Читать книгу: «Cardiff am Meer», страница 6

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Ein Gedanke durchfährt Clare – Vielleicht wollen sie mich gar nicht vergiften. Vielleicht lieben sie mich ja.

Flüchtig erinnert sie sich daran, dass sie das Haus der Donegals zu dieser Zeit eigentlich schon weit hinter sich hatte lassen wollen. Wollte jetzt auf der Autobahn Richtung Süden sein.

Sie kann sich aber nicht erinnern, warum. Solch eine radikale Entscheidung. Der Nachmittag schwindet schnell dahin, schon bald wird die Dämmerung hereinbrechen. Obwohl es April ist, fühlt sich die Kälte in Cardiff noch nach Winter an; an schattigen Orten, an den Fundamenten der Gebäude Resthaufen von altem, schmutzigem Schnee. Die letzten Eiszapfen. Schmelzen nur widerwillig.

Zu spät jetzt, um noch loszufahren, aber vielleicht morgen?

Nur, warum eigentlich morgen? Ihre Großtanten haben doch klar und deutlich gesagt, dass Clare bei ihnen, in diesem Haus, bleiben kann, so lange sie möchte. Sie muss einen Antrag beim Nachlassgericht stellen, hat der Anwalt gesagt. Sie muss vielleicht noch einen zweiten Termin mit Fischer vereinbaren.

Sie möchte auf jeden Fall den Friedhof besuchen, auf dem ihre Familie begraben ist. Unbedingt will sie den Friedhof besuchen und Fotos machen.

Sie möchte auf jeden Fall Nachforschungen anstellen: Mutter (Kathryn), Vater (Conor), Schwester (Emma), Bruder (Laird). Sie möchte auf jeden Fall Fotos von der verlorenen Familie sehen; sie möchte auf jeden Fall Abzüge dieser Fotos machen. Sie möchte sich aber (noch) nicht unbedingt fragen, Warum hat mein Vater so etwas Schreckliches getan? – denn die Frage ist zu grell und blendend, so als ob man in die Sonne starrt.

Tatsächlich sind Clares Augen tränenverschleiert. Sie fühlt einen warmen, wohligen Schauer – Dankbarkeit.

Sie war auf dem Bürgersteig direkt vor dem Haus zusammengebrochen. Diese plötzliche Hilflosigkeit, Angst – wenn man fällt. Plötzlich geben deine Knie nach, die Beine können dein Gewicht nicht mehr tragen, du schlägst auf den Boden wie ein Baum, der gefällt wird.

Zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde ist Clare ohnmächtig geworden. Und vor ihrer Fahrt nach Cardiff ist Clare Seidel noch niemals ohnmächtig geworden.

Diese Schreie, die Schreie der Großtanten, Oh oh oh, alle herkommen! Hilfe! Und jemand beugte sich über sie und sie wurde hochgehoben und die Verandatreppen hochgetragen und ins Haus hinein, als wäre sie ein Kind – ohne jeden Widerstand, in vollkommenem Vertrauen, voller Staunen.

Die kräftigen Arme eines Mannes, ein Geruch von Asche. Doch obwohl sie alles versucht, kann Clare das Gesicht des Mannes nicht sehen.

»War es – Gerard?« Clare zögert, den Namen ihres Onkels auszusprechen, es war das erste Mal, dass sie ihn aussprach.

Elspeth lacht, erschrocken; verschüttet Tee auf die beige Spitze vor ihrer Brust, versucht gereizt, ihn mit einer Serviette wegzuwischen. Morag starrt Clare verständnislos an.

»War Gerard – was?« Elspeth fixiert Clare mit skeptischem Blick.

Hat Clare den Namen des Mannes falsch ausgesprochen? Oder hat sie, durcheinander wie sie war, den falschen Namen genannt?

»– die Person, die mich die Treppe hochgetragen hat? Mich aufs Bett gelegt hat?«

Rasch sagt Elspeth Ja. Natürlich: Gerard.

