Читать книгу: «Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich», страница 5

Шрифт:

Kapitel 12

Daniel Winterstein saß am Schreibtisch seines kleinen Zimmers im Verlagshaus der Berliner Zeitung und sah seine E-Mails durch. Zwei Drittel davon waren ärgerlicher Spam, die Penisverlängerungen empfahlen, megageile Teenies versprachen, Viagra fast geschenkt, Flaggen aller Nationen anpriesen oder Millionen von irgendeinem angeblichen Geschäftspartner aus Afrika. Diese Spamflut beanspruchte Zeit. Sinnlose Zeit. Jeden Tag verbrachte Winterstein wenigstens eine halbe Stunde einzig damit, doppelten oder dreifachen Unsinn aus seinem elektronischen Postfach zu entfernen.

Der neue externe Provider der Berliner Zeitung hatte versprochen, dieses Problem alsbald ein für allemal aus der Welt zu schaffen. Aber das war nun auch schon ein paar Tage her.

Nachdem er ungefähr siebzig E-Mails gelöscht hatte, floh er in den Flur, um sich einen Cappuccino aus dem Kaffeeautomaten zu ziehen. Als er zurück ins Zimmer kam, klingelte das Telefon. Daniel stellte den Plastikbecher aufs Fensterbrett, leckte sich den Schaum von den Lippen und nahm ab.

„Winterstein.“

„Mein Name ist Karl Munkelt. Sie haben neulich einen Artikel über diese regelmäßigen Treffen am Spittelmarkt geschrieben. Neuschwabenland.“

Daniel Wintersteins Griff um den Telefonhörer wurde fester. Seit sein Artikel über die Neuschwabenlandtreffen veröffentlicht worden war, fand er neben dem Spam auch ab und an Drohmails. Bisweilen wurden ihm auch Worte telefonisch ins Ohr geflüstert wie: Hör zu, Jude, wir kriegen dich! Oder: Du hast keene Ahnung, mit wem du dich hier anlechst. Nich mehr lange und Leute deines Schlachs werden janz einfach platt jemacht. Vastehste, platt jemacht.

Die Berliner rechte Szene war aufmerksam geworden und versuchte nun, ihn einzuschüchtern. Aber er ließ sich natürlich nicht einschüchtern. Winterstein hatte Anzeige wegen Bedrohung, Volksverhetzung und Antisemitismus gegen Unbekannt erstattet. Sein Telefon war ausgetauscht worden und besaß jetzt eine Mitschnitttaste. Sobald ihm ein Anruf merkwürdig vorkam, schnitt er ihn mit. Wenngleich sich bislang keiner der Drohanrufer bei dem Thema Neuschwabenland mit seinem Namen gemeldet hatte, drückte er automatisch auf diese Taste. Dann sprach er weiter.

„Wie lautete noch einmal Ihr Name?“

„Munkelt. Karl Munkelt.“

„Okay, Herr Munkelt. Worum geht es?“

Daniel Winterstein hörte einen lauten Seufzer im Ohr.

„Sie haben in Ihrem Artikel mehrere Namen erwähnt.“

„Stimmt. Wenn ich mich recht erinnere, war Ihrer nicht dabei.“

„Nein, nein. Darum geht es mir nicht. Nun ja. Wissen Sie, ich betreibe einen Laden im Prenzlauer Berg, Ramsch & Plunder, und ich suche nach verkäuflichen Dingen, beispielsweise bei Sperrmüllaktionen…“

„Sie sind der Besitzer von Ramsch & Plunder?“

„Ja. Wieso?“

„Weil ich vor ein paar Wochen eine Tasche bei Ihnen gekauft habe. Diese Tasche ist mittlerweile zu meiner Lieblingstasche geworden.“

„Ach, das freut mich.“

Winterstein sah zu seiner Hebammentasche und lächelte.

„Hallo?“

„Ja, ich bin noch dran.“

„Ich denke, ich hätte da etwas für Sie. Ich meine Material, wenn Sie verstehen…“

Winterstein ging zum Fenster, griff nach dem Plastikbecher auf dem Fensterbrett und nahm einen Schluck Cappuccino. Im Grunde waren der Kaffeeautomat und dessen Produkte eine Zumutung. Der Cappuccino schmeckte wie gezuckertes heißes Wasser mit Kaffeeweißer. Wie sehr vermisste er manchmal seinen schäbigen Wasserkocher und frisches Kaffeepulver. Die Wasserkocherzeiten waren allerdings unwiederbringlich Geschichte. Bei der letzten Brandschutzinspektion waren sie als gefährlich eingestuft und kurz darauf aus dem gesamten Verlagsgebäude entfernt worden.

Der Artikel über die Neuschwabenland-Treffen am Spittelmarkt hatte ihm einige Unannehmlichkeiten bereitet. Insgeheim hatte Winterstein sogar damit gerechnet. Schließlich sprach er in seinem Artikel den Akteuren ihre geistige Zurechnungsfähigkeit ab. Graf von Wiltberg fiel ihm ein. Dieser Typ war nicht koscher, soviel stand fest. Nur in welchem Zusammenhang von Wiltberg mit diesen Spinnern agierte, darüber war sich Winterstein noch nicht im Klaren. Aber in einem war er sich sicher: Freiherr Graf Götz von Wiltberg war gewiss nicht nur das, wofür er sich so gern feiern ließ. Der Mäzen und Förderer der Uckermark.

Die Untersuchungen zum Tod des siebzehnjährigen Mädchens waren immer noch nicht abgeschlossen. Allerdings ließ die Polizei durchblicken, dass es sich wahrscheinlich bei der Tat um einen Suizid gehandelt hatte.

All dies ging ihm durch den Kopf, während er an dem Plastikbecher schlechten Cappuccinos nippte, Karl Munkelt zuhörte und sich gleichzeitig fragte, was dieser Trödel-Mensch ihm für Material verkaufen wollte. Er wagte es zwar kaum zu hoffen, aber vielleicht öffnete sich ihm eine neue Tür. Obwohl er es sich nur ungern eingestand: Im Moment trat er ein bisschen auf der Stelle.

„Um was für Material handelt es sich denn?“ Winterstein sah aus dem Fenster und wartete gespannt.

„Nun ja… Es geht um eine Schweinerei.“ Karl Munkelt hielt kurz inne, als würde er sich für eine alberne Bemerkung schämen.

„Eine Schweinerei? Ist für Schweinereien nicht die Polizei zuständig?“

„Hören Sie, ich habe in den letzten Tagen einiges durchgemacht. Wie wär´s, wenn Sie einfach mal herkommen und sich das Zeugs selber anschauen? Ich will nämlich damit nichts mehr zu tun haben. Entweder Sie und Ihre Zeitung kaufen oder lassen es bleiben. Sie wissen ja, wo Sie mich finden.“ Karl Munkelt legte verärgert auf und Daniel Winterstein kratzte sich verlegen die Stirn. Was ist nur in mich gefahren? Dachte er. Warum war ich so schnippig und unprofessionell? Das Telefon klingelte abermals.

„Winterstein.“

„Hier ist Munkelt. Tut mir leid.“ Daniel atmete erleichtert auf.

„Ich glaube, ich bin derjenige, der sich zu entschuldigen hat“, sagte er sofort, „offen gestanden habe ich auch einiges erlebt, seit dieser Artikel erschienen ist.“

„Sie wurden bedroht, richtig?“

„Kann man so sagen.“

Munkelt machte ein Geräusch, als würde er mit der Zunge schnalzen.

„Ich wusste es. Ich habe Ihren Artikel eigentlich nur zufällig gelesen. Normalerweise bin ich kein großer Zeitungsleser, wissen Sie. Sonntags kaufe ich mir ab und an den Tagesspiegel oder blättere in den ausgelegten Zeitschriften oder Zeitungen im Wartezimmer meines Zahnarztes herum, um meine Nervosität zu überspielen, wenn Sie verstehen… Die Berliner Zeitung steht bei mir nicht ganz oben. Nehmen Sie es nicht persönlich.“

„Keineswegs“, antwortete Daniel Winterstein und unterdrückte ein kleines Lachen.

„Jedenfalls lag die Berliner Zeitung bei meinem Zahnarzt aus. Und so kam ich zu Ihrem Artikel.“ Karl Munkelt sog tief Luft ein.

„Sie beschreiben in Ihrem Artikel ein Symbol, was bei dem Treffen auslag. So etwas wie ihr Erkennungszeichen, vermutlich. Und genauso ein Symbol habe ich neulich gesehen. Bei der Schweinerei… Außerdem habe ich ein bisschen auf eigene Faust recherchiert und habe da so einiges entdeckt, nun ja. Aber das ist noch nicht alles. Sie nannten Namen… Und einer von denen ist jetzt tot. Oder zumindest glaube ich, dass er jetzt tot ist.“

Daniel Winterstein schwieg eine Weile, bevor er antwortete. „Sie machen mich sehr neugierig.“

„Das ist gut. Wollen wir uns treffen?“

„Gern. Wenn Sie damit einverstanden sind, komme ich zu Ihnen in den Laden ist.“

„Bin ich. Wann?“

„Heute?“

„Okay. 20 Uhr.“

„Gut. Bis dahin.“

Winterstein legte auf und schlürfte einen letzten Schluck Cappuccino. Mit angewidertem Gesicht und einem gezielten Wurf beförderte er den Plastikbecher in den Papierkorb unter seinem Schreibtisch. Die Tür wurde geöffnet und Nina Rossius schob ihren Kopf herein. Nina war eine Kollegin und Freundin von Winterstein. Sie leitete die Sportredaktion. Seit sich Hertha von einem Sieg zum nächsten spielte, waren diese Seiten fast zum wichtigsten Teil der Berliner Zeitung avanciert. Es war, als wäre die ganze Stadt plötzlich Hertha-BSC-Fan geworden. Die Leute aus der Sportredaktion kamen gar nicht mehr hinterher mit all den Interviews, Hintergrundinformationen und Spielerporträts, die man nun von ihnen erwartete. Sogar zwischen den Spieltagen gierten die Berliner nach Informationen über ihre neuen Lieblinge. Ein absolutes Novum. Und es kam noch besser. Auch bei den Eisernen, Union Berlin, in Köpenick lief es derzeit geradezu fantastisch. Nina lief seit Wochen mit glänzenden Augen herum. So einfach konnte das Leben sein. Blöd nur, dass der Fußballgott so launisch war.

„Grüß dich“, sagte sie und trat ein. „Darf ich?“

„Klar.“

„Union steigt in die zweite Liga auf, wollen wir wetten?“

Winterstein interessierte sich nicht besonders für Fußball, aber die derzeitige Euphorie ließ auch ihn nicht kalt. „Und Hertha wird deutscher Meister, ich weiß.“ Daniel grinste.

„Du solltest dich einfach mal überreden lassen, mit mir ins Stadion zu gehen, mein Lieber, dann würdest du die Dinge ernster nehmen.“ Winterstein schüttelte den Kopf.

„Keine Chance, Nina. Menschenansammlungen verursachen bei mir Hautjucken und Brüllaffen Schweißausbrüche.“

„Brüllaffen, ha. Die Hertha-Fans sind Barden.“

„Und die Gegner?“

„Die sind die Brüllaffen.“

So hätte es stundenlang weiter gehen können, aber Daniel hatte es eilig. Er wollte vor seinem Treffen mit Munkelt unbedingt noch einmal seinen Artikel lesen, um sich die gesamte Szenerie noch einmal zu vergegenwärtigen. Er war sehr gespannt, was für Material ihm der Trödelhändler verkaufen wollte, und er war gespannt, wer dieser vermutlich tote Mann sein könnte.

Daniel sah zu seiner besten Freundin. „Ich hatte vorhin ein Telefonat, bei dem mir jemand ein sehr brisantes Material verkaufen will. Neuschwabenland.“ Das Stichwort genügte, dass über Ninas Gesicht ein Schatten huschte. „Glaubst du, der Alte ist zurzeit bereit, ein bisschen Kohle für einen Informanten lockerzumachen? Scheint irgendeine Schweinerei zu sein, wie der Typ sich ausdrückte.“

Nina Rossius erinnerte sich noch sehr genau, wie Daniel Winterstein erbleicht war, als der erste Drohanruf in der Redaktion eingegangen war.

„Willst du nicht lieber die Finger davon lassen. Ich fürchte, mit diesen Typen ist nicht zu spaßen.“ Winterstein blickte kurz zu Boden und dann aus dem Fenster. Der Himmel über Berlin war strahlend blau, durchzogen von zwei, drei Kondensstreifen von Flugzeugen, die wahrscheinlich in Tegel gestartet waren. Er erinnerte sich an das Neuschwabenland-Treffen. Einer der Teilnehmer, ein Mann Mitte Sechzig mit einem starken Berliner Akzent, war plötzlich aufgestanden und hatte lauthals verkündet: Die Leute sind janz einfach blind, die Boten von Neuschwabenland patrouillieren längst über Berlin. Immer von Nord nach Süd oder von Süd nach Nord. Ick brauch bloß de Jondensstreifen am Himmel anzukieken. Bei dem allgemeinen zustimmenden Nicken im Podium, hatte sich Winterstein verwundert die Augen gerieben. Dieser haarsträubende Blödsinn war durch nichts zu überbieten, dachte er. Jetzt machte er ein ernstes Gesicht.

„Nein“, sagte er fast trotzig. „Ich werde sogar weiter recherchieren. Die krieg ich dran. Das schwöre ich dir. Und als Ersten diesen aufgeblasenen Freiherr Graf von Wiltberg.“

„Nun ja“, antwortete Nina besorgt, „meinen Segen jedenfalls hast du. Dein Artikel hat ganz schönen Wirbel verursacht. Der Alte mag das, das weißt du. Und dank meiner wunderbaren Berichte über unser aller Fußballglück ist unsere Auflage in den letzten Wochen gestiegen. Ich denke die Zeiten für außergewöhnliche Spesen sind günstig. Um wie viel geht es denn?“

Winterstein zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung. Erfahre ich erst heute Abend.“

Nina sah ihm in die Augen.

„Pass auf dich auf, mein Lieber, schließlich brauche ich noch meinen besten Squash-Partner.“ Sie warf ihr dunkles Haar zurück und sah Daniel noch einmal eindringlich an. „Bis später. Wir sehen uns.“

Kaum hatte Nina den Raum verlassen, setzte sich Daniel Winterstein an seinen Laptop und öffnete die Datei mit seinem Artikel über das Neuschwabenlandtreffen. Daniel trank eine Flasche Mineralwasser und versenkte ein halbes mit Schinken und Käse belegtes Brötchen in seinem Mund. Sein Abendbrot.

Der Artikel war bislang in der Samstagsausgabe der Berliner Zeitung erschienen. Winterstein hatte allerdings vor, ihn noch ein wenig auszubauen und ihn eventuell dem SPIEGEL anzubieten.

Nach wenigen Minuten war er so darin vertieft, dass er fast alles um sich herum vergaß.

Kapitel 13

Neuschwabenland in Berlin von Daniel Winterstein

Wie ein konspiratives Treffen wirkt es nicht gerade, die regelmäßigen Zusammenkünfte der NSLer in einer kleinen Kneipe am Berliner Spittelmarkt – eher wie der Jahresabschluss eines Kaninchenzüchter- oder Gartenvereins. Und dennoch hängt ein bisschen der Schleier des Verbotenen über allem. Podium und Zuhörerreihen befinden sich im Nebenzimmer, kein Plakat weist irgendwo auf die Veranstaltung hin. Man verabredet sich im Netz und kommt. Heimlich und trotzdem öffentlich. Im vorderen Teil der Kneipe, komplett ausgestattet von einem bekannten Bierproduzenten, wird Alkohol ausgeschenkt, Bouletten oder Steak ou four serviert, geplaudert und getrunken. Der Prenzlauer Berg ist keine zwanzig Minuten entfernt und Kreuzberg quasi vor der Tür und doch befindet man sich hier scheinbar auf einer Insel. Die Gaststätte Am Spittelmarkt wird für die nächsten drei Stunden zur Oase der Neuschwabenlandanhänger oder, wie sie sich selbst nennen: Der Reichsdeutschen.

Dreißig Minuten bevor Dr. Schmidt-Zupf das bizarre Symposium eröffnen wird, kommen die ersten Teilnehmer. Meist einzeln, manchmal zu zweit. Gut zwei Dutzende werden es am Ende sein. Neonazis, Altnazis, NPD-Leute, vielleicht ein paar Neugierige. Die Mehrheit der Teilnehmer sind Männer zwischen Fünfzig und Siebzig. Hin und wieder sieht man auch Jüngere. Anfang oder Mitte Zwanzig: kurz rasiert, kräftig gebaut, mit wütendem Blick und ausgewählter Kleidung. Der Wirt hinter seinem Tresen zwinkert ihnen zu. Man kennt sich, man schätzt sich.

In den nächsten drei Stunden werden diese Leute nicht nur die bundesdeutsche Gerichtsbarkeit verhöhnen, sondern der Bundesrepublik ihr Existenzrecht absprechen, die jüdische Weltverschwörung herunterbeten, die Vereinigten Staaten des Staatsterrorismus bezichtigen und allerlei skurrile Geschichten über ihren Mythos Neuschwabenland zum Besten geben.

Neuschwabenland? Nein, wenn Sie glauben Neuschwabenland befindet sich irgendwo im beschaulichen Ländle, vielleicht umgeben von malerischen Weinbergen, bewirtschaftet von tüchtigen Menschen, dann irren Sie sich. Neuschwabenland liegt im ewigen Eis der Antarktis und ist an diesem regnerischen kalten Freitag Anfang Dezember doch mitten in Berlin. Zumindest in gut zwei Dutzend Köpfen.

Eine Woche vor Weihnachten 1938 verließ das Forschungsschiff Schwabenland unter dem Kommando von Alfred Ritscher Hamburg und machte sich auf den Weg in Richtung Antarktis. Die Nazis hatten schnell die strategische Bedeutung dieses Teils der Welt erkannt und sich dazu entschlossen, ein großes Gebiet in deutschen Besitz zu nehmen. Das Schiff war für eine Million Reichsmark polartauglich gemacht worden und an Bord befanden sich u.a. die beiden 10t schweren Flugboote Boreas und Passat. Es war die bislang größte deutsche Expedition zum südlichsten Kontinent. Ihrem Auftrag gemäß dokumentierten die Piloten der Flugboote mit fast 11.000 Fotos das Gebiet und warfen sogenannte Fallflaggen mit Hakenkreuzen ab, um den Anspruch des Dritten Reiches geltend zu machen – eine zu dieser Zeit durchaus international gebräuchliche Methode. Das gesamte Gebiet erhielt den Namen Neuschwabenland und umfasste ein Territorium, das etwa doppelt so groß war, wie die heutige Bundesrepublik. (Die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches hat übrigens niemals Anspruch auf dieses Gebiet erhoben. Neuschwabenland gehört heute zu Norwegen…)

Soweit so gut.

Und nun, geneigter Leser, folgen Sie mir in den Nebel von Tatsächlichem und Legendenhaftem.

In den Jahren 1940 und 1943 unternahm das Deutsche Reich angeblich zwei weitere Expeditionen – diesmal allerdings streng geheime militärische Operationen. 1942/43 begann man dort, so behaupten jedenfalls unsere reichsdeutschen Weltverschwörer, mit dem Ausbau der Basis 211 – einer deutschen Festung im Eis.

Die Basis 211 sollte der Schlüssel für weitere Operationen werden. Alle wichtigen Materialien, Hochtechnologie, Geheimdokumente und natürlich alle wichtigen Personen sollten dorthin evakuiert werden. Eine Flotte von 100 U-Booten machte sich angeblich kurz vor Kriegsende auf den Weg dorthin und alle U-Boote gelten bis heute als verschollen.

Der Wahnsinn des Tausendjährigen Reiches mit all seinen Millionen Toten fand ein Ende, und niemand hätte sich wohl jemals wieder Gedanken über ein reichsdeutsches Gebiet inmitten des ewigen Eises gemacht, wäre da nicht der 27. Januar 1947.

Ausgerechnet ein amerikanischer Admiral goss frisches Öl in den Mythos Neuschwabenland.

Admiral Richard E. Byrd kommandierte während der Operation Highjump eine Flotte von 12 Kriegsschiffen, 26 Flugzeugen und einer Besatzung aus ca. 4000 Soldaten und einigen Hundert Wissenschaftlern. Die Flotte startete am 2. Dezember 1946 im US-Kriegshafen Norfolk und erreichte am 27. Januar ihr Zielgebiet. Offiziell lautete der Auftrag der Operation: Kriegsgerät unter antarktischen Bedingungen zu testen und die Erforschung des südlichen Kontinents mit seinen Gewässern voranzutreiben, um die Möglichkeiten der Errichtung von Militärbasen zu prüfen. Anfang März 1947 wurde die Operation Highjump vorzeitig und mit erheblichem Verlust an Material abgebrochen. Das zunehmend schlechte Wetter hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Auf der Fahrt nach Wellington/Neuseeland gab Admiral Byrd einem mitreisenden Journalisten des International News Service ein Exklusivinterview, welches am 5. März im El Mercurio, der damals größten erzkonservativen südamerikanischen Tagesszeitung veröffentlich wurde.

Ich möchte niemanden erschrecken, aber die bittere Realität ist, dass im Falle eines neuen Krieges die Vereinigten Staaten durch Flugzeuge angegriffen werden, die über einen oder beide Pole fliegen werden.“… „Die fantastische Eile, mit der die Welt zusammenschrumpft, ist eine der objektiven Lektionen, die wir auf der antarktischen Erforschung gelernt haben, die wir gerade beenden. Ich kann nur eine Mahnung an meine Landsleute aussprechen, dass die Zeit vorbei ist, in der wir uns in eine komplette Isolation zurückziehen und in dem Vertrauen entspannen konnten, die Entfernungen, die Meere und Pole böten uns eine Garantie der Sicherheit...“

(Diese Äußerungen von Richard E. Byrd werden die Grundlage dafür bilden, dass neonazistisch-okkultistische Kreise wie die NSLer sich in ihrem Glauben bestärkt fühlen, dass zwischen den beiden Polen ein unterirdisches Gebiet existiert, in dem das wahrhafte Herrenvolk – ein hoch technisiertes und hochintelligentes Volk – lebt, das auf den perfekten Moment wartet, die Welt zu erobern: die Arianni.)

Soweit einige Fakten. Doch kehren wir zu unseren rechten Weltverschwörern in der Kneipe am Spittelmarkt zurück.

Auf dem Podium sitzen neben Dr. Schmidt-Zupf Kai Schneider, Dr. Rudolph Hofmann, Jens Weißkopf und Hermann Heise. Links und rechts flankieren zwei kräftige junge Männer mit verschränkten Armen das Podium. Am Tisch hängt ein Bettlaken, auf dem eine Art Rad gemalt ist. Das Sonnenrad, dessen zwölf Speichen aus Sigrunen (dem Uhrzeigersinn entgegen gerichtete hakenähnliche Gebilde) bestehen. Es erinnert an ein drehendes Sonnenrad und ist ein Erkennungszeichen vieler Neonazis.

Schmidt-Zupf räuspert sich, legt sich seine langen strähnigen Haare hinter die Ohren und beginnt seinen Vortrag. Auch er spricht über Admiral Richard E. Byrd und der Operation Highjump. Nun erfährt der Zuhörer die wahre Geschichte und damit eine ganze Reihe Erklärungen, die dem normal gebildeten Menschen verborgen blieben. Die Operation Highjump, so Schmidt-Zupf, war der Versuch der Amerikaner, die letzte deutsche Bastion des Zweiten Weltkriegs zur Kapitulation zu zwingen. Deshalb die riesige Armada Kriegsschiffe, Flugzeuge und tausende Soldaten. Doch die tapferen Reichsdeutschen verjagten die Angreifer. Der Beleg dafür ist der Abschuss von mindestens 10 Flugzeugen, die Beschädigung des U-Bootes USS-Sennet und letztlich die überhastete Flucht der Amerikaner. Und wie haben unsere Helden das geschafft? Dr. Schmidt-Zupf macht ein ernstes Gesicht. „VRIL 1 Jäger“, sagt er. „Raumflugscheiben, Haunebu I-III“, skandiert er, große glockenförmige Raumflugkreisel, und natürlich die Überschallhubschrauber – betrieben durch unkonventionelle Energie. All diese Hochtechnologien wurden 43/44 in Peenemünde von Dr. Schumann entwickelt. Schmidt-Zupf lächelt und sagt: „Nachher wird mein Kamerad, der Physiker Dr. Rudolph Hofmann, über diese Antriebstechnik ausführlich referieren.“ Er klopft seinem Nachbarn auf die Schulter und Dr. Rudolph Hofmann nickt.

In dem kleinen Hinterzimmer am Spittelmarkt vibriert die Luft vor Spannung. Auch der zweite Angriff der Amerikaner 1958, bei dem mindestens zwei Atombomben eingesetzt wurden, endete einzig damit, dass sich nun ein riesiges Ozonloch in der Atmosphäre über den südlichsten Kontinent befindet. Doktor Schmidt-Zupf senkt den Kopf, als wäre er noch 51 Jahre später zutiefst über einen derartigen Frevel erschüttert. Eine kurze gespenstische Stille tritt ein. Dann hebt er den Kopf und zieht triumphierend ein Büchlein aus der Innentasche seines Jacketts.

Schmidt-Zupf wartet ein bisschen, dann verkündet er: Admiral Richard E. Byrd hat der Nachwelt ein großes Geschenk hinterlassen: Sein Tagebuch. Einer der beiden Männer neben dem Podium wackelt mit dem Kopf. Nun zitiert Schmidt-Zupf aus dem kleinen Büchlein und übersetzte es auch gleich.

Dieses Tagebuch werde ich im Geheimen und Verborgenen schreiben. Es enthält meine Aufzeichnungen über meinen Antarktis-Flug VOTA 19. Februar 1947. Ich bin sicher es kommt die Zeit, wo alle Mutmaßungen und Überlegungen des Menschen zur Bedeutungslosigkeit verkümmern, und jeder die Unumstößlichkeit der offensichtlichen Wahrheit anerkennen muss. Mir ist die Freiheit versagt, diese Aufzeichnungen zu veröffentlichen und vielleicht werden sie niemals ans Licht der Öffentlichkeit gelangen. Aber ich habe meine Aufgabe zu erfüllen, und das, was ich erlebt habe, werde ich niederschreiben. Ich bin zuversichtlich, dass dies alles gelesen werden kann, dass eine Zeit kommen wird, wo die Gier und die Macht einer Gruppe von Menschen die Wahrheit nicht mehr aufhalten kann.

Byrd, so erzählt Schmidt-Zupf, verliert gegen Mittag am 19. Februar 1947 die Kontrolle über sein Flugzeug und wird von fremden Händen zur Landung gezwungen. Man empfängt ihn freundlich. Bevor ihm befohlen wird, auszusteigen, bestaunt Byrd eine liebliche Landschaft – kleine bewachsene Hügel und eine Stadt, die in Regenbogenfarben schimmert. Schließlich spricht eine Stimme zu ihm. WILLKOMMEN IN UNSEREM GEBIET.

Geneigter Leser, wer jetzt an die Szene aus Jules Vernes´ 20 000 Meilen unter dem Meer denkt, als Professor Aronnax das erste Mal Kapitän Nemo in der Nautilus begegnet, liegt gar nicht so falsch. Denn so ähnlich mutet auch der Empfang des Amerikaners Byrd an – mit dem Unterschied von klarem Rassismus.

Schmidt-Zupfs Stimme wird nun dunkel und warm. Große, blonde Männer, die sich Arianni nennen, begrüßen den Admiral. Ihm wird erklärt, dass sie ihn damit beauftragen werden, eine Botschaft an die obere Welt zu bringen und schließlich erweist man ihm das Privileg, die das Reich der schwarzen Sonne per Fahrstuhl zu betreten.

Doktor Schmidt-Zupf holt tief Luft, dann sagt er: Admiral Richard E. Byrd ist die bekannteste Persönlichkeit, die das Reich der Arianni mit eigenen Augen gesehen hat.

Jetzt braust Beifall auf. Als wieder Ruhe einkehrt, fügt Schmidt-Zupf lächelnd hinzu: Byrd hat diese Begegnung in einem Interview bezeugt, er hat das Pentagon unterrichtet und wurde zum Schweigen gezwungen. Zuletzt gibt er Literaturhinweise und buchstabiert seine E-Mail-Adresse, unter der die Zeugnisse der Wahrheit bestellt werden können, wie er es nennt.

Doktor Schmidt-Zupf hat seinen Vortrag beendet. Abermals Beifall.

Der nächste Redner, Jens Weißkopf, berichtet von seinem Prozess wegen Volksverhetzung und dankt allen Spendern, die ihn bei diesem Kampf unterstützt haben. Stolz erzählt er, dass er sowohl schriftlich als auch mündlich dem Gericht erklärte, dass er das Gericht nicht anerkennt, da das Grundgesetz nach Artikel 146 mit der Vollendung der deutschen Einheit seine Gültigkeit verloren hat und durch eine Verfassung ersetzt werden muss. Und dies sei bis heute nicht geschehen. Beifall brandet hoch.

Parallelen zu Diktatoren drängen sich auf: Ceausescu erkannte das rumänische Militärtribunal nicht an, das ihn standrechtlich erschoss, Milosevic erkannte den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag nicht an und Göring und Saddam gebärdeten sich ähnlich. Über eine halbe Stunde beschimpft Weißkopf den verlogenen Staat mit seinen verlogenen Vasallen, bevor er ein schwarz-weiß-roten Ausweis zückt, auf dem mit schwarzen Buchstaben prangt: INTERREGNUM (Zeitraum ohne rechtmäßige Regierung) Staatsangehörigkeit: Deutsches Reich. Gedruckt in der Kommissarischen Reichsdruckerei-Saargebiet/Rheinprovinz 2008.

Er schwenkt sein Urteil und weist triumphierend auf eine kleine Zeile seiner Personalien. Staatsbürger des Deutschen Reiches, ledig. Ausgestellt vom Landgericht Koblenz.

„Sie erkennen uns an!“

Jubel im Raum.

Bevor Dr. Rudolph Hofmann, ein Mann mit schmalem Gesicht, auffallend blauen Augen und grauem Haar, über seine unverständlichen und absurden physikalischen Belege für den funktionierenden Antrieb der reichsdeutschen Untertassen referiert, berichtet Heise von seiner Reise zu den Externsteinen.

Die Externsteine befinden sich in Nordrhein-Westfalen im Teutoburger Wald in der Nähe von Detmold. Sie sind eine durch die sogenannte saxonische Rahmenfaltung bizarr geformte Steinformation, die möglicherweise einst eine germanische Kultstätte war.

Heinrich Himmler gründete die Externsteine-Stiftung und ließ das Territorium auf Anregung seines völkischen Mitstreiters Wilhelm Teudt zu einem heiligen Hain der Ahnen umgestalten.

Eigentlich müsste der Abend nun reichlich vollgestopft sein mit abstrusen Hirngespinsten, denkt man, doch Hermann Heise setzt dem Ganzen noch ein religiöses Sahnehäubchen auf. Seine Gestalt ist spindeldürr, das Haar in kleinen Strähnen über die Fast-Glatze drapiert. Er hat kleine Augen und seine Stimme überschlägt sich bisweilen.

Als Erstes brüllt er zwei Dutzend Zuhörer an. „Ich habe es gesehen! Das Gesicht Wotan-Luzifers – verewigt in den Felsen der Externsteine!“ Wieder herrscht gespannte Stille. (Wotan oder Odin ist einer der wichtigsten germanischen Götter, Luzifer – der gefallene Engel, auch Satan oder Teufel.)

Das Nibelungenlied wird bemüht. Siegfried, der den Drachen tötete, wurde durch eine Hirschkuh genährt. Und im oberen Teil an einer der Felssäulen befindet sich eine Abbildung einer Hirschkuh. Natürlich. Aber dieses heiligste Heiligtum hat noch mehr zu bieten. Am vierten Felsen erscheint der gekreuzigte Gott. Nicht Jesus, nein. Es ist Wotan, der an der Irminsul (der Baum des Schreckens oder Weltenbaum) hängt.

Wotan war der Suchende der germanischen Götter, er gab ein Auge als Pfand gegen einen Schluck aus Mimirs Brunnen, um seherische Kräfte zu erlangen. Wotan raubte der Riesin Gumlöd Skalden Met, um das Getränk den Göttern zu bringen und schließlich hing er als Opfer für die Menschen am Weltenbaum, verwundet durch seinen eigenen Speer. Von Asgard konnte er die Welt überschauen und in Walhall versammeln sich alle Auserwählten im germanischen Paradies.

Hitler, Schmidt-Zupf und möglicherweise auch Osama Bin Laden. So jedenfalls scheint die Realität des Hermann Heise auszusehen. Aber er ist noch nicht fertig am heutigen Abend im Hinterzimmer in der kleinen Berliner Kneipe am Spittelmarkt.

Heise schlägt einen schärferen Ton an. Wotan ist der Christus von Atlantis, sagt er.

Wotan ist runisch dargestellt, fährt er fort. Wotan ist die kriegerische Antwort auf den Demiurg – Jehova – der jüdisch-christlichen Verschwörung der Verräter. Und eines Tages kehrt er zurück und mit ihm unser heiß geliebter Messias, verjüngt und mit gewaltiger Macht aus den Tiefen von Neuschwabenland. Und die wahre, heilige Rasse wird ihr Recht wiedererlangen.

Applaus brandet abermals auf, und Heise verneigt sich bescheiden mit seinem nun verschwitzten Gesicht.

Gut gegen Böse. Sauron gegen Frodo. Harry Potter gegen Voldemort – nur wird bei dieser Veranstaltung alles ein bisschen verdreht. Der Bösewicht ist das Opfer einer Verschwörung und die Guten Spielbälle zur Verblendung der Massen, Wotan-Luzifer der wahre Gott, den Jahwe trickreich gestürzt hatte, um selbst die Menschen zu beherrschen. Hitler ist von seinen Feinden verunglimpft worden, denn er ist der eigentliche Messias. So ungefähr lautet die Botschaft.

Nun kann man leicht darüber frotzeln, den Teilnehmern dringend einen Besuch in der nicht allzu weit entfernten psychiatrischen Klinik St. Joseph zu empfehlen, aber so einfach ist es nicht.

Auf Weißkopfs Internetseite tummeln sich nicht nur jede Menge Hakenkreuze und SS-Runen, sie besteht auch ausschließlich aus antisemitischen Ressentiments, Geschichtsverfälschungen und verfassungsfeindlicher neonazistischer Propaganda. Über die verschiedenen Links wird man zu Artikeln weitergeleitet wie: Jüdische Manipulation der wichtigsten Staatsmänner, der Jude als Führer der Sozialdemokratie, Holocaust-Forschung (Holocaustlüge) oder vorbildliche und bewährte Männer der Waffen-SS und geistige Vorbereitung auf die bevorstehende Wiederkehr des Messias (Adolf Hitler).

399
573,60 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
410 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783742782397
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают