Читать книгу: «Cardiff am Meer», страница 3

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»– nein. Überhaupt kein schlimmer Schock. Wir wussten doch, dass –«

»– unsere geliebte Maude viele ›Interessen‹ hatte –«

»– Wohltätigkeitsorganisationen –«

»– St. Cuthbert’s Church –«

»– Verwandte über ganz New England verstreut –«

»– ein ganz schöner Schock, aber kein großer Schock –«

»– die geliebte Maude hat uns dieses Haus überlassen –«

»– uns zusammen, ihren beiden Schwestern und ihrem Sohn – Gerard –«

»– ah ja: Gerard – dein Onkel, ein Junggeselle –«

»– sie hat sich um uns gesorgt – und um ein paar andere aus der Familie –«

»– unseren lieben Neffen Gerard, den du kennenlernen wirst –«

»– wir haben nicht geheiratet, so wie Maude; sie war sehr unerschrocken –«

»– sie war so betrübt über deinen Vater, sie konnte nicht –«

»– konnte es nicht ertragen –«

»– schon allein der Gedanke, dass –«

»– über viele Jahre, schon allein der Gedanke, dass es dich gab.«

»– Obwohl sie von dir wussten –«

»Ja! Wir alle wussten davon – nur –«

»– die Jahre flogen vorbei –«

»– flogen vorbei …«

Während dieses ermüdenden Hin und Her, wird ein kunstvoll verziertes, matt-silbriges Tablett in den Salon gebracht, feierlich auf dem Tischchen direkt vor Clare abgestellt. Tassen und Löffel klirren. An ein paar Stellen angeschlagenes, doch wunderschönes zartes Wedgwood Porzellan, stilvoll gemusterte Silberlöffel, nur leicht angelaufen. Wer auch immer das Tablett hereingebracht hat, ist nicht zu erkennen, denn ihr – sein? – Gesicht ist von der aus der Teekanne aufsteigenden Dampfwolke vollkommen eingehüllt.

»– ich gieße ein. Hier, Clare –«

»– deine Tasse, Clare –«

»– deine Tasse, extra für dich ausgewählt –«

»– Rosenknospen, geliebt von unserer lieben Maude –«

»– und dieser Löffel! – eigentlich ein Babylöffel –«

»– dein Löffel –«

Clare reibt sich die Augen, müde von der langen Fahrt, und sieht, dass die Großtante, die den Tee umrührt, Elspeth ist, wenn es nicht Morag ist … Und wer ist die andere Person im Raum? Clare schaut unruhig umher; ihre müden Augen können niemanden entdecken.

Dann folgt ein erneutes Intermezzo unerbittlichen Geplappers. Als ob Vögel mit ihren spitzen Schnäbeln an ihr pick-pick-picken. Natürlich, so denkt Clare, wollten die alten Großtanten ihr nichts Böses; sie meinen es gut mit ihr; sie sind einsam, suchen wohl Gesellschaft; sie sind aufgeregt, sie kennenzulernen, so wie auch sie selbst aufgeregt ist, ihre Tanten kennenzulernen.

Clare, die sonst sehr wählerisch ist, was Essen und Trinken angeht, chronisch untergewichtig, hat auf einmal mehr Appetit, als sie sich je vorstellen konnte: auf lauwarmen English Breakfast Tea mit ranzig riechender Milch. Und Pepperidge Farm Ingwerkekse, nicht mehr ganz frisch, die in ihren Fingern zerbröseln, ihr den Mund wässrig machen, so köstlich …

»– (Sie ist viel zu dünn!)«

»– (Dem werden wir schon abhelfen!)«

Wie seltsam, die Großtanten reden über Clare, als wäre sie gar nicht im Raum.

Ihre Augenlider werden schwer. Sie ist plötzlich so müde. Mit glitzernden Augen hinter blank polierten Bifokalgläsern beobachten die Großtanten sie ganz genau.

»– Schlafenszeit, Liebes? Dein Zimmer ist bereit –«

»– gut durchgelüftet und frisch hergerichtet für dich –«

»– (Achtung! Nimm ihr die Tasse ab, bevor sie herunterfällt –)«

»– (Nimm du sie, du bist näher dran!)«

Noch nicht einmal 21 Uhr, sehr früh noch, um schlafen zu gehen, denkt Clare. Doch es fühlt sich viel später an. Mitternacht.

Clare ist so müde, dass sie kaum noch die Augen offen halten kann. Wie unhöflich von ihr, im Beisein der Großtanten einzuschlafen … Schafft es kaum noch, vom Samtsofa aufzustehen. Schafft es kaum noch, ihre Wörter zu artikulieren, sich zu entschuldigen.

