Читать книгу: «Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich», страница 3

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Kapitel 6

Karl Munkelt hatte sich den Umweg zu seinem Lager gespart und war direkt zu seinem kleinen Laden in die Schönhauser Allee gefahren. Seine Wohnung befand sich zwei Stockwerke über den Verkaufsräumen und das war gleichermaßen Fluch und Segen.

Die Bilanz seines Ausfluges in dieser Herrgottsfrühe waren ein Telefon, ein Vertiko, ein Garderobenständer, zwei Stühle, ein Plattenspieler, ein Koffer unbekannten Inhalts, ein verloren gegangener nagelneuer Turnschuh und der grässliche Augenblick gespürter Todesangst.

Genug für einen Tag, dachte Karl, als er seine Wohnung auf Socken betrat. Unterm Arm trug er den Aktenkoffer. Den Rest, inklusive seines jetzt nutzlos gewordenen Turnschuhs, hatte er im Lieferwagen zurückgelassen.

Als Erstes brauchte er einen Kaffee und den möglichst stark. Karl bestückte die Kaffeemaschine und schaltete sie ein. Nebenher schob er eine Scheibe Körnertoastbrot in den Toaster und stellte Margarine und Nutella bereit. Sein zweites Frühstück. Inzwischen war es kurz nach Acht. Um Neun würde er runter in seinen Laden gehen müssen, spätestens halb Zehn. Um Zehn begann seine Geschäftszeit.

Der Kaffee war durchgelaufen, das Toastbrot goldbraun. Karl bestrich die Scheibe mit einer ein Zentimeter dicken Nutellaschicht und überlegte beim Hineinbeißen, ob er sich gleich des Koffers annehmen sollte oder erst am Abend.

Angesichts des morgendlichen Desasters brauchte er dringend ein Erfolgserlebnis, soviel stand fest. Um sich mit diesem grässlichen Morgen zu versöhnen, wäre es vielleicht hilfreich, dass der Inhalt dieses Koffers ein Erfolgserlebnis enthielt. Oder dass es ihm wenigstens gelang, ihn geschickt zu öffnen.

Karl nahm einen kräftigen Schluck Kaffee, schlang den restlichen Toast hinunter und legte den schwarzen Delsey auf den großen Esstisch, der vor dem Fenster stand.

Der lange, gelb-stählerne Wurm der U2 rauschte auf Augenhöhe hinter dem Fenster in Richtung Eberswalder Straße vorbei. Ein Schwarm Tauben machte sich auf den gleichen Weg.

Karl untersuchte die Kofferschlösser. Zunächst probierte er einfache Zahlenkombinationen. 1,2,3,4; 4,3,2,1; 2,3,4,5; 5,4,3,2, usw. Menschen waren in solchen Dingen meist fahrlässig einfallslos.

Fehlanzeige. Aber nicht unlösbar. Dann versuchte er es mit Daten. 01.01., 21.12.; 02.02.,30.11… etc. Der Koffer blieb verschlossen. Karl warf einen kritischen Blick auf den Koffer und versuchte andere Kombinationen. Vergeblich. Die Möglichkeit, seine Werkzeugtasche zu holen, blieb immer noch. Doch Karl entwickelte nun einen gewissen Ehrgeiz. Rätsel zu lösen, war eines seiner Hobbys. Es blieben ihm noch satte fünfzig Minuten Zeit, bevor er nach unten in den Laden musste.

Plötzlich hatte er eine bessere Idee. Karl ging zu seinem Küchenschrank und öffnete die oberste Schublade. Das, wonach er suchte, lag dort, wo er es vor ein paar Monaten achtlos abgelegt hatte: ein Stethoskop. Ein Fundstück wie die meisten Dinge in seiner Küche, abgesehen von dem Glaskeramik-Herd, den er nagelneu erworben hatte. Karl stopfte sich die beiden Ohrbügel des Stethoskops in die Ohren und legte die Membran des metallenen Schalltrichters ans Schloss des Koffers und drehte.

Drehen, lauschen, drehen. Drehen, lauschen, drehen. Klick, es war gar nicht so schwer. Er musste einfach nur die Ohren spitzen. Drehen, lauschen, drehen. Klick.