»Wir haben Gerard gebeten, dass er es machen soll. Haben dich fallen gesehen –«

»– richtig fallen – wie aus großer Höhe –«

»– leblos –«

»– armes Mädchen! Solch eine Strapaze für dich –«

»– genau hier auf dem Bürgersteig vor unserem Haus – ein Schock –«

»– ich war es, die es gesehen hat, zum Glück –«

»– oh, ja, zum Glück! Morag hat Augen wie eine Eule –«

»– habe es gesehen und sofort Elspeth gerufen –«

»– und dann haben wir Gerard gerufen, aus seiner Junggesellenwohnung im dritten Stock –«

»– uns wurde zwar mitgeteilt, dass wir auf dem dritten Stock nicht willkommen sind, aber zu Gerard die Treppe hochrufen, das ist erlaubt –«

»– also, im Notfall.«

»Sehr zuverlässig im Notfall, unser Neffe. Denkt man gar nicht, wenn man ihn so sieht, aber –«

»Oh ja, das ist er! Das ist er.«

»Von Priestern erwartet man, dass sie in Krisenzeiten vortreten und anderen helfen; sie sind darin geschult, nicht an sich selbst zu denken, sondern an andere, so wie Jesus Christus es getan hat. Schon bemerkenswert, dieser Gerard, in Notfällen –«

»Im alltäglichen Leben allerdings – im Alltag –«

»– im alltäglichen Leben ist Gerard nicht so gut zu gebrauchen. Oder sagen wir, ist Gerard nicht so engagiert. Manchmal vergisst der arme Junge glatt, zu essen, er ist so – entrückt …«

»– und auch schwermütig –«

»Wir sind Gerard also sehr dankbar, wenn er uns aushilft, und das hat er schon mehr als einmal getan, wenn wir Hilfe brauchten. Und jahrelang hat er es auch für seine Mutter getan, wenn sie ihn brauchte. Und heute –«

»Gerard zeigt es nicht häufig, aber er ist sehr empfindsam

»Ja, das ist er! Ist nicht so wie andere Männer …«

»Schade, schade, Gerard ist so – schüchtern –«

» – asozial –«

»– nicht wirklich a-sozial, eher un-sozial – wie seine Mutter immer zu sagen pflegte.«

»Weißt du, Gerard hat Probleme, ein richtiges Gespräch zu führen. Es ist, als ob seine Zunge zu groß ist für seinen Mund. Er versucht zu reden, aber die Worte kommen einfach nicht raus. Und deswegen ist er so verunsichert. Er wird dann leicht reizbar. Er meidet sogar uns, seine engsten Blutsverwandten!«

»Oh mein Gott, man stelle sich das nur vor – unser eigener Neffe meidet uns.«

Wir wollten ihn dazu bewegen, heute Abend mit uns zu essen, aber er ist einfach weggelaufen – ja, verständlich. Er wollte ja vor allem dir aus dem Weg gehen, Clare.«

»– nicht so leicht für ihn mit Mädchen. War es nie.«

»– also, der wäre der ideale Priester gewesen, wenn man so darüber nachdenkt – Armutsgelübde, Keuschheitsgelübde, Gehorsamsgelübde, das wären für ihn doch alles die natürlichsten Sachen der Welt gewesen.«

»Oh ja, so selbstlos wie er war – wie er ist. Er hatte es nicht verdient, dass sein Vater ihn so grausam behandelte – ihn praktisch enterbte, indem er all sein Geld verschleuderte, bevor er es dem Priesterseminar übergeben konnte. Gerard hat sich nie darüber beklagt, aber – man konnte sehen, dass es sein Herz gebrochen hatte.«

»Ja, Leland muss eine Menge verantworten – im Schattenreich des Hades.«

Unvermittelt brechen die Großtanten in Gelächter aus. Wie junge Mädchen, die wissen, dass sie gerade unschickliche Dinge sagen.

Clare bemerkt, dass Morag während des Gesprächs Gurkensandwiches isst, hungrig; Elspeth nippt an ihrem Tee und knabbert an einem Haferkeks, schnelle, verstohlene Bisse, wie eine Maus.

Clares Kopfschmerzen lassen nach, der bittere schwarze Tee scheint den Schmerz betäubt zu haben. Sie hat mehrere Gurkensandwiches gegessen, ihr Hunger ist besänftigt, und sie ist nicht mehr so besorgt. Keine Ahnung, warum sie so viel Wert darauf gelegt hatte, das Donegal-Haus genau an diesem Tag zu verlassen …

»Wir fragen Gerard, ob er dich zum Haus in der Post Road fahren möchte«, sagt Elspeth, »falls du bereit bist, es zu sehen. Schwierig zu finden für jemanden, der den Norden von Ashford County nicht gut kennt.«

»Schwierig? – unmöglich!« Morag schnaubt.

»Wie ein Labyrinth – unwegsame Straßen, die im Winter weggeschwemmt werden, und für die sich niemand eine Umleitung ausgedacht hat. Brücken, die nicht mehr befahrbar sind. Ja, und Fremde brauchen auf jeden Fall einen Reiseführer.«

»Oh, ja! Fremde brauchen auf jeden Fall einen Reiseführer.« Morag wiederholt diese Worte mit unheilvoll drohender Stimme.

»Und wer wäre da besser geeignet als Gerard? Er kennt den Weg doch viel besser als wir.«

»Und – wir fahren ja gar kein Auto mehr. Du weißt doch, ich fahre nicht mehr.«

»Du warst so eine gute Fahrerin, Morag. Es war ungerecht, es war sexistisch von ihnen, dir den Führerschein wegzunehmen. Du warst noch nicht einmal fünfundsiebzig, du warst noch jung

»Ja. Aber Schnee von gestern.«

»Ich meine ja nur, dass du das letzte Mal – dorthin – gefahren bist. Aber – Schluss damit jetzt.«

Morag bebt leicht, kleine Wellen auf der Haut, wie man sie bei einem zitternden Hund sehen kann.

»Schluss jetzt, du hast recht. Nie mehr

Die Großtanten verfallen in einen Moment der Stille, hängen ihren Gedanken nach. Dann sagt Morag provozierend: »Vielleicht möchte Clare das Haus aber auch gar nicht sehen. Ihre Erbschaft. Besser wär’s vielleicht.«

»Mmh, aber wenn sie möchte –«

»Du könntest das Anwesen auch verkaufen, ohne es angeschaut zu haben, Clare. Wenn du möchtest.«

»– ich meine, wenn sie es sehen möchte, könnte Gerard sie hinfahren.«

»– und ich meine, wenn sie sich das ersparen möchte …«

Stimmen schwirren um Clares Kopf herum. Surrender Bienenstock.

Schließe deine Augen, deinen Mund. Niemand sieht in deine Gedanken.

Emma, Laird. Diese Namen sind Clare schon recht vertraut. Kleine Stiche, immer wieder.

Mommy! Mommy! Mommy! – schreit ein Mädchen. Das muss Emma sein.

Sie hörte noch mehr Geschrei. Ihr eigenes hörte sie nicht. Wankte auf schwachen Beinen, fiel hin. Krabbelte auf Knien über klebriges Linoleum. Die Tür unter dem Spülbecken ist einen Spaltbreit geöffnet. Krallte sich daran fest, hinter ihr ohrenbetäubender Donner.

Doch an dem geheimnisvollen Ort unter dem Spülbecken ist es still. Hinter den schmierigen Abflussrohren, in den Spinnennetzen.

Laute Stimmen, schwere Schritte. Noch mehr Geschrei. Dann mehrere Schüsse, ohne Hast, sorgsam verteilt.

Doch Clare ist in Sicherheit, gleitet in den Schlaf hinein. Im Salon der Großtanten, auf dem sanft knarrenden Samtsofa. Nicht mehr so benommen, so hungrig. Nicht mehr so verängstigt.

Als sie sieht, dass Clare auf dem Sofa eingeschlafen ist, legt Elspeth einen Finger an ihre Lippen – Schh! Morag zieht einen Mohairschal über Clare, behutsam.

13.

Bitte erzählen Sie mir doch – alles, was Sie über sie wissen.

Alles, an das Sie sich erinnern …

Am Ende der Woche hat Clare alle Namen derjenigen Bewohner Cardiffs herausgefunden, die ihre Eltern gekannt hatten. Als Erwachsene, als junge Erwachsene, selbst als Kinder. Sie hat eine Liste von Verwandten, Nachbarn, Freunden und Klassenkameraden von Conor Donegal und Kathryn Thrush; sie hat eine Liste von Lehrern, Namen von Polizeibeamten aus Cardiff, die zum Tatort gerufen worden waren. Viele Male hat sie die Bibliothek in Cardiff aufgesucht, um neue Informationen über den vermeintlichen Tathergang am Nachmittag des 6. Januar 1989 im Haus in der Post Road zu finden. Sie hat sich – fast! – mit der hilfsbereiten Bibliothekarin angefreundet, die Linda Peele heißt. (In einem anderen Leben, denkt Clare, wären sie und Linda Peele gute Freundinnen geworden; in diesem Leben wird das wohl nicht geschehen. Clare hat keine Zeit, um eine Freundschaft zu pflegen, und noch weniger hat sie Platz in ihrem Herzen für eine Freundschaft.) Mit derselben Leidenschaft und Gründlichkeit, die sie zu einer angesehenen jungen Kunsthistorikerin gemacht haben, verfolgt sie ihr Ziel, alles in ihrer Macht Stehende über Conor Donegal, Kathryn Donegal (geborene Thrush), Laird Donegal und Emma Donegal herauszufinden.

Mein Vater. Meine Mutter. Mein Bruder. Meine Schwester.

In diesen Momenten überkommt Clare ein Hochgefühl, überbordende Freude. Denn auch wenn diese Menschen heute nicht mehr leben, so haben sie doch einmal gelebt.

Wieder und wieder bewegen sich ihre Lippen, lautlos. Ein leichtes Beben beim Betonen der Worte mein, meine.

Mein Vater. Meine Mutter. Mein Bruder. Meine Schwester.

In dieser Familie war Clare Ellen das Baby. Ungefähr drei Jahre jünger als ihre Schwester und sechs Jahre jünger als ihr Bruder.

Ihre Schwester! Ihr Bruder!

Ihre Lippen formen die Namen: »Emma.« »Laird.«

Zwei wunderschöne Namen, denkt Clare. Und Conor. Und Kathryn. Wunderschön.

Aber sie kann sich überhaupt nicht an ihre verlorene Familie erinnern, an nichts. Eine Art Schleier überdeckt diesen Teil ihres Gehirns. Ein Flor, nahezu undurchdringlich.

Sie hat doch bestimmt mit ihrer Schwester gespielt (denkt Clare). Und als Mädchen von zwei Jahren und neun Monaten muss sie ehrfürchtig zu ihrem »großen« neunjährigen Bruder aufgeblickt haben.

Sechs Jahre älter als Clare Ellen, hatte Laird sie (vielleicht) gerade so geduldet. Obwohl er sie (möglicherweise) auch geliebt hatte … Emma hatte sie bestimmt geliebt, hatte sie häufig umarmt. Emma hatte ihrer kleinen Schwester erlaubt, mit ihren Puppen zu spielen und mit ihren Kuscheltieren zu schmusen.

Ja, so muss es gewesen sein. Ganz sicher.

Schwieriger, sich an ihre Mutter zu erinnern, ihren Vater.

Flirrend, tränenverschwommen. Mommy und Daddy waren da, Tränen.

Nur eines: Sie erinnert sich daran, gehalten zu werden.

Wenn sie es schafft, diesen hauchdünnen Schleier wegzuschieben, dann erkennt sie – fast – etwas …

Kann sein, sie erinnert sich daran, wie Mommy sie nah an Mommys klopfendes Herz gedrückt hat. Spürt fast Mommys weichen, warmen Leib. Verbirgt ihr Gesicht in diesem Leib. Vergräbt sich zwischen den weichen, warmen Brüsten.

Trinkt Milch. Milch fließt heraus. Süße Busenmilch, unverkennbarer Geruch.

Liegt in ihrer Wiege, große Augen, blinzelt zu den beiden großen Gestalten, die auf sie herabstarren. Ihre Gesichter sind verschwommen, unbestimmt.

Dann plötzlich sind die Gesichter klarer. Der Schleier ist verschwunden.

Mommys Lächeln, gilt nur ihr. Daddys Lächeln, das eine kleine Falte in Daddys Wange zeichnet.

Und so wird Clare auf einmal klar, voller Verwunderung – ich erinnere mich doch. Ich wurde geliebt, ich wurde nicht verlassen.

»Wer bin ich? – Teil der Familie Donegal.«

Clare ist nicht darauf erpicht, sich selbst als das überlebende Kind eines schändlichen Massakers in diesem Ort zu erkennen zu geben. Besser, etwas Distanz wahren, sich als Tochter eines Cousins von Conor Donegal ausgeben, die Conor nie kennengelernt hatte – (natürlich: Clare ist zu jung, um jemanden kennengelernt zu haben, der vor fünfundzwanzig Jahren gestorben ist) – eine junge Frau, die im Mittleren Westen geboren wurde, jetzt in der Nähe von Philadelphia lebt und niemals zuvor in Maine gewesen war.

»Ja, es ist wunderschön. Die Küste entlangzufahren – atemberaubend.«

Maine ist für Clare wirklich von überwältigender Schönheit. Blicke auf den Atlantik hinunter von der Küstenstraße, sich ständig verändernde Perspektiven, faszinierend. Dort, wo die halbe Welt aus Wasser besteht, scheint der Himmel übermächtig.

Nur Maine im Zwielicht, so wie es von Winslow Homer gemalt wurde, findet Clare bedrohlich – nebelverhüllt, wolkenverhangen, flüchtig. Verschwimmende Grenzen zwischen Küste und Meer, Meer und Horizont, Horizont und Himmel, wie auf einem Aquarell.

In Gesprächen mit Fremden ist Clare äußerst hoffnungsvoll. Sie möchte unbedingt einen guten Eindruck machen. Keinen Argwohn wecken. Viele Menschen, mit denen sie spricht, fragen sie, ob sie Reporterin sei und immer wieder versichert sie, nein, ist sie nicht, ganz sicher nicht. »Ich bin eine entfernte Verwandte der Familie Donegal und bin an ihrer Familiengeschichte interessiert. Aber zuallererst bin ich Kunsthistorikerin und stelle Recherchen über Künstler des neunzehnten Jahrhunderts an, die in Maine gelebt haben …«

Kunst ist ein sehr gutes, neutrales Thema. Wenn einer ihrer Gesprächspartner in Erinnerung an jene wunderschöne junge Familie zu emotional wird, kann Clare geschickt und unauffällig zu den Künstlern Winslow Homer, George Bellows, Rockwell Kent und Andrew Wyeth überleiten. (Sie ist keine von diesen unerträglichen Kunstsnobs, die Andrew Wyeth belächeln.)

Clare hat aber schlecht geschlafen in Cardiff. Man sieht leichte Schatten unter ihren Augen, die sie kunstvoll mit Make-up übertüncht hat. Sie hat ihr dickes, dunkles Haar von der Stirn in einen straffen Dutt zurückgebunden, wie eine Ballerina; auf ihren Mund hat sie leuchtend roten Lippenstift aufgetragen – ein US-Girl, das gefallen möchte.

»Oh! Mein Gott, Sie sehen ja aus wie – er

Eine der Mütter, deren Söhne Conor Donegals »gute Freunde« in der Highschool waren, starrt Clare an, schlägt die Hand vor den Mund, wahrhaftig überrascht.

»Ich meine – Ihre Haare, an der Stirn. So wunderschön – und diese kleine Spitze dort.«

Eine etwas verlegene Pause. »Und auch die Augen …«

Ein Schauer durchfährt Clare, sie möchte ihr Gesicht vor dem prüfenden Blick der Frau verbergen. Doch sie schafft es zu lachen, leicht beklommen.

Sie sagt, dass sie Fotos von Conor Donegal gesehen hat, und sie ist sich sicher, dass sie ihm nicht gleicht.

»Die Leute sagen, dass ich nach meiner Mutter komme, und die stammt aus St. Paul.«

Doch die Frau ist noch nicht überzeugt. Clare sieht das.

Mit stockender Stimme sagt Mrs. Freeman: »Er war ein leicht reizbarer Junge, haben die Leute gesagt. Nicht, dass ich es selbst erlebt hätte. Nein, er war niemals grob zu mir. Aber Billy hat immer gesagt, Conor sei ein Hitzkopf gewesen, und er wäre nie einem Kampf ausgewichen … Er und Billy hingen mit ein paar Freunden häufig an der Kennicott Bridge rum, Alkohol war natürlich auch im Spiel, obwohl sie minderjährig waren. Einmal kam eine Gruppe Leute auf Rädern aus Lewisburg vorbei und Conor geriet mit einem von ihnen in Streit. Dann mischten sich alle Freunde ein und schließlich rief jemand die Polizei … Ich glaube nicht, dass sie verhaftet wurden oder so, aber einer von ihnen hat wohl Verletzungen davongetragen und musste genäht werden. Conor war viele Jahre lang Billys bester Freund, aber Billy sagte auch, dass man aufpassen musste bei ihm. Wenn Conor zu schnell trank, suchte er jedes Mal Streit, egal mit wem. Typisch Ire, sagte Billy, sie trinken ein Glas und dann noch eins und noch eins und können nicht mehr aufhören, bis sie sturzbetrunken sind … Die meisten Leute sagten, Conor leide an ›vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit‹ und er hätte das alles nicht getan, wenn er nüchtern gewesen wäre.«

Clare überlegt, Vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit. Das war es.

Das haben auch viele andere gedacht. Haben über Conor Donegals Motive spekuliert. Aber natürlich gibt es für solch eine Untat kein vernünftiges Motiv.

So nach und nach zeichnet sich ein Porträt Conor Donegals in Clares Kopf ab. Ihr Vater, so heißt es, sei ein »prima Typ, also, normalerweise« gewesen – »ein guter Freund, sehr verlässlich« – aber ein »Komasäufer« – »Hitzkopf« (wieder einmal!) – »wich niemals einem Streit aus.« Eine Reihe früherer Lehrer erinnern sich an ihn als »intelligent, aber leicht ablenkbar« – »von natürlicher Neugier« – »kein guter Leser, aber gut in Mathematik.« Er war ein »guter, aber kein hervorstechender« Sportler – ein »natürlicher Teamplayer«. Er hat Musik geliebt, auch irischen Folkrock. Er mochte Rick James, Lionel Richie, James Brown. Er hatte eine große Bandbreite von Seminaren an der University of Maine in Bangor belegt, doch in keinem Studienfach seinen Abschluss gemacht. Zunächst arbeitete er mit seinem Vater zusammen, hatte aber schon bald sein eigenes Unternehmen auf die Beine gestellt – »das nicht besonders gut lief«.

Ein Unternehmen gegründet auf hohen Krediten, dann der Bankrott.

Nichts Besonderes – anfangs erfolgreich, einige Jahre steigende Profite, dann Rückschläge.

Clare war darauf gefasst, zu hören, dass ihr (attraktiver, charismatischer) Vater ein gewalttätiger Ehemann und Vater gewesen sei, doch die allgemeine Meinung ist die, dass er »verrückt nach seiner Familie« war – »seine Frau und seine Kinder liebte« – »alles für sie getan hätte«.

Wie das geschehen konnte, dass Conor Donegal (angeblich) seine Frau und seine beiden ältesten Kinder getötet und dann die Waffe gegen sich selbst gerichtet hatte – »Das konnte niemand begreifen. Damals nicht und heute auch nicht.«

Eine Frau mittleren Alters, die sich selbst als Kathryn Thrushs »älteste, engste Freundin« bezeichnet, vertraut Clare an, dass Conor Donegal, schon seit er Anfang zwanzig war, ein »Problem mit dem Trinken« gehabt habe – dass Kathryn all die Jahre, die sie bei ihm geblieben war, geglaubt habe, ihn ändern zu können; er hatte öffentlich und stolz zugegeben, den Anonymen Alkoholikern beigetreten zu sein, erlitt aber immer wieder »Rückschläge«; er hatte ein halbes Dutzend Male versucht, das Trinken aufzugeben, doch er schaffte es nicht.

»Sie nahm Conor in Schutz, weil sie ihn liebte, und er zog aus dieser Bereitschaft, ihm zu vergeben, seinen Nutzen. Ein Mann tut das, wenn man es zulässt – jeder Mann tut das, wenn man es zulässt.« Die Frau spricht mit energischer Stimme, aber wunden Augen, so als ob Clare versucht hätte, ihr zu widersprechen; aber Clare hütet sich, mit irgendjemandem über die Interpretation der Vergangenheit zu streiten.

Und sie denkt auch, Vielleicht hat Conor sie ebenfalls verletzt. Vielleicht kann sie ihm das nicht vergeben.

Eine andere Frau mittleren Alters, die sich als Nachbarin von Conor und Kathryn aus der Mott Street in Cardiff vorstellt, vertraut Clare an, dass Conors Behauptung, den Anonymen Alkoholikern anzugehören, reiner »Blödsinn« wäre: Conor hatte nur vorgegeben, die Versammlungen zu besuchen, oder er war hingegangen, um Kathryn und die Donegals zu beruhigen, die ihm das alles geglaubt hatten. Conor war ein Meister darin, »Herzen zu manipulieren« – sie wusste das.

Noch eine Frau mit wunden Augen! Clare wird vieles klar. Mein Vater hat Frauenherzen gesammelt.

Clare erfährt, dass ihre Eltern, noch jung und mit zwei kleinen Kindern, nach dem Bankrott entschieden, eine Farm im nördlichen Teil von Ashford County zu kaufen (die zwangsversteigert wurde). Sie waren beide sehr »eigensinnig« – »waghalsig« – »risikobereit«. Sie hatten »romantische Vorstellungen« über das Leben auf dem Lande und darüber, wie sie von der Landwirtschaft leben konnten – am liebsten von Obstgärten. Keine Rinder oder Milchwirtschaft, nichts, was mit Tieren zu tun hatte. Kathryn schüttelte sich schon bei dem Gedanken, »Nein, keine Tiere! Farmtiere müssen sterben

Eine merkwürdige Ansicht, denkt Clare. Sie fragt sich, was ihre Mutter damit gemeint haben könnte: dass Farmtiere (wie Schlachtvieh) zum Schlachten gehalten werden oder aber, dass das Leben von Farmtieren durch Krankheiten gefährdet ist und sie früh sterben.

Als es um ihre Mutter geht, hört Clare sehr genau zu, ist ganz still. Hält ihren Kopf gesenkt, ihre Augen halb geschlossen. In solchen Momenten wagt sie kaum zu atmen; es fühlt sich an, als ob sie Verbotenes erfährt.

»Oh, Kathryn Thrush! Sie war eine wundervolle Frau. Aber –«

Aber. Heißt – was?

Eine wundervolle Frau, doch zu leichtsinnig in der Liebe?