(Was ist mir ihr passiert? Clare denkt, Sie haben mich vergiftet! – doch dieser Gedanke gleitet hinein und wieder hinaus aus ihrem Kopf, wie ein kurzer Faden, den man durch ein Nadelöhr zieht.)

Es gibt einen kurzen Augenblick, einen entscheidenden Punkt (wie jener Augenblick damals, kurz bevor Clare den Anruf in Bryn Mawr entgegengenommen hatte, als sie hätte entscheiden können, nicht dranzugehen), in dem Clare den Großtanten hätte entkommen können, aus dem Salon ausbrechen, in das schwach erleuchtete Foyer hinausstolpern und raus auf die Veranda in die eiskalte, frische Luft, und von da aus in ihr Auto, das am Straßenrand parkt. Aber all das tut sie nicht, denn sie hat gar keine Chance, es zu tun. Sie ist einfach nur schrecklich schläfrig. Kindliche Geborgenheit in ihrer Schläfrigkeit und im Nichtstunkönnen der Schläfrigkeit. Bei diesen liebenswürdigen Großtanten.

Weiß nicht, was passiert, aber fügt sich: die Treppe hinauf! Ein Zimmer bereit für sie, seit Tagen. (Jahren?)

Wie schwach sie ist, doch Clare nimmt ihren Koffer in die Hand, um ihn die Treppe hinaufzutragen. Der Koffer (der vorher nicht schwer gewesen war) ist jetzt sehr schwer. (Sie hat nur ein paar Kleidungsstücke dabei, ein paar Bücher, ein zweites Paar Schuhe, Hygieneartikel in einem Kunststoffbeutel – nichts Schweres eigentlich.) Die kleine, plumpe, missgestalte Morag lacht liebevoll – oder ist es höhnisch? »Lass mich« – schafft es, mit ihrem Armstumpf den Koffer, auf ihrem Oberschenkel abgestützt, triumphierend die Treppe hinaufzutragen.

Clare reibt sich die Augen, starrt ihr hinterher. Fehlt Morag wirklich ein Teil ihres Arms?

Clare kann es nicht genau erkennen.

»– hier herein, liebe Clare! Dies –«

»– ist bereit für dich

Elspeth, die Großtante mit dem hellen, feuerfarbenen Haar, fliegt an Clare vorbei und führt sie ins Gästezimmer. Clare hat den Eindruck, die glamouröse Großtante schwenkt eine Fackel über ihrem Kopf – aber nein, natürlich keine Fackel.

Erstaunlich, dass ihr das Gästezimmer in diesem fremden Haus vertraut erscheint – einer der Orte, an dem Einzelheiten wie Wände, Decken, Fußböden nicht genau festgelegt sind, eher unbestimmt, im Nebel. Ich bin zu früh gekommen, der Traum ist noch nicht bereit. Gibt es hier Sauerstoff zum Atmen? Angst hat sie keine. Im Gegenteil, sie hat das Gefühl, an einen vertrauten Ort zu kommen, ein Ort, der sie lange schon erwartet hat.

»Raus! – aus den Schuhen –«

»Raus! – aus den Socken –«

»Dies auszieh’n –«

»Das auszieh’n –«

»Und das noch –«

Wie Äther steigt die Lethargie von der steifen, ausgebleichten Satindecke des Himmelbetts hinauf, um Clare in die Arme zu nehmen. Die Matratze ist sehr hart – Rosshaar. (Woher weiß Clare das? Clare weiß es.) Auf dem Gänsefederkissen rollt ihr Kopf hin und her, als ob er vom Körper abgetrennt wäre. All ihre Glieder sind schlaff, widerstandslos. Ihre Gedanken in Fetzen, zerrissen. Und dann Dunstschwaden, wie Wolken. Hoch oben fegen Atlantikwolken über sie hinweg.

Geschäftig, glücklich zupfen die Großtanten an ihrer Kleidung, beugen sich gurrend über sie, als wäre sie ein großes, hilfloses Baby. Aus der Distanz hört sie (sehr zu ihrer Bestürzung), dass sie »keine besondere Schönheit« sei, doch wenigstens »kommt sie nach ihm, nicht nach ihr. Diese Frau war so gewöhnlich

6.

Leise, erregte Stimmen wehen die Treppe hinauf.

Sie erinnert sich nicht.

Sie muss sich erinnern!

Nein. Ich glaube, sie tut es nicht …

Sie tut so, als erinnere sie sich nicht.

Nein. Ich glaube, sie erinnert sich wirklich nicht.

