Читать книгу: «Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich», страница 2

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Kapitel 3

„Du Sackwok!“, kicherte Herr Urban.

„Du Sojafurz!“, johlte Herr Blumentritt und schlug mit beiden Händen auf seine dicken, kurzen Oberschenkel.

„Du Matratze!“

„Du Nudelhals!“

Herr Urban und Herr Blumentritt wieherten im Chor. Dann stand Herr Urban auf, strich sich über den fast kahlen Schädel und schaute zum Fenster hinaus.

„Du Eckfahne!“

„Du Schiedsrichter!“, konterte Herr Blumentritt und das Gelächter begann von vorn.

Unten fuhr ein Wagen vor. Der Wagen hielt vor dem Eingang des Heims und eine Tür wurde geöffnet.

„Ah, der Herr Benjamin“, sagte Herr Urban und pochte mit dem Zeigefinger auf die Fensterscheibe, um sich bemerkbar zu machen. Keine Reaktion. Stattdessen hörte er hinter sich: „Du Tornetz.“

Werner Blumentritt, der älteste Mann mit Down-Syndrom im gesamten Landkreis, rutschte von seinem Stuhl, blinzelte mit den Augen, (eine Folge seines Grauen Stars) und schlurfte in Richtung seines Zimmers.

„Ah, der Herr Benjamin“, wiederholte Herr Urban. „Sie sind ein rechter Lümich, Sie!“, sagte er und machte eine Geste, als würde er jemandem eine Verwarnung aussprechen. Dann kicherte er laut und winkte in Richtung des jungen Mannes, der gerade dem Auto entstieg. Normalerweise grüßte der Herr Benjamin immer zurück, wenn er zum Dienst kam. Mal winkte er, mal lachte er oder rief irgendetwas nach oben. Nichts passierte. Und Herrn Urbans Winken konnte er nicht sehen, weil er stur in Richtung Eingangstür starrte.

Dennoch drehte Herr Urban gut gelaunt seinen massigen Körper vom Fenster weg und öffnete die Tür zu seinem kleinen Zimmer.

„Du Suppensepp!“, sagte er irgendwohin, aber Herr Blumentritt, der sofort reagiert hätte, war inzwischen außer Hörweite.

Benjamin Krause war sauer. Stinksauer. Er nahm die Stufen zur Eingangstür mit wenigen Sprüngen, riss die Tür auf und stürmte die Treppe hoch in Richtung Dienstzimmer, ein Blatt Papier vor sich her wedelnd.

Neben dem Eingang hockte Ralf vor dem Hauskater: „Na, Felix. Wie war Ihr Tag?“

Es war lächerlich. Selbst die Bullen in der Mastbullenanlage, bei denen die Jungs tagsüber schufteten, wurden von den Behinderten gesiezt. Ein Ärgernis, das sich Benjamin schon seit Langem vorgenommen hatte, anzusprechen.

Im Dienstzimmer saß Corinna Baumgart, die Teamleiterin, und überprüfte ihre Fingernägel. Die anderen Kollegen waren irgendwo beschäftigt. Umso besser!

„Was soll der Scheiß?“, fuhr Benjamin sie an und Corinna erschrocken herum. „Ich hatte mir für das nächste Wochenende ein frei eingetragen und jetzt das hier.“ Er warf ihr den Dienstplan vor die Nase und schniefte. Corinna zupfte irgendwo herum und mimte Trotz. Beide bedachten sich mit bösen Blicken. Dass sie sich nicht riechen konnten, wusste jeder.

„Herr Jungmann hat den Dienstplan geändert. Nicht ich! Lisa ist krank geworden. Du musst einspringen.“

„Wieso ich?“

Schulterzucken als Antwort.

„Warum pfuscht Jungmann ständig in unseren Angelegenheiten herum? Ich dachte, das wäre deine Aufgabe.“

Erst seit ein paar Wochen war Corinna zur Teamleiterin aufgestiegen. Ein Ergebnis der Umstrukturierung des Hauses. Jetzt gab es zwei Gruppen mit zwei Teamleiterinnen. Zwei Frauen! Etwas anderes hatte Benjamin nicht erwartet. Er selbst war natürlich chancenlos geblieben, obwohl er sich ganz offiziell beworben hatte.

„Ich kann nächstes Wochenende nicht arbeiten!“

Corinna seufzte hörbar.

„Du kannst nie arbeiten, wenn wir dich hier brauchen.“

„Also, das ist jetzt aber wirklich Quatsch!“ Jede Diskussion mit Corinna Baumgart endete meistens in einem Wust gegenseitiger Beschimpfungen. Es war sinnlos.

„Ich kann nächstes Wochenende nicht. Ich... ich habe wichtige Termine.“

„Du hast wichtige Termine? Das ist ja das Allerneueste.“ Corinna tat alles, damit Benjamin sie hasste, und er bekam große Lust, ihr ein Auge auszustechen.

„Was ist mit dir? Warum arbeitest du nicht?"

Das war ein Fehler, dachte er, normalerweise konnte man Corinna leicht um den Finger wickeln. Eine eitle Schnepfe mit Hang zur Selbstaufopferung. Aber diesen Moment hatte er vergeigt. Jetzt half nur noch die Brechstange.

„Mich hat Herr Jungmann gar nicht gefragt“, antwortete Corinna, fast als wäre sie darüber gekränkt. Kein Wunder, dass Jungmann sie nie in sein Büro zitierte. Die würde ihm am Ende noch den Schreibtisch aufräumen. Leute wie sie waren eine Plage und jeder wusste, dass sie in ihrer Freizeit klöppelte.

„Okay. Hättest du denn unter Umständen Zeit?“

„Ich? Nein!“

„Komm, Corinna. Ich arbeite auch das Wochenende darauf für dich. Wenn du willst auch die beiden nächsten.“

„Du weißt, Benjamin, was Herr Jungmann über die Diensttauscherei denkt.“ Ja, natürlich Herr Jungmann. Das weiß ich doch, Herr Jungmann. Genau, das habe ich auch eben gedacht, Herr Jungmann. So lief das mit allem.

Benjamin verdrehte die Augen und äffte sie hinter ihrem Rücken nach. Corinna hatte sich über einen Fetzen Papier gebeugt und konnte ihn gerade nicht sehen.

„Was ist mit Thomas oder Anja? Ich bin doch nicht der Einzige hier!“

„Die fahren zusammen auf ein Open-Air.“ Benjamin wurde schmerzlich bewusst, auf welches Open-Air die beiden fuhren. Auf die Fusion. Er war letztes Jahr dort gewesen und hatte insgeheim gehofft, dass Anja in diesem Jahr mit ihm vielleicht dorthin fahren würde. Dummerweise war er nicht dazu gekommen, sie zu fragen.

„Ach, ja? Zusammen?“

Dem allgemeinen Tratsch im Haus schenkte Benjamin normalerweise keine Beachtung. Diese Information versetzte ihm einen kleinen Stich.

„Sind die jetzt´n Paar?“

Corinna drehte den Schreibtischstuhl in seine Richtung und lächelte spöttisch. „Möglich. Wieso?“

Der kleine Stich wurde größer. Tapfer ignorierte Benjamin die innere Temperaturerhöhung. Dieses Thema musste jetzt warten. „Ach, Scheiße. Ich kann wirklich nicht am Wochenende arbeiten!“

„Beschwer dich beim Chef!“

„Das werde ich, kannst dich drauf verlassen!“

Ums Verrecken hätte Benjamin Krause diese Ankündigung wahr gemacht. Jungmann war das allergrößte Übel und sein persönlicher Albtraum.

In dem Moment dröhnte die ihm verhasste Stimme ganz nah. „Herr Krause! Kommen Sie doch bitte nachher noch mal in mein Büro!“ Jungmanns roter Schopf erschien kurz in der Tür des Dienstzimmers und verschwand so schnell wie er gekommen war.

