon.

Durch das Testament meiner Großmutter.

Lächelt bei dem Gedanken daran, wie diese Geschichte aus einem zukünftigen Blickwinkel heraus erzählt werden könnte. Wie sich ein Leben (zufällig) mit einem anderen Leben kreuzt, und sich beide Leben dadurch für immer verändern.

… es war purer Zufall! Das Telefon klingelte, ich ging dran, und Lucius war am anderen Ende und sagte: Hallo? Spreche ich mit Clare Seidel?

Hat mein Leben vollkommen auf den Kopf gestellt. Und seins.

Clare sieht den Sommer an der Atlantikküste. Glasfront mit Blick auf den Ozean. Große Hemlocktannen, eine kurvige Landstraße. Geröllstrände. Herandonnernde, graublaue Atlantikwellen, selbst im Sommer zu kalt zum Schwimmen. Unablässiger Wind.

Sieht sich in weißen Kleidern, eine traumhafte Schönheit aus einem Aquarell von Winslow Homer. Schreitet die Steinstufen zum Strand hinunter. Hinter ihr eine geheimnisvolle Figur …

Fast kann Clare das Gesicht des Mannes erkennen. Aber in dem Moment, in dem sie es anstarrt, löst es sich nach und nach auf. Verschwimmt hinter Tränen.

Nein: Sie wird das Anwesen verkaufen. Wenn sie kann.

Niemals wird sie draußen in Ashford County, Maine, leben. Ihr Job verlangt, dass sie in großen Städten zu Hause ist, immer in der Nähe von Forschungsinstituten.

Fischer hat Clare darüber informiert, dass sie dreißig Tage Zeit hat, um ihre Ansprüche im Nachlassgericht von Ashford County geltend zu machen. Sie fragt sich – wie viel ist das Anwesen wohl wert? Lohnt sich die ganze Mühe?

Clare könnte das Geld gut gebrauchen. Sie ist dreißig Jahre alt und hat immer nur als Aushilfe gearbeitet, Zeitverträge, an der Uni. Wenig Geld auf dem Sparbuch. Sie sah sich immer gerne als Mensch, der von materiellen Dingen unabhängig ist. Obwohl sie eine Schwäche für schöne Dinge hat, muss sie diese nicht besitzen.

Landschaften, Kunst. Musik. Darin kann man Vergnügen finden, ohne sie zu besitzen.

So wie man auch Vergnügen an Menschen finden kann, an Liebhabern – ohne dass sie einen besitzen.

Sie wollte nie heiraten, geschweige denn Kinder haben. Schreiende Babys erfüllen sie mit Schrecken. Kreischende Kinder erfüllen sie mit Panik. Ein (ehemaliger) Liebhaber beschwerte sich, dass Clare häufig »wegdriftete«, wenn er mit ihr zusammen war: Er wusste nie, wo zum Teufel ihre Gedanken waren, aber er konnte fühlen, dass sie nicht bei ihm waren.

Clare zuckt noch immer zusammen, wenn sie nur daran denkt. Sie bereut es, eine andere Person verletzt zu haben.

In deinem Netz. In deinem Kokon. Pass auf, wen du hereinlässt.

An jedem Ort, an dem sie lebte, nachdem sie das Haus ihrer Eltern verlassen hatte, hat sie sich einen kleinen Freundeskreis aufgebaut, in dem aber keiner den anderen kennt. Das ist Clare wichtig – dass ihre Freunde sich nicht gegenseitig kennen. Und jedes Mal, wenn sie in eine andere Stadt zieht, lässt sie die Beziehung zu diesen Freunden einschlafen.

Wenn allerdings einer ihrer Freunde den Kontakt zu ihr nicht pflegt, dann ist sie tief verletzt, beunruhigt.

Ihre Gefühle anderen gegenüber sind kurzlebig, aber kraftvoll. Wie ein Feuer, das heiß auflodert und dann schnell abkühlt.

Fühlen andere genauso? Es gab Männer – es gab Frauen –, die Clare mochten, von denen sie sich aber rasch zurückzog.

Seit sie erwachsen ist, hatte Clare eine ganze Reihe von Liebhabern. Genauso wie eine ganze Reihe von Freunden. Viel mehr Freunde als Liebhaber, aber viel mehr Liebhaber als Verwandte. Bis jetzt.

»Ach, verdammt. Was soll’s?«

Spontan entscheidet sie, eine Flasche Wein zu öffnen. Chardonnay, den sie vor einigen Wochen gekauft hatte, um Freunde zum Essen einzuladen, doch es war etwas dazwischengekommen. Erst mal etwas feiern, denkt Clare.

Die Nerven beruhigen. Ausnahmsweise.

Noch nie hat Clare allein getrunken. Allein trinken ist eine sehr bewusste Entscheidung. Hat etwas Trauriges. Sie leert ihr Glas, wie aus Trotz.

Es ist Zeit, zu Hause in St. Paul anzurufen. Ihr Plan ist es, zu einer Zeit anzurufen, zu der ihr Vater höchstwahrscheinlich nicht zu Hause ist, ihre Mutter aber schon.

Nicht, dass Clare Walter nicht liebt. Aber Gespräche mit ihrem (Stief-)Vater sind manchmal etwas heikel. Clare konnte mit Hannah immer viel offener sprechen, herzlicher als mit Walter, und doch konnte sie auch mit Hannah (so scheint es Clare) nie reden ohne dieses Gefühl von – nennt man es Unbehagen …?

Clare hat Glück, Walter ist nicht zu Hause. Hannah nimmt schon nach dem ersten Klingeln den Hörer ab, sie scheint ungeduldig, einsam.

Clare spürt einen Hauch von Vorwurf in Hannahs Begrüßung. Clare versucht sich zu erinnern – ist sie ihrer Mutter einen Anruf schuldig? Hat sie vergessen zurückzurufen, nachdem Hannah eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter zurückgelassen hat? Es passiert öfter, dass Clare versehentlich Hannahs Nachrichten in ihrer Sprachbox löscht.

Clare will Hannah anrufen, um ihr die guten Nachrichten mitzuteilen, aber irgendwie kommt es nicht dazu. Stell dir vor, Mom, ich habe gute Nachrichten! – diese fröhlichen Worte bleiben aus.

Clares Worte gleiten vielmehr einfach so dahin, dies und das aus ihrem eigenen (privaten) Leben. Sie ist dankbar, dass Hannah sie mit einem Haufen Klagen über einen Erzfeind bei der Arbeit überschüttet, ein Kollege, der – wie es Clare scheint – Hannah Seidel schon seit Jahrzehnten das Leben schwermacht. Es macht ihr nichts aus, so wie es ihr früher etwas ausgemacht hat, dass Hannah sich nicht daran erinnert, ihr das alles schon einmal erzählt zu haben. In einer Familie sind alte Nachrichten gute Nachrichten, denkt sie in einem Anflug von Witz.

Dann hört Clare sich selbst eine ungewöhnliche Frage stellen: Weiß Hannah, ob Clares biologische Eltern noch leben? – eine Frage, die ihr Gespräch zu einem abrupten Ende führt.

Biologische Eltern. Ein klinischer und liebloser Begriff, aber doch noch besser (denkt Clare schuldbewusst) als leibliche Eltern.

»Aber – warum fragst du das, Clare – jetzt?«

Hannahs angestrengte, forcierte Stimme schaltet einen Gang zurück. Clare kann fast sehen, wie sich im weit entfernten St. Paul, Minnesota, ihre Augen verengen, ihr Mund schmal wird, wie eine böse Wunde.

Clare sagt, ihr lag diese Frage schon lange auf den Lippen. Sehr lange …

»Aber warum?«

Warum denn, du hast doch uns. Warum interessierst du dich für sie!

»Warum? Das ist doch wohl eine ganz natürliche Frage … Ich bin dreißig Jahre alt.«

»Dreißig Jahre alt! Was hat das denn damit zu tun?« Hannah ist wirklich fassungslos, ungehalten.

»Das heißt – ich bin kein Kind mehr …«

»Clare! Das haben wir dir doch alles erklärt. Vor vielen Jahren schon. Erinnerst du dich nicht?«

»Ich – ich – ich glaube nicht, dass ich mich erinnere …«

Clare versucht sich zu erinnern – an was genau, weiß sie nicht.

»Wir haben selbst nur sehr spärliche Informationen bekommen, Clare. Und es ist so lange her. Länger als ein Vierteljahrhundert, seit du in unser Leben getreten bist, aus dem Unbekannten.« Hannahs Worte haben einen vorwurfsvollen Unterton, so als wäre das alles Clares Schuld.

Aus dem Unbekannten. Ein bohrender Stachel.

»Deinem Vater und mir wurde nur sehr wenig über dich mitgeteilt, und nichts an diesen Informationen hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Alles, was wir wissen, haben wir dir vor vielen Jahren erzählt.«

Clare hört zu, nachdenklich. Sie bringt es nicht übers Herz, zu sagen: Aber ich erinnere mich nicht. Ihr müsst es mir noch mal erzählen. Bitte!

»Ich habe mich nur gefragt, ob ihr wisst – ob sie noch leben. Oder – ob …«

Hannahs Stimme tönt jetzt laut in der Leitung, aber belegt: »Wir haben nie erfahren, ob es sie gab, oder nur eine sie – eine Mutter. Ein Autounfall – sagte man uns –, aber Einzelheiten darüber haben wir nie erfahren. Keine Ahnung, wie alt deine biologischen Eltern damals waren. Du musst verstehen, Clare, es ist so lange her, und man hat damals anders über diese Dinge gedacht. Ein Kind zur Adoption freizugeben, war wie eine Schmach, und ein Kind zu adoptieren war ebenfalls damit behaftet, man hatte sozusagen Mitschuld an der Schmach, man war so etwas wie ein Mittäter, wenn man seinen Nutzen aus dem Unglück anderer zog. Wir mussten mithilfe einer katholischen Vermittlungsagentur bei der Planned Parenthood Agency in Minneapolis vorsprechen. Diese Organisation bestand darauf, gegenseitige Anonymität zu sichern, wenn eine der beiden Seiten dies wünschte – die Adoptiveltern oder die – anderen …«

Clare ist verblüfft über Hannahs Ausbruch. Niemals zuvor hat ihre Mutter so freiheraus mit ihr gesprochen. So langsam kommt ihre Erinnerung zurück.

Anonymität. Versiegelte Dokumente.

Frag nicht. Sinnlos.

»Mehr konnten wir nicht tun, Clare. Wir konnten nicht auf weitere Informationen drängen, auf die wir gar keinen Rechtsanspruch hatten. Wir hatten, ehrlich gesagt, gar keine Ahnung, was wir da taten – ein Baby zu adoptieren war vollkommen neu für uns. Das war eine sehr emotionale Zeit damals. Wir hatten erwartet, dass wir einen Säugling bekämen – natürlich – aber wir waren dann sehr dankbar dafür, dich zu bekommen …«

Hannahs Stimme verstummt allmählich, so als ob sie erst im Nachhinein merkt, was sie gerade sagt.

»Clare? Wir wollten immer nur das Beste für dich.«

Was sollte denn wohl diese Bemerkung? Was war denn das Beste für – wen?

Ganz benommen versichert Clare ihrer Mutter: Ja, sie versteht das. Natürlich.

Jeder möchte doch das Beste für ein verwaistes Kind, das man nie zuvor gesehen hat.

Clare merkt, dass sie das Gespräch besser beenden sollte. Sie bringt Hannah gerade vollkommen aus der Fassung. Doch sie ist nicht in der Lage, das Gespräch zu beenden. Ihre Neugier ist wie ein Wahnsinnsdurst, der ihren Mund austrocknet. »In welchem Teil der USA haben sie denn gelebt, weißt du das? Meine Eltern.«

Meine Eltern. Das war ein Fehler, Clare hat sich versprochen.

Hannah antwortet barsch, dass sie das nicht wisse. Und wenn sie es je gewusst haben sollte, dann kann sie sich nicht mehr daran erinnern.

Dann wird ihre Stimme wieder weicher: »Also, es könnte sein – ich habe so eine Ahnung, dass sie in New England gelebt haben.«

»Nicht im Mittleren Westen?«

»Warum ist es denn so wichtig, wo sie herkommen? Hat etwa jemand versucht, mit dir Kontakt aufzunehmen?«

»Nein!« Clare antwortet wie aus der Pistole geschossen. »Aber kannst du mir vielleicht eine Kopie meiner Geburtsurkunde schicken, Mom? – Das wäre sehr lieb.«

In Clares Alter klingt Mom als Kosename recht merkwürdig. Schon als kleines Mädchen hatte Clare Schwierigkeiten gehabt, Mom klar und deutlich auszusprechen.

Dad, wie sie ihren Vater nannte, war nicht so schwierig. Auch wenn sie von Kindesbeinen an, bestärkt durch (das Lächeln) ihrer (Stief-)Eltern diese Kosewörter benutzen sollte, waren sie ihr eher unangenehm.