Dann eine Pause. Man ist sich nicht sicher, ob man richtig wach ist oder noch gefangen in diesem fremden Bett mit seiner harten, unnachgiebigen Matratze unter einem dünnen, zerfransten Betttuch, zwischen Bettdecken, die nach Schimmel riechen, gefangen in einem Traum, der weitergeht, weiter und weiter, wie wenn man durch trübes Wasser watet, das an den Füßen saugt und man befürchten muss, hinuntergezogen zu werden, und man dann die Augen fest zulässt wie ein Kind, aus Furcht vor dem, was man als Nächstes hören könnte.

Sie erinnert sich nicht an uns – an die, die sie gefunden haben.

Unvermitteltes Gelächter. Übermütige Heiterkeit, wie klirrend zerspringendes Glas.

7.

»Clare, Liebes? – Frühstück.«

»– Zeit fürs Frühstück, liebe Clare!«

Wacht auf von den Stimmen unten an der Treppe.

Freudig erregte Stimmen, leicht vorwurfsvoll: Clare hat verschlafen, es ist nach neun.

Starrt ungläubig auf ihre Uhr. Viertel nach neun! Normalerweise wacht Clare vor Tagesanbruch auf, ist vor sieben aus dem Bett. Wundert sich, dass sie wie apathisch zwölf Stunden in diesem Himmelbett im Gästezimmer ihrer Großtanten geschlafen hat. Noch immer ist ihr Kopf schwer, ihr Blick verschwommen, so als ob sie, anstatt tief und fest zu schlafen, die ganze Nacht hindurch versucht hat, dicht vor ihren Augen einen Text zu lesen.

An der Tür Stimmen, gewagt vertraulich, erregt.

»Bist du hungrig, Liebes?«

»Wir haben dir ein ganz besonderes Frühstück zubereitet, Liebes …«

Herausfordernd dreht sich der Türknopf. Aber – zum Glück! – die Tür wird nicht geöffnet.

Clare beobachtet, wie sich der Türknopf dreht. Die Haare in ihrem Nacken stellen sich auf wie bei einem erschreckten Kind.

Schnell ruft sie ihren Großtanten zu, dass sie so rasch wie möglich hinunterkommt. Es tut ihr so leid, dass sie verschlafen hat …

»Keine Eile! Keine Eile –«

»– unsere kleine Schlafmütze

Lachen wie schepperndes Glas. Clare schaudert.

Orientierungslos, schlaftrunken und noch wackelig auf den Beinen, versucht sie sich im Gästezimmerbad zu waschen. Dort ist alles viel zu hell: grellweiße Kacheln an der Wand, auf dem Boden. Von der Decke blendendweißes Licht. Über ihr, in einer Ecke, die Reste eines zerstörten Spinnennetzes, leichte Erregung, kaum wahrnehmbar …

Clare schaudert. Das macht sie dann später weg, das Spinnennetz.

In einem antiquierten Spiegel über einem antiquierten Waschbecken, ein blasses Gesicht, verfilztes Haar. Nackte Schultern, Brüste, beschämt und verletzlich – Brustwarzen so hart wie kleine Kerne, aufmerksam und vorsichtig.

Unterarme! Clare schrubbt sie mit einem Waschlappen ab, kräftig.

Keine Ahnung, wie man die antiquierte Dusche in der riesigen weißen Badewanne benutzt. Wasserhähne, die sich nur widerwillig drehen und die alten Rohre ächzen lassen. Duschkopf wie eine lepröse Sonnenblume.

Sie muss die Großtanten fragen, wie diese verdammte Dusche funktioniert. Keine Zeit mehr, um ein Bad zu nehmen – um die Wanne mit heißem Wasser zu füllen, hineinzusteigen, hineinzurutschen wie in einen römischen Sarkophag.

(Außerdem ist die Wanne nicht sehr sauber. Reste von Spinngewebe, Haare.)

Eine Nacht voller strapaziöser Träume! Schüttelt den Kopf, um sie loszuwerden.

Warum ist sie hierhergekommen? Wo ist sie eigentlich genau?

Zurück im Schlafzimmer, zieht sich an in kindlicher Eile. Man fürchtet sich davor, überrascht zu werden, wenn man noch nicht vollständig angezogen ist. Nackte Füße! Unmöglich, mit nackten Füßen herumzulaufen …

Clares Finger bewegen sich wie benommen. Es gibt eine merkwürdige Abkopplung zwischen ihrem Gehirn und ihren Fingern, ihren Gliedmaßen. Genauso hat sie sich gefühlt, als sie früher einmal eine Tablette zum Einschlafen genommen hat – kein schweres Barbiturat, nur Benadryl – doch die Nachwirkungen am folgenden Morgen waren sehr unangenehm. Natürlich – du weißt ja, dass man dir Gift gegeben hatte. Gestern Abend.