Nach fünf Minuten stand die Zahlenkombination für ihn fest. 1.2.1.2. Wie Karl vermutet hatte, waren die meisten Leute bei diesen Dingen fahrlässig einfallslos. Karl nahm die Stöpsel aus den Ohren und ließ die Schlösser klacken. Der Koffer ließ sich problemlos öffnen. Bingo!

Karl war nun derart im Entdeckungsfieber, dass er vor Aufregung blinzelte. Er öffnete so vorsichtig den Deckel des Delsey, als würden ihm gleich Fünfhundert-Euro Scheine entgegen purzeln, oder Diamanten… versteckt in Tupperdosen.

Doch statt in schallenden Jubel auszubrechen, brach ihm der kalte Schweiß aus. Sein erster Blick streifte einen Haufen Videokassetten. Was für eine Enttäuschung! Aber für dieses Gefühl blieb keine Zeit. Sein zweiter Blick blieb an einem Draht, einem Kurzzeitwecker und einem länglichen Stab hängen. Der Stab hatte verdammte Ähnlichkeit mit einer Stange Dynamit aus irgendeinem dämlichen Western.

Stab, Draht, Kurzzeitwecker…

Diese Stange war Dynamit und der Kurzzeitwecker würde genau eine Minute ticken und dann klingeln. Und wahrscheinlich samt Koffer und Küche explodieren.

Ein Schauder überlief ihn, weit schlimmer als der während des Kampfhundgeknurres am Morgen. Sein erster Impuls war, den Koffer aus dem Fenster zu werfen und schreiend das Weite zu suchen. Dem folgte Verantwortungsgefühl… und dann Panik.

Karls Augen weiteten sich und unter seinen Achseln wurde es feucht. Dann stürzte er zum Küchenschrank. Zum Glück brauchte er nicht lange zu wühlen. Die Kneifzange lag ganz oben. Inzwischen waren vielleicht zwanzig Sekunden vergangen. Zurück beim Koffer, hieß es jetzt eine Wahl treffen. Rot oder Blau? Jeder blöde James Bond Streifen bemühte wenigstens eine solche Szene. Rot oder Blau? In der Regel schafften es James oder jemand anderes in der letzten Sekunde. Nur, hier in der Schönhauser Allee wurde nicht gedreht! Es gab kein Set und keinen Catering-Wohnwagen, die einen Imbiss und heißen Tee anboten oder vielleicht Whiskey für den gestressten Regisseur. Rotes oder blaues Kabel – diese Entscheidung wurde jetzt zu seiner ganz persönlichen Hamlet-Frage. Sein oder nicht sein.

Rot, dachte Karl. Blau? Und schnitt mit zugekniffenen Augen beide Kabel gleichzeitig durch. Er hörte in Gedanken ausgerechnet eine Sektflasche knallen und dann das reale Geräusch eines Rettungswagens, der in Richtung Pankow eine Gasse auf der verstopften Schönhauser Allee einforderte. Nichts war passiert. Keine Explosion. Der Kurzzeitwecker war stehengeblieben.

Ebay, dachte Karl Munkelt vollkommen fertig. Verdammt, ich sollte in Zukunft besser bei Ebay stöbern.

Kapitel 7

Benjamin Krause hatte trotz anfänglichen Zögerns doch die Polizei gerufen und den Einbruch in seiner Wohnung zur Anzeige gebracht.

Nachdem Krüger die Beamten nach einigem Hin und Her davon überzeugt hatte, seine Wohnung in Augenschein zu nehmen, folgte eine ärgerliche Prozedur. Ein latexbehandschuhter Assistent fotografierte hier, pinselte dort ein wenig herum und rümpfte gelegentlich die Nase. Der untersuchende Kommissar stellte Fragen, betrachtete alle Zimmer, fingerte an einer Schublade herum, betastete die Fenster in Küche und Wohnzimmer, stellte abermals Fragen und machte sich Notizen. Zwischendurch wurde der eine oder andere Witz gerissen und diese oder jene Bemerkung über seine Wohnung gemacht. Ansonsten wirkten alle maßlos gelangweilt. Nach zwei Stunden war der Spuk vorüber. Zum Schluss erklärte der Kommissar, dass Krause sich am nächsten Tag noch einmal auf der Polizeidienstelle in Zittau einfinden müsste, um die Anzeige zu Protokoll zu geben und fügte dann achselzuckend hinzu, dass er persönlich nicht davon ausginge, dass die Täter jemals gefasst werden würden.

Als Benjamin Krause die Tür hinter den Beamten geschlossen hatte, verfluchte er sich dafür, niemals eine Hausratsversicherung abgeschlossen zu haben.

„Ich brauche Geld!“, sagte er verzweifelt zu der Stelle, wo gestern noch sein Fernseher gestanden hatte. Kraft dieser unumstößlichen Einsicht und einer plötzlichen Eingebung folgend, griff er in seine Hosentasche und zog sein Handy hervor. Er scrollte eine Weile im Adressbuch des Handys und fand schließlich die Nummer, nach der er gesucht hatte.

Wenn du mal Geld brauchst, hatte ihm vor nicht allzu langer Zeit ein Bekannter seines Freundes Bernd geraten, dann wähle diese Nummer. Leichter Job, gut bezahlt. Damals hatte Krause lachend die Telefonnummer in sein Handy getippt, jetzt hätte er den Bekannten von Bernd, dessen Namen er vergessen hatte, knutschen können.

Benjamin starrte die Zahlen an, die seine Probleme lösen sollten, holte mehrmals tief Luft und drückte die Wähltaste. Nach dem ersten Läuten sprang eine Mailbox an.

Herzlich willkommen bei O2, Sie sind mit der Mailbox der Nummer… Benjamin legte auf.

Verdammt, dachte er. Bullshit.

Dann torkelte er durch sein geplündertes Wohnzimmer mit nun kleinen verstreuten Talkumflecken und ging wieder und wieder die Sätze durch, die er auf der fremden Mailbox hinterlassen wollte. Er verwarf die Idee, kratzte sich am Kopf und wälzte im nächsten Moment jeden möglichen Satz abermals in seinem Gehirn hin und her.

Sein Handy vibrierte. Die Nummer des Anrufers war unterdrückt.

„Ja? Hier ist Benjamin Krause.“

„Sie haben mich gerade versucht anzurufen. Haben Sie Interesse?“

„Ich? Wofür? Äh, ich meine natürlich. Ja.“

„Gut.“

Dann nannte der Anrufer Tag, Zeit, Ort und Honorar. „Haben Sie alles verstanden?“

Statt einer Antwort brachte Benjamin nur ein Glucksen zustande.

„Hallo! Haben Sie alles verstanden?

„Natürlich.“

Der unbekannte Anrufer legte auf, und Benjamin jubelte. Fünftausend Euro, wiederholte er immer wieder, als hielte er das Geld bereits in Händen. Fünftausend Euro. Das ist ja Wahnsinn. Das ist großartig! Und dann ging er sofort all die Dinge in Gedanken durch, die er sich von dem Geld kaufen würde.

Nichts davon sollte er jemals in seinen Händen halten. Aber von dieser Erkenntnis war Benjamin Krause natürlich weit entfernt. Stattdessen begutachtete er den Zettel mit den Notizen vor ihm.

25. Juni, 16.00 Uhr, Milmersdorf in Brandenburg, Ortseingangsschild. Das war in drei Tagen.

Corinna und ihr absurder Dienstplan wurden ebenso aus seinem geistigen Terminplaner gestrichen, wie der geplante Ausflug mit seinem Freund Bernd nach Zgorzelec, der Schwesternstadt von Görlitz am anderen Ufer der Neiße.

Die Probeaufnahmen, die er und sein Freund Bernd einem sehr speziellen Publikum präsentieren wollten, waren, Gott sei Dank, nicht gestohlen worden. Erst als Benjamin die DVD gefunden und an sich genommen hatte, hatte er den Einbruch bei der Polizei angezeigt.

Aber dieses Projekt musste jetzt warten.

Fünftausend Euro, dachte er noch einmal. Wow, wie leicht es doch manchmal war, in dieser verkackten Welt die schnelle Kohle zu machen, vorausgesetzt man kannte die richtigen Leute. Wenn er das Ganze dreimal durchzog, war seine Wohnung danach sozusagen komplett neu eingerichtet und mehr.

Viel früher hätte ich das machen sollen, überlegte Benjamin auf dem Weg in die Küche, wo er sich ein Glas Apfelschorle mixen wollte. Benjamin Krause prüfte vor dem Kühlschrank in Gedanken die ein, zwei moralischen Bedenken, die ihn bislang von jener Tour abgehalten hatten, und der eine Gedanke boxte den anderen erfolgreich nieder. Dann goss er in den Apfelsaft ein wenig Mineralwasser von Evian und nahm einen kräftigen Schluck.

Benjamin fühlte sich gut. Gut und frei. Das Einzige was ihm noch fehlte, war ein Krankenschein, um seinen Auftrag erledigen zu können. Sein Hausarzt, Doktor Garschke, hatte heute noch zwei Stunden Sprechzeit, wie ihm ein schneller Blick auf die Visitenkarte an der Pinnwand neben dem Kühlschrank verriet. Keine Gastritis, entschied Benjamin Krause, als er die Möglichkeiten einer längerfristigen Krankschreibung erwog.

Ich bin traumatisiert, dachte er. Das ist es. Ich bin traumatisiert wegen des Einbruchs. Ein Schock. Natürlich. Schlafstörung und ein permanentes Ziehen in der Magengegend. Plötzliches Herzrasen. Jawohl.

Vier Wochen müssten reichen. Vorerst. Und danach wäre er ausreichend gerüstet, endlich das Herz von Anja zu erobern. Die Fusion mit Thomas würde sie schnell vergessen. Er hatte viel mehr zu bieten. Und wenn sich die Sache mit den Probeaufnahmen auch noch zu Geld machen ließe, könnte er bald seinen Job in der Behinderteneinrichtung aufgeben. Er würde das Büro von Jungmann betreten, und ihm genussvoll die Kündigung vor die Füße werfen. Was für eine Genugtuung.

Benjamin blickte aus dem Küchenfenster, das Glas Apfelschorle in der Hand. Von seiner Wohnung aus hatte er einen unverstellten Blick auf die bewaldeten Hügel des Zittauer Gebirges. So sollte es werden. Mit Anja an seiner Seite würden er etwas schaffen, was Neidern wie Jungmann oder Corinna den Sabber tropfen ließen. Schön würde es werden, in Benjamin Krauses Wunschwelt, wunderbar.

Nichts dergleichen würde geschehen. Längst bewegte er sich in Richtung mongolischer Steppe. Und mit ihm, obwohl sie vollkommen anderes im Sinn hatten, Herr Urban und Herr Blumentritt.

Kapitel 8

Es war ein Ärgernis, dieser verstopfte Ausguss. Ärgerlich, vulgär, inakzeptabel. Freiherr Graf von Wiltberg war gezwungen, sofort zu reagieren. Ein wichtiger Kurier war verhindert, weil seine Toilette verstopft war. Und damit seine Existenzberechtigung. Das jedenfalls sagte sich der Graf und dachte dabei eigentlich an diesen jüdischen Journalisten.

Winterstein, natürlich, allein sein Name verriet seine wahre Gesinnung. Sie fanden sich immer aufs Neue, die verblendeten Jünger des Judengottes Jahwe.

Mit ausladenden Schritten durchflog Graf von Wiltberg sein Arbeitszimmer und warf einen beiläufigen Blick auf das Zitronenbäumchen.

Immer, wenn sich der Graf auf einer solchen Wanderung befand, war etwas schiefgelaufen, hatte sich etwas seiner Kontrolle entzogen. Das kam nicht oft vor, aber wenn es passierte, hatte Graf von Wiltberg das Gefühl, von einer nahenden Naturkatastrophe bedroht zu werden. Und dann hieß es: wandern, sortieren, neu ordnen, alle Sinne schärfen und notfalls jäten.

Ein schmerzlicher Prozess, wie er es jedes Mal empfand, aber letztlich klug, vorausschauend und effektiv.

Freiherr Graf von Wiltberg hatte ein Faible für jegliche Form der Ordnung. Dieser Schöpfergott musste ein Gott der Ordnung sein. Alles passte zueinander. Es gab feste Strukturen, klare überschaubare Positionen, exakt zugeschriebene Rollen, die Halt, Orientierung und damit Überleben und Wachstum sicherten. Alles in dieser Welt der Ordnung hatte seinen Platz, seine Aufgabe und wenn man so wollte – sein Schicksal. Das galt ebenso für die Fauna, Flora, einen Grippevirus oder für die Spezies Mensch.

Ah, der Mensch.

Graf von Wiltberg beschleunigte seine Schritte und sah hinter seiner Gedankenwelt nicht einmal mehr seine botanischen Lieblinge. Leicht waren die meisten Menschen zu bezähmen, wenn man sie nur ausreichend fütterte, und leicht zu manipulieren, wenn man nur genügend Geduld aufbrachte. Und dabei so überflüssig, jedenfalls viele von ihnen. Wie tief gefallen sie doch war, die Spezies Mensch. Verdorben im materialistischen Kollektivismus, gefangen in niederen Instinkten und frei von der Sehnsucht im Streben nach Höheren. Immer weiter entfernte der Mensch sich von der inneren Welt, mutierte vom Gottmenschen zum Tiermenschen mit all seinen Verfehlungen und Vermischungen. Aber eines Tages würden diejenigen zurückkehren, diejenigen, die es noch in sich spürten, die Erinnerung an das verloren gegangene göttliche Leben, wenn die Erde erst einmal umgestaltet war.

Denn es gab nur eine Wahrheit. Und die lautete: Wotan-Luzifer – der große Schöpfergott und Ordner dieser Welt.

Inzwischen war Graf von Wiltberg auf seiner Wanderung in der unteren Etage angekommen, im Foyer.

Der kühle Marmorboden tat gut, denn der Graf war barfuß durchs Haus gewandert. Demütig, wie er es bezeichnen würde. Ganz im Sinne eines Pilgers, dem eine große Last auferlegt worden war. In diesem Fall: die Last, eine Entscheidung treffen zu müssen.

In diesem Moment klingelte das ganz spezielle Handy. Die Nummer dieses Handys besaßen nur diejenigen, die für den Grafen Aufträge erledigten oder Vertraute, die Anwärter für seine Aufträge anwarben. Angeworbene, die man leicht für kleinere Dienste einsetzen konnte. Unbekannte, die für den schnellen Euro keinerlei Risiken scheuten und einen ganz bestimmten, äußerst wichtigen Pulk von niederem Fußvolk bildeten, über die er jederzeit verfügen konnte.

Dieses System hatte bislang tadellos funktioniert. Die Unbekannten besaßen quasi keinerlei Informationen über das, was und wofür sie etwas taten, außer diese eine Handynummer, die nach jedem Auftrag ausgetauscht wurde. Auch für den Kauf der Prepaid Karten gab es andere Unbekannte, die nur ihren Namen unter den Kaufvertrag setzen mussten, sonst nichts. Damit war sichergestellt, sollte es je zu einem Missgeschick oder gar zu einem Problem kommen, dass der eigentliche Auftraggeber nicht zurück verfolgbar war. Eine Sicherheitsmaßnahme, die für Graf von Wiltberg lebenswichtig war. Schließlich ging es hierbei nicht um irgendetwas, sondern um eine Idee. Eine Neuordnung.

Der Graf ließ das Handy klingeln und betrachtete das Display, bis das Klingeln verstummte. Dann wählte er die Nummer, die auf dem Display erschienen war.

Nach wenigen Minuten war ein neuer Kurier rekrutiert. Eine Sache war gelöst, zwei Unbekannte ausgetauscht, der Zeitplan damit eingehalten. Etwas blieb: die Befehlsverweigerung des alten Kuriers und das Problem mit dem jüdischen Journalisten.

Für die Schande der Verweigerung kam ihm eine Idee.

Graf von Wiltberg ging nach oben zu seinem Schreibtisch, kramte eine Weile und wählte dann die Nummer, die auf einer nicht sonderlich ansprechenden Visitenkarte stand. Nach dreißig Minuten erschien der Klempnermeister persönlich.

„Guten Tag, Herr Graf“, begrüßte ihn Klempnermeister Schmidt. „Sie haben mir ausrichten lassen, dass Sie einen Auftrag für mich hätten. Und da ich gerade in der Gegend war, dachte ich, ich schaue gleich persönlich bei Ihnen vorbei. Was kann ich für Sie tun?“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Schmidt“, antwortete von Wiltberg lächelnd. „Aber kommen Sie erst einmal herein. Darf ich Ihnen vielleicht eine Tasse Tee anbieten?“

„Gern.“

„Nehmen Sie Platz“, sagte von Wiltberg und wies auf einen Sessel im Foyer. Auf einem kleinen Tisch duftete bereits eine Kanne mit Earl Grey. Freiherr Graf von Wiltberg goss dem Klempnermeister und sich selbst eine Tasse ein und schlug die Beine übereinander.

„Wie geht es der Familie? Was macht Ihr Sohn? Hat er sich endlich dazu entschlossen, eine Lehre in Ihrer Firma anzufangen?“

Klempnermeister Schmidt nahm einen Schluck und lehnte sich bequem zurück. Dann winkte er ab. „Ach, wissen Sie, der Kevin hat so seine Flausen im Kopf. Will unbedingt Abitur machen und dann ein Jahr im Ausland verbringen wenn möglich. Sie wissen doch, wie die jungen Leute heutzutage sind.“ Freiherr Graf von Wiltberg nickte verständnisvoll. „Dabei sag ich immer: Junge, lerne erst einmal etwas Solides, wenn du schon bei mir keine Lehre machen willst. Zimmermann zum Beispiel. Geh auf die Walz, da lernst du ´ne Menge Leute kennen und weißt vielleicht danach das deutsche Handwerk zu schätzen. Man muss doch nicht gleich nach England oder gar nach Amerika gehen. Unser Land ist doch auch schön. Nicht wahr. Aber ich kann mir den Mund fusselig reden. Die Jungen haben ihren eigenen Kopf. So was gab es zu meiner Jugend nicht. Da war es selbstverständlich, dass man in die Fußstapfen des Vaters trat. Nun ja. Ansonsten will ich mich nicht beklagen.“ Freiherr Graf von Wiltberg hatte zugehört, den Kopf geschüttelt und Zustimmung signalisiert. Nun räusperte er sich.

„Herr Schmidt, ich habe ein Problem. Und es handelt sich um einen Notfall“,

„Für so was bin ich doch da, Herr Graf.“

„Das ist gut, Herr Schmidt.“ Klempnermeister Schmidt wippte ein wenig nervös mit den Knien. „Wissen Sie Herr Schmidt, die Angelegenheit ist mir ein bisschen peinlich.“ Freiherr Graf von Wiltberg räusperte sich abermals und warf seine Augenbrauen empor. Schmidt wartete gespannt.

„Also, da gibt es diesen jungen Mann, der gelegentlich ein paar Gartenarbeiten für mich erledigt. Und heute ruft er mich an, weinend, weil seine Toilette nicht mehr so funktioniert, wie eine Toilette eben zu funktionieren hat.“ Freiherr Graf von Wiltberg schaute irgendwohin und Klempnermeister Schmidt folgte seinem Blick. „Wie soll ich sagen“, fuhr er fort, hielt aber wieder inne.

„Ihm fliegt die Scheiße um die Ohren“, konstatierte der Klempnermeister.

„Richtig. Sehr treffend ausgedrückt, Herr Schmidt.“

Klempnermeister Schmidt verkniff sich ein Lachen.

„Nun ja, und deswegen konnte er heute nicht den Rasen mähen. Ich weiß, dass sich dieser Mann Ihre Dienste nicht leisten kann, und handwerklich ist er, sagen wir mal etwas unbegabt. Allerdings ein guter Gärtner, zweifellos.“

Klempnermeister Schmidt nickte. Diese Art von Problemen war ihm hinreichend vertraut.

„Also, ich dachte“, fuhr Graf von Wiltberg fort, „ dass Sie dort einfach hinfahren, das Ärgernis aus dem Weg räumen, und mir dann die Rechnung schicken. Könnten Sie das für mich erledigen?“

„Selbstverständlich“, Herr Schmidt nickte abermals.

„Allerdings möchte ich Sie bitten, dass Sie meinen Namen auf keinen Fall erwähnen. Dieser junge Mann würde niemals Hilfe von mir in Anspruch nehmen. Sagen Sie ihm einfach, die Gemeinde habe Sie geschickt und würde die Rechnung übernehmen.“

„Gern.“

„Heute?“

„Natürlich.“

„Wunderbar. Ich danke Ihnen, Herr Schmidt.“

Freiherr Graf von Wiltberg nannte den Namen und Anschrift seines ehemaligen Kuriers, und Schmidt machte sich sorgfältig Notizen.

Als Klempner Schmidt schon in der Tür stand, um sich auf den Weg zu machen, hielt von Wiltberg noch einmal wie in Gedanken inne. So, als hätte er gerade einen spontanen Einfall. In der Tat fasste sich der Graf kurz mit dem Zeigefinger an die rechte Schläfe und malte dann einen Kringel in die Luft.

„Warten Sie“, sagte er zu dem überraschten Klempner. „Würden Sie mir noch einen Gefallen tun, Herr Schmidt? Einen kleinen…“

„Selbstverständlich.“

„Gut! Warten Sie hier bitte einen Moment. Ich bin sofort zurück.“

„Lassen Sie sich ruhig Zeit“, antwortete Schmidt und widmete sich im Foyer der Betrachtung der Skulpturen.

Nach wenigen Minuten kam Freiherr Graf von Wiltberg mit einem in Geschenkpapier gewickelten Päckchen zurück.

„Diesem Herrn, den Sie den Ausguss reparieren, schulde ich noch eine Dankbarkeit. Allerdings müsste dies ebenso diskret behandelt werden. Wenn Sie verstehen?“

Der Klempner verstand und nickte gerührt.

„Also würden Sie für mich vielleicht diese kleine Aufmerksamkeit bei dem Herrn irgendwo hinterlegen, wo er sie nicht gleich findet. Natürlich erst, wenn Sie mit Ihrer Arbeit fertig sind. Es soll so etwas wie eine Überraschung werden.“

„Da fällt mir bestimmt etwas ein.“

„Vielen Dank!“ Graf von Wiltberg reichte Schmidt die Hand und lächelte. „Ich stehe in Ihrer Schuld!“

„Wenn hier jemand in einer Schuld steht, dann ich in Ihrer.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Schmidt.

Dieses Problem war erledigt. Das kleine Überraschungspaket würde seinen ehemaligen Kurier zwar nicht töten, aber ihn wohl sein Leben lang daran erinnern, dass es elementarere Dinge gab, als Toilettenverstopfungen.

Das war das eine Problem. Der neue Kurier würde dessen Platz einnehmen. Menschen waren austauschbar. Die andere Sache war komplexer.

Für das Problem mit dem jüdischen Journalisten benötigte es einer Strategie, die ein bisschen zeitaufwendiger war, soviel stand fest.

Graf von Wiltberg sank in seinem Sessel nieder und rieb sich mit beiden Händen die Schläfen. Er hätte seine Wanderung wieder aufnehmen können, zum Beispiel. Diese Art der Meditation, bei der die linke und die rechte Gehirnhälfte in Einklang kamen und damit eine effizientere Problemlösung ermöglichte, hatten inzwischen auch die verfluchten Amerikaner für sich entdeckt. Er wusste, dass sich mittlerweile in New York ganze Gruppen trafen, um durch kleine oder größere Labyrinthe zu laufen. Manche waren nicht größer als zehn Quadratmeter.

Aber Graf von Wiltberg hatte jetzt keine Lust zu wandern und Schuld daran hatten nicht einmal die Amerikaner. Schuld daran war noch etwas anderes.

Es war der Zweifel, der in ihm hochkam, dessen Ursprung Angst war.

Nicht die Angst, die das Gewissen belastet, etwas Falsches zu tun. Nicht einmal Angst, ertappt zu werden. Es war eine andere Angst. Eine existenziellere. Die Angst, vielleicht doch nicht zu den Auserwählten zu gehören. Zu denjenigen, die in der neuen Welt die Logenplätze beanspruchten.

Wotan-Luzifer, durchfuhr es ihn fast fröstelnd. Mach mich zum Werkzeug deines Geistes. Führe und segne mein Handeln. Meine Seele gehört dir.

Dann betrachtete Graf von Wiltberg sehnsüchtig die Karte der Antarktis. Neuschwabenland war dort irgendwo. Geschützt im ewigem Eis. Ein Lächeln stahl sich über sein Gesicht. Neuschwabenland bewachte einen der Eingänge in das Gebiet der Hohlen Erde – der Heimat der Arianni, die seit dem Untergang des urzeitlichen Kontinents Hyperborea dort ausharrten, um eines Tages wieder zurück an die Erdoberfläche zu kommen und der jüdischen-christlichen Weltverschwörung den endgültigen Todesstoß zu versetzen.

Eines Tages, dachte er, und er spürte plötzlich eine Wärme, die seine soeben empfundene Angst wegglühte, werde ich es sehen. Und dann beginnt das neue Zeitalter.

In Gedanken zitierte er die Worte von Hildebert von Tours, der bereits im 11. Jahrhundert in einem Sinngedicht einen Hinweis auf die Eingänge zur Hohlen Erde gegeben hatte. Zum Reich der Schwarzen Sonne.

Dreifach wohnet der Gute: zuerst im Bereich der Lüfte,

Unter der Erde sodann, über den Sternen zuletzt.

Erst in dem Haus, und sodann in dem Grab, und zuletzt an dem

Pole.

Jenes verfällt, aufhört dieses, es bleibet der Pol.

Drei sind Meister des Baus: der Meister, der Gräber, der Heiland

Dort gibts Steine, und hier Würmer, am Ende den Lohn.

Jenes stürzt leicht ein, dies liegt fest, ewig der Pol steht.

Dort ist Leiden, hier Asche, doch Freuden am Pol.

Einst gab es mindestens drei Eingänge. Nord- und Südpol und der Himalaya. Die deutsche Expedition zum Naga Parbat im Himalaya um Heinrich Harrer hatte im Sommer 1939 den Auftrag gehabt, diesen Eingang zu finden, dessen war sich der Graf sicher. Ein Jahr vorher, Weihnachten 1938 hatte das Forschungsschiff „Schwabenland“ unter dem Kommando von Alfred Ritscher Hamburg auf den Weg in Richtung Antarktis verlassen, um dort ebenfalls nach dem Eingang zur Hohlen Erde zu suchen, oder wenigstens das Gebiet zu sichern. Neuschwabenland.

Und mit Sicherheit gab es noch mehr Eingänge. Möglicherweise im Kaukasus, möglicherweise ganz in der Nähe.

„Ich will euer Diener sein“, flüsterte er. „Nehmt Kontakt zu mir auf.“

Mit diesen Gedanken begab sich Graf von Wiltberg zu seinem Schreibtisch und legte ein leeres Blatt Papier vor sich hin. Zärtlich strich er darüber und machte eine Geste, als müsste er es glätten. Dabei war das Blatt Papier so glatt wie eine Eisfläche. Er griff nach einem Federhalter und legte ihn sorgfältig auf das Papier. Dann stand er auf, ging zu seiner Bibliothek und entnahm ihr Das goldene Band von Miguel Serrano. Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück, schlug eine bestimmte Seite auf und las:

Es ist ein Kreislauf. Die Geschichte der Erde lehrt uns die Ewige Wiederkehr. Das, was einmal war, wird wieder sein. Wenn die Erde nicht durch den vergöttlichten Menschen verwandelt, verklärt werden kann, wird sie sich selbst zerstören, denn die Schöpfung ist ein Gedanke. Wotan-Luzifer, der angeblich gefallene Engel, war ein Gott der Verlierer und doch hatte er stets die außerordentliche Möglichkeit gehabt, sich in den Gott der Sieger zu verwandeln. In diesem Zeitalter ist es ihm noch nicht gelungen. Doch eines Tages werden sich die Dinge ändern, denn er ist der wahre Gott – der Stärkere, der Reinere und der Schönere. Die gegenwärtige Menschheit ist ihren tierischen Trieben, den Söhnen der Erde, dem Tiermenschen ausgeliefert. Die Halbgötter und die göttlichen Hyperboreer halten sich verborgen in den Weiten des Reiches der Hohlen Erde. Und von dort werden sie wiederkommen, das Banner Wotan-Luzifers vor sich hertragend.

Freiherr Graf nahm seinen Federhalter in die Hand und schrieb folgende Worte: Luzifer (Teufel) = Wotan (Verlierer) = göttlicher Plan = Reinheit

Nach einer Weile lehnte sich Graf von Wiltberg entspannt zurück. Ein Plan war Dank der Harmonie zwischen seiner rechten und der linken Gehirnhälfte entstanden.

Ein guter Plan.

399
573,60 ₽
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410 стр. 1 иллюстрация
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9783742782397
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