Es war immer dasselbe. Wenn man es wagte, Jungmann irgendwo im Haus mit einer Frage zu belästigen, hieß es: Kommen Sie doch bitte nachher in mein Büro! Wenn Jungmann etwas gefunden hatte, was seinen Unmut regte, hieß es: Kommen Sie doch bitte nachher in mein Büro.

Corinna warf schnippisch ihren Kopf zurück und schwieg.

Die Tür zu Jungmanns Büro war geschlossen, und Benjamin gezwungen, anzuklopfen. Ein unumstößliches Gesetz!

„Herein!“

Jungmann thronte hinter seinem Schreibtisch. Telefon, Faxgerät, Monitor, Drucker. Der einzige Computer in der gesamten Einrichtung befand sich in diesem Raum. Der Abstand zwischen dem Stuhl vor Jungmanns Schreibtisch und ihm selbst war so groß, dass man mit Speer oder Lanze bewaffnet hätte sein müssen, um an ihn heranzukommen. Spucken ginge vielleicht noch, aber dazu müsste man die Spucke von weit unten holen.

„Haben Sie sich schon einmal beobachtet, Herr Krause?“

Benjamins Hände badeten sogleich im Schweiß. „Wieso?“

„Weil Sie bei Ihrer Arbeit eine ähnliche Geschwindigkeit an den Tag legen wie unser Herr Blumentritt.“ Jungmann fand diese Bemerkung offenbar witzig. Seine magere Gestalt straffte sich, er grinste. Seine abstehenden Ohren bekamen Farbe.

„Ich...“

„Ich“, wiederholte Herr Jungmann gedehnt. „Genau das ist der springende Punkt. In meiner Einrichtung geht es nicht um Sie, sondern um die Menschen, die hier leben. Haben Sie sich darüber schon einmal Gedanken gemacht?“

Töten, dachte Benjamin, eines Tages knall ich diese selbstgefällige Drecksau ab. Töten oder spucken.

„Was habe ich denn getan?“

„Sie sollten besser fragen, was Sie nicht getan haben.“

Benjamins Unterlippe bebte. Gleich würde sich das Beben über seinen ganzen Körper fortpflanzen. Das spürte er. Er biss sich auf die Lippen und schwieg. Jungmann wartete nicht auf eine Antwort.

„Zum einen schulden Sie mir noch einen Entwicklungsbericht.“

„Der ist...“

„Zum anderen“, unterbrach ihn Jungmann, „was haben Sie gestern Abend die ganze Zeit im Gemeinschaftsraum gemacht? Ferngesehen?“

„Ich habe mit Stephan Grube über ein Problem in seiner Werkstatt gesprochen. Es gab dort eine Unstimmigkeit wegen...“

„Dafür gibt es den Besprechungsraum oder das Dienstzimmer...“ Benjamin nahm seinen ganzen Mut zusammen.

„Herr Jungmann, im Dienstzimmer arbeitete Frau Baumgart am Gruppenkonzept und den Besprechungsraum halte ich für diese Dinge ein bisschen übertrieben. Ich meine, das war doch nur ein Gespräch.“

„Ein Gespräch? Aha. Was glauben Sie, was man in einem Besprechungsraum sonst macht. Kreuzworträtsel lösen?“

„Ich…“

„Wissen Sie, wenn Sie eines Tages eine Einrichtung wie diese leiten, können Sie gern alles anders machen, aber solange ich hier die Leitung habe, halten Sie sich bitte an die Regeln. Einen guten Tag!“

Das Gespräch war beendet. Benjamin war nicht einmal dazu gekommen, Jungmann auf das nächste Wochenende anzusprechen.

Raus hier, dachte er. Nichts wie weg! Dann lasse ich mich halt krankschreiben.

Am Eingang hockte Ralf immer noch neben dem schnurrenden Kater und kraulte ihm den Bauch.

„Das gefällt Ihnen, Felix. Jaja, das gefällt Ihnen!“

In der ersten Etage saßen sich Herr Blumentritt und Herr Urban am großen Fenster gegenüber, von wo man gut den Hof einsehen konnte.

„Du Nulpe“, krächzte Herr Urban und betrachtete kurz sein Gesicht, das sich in der Fensterscheibe spiegelte.

„Du…Teelöffel.“ Herr Blumentritt hielt sich einen grellroten Papierschnipsel dicht an die Augen. Seine Unterlippe war vorgewölbt und reichte fast bis zur Nasenspitze.

„Du Milchkanne!“

„Du Wischmopp!“ Beide brüllten vor lauter Spaß. Karl-Heinz kam auf sie zu getorkelt. Sein Körper wurde gelegentlich wegen seiner Zerebral-Parese geschüttelt. Von zerebralen Paresen hatte Herr Urban zwar keine Ahnung, dennoch war er voller Mitgefühl. Außerdem mochte er den Spastiker. Und wenn Karl-Heinz sprach und die Erzieher mal wieder Bahnhof verstanden, übersetzte er geduldig.

Winfried Urban – der Dolmetscher.

Herr Urban berührte mit der Stirn das kühle Glas der Fensterscheibe.

„Ah, der Herr Benjamin fährt wieder.“

Benjamin Krause spürte wie die Tatsache, vollkommen umsonst hierher gefahren zu sein, langsam in seinen Eingeweiden zu wüten begann.

Entsprechend geladen startete er seinen Wagen und ließ die Reifen beim Anfahren durchdrehen. Damit lieferte er Jungmann einen Grund, ihn zum nächsten Büromeeting zu rufen. Er hörte schon seine Stimme.

Kennen Sie eigentlich die Straßenverkehrsordnung auf diesem Gelände?

Scheiß drauf, dachte Benjamin und brauste Richtung Hirschfelde davon, ohne einen Blick auf das Zittauer Gebirge zu werfen, das sich gerade majestätisch im Sonnenlicht präsentierte.

Kapitel 4

Alles, was Karl bislang an Beute gemacht hatte, ließ sich an einer Hand abzählen. Einen Vertiko aus den Zwanzigern – reparaturbedürftig, einen schmiedeeisernen Garderobenständer – an manchen Stellen angerostet, zwei ganz brauchbare Stühle und einen Plattenspieler aus den Sechzigern – dessen Funktionstüchtigkeit noch überprüft werden musste. Karls weißer geschlossener Peugeot Boxer mit der Aufschrift Ramsch & Plunder, Berlin war fast leer.

Karl Munkelt seufzte, dann ließ er seinen Blick über den nächsten Sperrmüllhaufen wandern. Nichts, was in irgendeiner Weise sein Interesse weckte. Er ging zurück zu seinem Transporter und startete den Motor.

Es war kurz nach Sechs. In den meisten Häusern dieses Viertels wurde noch geträumt, vielleicht gevögelt oder geschnarcht. Für die Besitzer dieser Vorstadtidylle mit ihren Reihenhäuschen und den kleinen dazugehörigen Gärten begann der Tag in der Regel später. Dem Mittelstand vor den Toren Berlins ging es wirtschaftlich nicht übel. Größtenteils wohnten hier Besitzer kleiner Firmen, Ärzte, Apotheker oder Lehrer mit ihrem Anhang. Fast alle Häuser waren neu oder entsprechend aufgepeppt.

Karl Munkelt hatte sich einiges erhofft, als er seinen Lieferwagen hierher gelenkt hatte. Seit einer Stunde jedoch kurvte er von Enttäuschung zu Enttäuschung.

Offensichtlich verramschten die Leute hier die besseren Sachen lieber selbst. Alles, was sich auf den Häufchen stapelte, stammte von Quelle, Neckermann oder bestenfalls von IKEA. Altlasten vermutlich, bevor es wirtschaftlich bergauf gegangen war. Unbrauchbarer Müll.

Neuerdings fuhren die Polen schon nachts die Viertel nach einer Sperrmüllaktion ab und nahmen alles mit, was sich irgendwie zu ein paar Zlotys ummünzen ließ. Seine schärfsten Konkurrenten mittlerweile, dabei waren sie absolute Mülldilettanten, dachte er, versauten einem das ganze Geschäft. Und damit nicht genug. Neuerdings fluteten die Ukrainer herein und postierten sich sogar vor den Eingängen zur BSR – der Berliner Stadtreinigung.

Schwierige Zeiten.

Vielleicht sollte ich einfach nach Polen fahren, dachte Karl, wenn diese Heuschrecken hier über meine Ernte herfallen. Womöglich warteten im Nachbarland stapelweise Schätze darauf, von ihm ausgegraben zu werden. Aber in Polen gruben vermutlich die Russen oder die Ukrainer. Und das konnte durchaus gefährlich werden.

Ein paar Meter vor ihm türmte sich der nächste Berg. Karl stoppte, zog die Handbremse und kletterte aus dem Wagen.

In der Regel benötigte er wenige Sekunden, um so einen Haufen zu scannen und in brauchbar, vielleicht brauchbar oder unbrauchbar einzuteilen. Hier lohnte ein zweiter Blick, das sah er sofort.

Als Erstes förderte Karl ein altes Telefon mit Wählscheibe zutage, Baujahr 1940. Diese Dinger kamen wieder in Mode und zierten mittlerweile so manches Flur- oder Wohnzimmerschränkchen. Allein im letzten Monat hatte Karl fünf Stück davon verkauft. Der Gewinn betrug 125 Euro. Immerhin!

Karl stellte zufrieden fest, dass am Gerät sogar eins von den neuen Kabeln montiert war und die Wählscheibe problemlos funktionierte. Sein Blick setzte die Wanderung fort. Karl hatte das deutliche Gefühl, hier mehr zu finden.

Ein gutes Jahr war es her, als Karl den bislang besten Fund seiner Sperrmüll-Karriere gemacht hatte. So etwas wie einen Sechser im Lotto. Er kam sofort ins Schwärmen, wenn er nur daran dachte.

Fürstenberg an der Havel in Brandenburg. Es war, als würde das Ortsschild in Gedanken vor seinen Augen aufleuchten. Eine Sperrmüllaktion wie diese. Zuerst entdeckte er einen Kasten Silberbesteck, fein säuberlich geordnet in einem Bett aus roten Samt. Das Besteck war in einen derart perfekten Zustand, als hätte jemand noch einen Tag zuvor jeden Löffel einzeln poliert und damit eine Hühnersuppe gelöffelt. Sein Spürsinn war auf der Stelle in höchster Bereitschaft geschossen. Level 5, wie er es nannte, auf Karls persönlicher Aufmerksamkeitsskala.

Und was er dann aufgespürt hatte, passierte Leuten seines Schlages äußerst selten und den Polen hoffentlich niemals.

Das unscheinbare Schmuckstück erwies sich als eine josephinische Aufsatzkommode. Frühes 19. Jahrhundert. Die Kommode war kunstvoll aus Kirschbaum, Pflaume und Nussbaum gefertigt und hatte ihm satte 19.000 Euro eingebracht. Und von diesem Erlös zehrte er im Grunde noch immer.

Karl lenkte seufzend seine Aufmerksamkeit zurück auf den Haufen vor ihm. Außer dem Telefon lagen da in erster Linie Bretter. Ein zertrümmerter Kleiderschrank, zerlegte Regale aus Fichtenholz, lackierte Rundhölzer. Karl straffte die Schultern und kletterte über die Bretter zu einer Reihe übereinandergestapelter Lederkoffer. Zwei davon waren derart zerschlissen, dass Karl sie per Fußtritt beiseite beförderte. Bei dem Dritten war das anders.

Es war ein schwarzer Aktenkoffer von Delsey, ausgestattet mit einem Zahlenschloss.

Karl hob den Koffer in die Höhe und prüfte das Gewicht. Fest stand, er war nicht leer, dass belegte das verhaltene Klappern, als er ihn vorsichtig rüttelte. Bücher?

Nein, entschied Karl. Es klang eher nach Plastik. Vielleicht waren es Tupperdosen oder DVDs.

Die Rädchen des Zahlenschlosses standen alle auf „Null“. Karl zog an den beiden Messingverschlüssen. Sie waren verschlossen und Karls Neugier geweckt.

Dich krieg ich schon auf, dachte er und verstaute den Lederkoffer auf dem Beifahrersitz seines Transporters.

Als sich Karl erneut dem Sperrmüllhaufen näherte, zog unmittelbar vor ihm ein American Staffordshire Terrier seine Lefzen zurück. Er hatte keine Ahnung, woher der plötzlich gekommen war. Karl Munkelt warf einen entsetzten Blick auf das gewaltige Gebiss. Das Fell des Hundes war gesträubt und sein tiefes Knurren ganz bestimmt kein Willkommensgruß.

Karl blieb ruckartig stehen und sah sich Hilfe suchend nach einem möglichen Besitzer des Kampfhundes um.

Das Wellensittichgeplapper, was Karl zu hören meinte, bedeutete nicht wirklich Entspannung. Kein Spaziergänger. Kein Ruf, kein Pfiff.

Scheiße, durchfuhr es Karl. Seine Spraydose CS-Gigant – ein bewährtes Reizgas für solche Fälle – befand sich im Handschuhfach seines Transporters.

Erste Regel, dachte er, einem fremden Hund niemals unverschämt in die Augen sehen, sonst fühlt sich das Tier provoziert. Wahrscheinlich verteidigt die Töle nur sein Revier.

Aber wo beginnt und wo endet das? Das Knurren wurde deutlicher. Gefährlicher! Der Rüde machte einen Schritt auf Karl zu.

Sein Fell war weiß mit braunen Flecken – wie das bei einer Kuh, der Körper bullig und muskulös und der Kopf riesig. Der Schwanz des Staffords ragte wie ein Degen in die Höhe. Kein Wedeln, kein Anzeichen von Freude.

Karl schossen sofort Bilder von herausgerissenen Fleischstücken aus menschlichen Oberschenkeln und von verstümmelten Kindergesichtern in den Kopf.

Zweite Regel: Keine Angst zeigen. Hunde riechen das.

Super, dachte Karl. Wahrscheinlich würde mein Körpergeruch gerade sämtliche Hunde aus dem Lankwitzer Tierheim anlocken.

Sprich mit ihm, riet ihm eine innere Stimme. Karl Munkelt legte allen Mut in seine Stimme: „Na, du.“

Zwei Sekunden später hechtete er bäuchlings in den Lieferwagen und zerrte panisch und wild um sich strampelnd die Tür hinter sich zu. Gerade noch rechtzeitig ehe sich der Stafford in seiner Wade verbeißen konnte. Der Versuch, den Köter mit einem Fußtritt abzuwehren, endete damit, dass Karl nun neue Schuhe kaufen musste. Im Maul des Staffords steckte sein nagelneuer Enrico Coveri-Sportschuh.

Einen Moment erwog Karl dem Mistviech seinen Schuh mit dem CS-Gigant abzujagen. Aber dazu hätte er die Verfolgung aufnehmen müssen, denn der Kampfhund hatte sich mit seiner Beute davongestohlen.

Ungeachtet der vielen noch ungesehenen Sperrmüllhaufen, startete er den Wagen und lenkte ihn in Richtung Ortsausgang. Hier hatte er fürs Erste die Nase voll. Die Häuser im Rückspiegel strafte er mit Verachtung.

Karl warf einen kurzen Blick auf den Aktenkoffer neben ihm und steckte sich eine Zigarette zwischen die Zähne.

Erst jetzt bemerkte er, dass seine Hände zitterten und der Schreck gerade die Knie weich kochte. Sein Fuß mit der löchrigen Socke trat die Kupplung, und Karl legte den nächsthöheren Gang ein.

Noch mal Glück gehabt, dachte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Aber das war streng genommen, ein Irrtum.

Kapitel 5

Benjamin Krause betrachtete die gähnende Leere seines Kleiderschranks und schnappte nach Luft. In seinem Kopf wirbelten Sätze wie: Das kann nicht sein! Oder: So was gibt es nicht! Irgendwer hatte sich nicht nur seiner sämtlichen Jeans bemächtigt, auch die T-Shirts, Pullover und Hemden fehlten. Alles – sah man einmal von der gefüllten Aldi-Tüte Schmutzwäsche ab.

Der Vollständigkeit halber sollte noch erwähnt werden, dass im Wohnzimmer ebenfalls einige Lücken ins Auge stachen. Dort fehlten der Fernseher, nebst Videorekorder und DVD-Player auch die komplette Pioneer Stereoanlage und PC und Monitor. Der oder die Diebe hatten ungefähr so alles mitgehen lassen, was sich ihrer Meinung nach irgendwie zu Geld machen ließ.

Nur das Bücherregal und eine wenig ansehnliche Couchgarnitur waren unberührt geblieben.

In Benjamins Hose vibrierte das Handy, dann spielte die Melodie von „Guten Abend, gute Nacht...“. Auf dem Display erschien der Name seines Freundes Bernd. Bernd Wohlfahrt – mit Bernd hatte Benjamin den Ausflug geplant, der nun an Corinnas Sturheit zu scheitern drohte. Aber Benjamin Krause hatte längst beschlossen, dass es wichtigere Dinge als einen Dienstplan gab.

Gastritis war ihm eingefallen. Ich werde an einer plötzlichen Gastritis leiden!

„Grüß dich, Bernd! Stell´ dir vor, bei mir wurde eingebrochen.“ Benjamin rutschte während er telefonierte mit dem Rücken an der Wand gelehnt Richtung Boden. Die eine Hand schirmte die Stirn ab, die andere presste das Handy ans Ohr.

„Wie, eingebrochen?“, fragte Bernd verwundert, als hätte er das erste Mal in seinem Leben das Wort Einbruch gehört. Ein bisschen begriffsstutzig war Bernd schon gewesen, bevor er angefangen hatte methodisch zu kiffen. Seitdem schienen allerdings die Worte erst per E-Mail über einen überlasteten Server in das Verarbeitungszentrum seines Gehirns zu gelangen. Benjamin beschränkte sich auf überschaubare Botschaften.

„Klamotten, Fernseher, PC, alle CDs. Weg!“

Bernd brauchte ein bisschen. „Auch die mitgeschnittenen von der Fusion?“

„Auch die.“

„Scheiße!“

„Im wahrsten Sinne des Wortes... Hör mal, ich muss jetzt erst einmal alles durchchecken und sehen, ob unsere Probeaufnahmen ebenfalls geklaut worden sind. Möglicherweise müssen wir unsere Reise sogar verschieben. Du verstehst?“

„Die sind doch auf DVD. Und waren versteckt. Oder?“

„Ja, Bernd. Aber alle meine Schränke wurden durchwühlt. Vielleicht haben die einfach alles mitgehen lassen.“

„Verdammt!“

Seine Hand an der Stirn fasste fester zu. Die andere Hand am Handy erschlaffte. Benjamins Blick schweifte über das hinterlassene Chaos im Zimmer. Die Türen seines Sekretärs standen offen. Im Moment war es für ihn schwer zu beurteilen, ob dort etwas fehlte. Er wusste, dass seine wichtigsten Papiere im obersten Schubfach lagerten. Die DVD von den Probeaufnahmen hatte er sorgsam in einem Schuhkarton versteckt, in dem sich neben alten Liebesbriefen ein Pornoheft und ein Nacktkartenspiel befanden. Erst schoss ihm die Röte ins Gesicht, dann keimte ein bisschen Hoffnung. Er entdeckte den Schuhkarton. Der Schuhkarton war geschlossen.

Bernd schien die ganze Zeit über etwas zu grübeln. „Und wenn die Bullen...? Ich meine, wenn die Bullen da rumgewühlt haben?“

„Bernd! Was für ein Unsinn.“

„Ach ja?“

„Das ist Quatsch!“

Im Zimmer war es für Benjamins Geschmack gerade ein bisschen zu still. Gern hätte er jetzt einen seiner neuesten gebrannten Techno-Beats dröhnen lassen, nur fehlte dazu beides: Die CDs und der Player.

„Diese Mistkerle!“, entfuhr es ihm und Bernd schien am anderen Ende zu nicken.

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