Sie atmet durch den Mund, versucht, nicht in Panik zu geraten. Aus ihrem Koffer (der aussieht, als sei er geschüttelt worden, sein Inhalt ist vollkommen durcheinandergewürfelt) kann sie saubere Unterwäsche, Kleidung herausziehen. Die Großtanten! Sie wollen mich aus dem Testament ihrer Schwester löschen, bevor es zum Nachlassgericht geht, sie wollen mein Erbe. Auf dem Weg nach Cardiff am Tag zuvor hatte Clare einen Pullover, Jeans und ihre normalen Laufschuhe getragen. Doch sie hat auch offiziellere Kleidung dabei für den Termin mit Lucius Fischer an diesem Morgen.

»Lucius. Er wird mein Freund sein.«

Clares Finger sind ganz betäubt; sie braucht viele Minuten, um sich ordentlich anzuziehen. Hat ihre Haare vergessen – starrt auf ihr Bild im Spiegel auf der Kommode – eine sprachlose Medusa.

Schande! – unter normalen Umständen hätte sie geduscht, ihre Haare gewaschen oder zumindest gut nassgemacht, um sie sorgfältig auszukämmen. Zu spät jetzt.

Haare wie wilde Kritzelei. Geweitete Augen, die große Verwirrung spiegeln.

Keine Fluchtmöglichkeit außer die Treppe hinunter. Von freundlich scheinenden Stimmen hinabgezogen. Clare betritt einen neuen Raum, den Frühstücksraum, schirmt ihre Augen gegen das aus einer riesigen Fensterfront hereinbrechende Sonnenlicht ab. Ihr Mund ist extrem trocken. Ihre Augen fühlen sich übergroß an, freigelegt. Die Großtanten wenden sich ihrem Gast zu, lächeln erwartungsvoll. Elspeths grotesk lodernde Haarpracht hebt sich grell von ihrem bleichgeschminkten Gesicht ab; Morags muskulöser hydrantengleicher Körper ist fest im Boden verwurzelt. Es scheint, als hätten sie gerade mit jemand anderem über Clare gesprochen, aber wer das ist, eine dritte Person am hinteren Ende des Frühstückstisches, das kann Clare nicht erkennen. In den Augen der betagten Schwestern ein glitzerndes Funkeln, das Clare unangenehm ist.

»Zum Frühstück gibt es Porridge –«

»– zubereitet in typisch schottischer Weise, mit Hafergrütze.«

»– einem Schuss Milch –«

»– braunem Zucker –«

»– Rosinen. Beeil dich!«

Clare soll vorne an dem langen, mit einer senfgelben Plastikdecke bedeckten Tisch Platz nehmen.

Porridge! Clare hat schon viele Jahre keinen Porridge mehr gegessen. Sie erinnert sich daran, dass sie diesen als Kind geliebt hat; danach dann nicht mehr so sehr. Die Großtanten haben einen ganz besonders dicken, zähen Haferbrei zubereitet, der an den Rändern von Clares Schüssel schon fest ist. Sie nimmt ihren Löffel in die Hand: es ist der leicht angelaufene silberne »Babylöffel« vom Abend zuvor.

Clare ist entschlossen, das Frühstück ihrer Großtanten anzunehmen, damit sie den alten Damen zeigen kann, wie dankbar sie für ihre Gastfreundschaft, für ihre Liebenswürdigkeit ist. Es ist nicht so, dass sie die beiden nicht mag, und sie hat auch keine Angst vor ihnen – das wäre ja absurd.

Doch dann bemerkt sie, wie sich die Rosinen in dem grauen, zähflüssigen Porridge in ihrer Schüssel hin und her bewegen.

»Sie mag deinen Porridge nicht, Morag!«, ruft die Großtante mit den orangefarbenen Haaren.

»Sie mag deinen Porridge nicht, Elspeth!«, ruft die Großtante mit der verbogenen Wirbelsäule.

Verwirrt verstärkt Clare den Griff um ihren Babylöffel. Natürlich bewegen sich die Rosinen in ihrer Schüssel nicht. Hafergrütze mit einem Schuss heißer Milch ist ihr Lieblingsfrühstück.

»Jetzt hast du unsere liebe Nichte in Verlegenheit gebracht – sie denkt, sie muss das essen

»Ah ja, natürlich muss sie essen. Sie ist ein junges Mädchen, das noch wächst – und junge Mädchen müssen essen

Während Clare sich bemüht, den angelaufenen silbernen Babylöffel zum Mund zu führen, zu kauen, einen zähen Brocken Porridge herunterzuschlucken und dabei die Rosinen zu vermeiden, schweben die Großtanten dicht über ihr, mit Geplapper und Geflatter. Steckt da irgendetwas Finsteres, Unheimliches dahinter oder sind sie einfach nur besorgt um Clare, fasziniert von ihr, so wie man (sehr wohl) von einem Fremden fasziniert ist, der in Gestalt eines Familienangehörigen plötzlich aufkreuzt? – ein direkter Erbe?

Clare hat sich eine entscheidende Frage überlegt, die sie den Großtanten stellen will: Warum wurde sie zur Adoption weggegeben, wenn doch die Familie Donegal so gut betucht ist? Hat keiner aus der Familie sie gewollt?

Nur – wie soll sie es wagen, solch eine Frage zu stellen? Ihre Stimme bricht, als sie beginnt. Im Hals ein dicker Kloß.

Dieser verdammte Porridge ist so zäh wie Karamellbonbons! Heiße Milch reinzuschütten macht die Sache kaum besser.

»Ist es zu heiß, Liebes? Oder –«

»Nicht heiß genug?«

Die Fürsorglichkeit der Schwestern scheint echt. Clare fragt sich, ob sie je zuvor in ihrem Leben einen Gast im Haus hatten.

Elspeth trägt einen graubraunen, seidenen Morgenmantel mit weiter Schärpe. Er erinnert an irgendeine antiquierte Art von Ballkleid oder Festtagstracht; das Oberteil des Mantels gleitet auf sonderliche Art und Weise auf, wenn sie sich gedankenlos bewegt und legt ein knochiges Dekolleté frei. Dazu hat Elspeth ihr Gesicht so großzügig gepudert, dass sie einem gespenstischen Clown gleicht; ihre bogenförmigen Augenbrauen, die auf Clare am Abend zuvor noch prachtvoll gewirkt hatten, sind heute Morgen zittrig korrigiert, genauso wie der rotorange Lippenstift mit zittriger Hand geführt wurde. Morag, mit Mopsgesicht und plump-gedrungenem Körper und zerzaustem, ungekämmtem Haar, trägt, wie es scheint, einen bequemen Flanellpyjama unter einem Morgenmantel aus grobem Stoff, so wie Jeansstoff. Ihre Augen ruhen vergnügt, etwas schadenfroh, auf Clare.

»Wir mögen unseren Porridge nicht«, sagt Morag verschmitzt. »Ist wohl nicht von der Qualität, wie man ihn im Ritz serviert bekommt.«

»Na ja, er würde unserem Gast besser schmecken, wenn er wenigstens heiß genug wäre. Irgendjemand hat ihn kalt werden lassen, sodass er jetzt fest ist …«

»Irgendjemand hat die Flamme am Herd ausgeschaltet.«

»Irgendjemand muss ja wachsam sein, sonst kommt die Feuerwehr hier die Straße hochgebraust – wieder einmal.«

Clare lächelt unsicher. Sie hat den Haferbrei aufgegeben, hält aber weiterhin den zierlichen Löffel in der Hand, damit ihre betagten Verwandten nicht argwöhnen, sie möge ihr aufwändig zubereitetes Essen nicht.

Jetzt hat sie Zeit, die vierte Person im Raum zu betrachten: ein Mann – von unbestimmbarem Alter –, weder alt noch jung, weder lächelnd noch missbilligend, sowohl Clare als auch den plappernden Großtanten gegenüber gleichmütig, desinteressiert, die Ellbogen auf den Tisch gestützt und vornübergebeugt, einen Löffel in der linken Hand, während die rechte auf der Tischplatte ruht, Finger steif wie Klauen.

Verwunderlich. Diese Person, ein Fremder, kommt Clare irgendwie vertraut vor – seine Züge erinnern an ihre eigenen, indirekt: irgendetwas an der Stellung der Augen oder die Nase …

Er hat einen ausgeprägten spitzen Haaransatz, dunkles, mit grauen Strähnen durchsetztes Haar, ein scharfkantiges Gesicht. Nicht sehr freundlich. Doch beobachtet Clare durch seine halb geschlossenen Augen, heimlich. Neben seiner Porridge-Schüssel, eine längsgefaltete Zeitung.

Beunruhigend, denkt Clare, diese Person hat so viel Ähnlichkeit mit ihr, wie ein enger Verwandter, aber je länger sie ihn betrachtet, desto unsicherer wird sie, ob sie sich das nicht alles nur einbildet.

Er hat eine raue, narbige, gräuliche Haut. Sie hat eine sehr helle, sehr glatte Haut.

Er ist missmutig, kleinlich. Sie lächelt viel, schmeichelt gern.

Es scheint, als ob Essen für diesen Mann eine große Herausforderung darstellt, denn Clare hat bemerkt, dass er seinen Löffel sehr seltsam mit den Fingern der linken Hand hält, die Großtanten ihm allerdings, vor lauter Angst, ihn zu belästigen, gar keine Hilfe anbieten.

Nervenschäden, denkt Clare mit einem Anflug von Mitleid. Und vielleicht auch Gehirnschäden. Sie erkennt einen steinernen, ausdruckslosen Blick in seinen Augen.

»Gerard, mein Lieber! Dies ist eine Nichte von dir – Clare –«

»– eine Nichte, die du noch nicht kennst, mein Lieber. Die wir alle noch nicht kennen – eine große Überraschung …«

Gerard schaut Clare missbilligend an, ohne sie überhaupt richtig zur Kenntnis zu nehmen. Sie ist ein Eindringling, so scheint es; stört sein Frühstück und seine Zeitungslektüre. Er nickt ihr widerwillig zu, murmelt etwas, was Hallo heißen könnte. Oder auch nur ein dunkles Murren war – mh.

»Clare, Liebes, – das ist unser Neffe Gerard, der hier im Haus wohnt – mit uns zusammen –, seit seine Mutter verstorben ist –«

»Der jüngere Bruder deines Vaters, Clare –«

»Nein. Gerard war älter –«

»Nein, war er nicht. Er war jünger …«

»Jünger als Conor – zu jener Zeit. Aber jetzt ist Gerard älter.«

»Na ja, er ist älter geworden. Jedes Jahr, älter geworden.«

»Genau das habe ich doch gesagt! Jedes Jahr, älter

Gerard ist ein magerer Wolfshund, mit eingefallen Wangen, immer auf der Hut, jemand, dem unbehaglich wird, wenn man über ihn redet, als wäre er nicht anwesend. Sein Gesichtsausdruck erinnert an den in Kummer und Qual im siebzehnten Jahrhundert von Alessandro Casolani in Öl festgehaltenen Märtyrer St. Bartholomäus. Clare denkt sich, dass die betagten Großtanten mit ihrem Geplänkel – unter dem Vorwand, freundlich und beschützend sein zu wollen – absichtlich die Geduld ihres Neffen auf die Probe stellen wollen.

»– und trotzdem, du weißt es genauso gut wie ich – Gerard ist nicht alt. Gerard ist –«

»– für uns, immer noch ein Junge.«

Irgendetwas an Gerard scheint entstellt, denkt Clare. Sie ist irritiert davon, dass seine Augen so große Ähnlichkeit mit ihren eigenen haben, sie liegen aber tiefer in den Höhlen, von Schatten umrandet. An seinem Kinn sprießen dünne Haare, und seine Wangen zeigen winzige, matt glänzende Blutspuren, so als ob er sich in Eile oder sehr unvorsichtig rasiert hätte. Sein linkes Ohr sieht geschunden aus, beide Ohren sind gerötet. Er trägt zusammengewürfelte Kleidung, eine braune, lockere Tweedjacke, ein schwarzes T-Shirt, Cordhosen. Die Tweedjacke ist alt und an den Ellbogen durchgescheuert, doch ganz offensichtlich aus hochwertiger Wolle; das schwarze T-Shirt verleiht ihm ein salopp priesterliches Aussehen.

»Hallo! Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen – Gerard.«

Eigentlich viel zu vertraulich – Gerard. Clare überlegt sich, ob er von ihr die Anrede Onkel Gerard erwartet hätte.

Obwohl sie sich unwohl fühlt in ihrer Haut, schafft Clare es doch, Optimismus und Freude auszustrahlen. Im Zweifelsfall ist es für eine attraktive jüngere Frau einfach klug, die Naive zu spielen. Sie möchte gemocht werden! – unbedingt. Ist Clare denn nicht Gerards lang verloren geglaubte Verwandte, irrtümlicherweise als Waisenkind weggegeben? Sollte Gerard sie nicht eher anlächeln, mit einem Gesicht, das wundersames Erstaunen ausdrückt, ein herzliches Willkommen?

Sollte Gerard nicht von seinem Stuhl aufspringen, zu ihr hineilen, sie umarmen? – sodass seine starken Arme ihre Rippen zu zerquetschen drohen?