Auch ihren Liebhabern hat sie niemals Kosenamen gegeben. Darling, Liebling. Mein Liebes.

»Du besitzt keine Kopie deiner Geburtsurkunde? Wie merkwürdig.«

Die offiziellen Dokumente bewahrt Clares Vater im Aktenschrank seines häuslichen Arbeitszimmers auf, gesammelt in fein säuberlich markierten Ordnern. Clare hat von ihrem (Stief-) Vater diesen gewissen Fanatismus in Sachen Ordnung, Klarheit, Eingrenzung geerbt. Im Zweifelsfall, abheften. Wegheften.

Clare überkommt urplötzlich ein Schamgefühl. Sie hat ihr Elternhaus nie richtig verlassen und ihre persönlichen Dinge, Dokumente an sich genommen – nie ihr eigenes Heim errichtet, in ihrem unsteten Leben.

Ein Vagabundenleben im Kopf. Ein undefiniertes Leben, wie ein Polaroidabzug, der nur teilweise ausgefüllt ist.

»Vielen Dank, Mom! Die brauche ich für – die Krankenversicherung …«

Keine offensichtliche Lüge, denkt sich Clare. Hannah wird niemals darauf kommen: dass Clare die Geburtsurkunde dem Nachlassgericht in Cardiff, Maine, vorlegen muss.

Direkt vor ihrer Fensterscheibe hat sie die ganze Zeit über ein monströses Spinnennetz betrachtet. Ein Meisterwerk aus minutiös verbundenen Fäden von unterschiedlicher Länge, feuchtnass, bebend auf Beute wartend. In seiner Mitte hockt eine fette schwarze Spinne, bewegungslos, als wäre ihr Körper vom prachtvollen Weben vollkommen erschöpft.

Dann endet die Konversation. Hannah wird abrupt auf Wiedersehen sagen, mit einem letzten Seufzer Also gut! – liebe dich, und Clare wird antworten, wie wenn jemand sie mit dem Zeigefinger an die Brust stupst: liebe dich.

Niemals bringen es Mutter und Tochter fertig, tatsächlich zu sagen Ich liebe dich.

Erschöpft legt Clare auf. Braucht dringend noch einen Drink.

Das Problem Adoptivkind zu sein, ist, sich wie auf Abruf zu fühlen. Egal, wie alt man ist, immer besteht das Risiko, dass man zurückgeschickt wird.

Clare macht sich bereit für die nächste Herausforderung: die »Verwandten« in Cardiff anrufen, deren Nummer Fischer ihr gegeben hat.

Elspeth, Morag – die beiden noch lebenden Schwestern von Maude Donegal, der geisterhaften Großmutter. Fischer hatte sie als die »jüngeren Schwestern« beschrieben, doch auch sie müssten jetzt älter sein, auf jeden Fall über achtzig.

Dafür braucht sie aber jetzt noch ein halbes Glas Wein.

Noch vor ein paar Tagen hatte Clare keinen einzigen Blutsverwandten gekannt. Und jetzt hat sie auf einmal zwei Großtanten.

Nach dem ersten Klingeln wird der Anruf schon entgegengenommen.

Als ob die wachsame Großtante atemlos diesen Anruf erwartet hätte. Clare denkt – Mein neues Leben!

Die (weibliche) Stimme am anderen Ende heißt – Elspeth? Zu Anfang kann Clare sie kaum verstehen: die Frau spricht mit einem starken Maine-Akzent und unterbricht ihre Worte mit eigentümlichen kleinen Silben – ähm, hä? Sie scheint Wert auf förmliche Umgangsformen zu legen und ist (anscheinend) etwas schwerhörig, aber für eine Einwohnerin vom Bundesstaat Maine erstaunlich freundlich, denkt sich Clare; die Großtante ist sehr neugierig auf Clare, hört aber anscheinend gar nicht zu, was Clare ihr erzählt, denn sie fragt Clare mehr als einmal, wann sie denn nach Cardiff komme und bricht dann ganz unvermittelt das Gespräch ab, so als ob sie jemand gerufen hätte. »Also gut dann! Ausgemacht. Du wohnst bei uns, Cla-re. So lange du willst.«

»Du wirst sehen, meine Liebe – es ist sehr viel Platz in dem wunderschönen alten Haus deiner Großmutter Donegal.«

5.

Drei Tage später kommt Clare in Cardiff, Maine, an.

Betätigt die Türklingel des schon etwas heruntergekommenen, ehrwürdigen alten Steinhauses in der Acton Avenue 59, aus dem nur spärliches Licht dringt.

Ein Haus wie aus dem Märchenbuch. Ein Relikt viktorianischer Zeiten, in einer Straße mit vielen ähnlich großen, massiven, mächtigen Wohnhäusern, zurückgesetzt von der Straße, zwischen hohen Hemlocktannen und wuchernden Ligusterhecken.

Die Donegals müssen sehr wohlhabend sein, denkt Clare. Oder waren in vergangenen Zeiten auf jeden Fall sehr wohlhabend.

Cardiff, Maine, ist eine verfallende Textilstadt aus dem neunzehnten Jahrhundert, die es noch nicht ganz geschafft hat, sich für den Tourismus zu öffnen, so wie andere Städte in diesem Teil des Staates. Noch immer ein malerisches Städtchen an der Küste, selbst im Verfall. Mühlen und Fabriken sind lang verlassen, bunt verstreut Outlets und »Antik«-Läden, Boutiquen, die Kunsthandwerk verkaufen.

Acton Avenue ist eindeutig eine der repräsentativsten Straßen Cardiffs, oder war es zumindest, auch wenn viele Häuser nahe dem Stadtkern nun für gewerbliche Zwecke genutzt werden. Teils Apartments, teils Büroräume. Eine würdevolle altrosa Backsteinvilla wurde ins Ashford County Historical Museum umgewandelt; ein anderes weitläufiges viktorianisches Anwesen trägt das bescheidene Schild CARDIFF COUNTY FAMILY PLANNING & SERVICES.

Clare klingelt ein zweites Mal. Erinnerung an die Halloweenabende in St. Paul, als sie inmitten einer Gruppe von Kindern in Masken und Kostümen aufgeregt und in ängstlicher Erwartung an Häusern wie diesem zu klingeln gewagt hatten, während ihre Eltern in den Autos am Straßenrand warteten; wie erleichtert sie waren, wenn niemand öffnete. Obwohl im Haus Licht brennt, fragt Clare sich, ob jemand zu Hause ist. Immergrüne Zweige wuchern an den Seiten des Hauses und verdunkeln die Fenster im Erdgeschoss. Das Schieferdach ist in großen Teilen mit Moos bewachsen und kleine Bäumchen schlagen in den verstopften Regenrinnen Wurzeln. Clare riecht verrottendes Laub, feuchte dunkle Erde, ein Hauch organischer Fäulnis steigt von der Veranda herauf, auf der sie steht. Dann plötzlich, so sanft wie eine vertraute Liebkosung, dieser Gedanke: Ist dies zu Hause? Bin ich hier am richtigen Ort?

Als Waisenkind ist man niemals am richtigen Ort. Obwohl man sich dies nicht gerne eingesteht. Clares Herz schlägt schneller vor Erwartung. Sie sollte es besser wissen, sagt sie sich selbst. Sie ist kein naives Kind mehr, sie hat Übung darin, große Hoffnungen nicht an sich ranzulassen, so wie man einen anhänglichen Hund nicht zu nah an sich ranlässt.

Nein! Dies ist auf keinen Fall dein Zuhause.

Nahezu 700 Kilometer von Bryn Mawr, Pennsylvania, bis Cardiff, Maine. Ungefähr sechs Stunden über die Interstate-Autobahn, zu weit für einen Tag, doch dann auch wieder zu nah, um die Fahrt in zwei Tage aufzuteilen. Wenn Clare einen Begleiter hätte …

Clare hat keinen Begleiter. Es ist klüger, die Fahrt in zwei Tagen zu absolvieren, so wie sie es gemacht hat, und vorsichtig zu fahren. Mit dem Gefühl, von einer Erbschaft gesegnet zu sein, der ersten in ihrem Leben, reihte sich Clare in die Langsamfahrer auf der rechten Spur der Interstate-Autobahn ein, die die Fahrer auf der Überholspur regelmäßig zur Weißglut bringen.

Seit dem Anruf von Lucius Fischer hat sie an nichts anderes denken können – Großmutter, Testament. Erbe. Und jetzt ist sie da.

Stimmen, drinnen im alten Steinhaus. In die massive Eichentür ist ein rundes Fenster eingelassen, durch das Clare lediglich ein gedämpftes Aufblitzen sehen kann, als der Lichtschalter angeht. Schwungvoll öffnet sich die schwere Eichentür, und zwei ältere, eigentümlich gekleidete Damen begrüßen Clare überschwänglich wie zwei aufgeregte Papageien.

»Da bist du ja! Oh, du siehst aus wie –«

»– wie er. Dein Daddy –«

»– unser Conor –«

»Ohh – ja, das tut sie!«

Die Stimmen beben. Tränen schimmern in den Augen. Die größere der beiden Frauen presst ihre Hand gegen ihre flache Brust, keucht.

»Wie gut – Gott sei Dank! – du bist hier –«

»– sicher – hier –«

»Herzlich willkommen, Clare –«

»Komm rein, meine Liebe. Du musst ja so –«

»– erschöpft sein.«

»– ausgehungert! – wollte ich sagen, meine Liebe, als diese unverschämte Person mich unterbrach –«

»Sie unterbricht mich die ganze Zeit, Clare – niemand ist so unverschämt wie sie

»– ausgehungert nach dieser langen Fahrt –«

»– und erschöpft –«

»– komm herein, Liebes –«

»– du bist Clare, nicht wahr? –«

»– haben schon gewartet auf –«

»– auf dich. Seit –«

»– Jahren.«

Inmitten dieser aufgeregten Begrüßungsorgie ist Clare ganz benommen. Die Frauen zupfen ungeduldig an ihr herum. Sie wird umarmt und noch einmal umarmt. Dann noch einmal umarmt, von dünnen Armen, die überraschend kräftig zudrücken und ihr die Luft aus dem Brustkorb herauspressen.

»– wie er! Dein Daddy –«

»– dein armer, armer Daddy –«

Wischen sich die Augen. Wischen sich über die Wangen, auf denen Tränen glitzern. Die größere verströmt einen süßlichen Duft von abgestandenem Talkumpuder, die kleinere einen scharfen Arzneigeruch auf alter Haut.

»Mein Liebes, ich bin Elspeth –«

»Ich bin Morag –«

»– Maudes jüngere Schwester –«

»– Maudes jüngere jüngere Schwester –«

»Wir haben telefoniert, Liebes –«

»Sie hat mir den Hörer einfach weggeschnappt, und dann –«

»Soll ich deinen Koffer nehmen, Liebes –«

»– hat sie mich noch nicht einmal kurz Hallo sagen lassen.« Morag, die kleinere der beiden, lässt nicht locker, vorwurfsvoll. »Nichts darf ich.«

Clare wird von ihren beiden Großtanten Elspeth und Morag ins Haus geführt, in ein Foyer mit fleckigem Marmorboden. Der Geruch von moderndem Laub und feuchter Erde vermischt sich nun mit dem strengen Duft der alten Damen und der stickigen Luft des Gemäuers. Wie weichgefiederte Vögel drücken sich die beiden Frauen – die Großtanten – nah an Clare heran. Sie hätte nicht sagen können, wer Elspeth war und wer Morag (beeindruckende schottische Namen!). Eine der beiden nimmt ihr den Koffer aus der Hand, doch der fällt sofort zu Boden und streift Clares Fuß – zu schwer der Koffer für die alte Dame.

»Oh – du! Was hast du getan!«

»Nichts! Ich habe nur versucht –«

»Immerzu mischst du dich ein und vermasselst alles. Das arme Mädchen ist noch keine fünf Minuten hier und du lässt den Koffer auf ihren Fuß fallen. Gib ihn mir, Clare – ich lasse ihn nicht fallen, versprochen.«

»Entschuldige mal! Ich bin sehr wohl in der Lage, ihren Koffer zu tragen –«

»Nein! Du hast gerade gezeigt, dass du das nicht bist –«

Clare stammelt, dass sie ihren Koffer selbst die Treppe hochtragen kann. Er ist nicht schwer, gar kein Problem …

»Aber nein, davon wollen wir gar nichts hören, liebe Clare –«

»Du bist so weit gereist, du bist unser Gast –«

»Wenn doch nur Maude hier wäre –«

»– allerdings, wenn Maude hier wäre, dann gäbe es ja kein – Testament … Und keine Clare.«

»Oh! Nicht gerade gastfreundlich deine Begrüßung. Du solltest dich schämen

»Du solltest dich schämen! – dass du so etwas überhaupt denkst

Clare lächelt verlegen. Sie hat nur wenig Erfahrung damit, dass »Verwandte« so viel Wirbel um sie machen, die (doch eigentlich) Fremde für sie sind, allerdings nicht den herkömmlichen Abstand wahren, so wie man es von Fremden kennt.

Versucht den Gedanken abzuwehren, es sei vielleicht ein Fehler, bei diesen Großtanten zu wohnen.

Sie fragt sich trotzdem, warum sie Ja zu dieser Einladung gesagt hat. Wie viel einfacher wäre es gewesen, in einem Hotel in der Nähe zu wohnen.

Verführt von dem Gedanken an eine Familie. Diese älteren Damen sind die einzigen Blutsverwandten, die Clare seit ihrer Adoption kennengelernt hat, und an die Adoption kann sie sich noch nicht einmal erinnern.

Wird sie von der größeren, lebhafteren der beiden Frauen, Elspeth, warmherzig empfangen? Oder ist das Morag?

Beide Großtanten starren sie gierig an. Hungrig.

Beide Frauen sind kleiner als Clare, die mit 1,70 m eine durchschnittliche Größe hat; die kleinere der beiden Schwestern ist um einiges kleiner und scheint eine deformierte Wirbelsäule zu haben. Die größere und wohl jüngere Schwester hat ein elfenbeinblasses Gesicht mit kaum sichtbaren Falten. Dem Gesicht wurde eine »prachtvolle« Maske aus Rouge, Linien und Puder aufgesetzt – gewölbte Augenbrauen, errötete Wangen, eine Rosenknospe als Mund; ihr aufgebauschtes Haar hat eine unnatürlich orangerote Färbung und die luftige Struktur von Zuckerwatte. Die kleinere, wohl ältere Schwester mit der gekrümmten Wirbelsäule hat ein eingedrücktes Mopsgesicht, eine niedrige Stirn, ein käsig-bleiches Gesicht, spärliche Augenbrauen und so gut wie keine Wimpern. Ihr Mund ist schmallippig, aber breit.

Elspeth, die größere, ist festlich gekleidet, trägt ein stahlblaues Satinkleid, einen schwarzen Spitzenschal über ihren mageren Schultern; Morag, plump und schwerfällig wie ein Hydrant, trägt eine Art Männerkleidung – formlose dunkle Hosen aus weichem Stoff, so wie Jersey, nicht sehr sauber, und einen Pullover mit Zopfmuster und Rollkragen. Ihr Haar ist nicht gefärbt, wie das ihrer Schwester, sondern eine Mischung aus steingrau und kalkweiß, recht fest, aber auch schon so dünn, dass Clare den blassen, verwundbaren Schädel hindurchschimmern sieht. Die größere, modischer gekleidete Elspeth trägt ein silbernes Brillengestell; Morags Brille ist klobig, ein schwarzes Plastikgestell.

Clare hat das vage und unheimliche Gefühl, dass jemand aus dem Hintergrund oder vom äußersten Rand ihres Blickfeldes aus zuschaut. Noch eine Großtante?

Aber als sie sich umdreht, ist da niemand. Ein schwach beleuchteter Flur führt vom Foyer in das düstere Innere des Hauses.

Die Großtanten drängen sich dicht an Clare heran, so als ob sie sie bewachen wollten. Sie bestehen darauf, dass sie mit ihnen zu Abend isst. »Das wird dir deine Farbe wiedergeben. Du bist so bleich wie ein Gespenst.«

»Als ob sie je ein Gespenst gesehen hätte.« Die andere Schwester lacht verächtlich.

»Sagt man doch so. Davon hast du ja keine Ahnung.«

»Dafür weiß ich: du bist die einzige dumme Person, die jemals ein Gespenst gesehen hat und sich damit brüstet.«

»Ich doch nicht – mich brüsten!«

»Also, wenn Clare jetzt ein Gespenst sieht, dann weiß ich, dass es deine Schuld ist – du hast ihr das in den Kopf gesetzt.«

»Du, du weißt nicht immer alles.«

Clare ist sich unsicher, ob sie über das Gezanke der Schwestern lachen oder versuchen soll, es zu ignorieren. Sie versteht, dass der heftige Schlagabtausch ihretwegen geschieht und sie möchte nicht ins Fettnäpfchen treten und jemanden beleidigen, indem sie sich mit der einen Großtante auf Kosten der anderen amüsiert.

Elspeth ist die witzigere, aber auch gemeinere; Morag ist nicht so schlagfertig, hat aber eine ganz besondere Art, wie eine Bulldogge aufzubrausen, erzürnt. Auf den ersten Blick scheint Elspeth die stärkere der beiden, da ihr Körper besser in Form zu sein scheint, doch tatsächlich ist Morag die robustere, sie steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden.

Beide sind sehr freundlich und zuvorkommend ihrem Gast gegenüber und scheinen aufrichtig besorgt um Clare.

»Bitte komm hier herein, Clare, setz dich bitte – du hast viel durchgemacht. Wir hatten das Abendessen schon länger fertig …«

»Nicht sehr nett, einem Gast so etwas zu sagen! ›Schon länger fertig‹ – das ist doch ungehörig.«

»Ich wollte doch nur –«

»– ignorier sie einfach, Clare; meine Schwester hat so selten Besuch, dass sie ihre guten Manieren verloren hat.«

» – wollte doch nur sagen, dass das Essen langsam kalt wird.«

»Na und – wärmen wir es einfach wieder auf …«

Wie kleine Kinder oder junge Hunde, die um Zuneigung betteln, so wetteifern auch die Großtanten um Clares Aufmerksamkeit, sehr unangenehm für sie. Wieder hat sie das vage Gefühl, dass noch eine weitere Person, vielleicht eine dritte Großtante, eine gespenstische Figur, irgendwo in der Nähe ist und gleich das Essen hereinbringen wird.

In einem mit schweren Antikmöbeln, Läufern und Wandteppichen überladenen Salon wird Clare gedrängt, sich auf einem Samtsofa niederzulassen, das heimtückisch unter ihrem Gewicht knarrt. Auch hier kann sie Moder und Schimmel deutlich riechen, dazu ein scharfer, erdig-sandiger Geruch, den sie als Ausscheidungen von Nagetieren definiert, weil sie Ähnliches an anderen, nicht sehr sauberen Orten schon gerochen hat.

»Wir wissen, dass du müde bist, liebe Clare, und jetzt gerne in deinem Zimmer ungestört sein möchtest, aber – wir haben noch so viel zu bereden!«

»Woher weißt du, dass das Kind ungestört sein möchte? Sie ist ausgehungert, sieh sie doch mal an! Sie möchte Tee und dann Abendbrot.«

»– Tee zum Abendbrot? –«

»– es sei denn, wir haben nur Pepperidge Farm Cookies und nicht diese warmen Scones mit Butter und Clotted Cream und diversen Marmeladen und Gelees, so wie sie im Ritz serviert werden, aber –«

»Oh, im Ritz! Sie möchte, dass du sie fragst ›Welches Ritz‹, damit sie antworten kann ›das Ritz am Piccadilly‹. Du weißt schon – London.«

Elspeths Worte klingen verächtlich. Als Morag protestiert, erwidert Elspeth, als ob es um ihr Herzensthema ginge: »Und damit meine ich nicht London, Connecticut –«

»New London, Connecticut –«

»Oh, hör auf! Kannst du denn damit keine Ruhe geben! Ein einziges Mal hat unser Vater uns Mädchen zum Abendessen mit ins Ritz genommen, und sie ist nie darüber hinweggekommen –«

»– sie ist nie darüber hinweggekommen –«

»– und weißt du was, Clare? – der Tee war English Breakfast Tea, und der hatte noch nicht einmal richtig in einer Teekanne gezogen, es waren Teebeutel

Clare lacht, unsicher, warum dies lustig sein und sie vielleicht lachen sollte. Es erscheint ihr gemein von der größeren, attraktiveren, jünger erscheinenden Elspeth, in solch spöttischem Unterton zu reden und damit ihre zwergenhafte, aufrichtig und ernsthaft sprechende Schwester noch kleiner zu machen; sie bemerkt auch, dass Morag irgendetwas fehlt am Körper, vielleicht eine Hand – Clare ist sich sicher, dass sie einen abgerundeten, weichen Stumpf gesehen hat … Aber als sie sich traut, genauer hinzusehen, merkt sie, dass Morag zwei Hände normaler Größe hat, oder sogar größer als normal, wie Männerhände, mit brüchigen Nägeln wie man sie von einem Hilfsarbeiter oder einem Gärtner kennt.

»– so viel zu erzählen, Liebes! – wir haben gewartet und gewartet. Seit unsere arme geliebte Schwester in der vergangenen Woche verstorben ist und dann dieser Schock mit dem Testament –«

»– nicht, dass es ein schlimmer Schock gewesen wäre, oh, nein –«

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9783955102487
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