Читать книгу: «Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich», страница 4

Шрифт:

Kapitel 9

Nachdem Karl Munkelt beschlossen hatte, seinen Laden heute nicht zu öffnen und sich einen doppelten Whisky eingeschenkt und bereits getrunken hatte, betrachtete er weiter sprachlos den Inhalt des Koffers.

Sechs Videokassetten. Allesamt unbeschriftet.

Karl sah immer wieder wie paralysiert auf den Kurzzeitwecker im Koffer. Nicht viel hätte gefehlt, und seine geliebte Küche läge jetzt wahrscheinlich in Trümmern. Nicht viel hätte gefehlt, und er hätte sich über seine Trümmerküche gar keine Sorgen mehr machen brauchen.

Ich nehme noch einen, entschied er. Ohne sich darüber Gedanken zu machen, dass zwei Whisky um diese Uhrzeit möglicherweise auch den restlichen Tag ruinieren konnten, kippte er ihn auf Ex. Endlich ließ das Zittern seiner Hände nach. Karl holte tief Luft und rieb sich kräftig mit den Fingern die Augenbrauen, so, als müsste er sich noch einmal vergewissern, dass er tatsächlich unbeschadet geblieben war.

„Wer denkt sich so ´nen Scheiß aus?“, fragte er in Richtung Koffer.

Dann begutachtete er jede einzelne Videokassette so eindringlich, als könnten die ihm entweder auch noch um die Ohren fliegen oder ihm wenigstens einen Hinweis darüber liefern, warum er um ein Haar in Stücke gerissen worden wäre. Die Stange und den Kurzzeitwecker ignorierte er.

„Ich muss mir diese Scheißdinger ansehen“, murmelte er. Karl Munkelt genehmigte sich einen dritten Whisky und merkte erst jetzt, dass er seinen Lieblingswhisky, einen dreißig Jahre alten Lafroaig bereits zur Hälfte einfach so in sich hinein geschüttet hatte. Egal, schließlich feierte er gerade seine zweite Geburt.

Teures Frühstück, dachte Karl, kam irgendwie zum Stehen und torkelte in Richtung Wohnzimmer, die Videokassetten unterm Arm.

Zum Glück besaß er noch einen Videorekorder. Alle seine Bekannten hatten längst auf DVD umgerüstet und ihre Videorekorder entweder verschenkt oder entsorgt. Er war nicht nur der stolze Besitzer einer recht umfangreichen Videosammlung, sondern stapelte auch immer noch eine beachtliche Zahl von Platten. Karl war ein Liebhaber des guten alten Vinyls. In der gesamten Wohnung befand sich nicht eine CD oder DVD.

Karl schaltete den Fernseher ein, kramte nach der Fernbedienung und schob die erste VHS in den Rekorder.

Weißes Rauschen.

Vor Enttäuschung ließ er sich in den schweren Ohrensessel fallen. Dann spulte er die Kassette vor und zurück, schaltete zwischendurch auf Play, um danach das Band noch einmal vor- und zurücklaufen zu lassen.

Wie mit der Ersten erging es Karl Munkelt mit der zweiten und der dritten Kassette: weißes Rauschen. Alle Bänder waren offensichtlich gelöscht oder nie bespielt gewesen. Dieser Umstand führte dazu, dass er sich noch einen Lafroaigh spendierte.

Nun sturzbetrunken, sinnierte er eine Weile darüber nach, ob man ein unterscheidbares weißes Rauschen sah, wenn eine Kassette unbespielt war oder gelöscht. Nach ungefähr zwanzig Minuten entschied er, dass dies im Grunde scheißegal war.

Inzwischen war es halb Zwölf. Unten auf der Schönhauser Allee tobte längst der tägliche Wahnsinn. Vollgestopfte S- und U-Bahnen brachten Leute von A nach B, kleine und große Laster versorgten die Geschäfte und Menschenmengen strömten nach links oder rechts. Berliner, Pendler, Touristen.

Mehrere potenzielle Kunden waren an der abgeschlossenen Ladentür von Ramsch & Plunder zurückgeprallt und kopfschüttelnd wieder gegangen. So betrug Karls Minusgeschäft an diesem Vormittag mindestens genauso viel, wie der Wert des Whiskys, der in seiner Kehle versickert war.