Sollte Gerard nicht ihre Wangen küssen, sie freudig anlachen, mit ihr lachen?

Doch der finstere Gerard bewegt nur leicht seine Schultern unter der Tweedjacke. Clare hört ihn etwas murmeln wie ja oder ah. Kein Zweifel, er ist verärgert, weil er beim Zeitunglesen gestört wird, die gefaltet neben seiner Porridgeschüssel liegt.

»Ich bin Clare. Ich glaube – deine Nichte? Ich meine – eine deiner Nichten …«

Wie absurd! Clare merkt, dass ihr Gesicht brennt, wie peinlich. Als Kind ist man Personen wie Gerard gegenüber leicht verletzlich, genauso wie gegenüber etwas älteren Kindern, die einen mit ihrem undurchschaubaren, scheinbar feindseligen Verhalten einschüchtern; man erkennt, dass sie einen verachten oder zumindest ablehnen, doch man hat keinen Schimmer, warum das so ist, weil man doch eigentlich nichts getan hat, was sie hätte verärgern können. Ohne zu wissen, warum, bemüht man sich unablässig weiter, lächelt bis das Gesicht schmerzt, in der Hoffnung, dem anderen wenigstens ein gleichgültiges Lächeln zu entlocken, wohlwissend, dass alle Bemühungen zum Scheitern verurteilt sind.

Doch Clare ist kein Kind mehr. Clare Seidel ist dreißig Jahre alt. Sie ist eine viel attraktivere Person als dieser wächserne Gerard Donegal, den sie unter anderen Umständen, in einer anderen Umgebung keines Blickes gewürdigt hätte. Clare sollte diesem tückischen Gelände längst entwachsen sein, von dem man doch nur als Kind seinen Peinigern nicht entkommen kann, weil das Klassenkameraden sind, mit denen einen die wohlmeinenden Erwachsenen zusammengestopft haben und mit denen man dann in einer Hölle feststeckt.

Die Großtanten werden jetzt ungeduldiger, tadeln provozierend: »Clare ist deine Nichte, Gerard. Wir haben dir gestern von ihr erzählt. Erinnerst du dich nicht? Sie ist die Tochter von –«

»– du erinnerst dich: Conor.«

Gerard blickt noch finsterer drein. Schüttelt den Kopf, nein.

Clare fragt sich, was sie davon halten soll. Gerard erinnert sich nicht an seinen verstorbenen Bruder Conor, oder möchte sich nicht erinnern? Oder er glaubt vielleicht nicht, dass die junge Frau, der er vorgestellt wurde und die ihn weiterhin hoffnungsvoll anlächelt, tatsächlich seine Nichte ist.

»Clare ist Conors jüngstes Kind, Gerard –«

»Du erinnerst dich – da bin ich mir sicher.«

Clare ist verwirrt, den Namen Conor so häufig zu hören, so beiläufig.

Zum ersten Mal hat sie »Conor« laut ausgesprochen gehört, denkt sie. Wenn nicht Lucius Fischer ihn am Telefon erwähnt hatte. – Sie kann sich nicht erinnern.

Eine unerklärliche Magie umgibt diesen Namen, der sie zum Weinen bringen möchte, doch ein Lächeln auf ihre Lippen zaubert. Mein Vater.

Genauso bei der Frau namens Kathryn, ihrer Mutter. Meine Mutter.

Überwältigend für Clare, dieses Rätsel, von dem sie nicht weiß, wie sie es lösen könnte, diese Erkenntnis, dass die drei Fremden in diesem Raum, hier direkt vor ihr, nicht nur Blutsverwandte sind, sondern dass sie ihren Vater gekannt haben, und dass sie, wann immer sie wollen, einfach so nebenbei über ihn sprechen können – Conor.

Seit sie denken kann, hat Clare ihre Situation akzeptiert – Waisenkind. Keine Verwandten. Und jetzt …

Clare hat die Geburtsurkunde, die ihre Mutter Hannah ihr per Eilpost geschickt hat, sorgfältig gelesen. Ein offizielles Dokument, das Clare sicher früher schon einmal gesehen, doch wegen geringen Interesses auch wieder vergessen hatte.

Warum sollte es mich kümmern, wer ich einmal gewesen bin? Sie haben mich weggegeben, sie haben sich einen Dreck um mich geschert.

Die Namen ihrer (leiblichen) Eltern schienen für Clare nichts mit realen Personen zu tun zu haben, so wie man die Namen weit entfernter Orte auch nicht mit realen Orten verknüpft. Sie hatte sich an den Gedanken gewöhnt, dass diese Fremden ab ihrer Geburt nicht mehr existierten, als ob ihre Geburt deren Tod herbeigeführt hatte; obwohl es doch gar keinen Grund für solch einen bizarren Gedanken gab. Sie hat immer gewusst, oder hätte wissen müssen, dass sie erst zur Adoption freigegeben wurde, als sie schon zwei Jahre alt war, fast drei. Nicht als Neugeborenes.

»Clare ist unser Gast, Gerard! Auch dein Gast.«

»Clare ist hierhergekommen, um Mr. Fischer zu treffen, Gerard – unseren Anwalt.«

»Auch deinen Anwalt!«

»Sie ist den ganzen Weg von Philadelphia hierhergefahren, ist das nicht beeindruckend? Ganz allein mit dem Auto.«

»Wegen des Testamentes – des Testamentes deiner lieben Mutter. Du erinnerst dich –«

»Sie hat auch geerbt. Deine Nichte Clare.«

»Die alte Farm in der Post Road, mein Lieber. Leider – ja …«

»Du könntest Clare ja vielleicht mal hinfahren, damit sie sieht, was sie geerbt hat –«

»– eine gute Gelegenheit, dass ihr euch kennenlernt, du und Clare –«

»– es sei denn –«

»– es sei denn, natürlich –«

»– du möchtest lieber nicht.«

Die Worte hängen wie eine Herausforderung in der Luft. Lieber nicht.

Bei diesen Worten steht Gerard abrupt vom Tisch auf. Sein Stuhl rutscht hart über den Holzboden.

Er gibt ein Knurren von sich, verachtend, spöttisch. Entblößt gelbliche Zähne in einem erbosten Gesicht. Seine Augen schlingern in ihren Höhlen hin und her, doch er schaut Clare nicht an – er hat Clare nicht ein einziges Mal angeschaut.

Mit seiner linken, gesunden Hand greift er seine Mütze und die gefaltete Zeitung und verlässt polternd den Raum durch die hintere Tür.

Hinterlässt einen Geruch von Asche, ein ungewaschener männlicher Körper, ungewaschenes Haar. Nicht einmal ein kurzer Seitenblick.

Die Großtanten sind wie erstarrt, weit aufgerissene Augen, in Alarmbereitschaft wie ein Vogel Strauß. Aus ihren Mündern zischende Laute, tsss. Clare wundert sich, warum sie nicht dankbar sind, dass ihre Fragerei den mürrischen Mann aus ihrem Blickfeld getrieben hat.

»Oh je! Es tut uns so leid, Clare –«

»Normalerweise ist unser Neffe Gerard nicht so –«

»– grob –«

»– schüchtern. Er fühlt sich unter Fremden nicht sehr wohl –«

»– sogar dann nicht, wenn die Fremden Familienangehörige sind –«

»– zurückgeblieben, menschenscheu –«

»– dickköpfig, stur –«

»– schrecklicher Schock – Trauma –«

»– früher war er gescheit –«

»– so gescheit wie Conor –«

»– nein! – nicht annähernd –«

»– doch. Als er am Priesterseminar anfing –«

»– aber nicht so gescheit wie Conor – nein –«

»– fleißiger als Conor, auf jeden Fall. Und –«

»– gläubig. Gottesfürchtig.«

»Ja, und jetzt behütet Gott ihn –«

»– Das sollte er, ja! Nach all dem, was Gott getan hat –«

»– schhh! Glaubst du, Gott hört das nicht?«

Die Großtanten vertrauen Clare an, dass ihr »Junggesellen-Onkel«, Gerard Donegal, früher einmal Jesuit werden wollte. Er war im Priesterseminar Saint Joseph in Portland, Maine, bis er aus »persönlichen, familiären Gründen« aussteigen und nach Cardiff zurückkehren musste, um mit seinen Eltern zusammenzuwohnen.

Seit dem Tod seines Vaters übernahm er die Rolle des Chauffeurs für seine verwitwete Mutter, in den letzten Jahren musste er sie hauptsächlich zu Arztterminen und zum Gottesdienst in die St. Cuthbert’s Church fahren. Allen rundherum war klar – Gerard war ein äußerst treusorgender Sohn. Er sorgte sich um die Instandhaltung des Anwesens und verdiente sein Geld mit Gelegenheitsarbeiten in der Nachbarschaft.

Doch stets verfolgte er seine persönliche Pilgerreise, bis heute.

Wirklich? – Clare konnte es nicht glauben. Der gequälte Gesichtsausdruck, die gelblichen Zähne und die abwehrenden Augen passten ihrer Meinung nach nicht zu einer religiösen Geisteshaltung …

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9783955102487
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