Clare zögert, sie versucht es zu vermeiden, Fragen zu stellen, die ihre Gesprächspartnerin provozieren oder verärgern. Sie möchte nicht zu neugierig erscheinen. Sie weiß, dass sie nur vorübergehend in den Häusern dieser fremden Menschen so freundlich aufgenommen wird, eine heikle Geschichte. Doch es gibt auch noch andere Gründe, aus denen sie so zurückhaltend ist. Schon der bloße Gedanke an die Fragen, die sie gerne stellen würde, versetzt ihrem Herzen einen schmerzhaften Stich. Hat Conor Donegal Kathryn geliebt – seine Frau? Hat er seine Kinder geliebt?

Egal, mit wem sie spricht, alle betonen es: Ja, das hat er.

Ganz sicher hat er das! Und genau deswegen lässt ja das, was er ihnen angetan hat, alle so ratlos zurück.

Hatte er jemals zuvor irgendjemandem Leid zugefügt? Hatte er jemals irgendjemanden bedroht?

Gab es keine Vorwarnung? Hätte niemand helfen können, dies alles zu verhindern?

Nein. Clare ist nicht in der Lage, diese Fragen zu stellen. Kann sich nicht dazu durchringen.

Tage vergehen, eine Woche. Wie in Trance kämpft sie sich durch die Namensliste. (Wenn er auch anfangs nicht sehr kooperativ schien, so scheint sich Lucius Fischer doch dazu entschlossen zu haben, ihr bei der ersten Kontaktaufnahme behilflich zu sein.) Clare führt Telefongespräche, klopft mal zaghaft, mal kühn an fremde Türen. In den meisten Häusern, die sie betritt, ist die Einsamkeit beinahe mit Händen zu greifen – »Oh, hallo! Kommen Sie doch herein! Sind Sie – Clare? Ich habe schon mal auf dem Dachboden gestöbert und diese Jahrbücher gefunden …«

Für eine junge, unverheiratete Frau wie Clare ist es sehr lehrreich, aus nächster Nähe zu beobachten, wie Frauen, die um einiges älter sind als sie, verheiratete Frauen, Mütter von (häufig schon erwachsenen) Kindern, anscheinend nach Gesellschaft hungern. (Gesellschaft? Das kann Clare ihnen nicht anbieten, höchstens oberflächlich.) Sie verbringt viele Stunden in diesen Häusern in Cardiff, auf Sofas oder an Küchentischen, wo die Frauen sich mithilfe der Jahrbücher begeistert an ihre Schulzeit erinnern und niemals vergessen, Clare auf ihre eigenen Fotos sowie auf die Fotos des attraktiven Conor Donegal und der hübschen Kathryn Thrush hinzuweisen.

Ihre Eltern, so jung! Lange bevor sie ihre Eltern waren.

Eine Unterwelt, lange vor Clares Geburt. Eine Welt, die sehr eng mit der verbunden ist, in der sie jetzt lebt, doch eine Welt voller Rätsel.

Bildunterschrift von Conor Donegals Foto im Jahrbuch der Abschlussklasse: »Ein tapferer starker Mann bin ich.«

Bildunterschrift von Kathryn Thrushs Foto im Jahrbuch der Abschlussklasse: »In ihrer Schönheit wandelt sie wie eine Sternennacht.«

Clare erkennt das Zitat unter dem Bild ihrer Mutter wieder, es stammt aus Byrons romantischen Gedichten, aber das unter dem Foto ihres Vaters kennt sie nicht. Eine merkwürdige Tradition in den Jahrbüchern, diese Zitate. Als ob ein Mensch derart oberflächlich zusammenfassend charakterisiert werden könnte.

Conors Aktivitäten beschränkten sich hauptsächlich auf Mannschaftssport: Baseball, Fußball, Schwimmen. Kathryns Vorlieben waren Cheerleading, Chor, Theater, christliche Jugendarbeit.

Mehr als einmal sieht Clare dieselben Jahrbücher, betrachtet dieselben Fotos. Sie erkennt allmählich schon die Gesichter wieder und die Namen. Dankbar und aufmerksam hört sie sich alle Geschichten an. Denn sie empfindet große Dankbarkeit, wie ein Zeitreisender, der willkommen geheißen und nicht abgewiesen wird, in ihrer eigenen Vergangenheit zu stöbern, die für sie ebenso wertvoll wie unbekannt ist.

Sie bittet darum, die Gespräche auf ihrem iPhone aufnehmen zu dürfen. Niemand lehnt das ab. Sie wiederum begegnet den Menschen weder mit Zweifel noch mit Argwohn, auch wenn das, was man ihr erzählt, möglicherweise auf fehlerhaften Erinnerungen beruht oder ziemlich aufgebauscht ist.

Die Zeitzeugen der Vergangenheit, die Clare ihre Türen öffnen, hegen niemals Zweifel an ihren eigenen Erinnerungen. Alle sind fest von ihren Geschichten über Conor Donegal and Kathryn Thrush überzeugt und sie zu erzählen, ist für sie zu einem festen Ritual geworden. Clares Interesse schmeichelt ihnen, Clares Interesse lässt ihre Erinnerungen wieder aufleben und gibt ihnen neue Nahrung. Es ist nämlich mittlerweile ein Vierteljahrhundert her, dass die meisten von ihnen persönlich befragt wurden.

Clare überlegt, wie sie wohl reagierten, wenn sie sich gegenseitig beim Erzählen ihrer gemeinsamen Vergangenheit zuhören könnten – wer war denn nun tatsächlich Kathryns allerbeste Freundin in der Highschoolzeit? Wer war denn nun tatsächlich Conor Donegals erste Freundin in der Highschool?

Es schien, als ob Conor und Kathryn dieselbe Klasse in der Cardiff Highschool besucht hätten. Aber das stimmt nicht. Conor war einige Jahre weiter als Kathryn, und sie war ihm (so vermutet Clare) in jener Zeit wahrscheinlich kaum aufgefallen.

Die meisten Leute, zu denen Clare Kontakt aufgenommen hat, geben ihr bereitwillig Auskunft, einige allerdings lehnen sie von vornherein ab. Verwandte von Kathryn Thrush: eine ältere Schwester namens Irma, verstreute Cousins, die kranke Mutter, die im Betreuten Wohnen lebt – von diesen möchte niemand mit Clare sprechen, nicht telefonieren, geschweige denn, sie in ihr Haus hineinlassen.

Dass Clare sich als »entfernte Verwandte« von Conor Donegal vorgestellt hat, scheint dabei sehr kurzsichtig gewesen zu sein. Ganz offensichtlich herrscht noch immer Bitterkeit zwischen den beiden Familien, Feindseligkeit seitens der Thrush-Familie, aufgrund des Verbrechens an Kathryn und den Kindern.

Wer sind Sie? Oh, nein! Kein Kommentar.

Siebenundzwanzig Jahre! Könnte gestern gewesen sein.

Wie ungerecht, denkt Clare, ihr die Schuld zu geben. Als ob Schuld vererbt werden könnte, wie die Ursünde.

Und was ist mit den Donegal-Kindern, Laird und Emma? – Clare ringt sich dazu durch, auch die Kinder ins Gespräch zu bringen.

Nur wenige der Zeugen scheinen sich an die Kinder zu erinnern oder erklären sich irgendwann bereit, über sie zu sprechen. Über ermordete Kinder zu sprechen ist einfach zu schmerzhaft – so weit weg von romantischer Jugendzeit. In einem Versuch, die Tränen zurückzuhalten, vertraut eine Frau, die ungefähr Clares Alter hat, ihr an, dass sie »Emmas beste Freundin im Kindergarten« gewesen ist. Ein Mann Anfang vierzig erinnert sich daran, mit Laird Donegal in der siebten Klasse zusammen Softball gespielt zu haben. (Clare protestiert nicht – Siebte Klasse? Mein Bruder war viel jünger, er hat so lange gar nicht gelebt.)

»Emma? – ein sehr süßes Mädchen. Ruhig. Ihre Mutter hat ihr immer so hübsche Zöpfe geflochten. In der Schule waren wir alle entsetzt – fassungslos – als …«

»Laird Donegal. Den Namen habe ich ja zwanzig Jahre nicht mehr gehört. Oh, mein Gott! Er war kein sehr enger Freund, aber – ich erinnere mich doch gut an ihn …«

Stimmen verschwinden im Nebel. Düsteres Unbehagen, betretene Stille.

Clare begreift, dass ihre Schwester und ihr Bruder in der Zeit verlorengegangen sind, kurz vor dem Vergessenwerden.

Sie wird die beiden rehabilitieren. Wenn sie kann.

Von dem jüngsten Kind, das sich unter dem Spülbecken verborgen hatte, und das der wutentbrannte, wahnsinnige Vater nicht ermorden konnte, können nur sehr wenige Leute sicher etwas sagen. »Nicht sicher, was aus ihr geworden ist. Die Thrush-Familie hatte sich um das Sorgerecht bemüht, wollte das Kind zu sich zu nehmen, aber dann – irgendwann – hieß es, sie hätten sie zur Adoption freigegeben.«

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