Inzwischen am Rande der Verzweiflung schob Karl die vierte Kassette in den Rekorder. Frustriert drückte er auf Play und betrachtete hysterisch das weiße Rauschen.

Plötzlich erschien ein Oberkörper auf dem Bildschirm. Ein Mann , der offensichtlich direkt in eine auf ihn gerichtete Kamera sprach.

„Sieht aus wie ein gottverdammter Nachrichtensprecher“, flüsterte Karl. Der Mann im Fernseher verstummte und erstarrte, weil er versehentlich die Pausentaste gedrückt hatte.

„Gute Gelegenheit, um Pinkeln zu gehen“, sagte Karl zu dem eingefrorenen Mann.

„Ungefähr sechzig Jahre alt, auffallend blaue Augen, graues Haar, sehr schmales Gesicht“, murmelte Karl Munkelt auf dem Weg zum Klo und stolperte dabei über eine Jacke, die wie plötzlich vom Himmel gefallen zu sein schien. Er schlug der Länge nach hin. Der Aufprall reichte aus, um ihn fast schlagartig nüchtern werden zu lassen.

Karl rieb sich benommen die faustgroße Beule an seinem Kopf.

Woraus bestehen eigentlich Beulen? Fragte er sich kurz, dann ging er ins Bad. Nach dem Pinkeln bespritzte Karl ungefähr zwanzig Mal sein Gesicht mit kaltem Wasser. Dann begab er sich zurück ins Wohnzimmer und bedachte die Whiskyflasche und das halb volle Glas davor mit einem missbilligenden Blick.

Der ungefähr sechzig Jahre alte Mann auf dem Bildschirm seines Fernsehers war nach wie vor erstarrt.

Karl nahm Flasche und Glas und ging in die Küche. Er schüttete den Inhalt des Glases über dem Spülbecken zurück in die Flasche. Dann verstöpselte er sie und stellte sie ins Regal. Während der Kaffee durchlief, stand er am Fenster und betrachtete das kleine Stück Himmel über den Häusern der Schönhauser Allee, den er von seiner Etage aus sehen konnte.

Mann, dachte er, du bist ein verdammter Glückspilz, da haben bestimmt gleich mehrere Schutzengel Überstunden gemacht. Er überlegte kurz, die Polizei zu rufen, entschied sich aber dagegen.

Der Kaffee war durchgelaufen, und Karl trank ein paar gierige Schlucke. Zurück im Wohnzimmer drückte er die Playtaste der Fernbedienung.

Der Mann begann zu sprechen. Karl musste schlucken.

Zunächst möchte ich Ihnen gratulieren. Denn sollten Sie mich jetzt sehen, haben Sie überlebt. In dieser Stange befand sich tatsächlich TNT.

Der Mann lächelte süffisant und verzog das Gesicht zu einer spöttischen Maske. Karl bedauerte einen Moment, den Whisky zurückgestellt zu haben, denn der Schauder, der ihm jetzt den Rücken herunterlief, war eine Potenzierung von American Stafford, weißes Rauschen und Dynamitstange. Der Schluck Kaffee, den er mit zittriger Hand versuchte zu trinken, lief ihm heiß über das Kinn und tropfte auf den Tisch.

Karl wischte die Pfütze mit seinem Hemdsärmel auf. Inzwischen war er hoch konzentriert.

Aber, fuhr der Mann im Fernseher fort, glauben Sie nicht, dass Sie jetzt in Sicherheit sind. Ich zeige Ihnen jetzt eine Realität, die Ihnen nicht gefallen wird. Das, was sie jetzt sehen werden, sind Aufzeichnungen von geheimen Treffen… und eine riesige Schweinerei. Ich spreche zu Ihnen nicht als Opfer, sondern als Täter. Mein Name ist Doktor Rudolph Hofmann. Ja, ich gestehe, dass ich an diesen… diesen Abscheulichkeiten beteiligt war. Sie werden mich vermutlich hassen. Das Einzige, was mir bleibt, ist um Vergebung zu bitten. Möglicherweise erscheine ich Ihnen als Feigling, als jemand, der sich seiner Verantwortung nicht zu stellen bereit ist. Das bin ich. Und doch bitte ich Sie, für mich zu beten. Denn ich bin bereits tot.

Und dann kamen die Bilder.

Kapitel 10

Milmersdorf war ein schmuckloses Kaff, ungefähr 60 Kilometer nördlich von Berlin gelegen, zerschnitten von der B 109 und so gewöhnlich wie Tausende andere Dörfer. In der Mitte des Dorfes fielen sofort die grob sanierten Plattenbauwohnklötze auf. Ansonsten bestand der Ort aus einer Tankstelle, einem Holzgroßhandel mit Sägewerk, einer Filiale der Uckermärkischen Sparkasse, einem Supermarkt und den typischen märkischen Höfen und Häuschen.

Benjamin Krause hatte seit einer Dreiviertelstunde seinen Bestimmungsort erreicht und mittlerweile die Reste seiner fünften Kippe aus dem heruntergekurbelten Fenster geschnippt. Sein Blick wanderte zum hundertsten Male die 109 entlang. In beide Richtungen. Er wusste weder, von wo seine Kontaktperson kam, noch wie sie aussah, noch welches Auto sie fuhr. Das einzige, was er wusste, war: dass es ein Er war. Nun ja.

Wie ihm angewiesen worden war, hatte Benjamin einen geschlossenen VW-Caddy bei Robben & Wientjes in Berlin gemietet, das Logo sollte deutlich an der Karosserie sichtbar sein, und war hierher gefahren.

Und nun?

Nun starrte er abwechselnd auf seine Uhr und die Bundesstraße hoch und runter. Die Zeit schleppte sich zäh dahin. Noch immer blieben ihm 35 Minuten Warten bis zu der Verabredung, die sein Leben auf den Kopf stellen sollte.

Bleib ruhig, sagte sich Benjamin Krause – und fummelte fahrig nach der nächsten Zigarette.

Mit den Radiosendern in dieser Region kannte er sich nicht aus, also drückte er solange den Sendersuchlauf, bis Musik erklang, die seinen Ansprüchen genügte. Auf einem der vielen Sender lief gerade Feel von Robbie Williams, und Benjamin ließ die Musik laufen. Dieser Song entsprach seinen Ansprüchen. Sehr sogar. Benjamin drehte das Radio lauter.

Gerade als er ein wenig entspannt mitsingen wollte, hielt plötzlich ein Wagen neben seinem Robben & Wientjes Caddy.

Es war ein schwarzer 5er BMW mit getönten Scheiben.

Um möglichst ruhig zu wirken, schaltete er das Radio aus und hielt den Atem an.

Der Wagen war aus der entgegengesetzten Richtung gekommen. Die beiden Fahrzeuge standen nebeneinander und der Fahrer saß jetzt quasi neben ihm.

Die getönte Scheibe senkte sich und ein Mann stülpte seinen Ellenbogen heraus.

Benjamin Krause wagte nicht zu atmen, sondern reagierte nur mit einem sprachlosen Zwinkern.

Hinter dem Ellenbogen erschien ein Gesicht. Es war viel jünger, als es Benjamin erwartet hätte. Das Gesicht eines jungen Mannes in seinem Alter, der irgendwie genauso nervös wirkte wie er selbst es war.

„Bist du Benjamin Krause?“

„Ja.“

„Ich habe den Auftrag, dir etwas zu übergeben.“

„Hm.“

Sie musterten sich gegenseitig. Keiner von Beiden hatte eine Ahnung, welche Rolle der andere spielte. Also taten sie so, als wäre die eigene Rolle die Wichtigere.

Gerade als Benjamin Krause eine Frage stellen wollte, randalierte sein Handy in der Hosentasche. Mechanisch zog er sein Sony Ericsson aus der Tasche und klappte es auf.

„Ha, ich wusste, dass du nicht zu Hause bist und dich irgendwo rumtreibst“, ertönte es im Hörer vorwurfsvoll. Corinna Baumgart. Benjamin legte seine Stirn in Falten.

„Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung empfehlen die Ärzte sogar ausgiebige Spaziergänge“, konterte er und schielte gleichzeitig hinüber zu dem jungen Mann im schwarzen BMW.

„Sekunde“, sagte er schnell in dessen Richtung, und der junge Mann nickte als Antwort.

„Eine was?“, fragte unterdessen Corinna. Bei einer Frau wie ihr trafen alle Blondinen-Witze irgendwie zu, als wären sie reale Erzählungen.

„Corinna, ich habe jetzt keine Zeit, dir das zu erklären. Warum rufst du mich an?“

Benjamin hatte sich sofort geärgert, als er den Anruf entgegen genommen hatte, nun schalt er sich einen unverbesserlichen Blödmann.

„Mandy hatte einen ziemlich furchtbaren Durchfall heute Nacht. Deswegen rufe ich an… Möglicherweise muss sie in die Klinik.“ Ihr kurzes darauf folgendes Schweigen sollte auf theatralische Weise dieses Unglück dramatisieren und ihren Vorwurf dadurch bekräftigen.

„Oh“, entfuhr es Benjamin Krause. Mandy war eine siebzehnjährige Schwerstmehrfachbehinderte aus der Mäusegruppe, die weder sprechen noch laufen konnte. Ein Mensch, der nur durch seine Augen sprach. Hübsch, trotz ihrer schweren Behinderung. „Oh“, sagte er noch einmal. „Das tut mir leid. Oje…“ Sein Bedauern war aufrichtig, wenngleich nicht ganz selbstlos.

„Ich wollte dir nur sagen, dass dies eine schwere Belastung darstellt, und wir dich hier brauchen, trotz deines postdramatischen Belastungsdingsbums.“

„Natürlich, Corinna. Selbst bei hohem Fieber würde ich kommen.“

„Gut.“

„Grüße alle von mir, besonders Herrn Jungmann.“

Ein bisschen Zynismus tat ihm jetzt gut. Corinna verstand nicht.

„Wieso Herrn Jungmann?“, fragte sie.

„Egal. Bis später.“ Benjamin Krause klappte das Handy zu und schob es zurück in seine Hosentasche. Sein Gegenüber grinste.

„Wer war´n das?“

„Meine Vergangenheit“, Benjamin grinste zurück. „Lass uns zurück zum Jetzt kommen. Was hast du für mich?“

Der junge Mann stieg aus und ging zum Heck des BMW. Er öffnete den Kofferraum und entnahm ihm einen silberfarbenen Koffer, der nicht besonders schwer zu sein schien. Benjamin kletterte ebenfalls aus seinem Auto und ging langsam zu dem Mann. Der reichte ihm den Koffer.

„Hier, die Ware.“

„Das ist alles?“, beschwerte sich Krause verdutzt. „Deswegen sollte ich extra einen geschlossenen Caddy mieten?“ Der Mann zuckte als Antwort mit den Schultern, dann entblößte er mit einem weiteren breiten Grinsen die Reihen nicht ganz tadelloser Zähne.

„Egal“, antwortete er. „Jedenfalls bringst du die Ware nach Hengelo in den Niederlanden. Hier hast du die Lieferanschrift.“ Der junge Mann reichte Benjamin Krause einen Zettel.

„Ich gebe dir fünf Minuten, um dir die Adresse einzuprägen, danach wirst du den Zettel vernichten. Der Adressat wird dir die Ware abnehmen und etwas anderes mitgeben. Morgen um die gleiche Zeit treffen wir uns wieder an dieser Stelle. Erst dann kriegst du die Kohle. Alles verstanden?“

Benjamin nickte. Wie von ihm verlangt wurde, prägte er sich Namen und Anschrift ein, zerriss den Zettel und gab die Papierfetzen dem jungen Mann zurück. Beinahe hätte er gefragt, was sich denn in dem Koffer befände, biss sich aber Gott sei Dank noch rechtzeitig auf die Lippen. Dass er für fünftausend Euro keine Kollektion Unterwäsche hin- und hertransportierte, verstand sich von selbst. Illegalität hat seinen eigenen Reiz, und Benjamin verspürte ein leichtes Kribbeln.

„Also dann bis Morgen.“ Er zwinkerte seinem Gegenüber zu, diesmal wesentlich entspannter, schnappte sich den Koffer und stieg zurück in den Mietwagen.

Während er den Motor startete, wiederholte er immer wieder murmelnd die Adresse, die auf dem Zettel stand.

Die nächsten 500 Kilometer sollte er sie vor sich hinmurmeln. Exakt solange, bis die Katastrophe ihren Anfang nahm.

Kapitel 11

Winfried Urban und Werner Blumentritt saßen wie üblich am Fenster in der ersten Etage des Behindertenwohnheims und beschimpften sich.

„Du Wasserkübel“, sagte Winfried Urban gerade, und Herr Blumentritt antwortete laut kichernd.

„Du Kaffeemaschine.“

Auf den Hof rollte ein Auto mit zwei blauen Lichtern auf dem Dach wie Winfried Urban registrierte. Irgendetwas sollte ihren Alltag bereichern. Während des Sommerfestes letzten Jahres hatte schon einmal ein ähnliches Auto im Hof gestanden. Er und Karl-Heinz – für den er den Übersetzer spielte – waren als Ehrengäste geladen. Sie durften an verschiedenen Knöpfen drücken und zuhören, wie lautes Gelärm plötzlich den Hof erschallte. Das war aufregend und gleichzeitig bedrohlich. Lange brauchte er, um sich später zu beruhigen. Es war, als ob plötzlich die ganze Welt in ihrem kleinen Hof schreien würde. Nicht auszudenken, was das in der unteren Etage für Verwirrungen zu stiften vermochte. Die konnten nicht so einfach weglaufen, das wusste Herr Urban.

Aus dem Wagen stiegen zwei Polizisten, wie Herr Urban sah. Er klopfte mit seinem Zeigefinger an das Fenster und winkte. Die Polizisten reagierten nicht darauf. Der eine musterte die Eingangstür, der andere ruckelte seine Hose zurecht, die ihm fast über seinen Hintern gerutscht war. Herr Urban lächelte nachsichtig, denn so etwas passierte ihm andauernd. Meistens ruckelte ihm die Frau Corinna seine Hose wieder richtig. Er drückte seine Nase an der Scheibe platt und versuchte es noch einmal mit der Scheibenklopferei. Dann überlegte er kurz nach unten zu gehen, um vielleicht den Hof wie beim Sommerfest mit dem lauten Gelärm zu beschallen. Dabei fiel ihm ein, dass ihm dies ja ziemlich bedrohlich erschienen war. Also blieb er besser sitzen und starrte weiter in den Hof. Aus dem Mastbullenstall kamen gerade der Lutz und der Mathias. Die Beiden wankten mit ihren Gummistiefeln, deren Sohlen mit einer zentimeterdicken Schicht beschwert waren. Auch nach dem gründlichen Spülen in der Stallküche stanken die Stiefel noch nach Bullenmist. Und die Stallküche stank ohnehin nach Bullenmist.

Herr Blumentritt stand auf und stapfte davon, weil ihm nicht mehr geantwortet wurde.

Und nun tat Herr Urban etwas, was er so gut wie nie tat. Er ging den langen Flur entlang und schließlich zur Treppe. Stieg hinab und befand sich just am Ausgang. Er öffnete die Tür. Ein Wind aus frischer Luft und einem Hauch von Kuhkacke schlug ihm entgegen. Vertrauter Geruch eigentlich. Und plötzlich passierte etwas, was er sich vor ein paar Tagen noch gar nicht hätte vorstellen können. Herr Urban schaute sich um und entdeckte einen Weg, der hinter dem Hof irgendwohin führte. Er wusste, dass sich am Sonntag alle am liebsten vor dem Haus versammelten, um dann zusammen mit dem diensthabenden Betreuer in diese Richtung zu spazieren. Besonders die Frau Corinna mochte dieses Ritual gern. Er und Herr Blumentritt brauchten daran nicht teilzunehmen. Sie beide mussten auch nicht jeden Tag in der Woche kleine Plastiklöffel sortieren und in Tüten stopfen wie all die anderen im Heim, die nicht im Stall arbeiteten. Herr Urban und Herr Blumentritt waren von allem befreit und seine einzige Aufgabe bestand darin, Karl-Heinz´ seltene Sprache zu dolmetschen.

Und wie er so da stand und ein bisschen über all das sinnierte, überkam ihm plötzlich eine große Lust. Die Lust auf eine Entdeckungsreise. Winfried Urban kicherte leise. Hinter dem Stall sah er, wie sich die Wipfel der Bäume hin und her wiegten. Er beobachtete eine schwarze Krähe, die hinkte, und bekam sofort Mitleid. Sein Blick wanderte zu seinen Füßen, die noch in seinen karierten Pantoffeln steckten. Er überlegte kurz, kehrt zu machen und noch einmal nach oben zu gehen, um die Pantoffeln gegen seine schönen Lederschuhe einzutauschen. Diese Schuhe waren wirklich etwas Besonderes, denn sie hatten keine Schnürsenkel, sondern Klettverschlüsse. Und darin lief es sich sehr bequem. Dagegen sprach, dass er möglicherweise von seiner Entdeckungsreise abgehalten werden könnte. Von Karl-Heinz zum Beispiel, weil die Frau Corinna ihn mal wieder nicht verstand oder weil ihm selbst ganz einfach irgendetwas anderes in den Sinn kam.

Erst nachdem das Heim mit seinem weißen Anstrich schon klitzeklein geworden und hinter der nächsten Biegung schließlich ganz verschwunden war, dachte er an Herrn Blumentritt und daran, dass der ihm vielleicht folgen könnte. Er blieb stehen und sah sich um. Weder Herr Blumentritt noch sonst wer waren ihm hinterhergelaufen. Also ging er weiter.

An der nächsten Weggabelung bog Herr Urban nach rechts, an der übernächsten nach links. Allein das Laufen war Abenteuer und Entdeckung zugleich. Der Weg führte nun schnurstracks in den Wald, und Herr Urban folgte ihm.

Als die ersten Bäume seinen Weg säumten, stoppte er abermals und hielt eine Weile seine Nase in die Luft. Es duftete nach Wald. Ein Geruch, der ihn an die Zeit erinnerte, als er noch ein ganz kleiner Herr Urban gewesen war.

„Ganz genau“, sagte er laut vor sich hin. „Der Wald.“

Winnilein, pass auf, wo du hintrittst. Tollpatsch! Mit diesen Worten hatte ihn seine Mutter immer getadelt, wenn er auf ihren gemeinsamen Spaziergängen übermütig losgerannt war. Meistens passierte dann tatsächlich eine Katastrophe. Mal stolperte er über einen Ast und schlug sich die Knie wund, mal peitschte Gestrüpp sein Gesicht und hinterließ blutige Striemen, oder er übersah ein Loch im Boden und musste anschließend mit einem verstauchten Knöchel mühsam von seiner Mutter nach Hause geschleppt werden. Ganz unglücklich war er danach immer. Unglücklich darüber, dass bei ihm die Beine nicht so gut funktionierten wie bei den anderen Kindern, die in der Nachbarschaft wohnten, Hans oder Martin zum Beispiel. Und der kleine Herr Urban weinte über dieses Unglück und irgendwann machten ihm diese Spaziergänge überhaupt keinen Spaß mehr.

Jetzt beobachtete Winfried Urban einen Schmetterling, dessen dunkle Flügel mit kleinen farbigen Kreisen geschmückt waren. Der Schmetterling steckte seinen Rüssel in eine gelbe Blüte und schien daraus zu trinken.

Herr Urban trat einen Schritt zurück, streckte seine rechte Hand aus und berührte zaghaft einen Flügel des schönen, zarten Geschöpfs.

„Pass auf, du kleiner Schmetterling, wo du hinfliegst und sei nicht so tollpatschig“, sagte er und kicherte leise. Der Admiral bewegte seine Flügel zwei-, dreimal und flog auf. Kurz darauf landete er auf der Schulter von Herrn Urban und blieb sitzen. Herr Urban war verdattert. Nun war er nicht nur Übersetzer, sondern auch Dompteur. Schmetterlingsdompteur.

Ganz fröhlich geworden, ging er weiter in den Wald. Mit Pantoffeln an den Füßen und einem Schmetterling auf der Schulter. Während Herr Urban immer tiefer in den Wald hineinlief und erst am nächsten Tag von einer Polizeistreife in der Nähe des kleinen Örtchens Ostritz aufgegriffen werden sollte, zum Glück wohlbehalten, klopften dieselben Polizisten an die Tür des Heimleiters.

Die beiden Beamten hatten ein paar Fragen zu einem Mitarbeiter der Behinderteneinrichtung. Harmlos, wie sie beteuerten. Nichts von Belang. Außerdem kannte man sich ja. Reine Routine. Herr Jungmann bot Kaffee an, beantwortete alle Fragen und schließlich plauderten sie über gemeinsame Bekannte.

Und dennoch sollte dieser Besuch Benjamin Krauses unfreiwillige Reise in die mongolische Steppe um einiges beschleunigen.

399
573,60 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
410 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783742782397
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают