Читать книгу: «Isolde Kurz – Gesammelte Werke», страница 63

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Nun war vor al­lem Ed­gars schrift­li­cher Nach­lass zu sich­ten, sei­ne Ta­ge­bü­cher und die Ge­dich­te, de­ren Zahl und Vor­treff­lich­keit mich in Er­stau­nen setz­ten. Mir wa­ren ei­gent­lich nur die »Ge­s­pens­ter­lie­der« be­kannt, die er mir hand­schrift­lich ge­wid­met hat­te, köst­li­che Zeug­nis­se von der Fein­heit sei­nes Hu­mors, und sei­ne Über­set­zung To­s­ka­ni­scher Volks­lie­der, die er mir hat­te öf­fent­lich zu­eig­nen wol­len, was au­gen­schein­lich an Emp­find­lich­kei­ten von an­de­rer Sei­te schei­ter­te. Die Her­aus­ga­be die­ser Lie­der war sei­ne letz­te Freu­de ge­we­sen, er soll­te sie auf dem Ster­be­bet­te noch er­le­ben. Es sind die glei­chen Tex­te, die auch Hey­se in sei­nem ita­lie­ni­schen Lie­der­buch über­setzt hat. Die­ser schrieb, sei­ne ei­ge­ne Über­set­zung ge­fal­le ihm bes­ser, was ihm ge­wiss nie­mand ver­übeln konn­te. Al­lein der in al­len Sät­teln ge­rech­te Über­set­zer hat­te sich eine li­te­ra­ri­sche Auf­ga­be ge­stellt: die klang­schö­ne, nach Rhyth­mus und Wort­sinn mög­lichst an­ge­nä­her­te Wie­der­ga­be der ita­lie­ni­schen Ver­se. Ed­gar such­te et­was völ­lig an­de­res. Die volks­tüm­li­che Nai­vi­tät der tos­ka­ni­schen Lie­der, die sich mit ih­rer durch­ge­hen­den Ge­tra­gen­heit und gleich­mä­ßi­gen Me­trik doch nicht all­zu­weit von der Kunst­spra­che ent­fer­nen, woll­te er in den wech­sel­rei­che­ren Ton des deut­schen Volks­lieds über­tra­gen, wozu er durch man­cher­lei ihn über­ra­schen­de Ver­wandt­schaft des sprach­li­chen Aus­drucks an­ge­regt wur­de. So wie ein deut­scher Volks­dich­ter die­sen In­halt als Neu­schöp­fung be­han­delt hät­te. Das sind zwei Mög­lich­kei­ten, eine li­te­ra­ri­sche und eine volks­mä­ßi­ge, die bei­de ihre Be­rech­ti­gung ha­ben.

Die fol­gen­den Wo­chen wa­ren aus­ge­füllt von der Ar­beit an dem Le­bens­bild des Ver­stor­be­nen, dass ei­gent­lich gar kei­ne Trau­er auf­kam: ich hat­te ihn nä­her als er mir seit lan­gen Jah­ren ge­we­sen. Ich sah ihn, wie er ne­ben mir auf­ge­wach­sen war, in zar­tes­ter Ju­gend schon sei­ne Be­ga­bung und sei­ne Ei­gen­hei­ten ver­ra­tend, mit lei­den­schaft­li­cher Ein­sei­tig­keit auf Ei­nen Punkt ge­spannt und ihn wie­der ver­wer­fend, wenn eine neue Stu­fe er­stie­gen war. Ich sah ihn als sieb­zehn­jäh­ri­gen Stu­den­ten der Phi­lo­lo­gie, als zwan­zig­jäh­ri­gen Dok­tor der Me­di­zin, zu­gleich in sei­ner Ei­gen­schaft als As­sis­tent an der Frau­enkli­nik schon Leh­rer im Fach der Gynä­ko­lo­gie, bei dem viel äl­te­re Stu­die­ren­de hör­ten. Aus ei­nem über­mü­ti­gen Ju­gend­trei­ben her­aus durch den Tod des Va­ters schnel­ler ge­reift, sich an aus­wär­ti­gen Uni­ver­si­tä­ten wei­ter­bil­den, um schließ­lich, weil ihm die Hei­mat das Rech­te nicht bie­ten konn­te und er nicht in ir­gend­ei­ner Enge ver­sau­ern woll­te, kur­zer­hand zum Wan­der­stab grei­fen und uns alle nach­zie­hen. Und nun erst in Flo­renz, in ei­ner ho­hen und fei­nen Um­welt das wer­den, wozu die Na­tur ihn an­ge­legt hat­te: der Hei­len­de und der Hel­fer mit dem durch­drin­gen­den Scharf­sinn und dem fast weib­lich fei­nen Ein­füh­len in die Zu­stän­de der Kran­ken, die ihn an­be­te­ten und ihm blind­lings ver­trau­ten: der Mensch, der über­all da ein­trat, wo an­de­ren der Mut zur Verant­wor­tung aus­ging, denn zu den ver­zwei­felts­ten Fäl­len wur­de Er ge­ru­fen, und wo kei­ne Hei­lung mög­lich, die Qua­len un­er­träg­lich wur­den, da hat­te er auch den Mut, sie mit lin­dern­der Hand ab­zu­kür­zen, ein Brücken­bau­er in das Land des ewi­gen Schlafs.

Und doch, wie sehr war auch er bei al­ler Welt­wei­te und al­lem Welt­ver­kehr Sohn sei­nes Va­ters, dass er sei­nen glü­hen­den Ehr­geiz nur auf das Hoch­ziel, dem er diente, nie auf per­sön­li­chen Vor­teil rich­te­te. So streif­te auch ihn, den Welt­kun­di­gen, das Ge­schick des weltun­kun­di­gen Va­ters, dass er ohne äu­ße­ren Lohn ge­dient hat­te. Auch an ihm gin­gen die äu­ße­ren Ehren und Wür­den vor­über, weil er nicht die­nern konn­te. Die Grö­ßen sei­ner Wis­sen­schaft in Deutsch­land an­er­kann­ten ihn nach Ge­bühr, sie be­such­ten ihn auf der Durch­rei­se und stan­den mit ihm im Brief­wech­sel. Aber an den Stel­len, wo Ge­winn und Aus­zeich­nun­gen zu ho­len sind, wur­de sei­ner nicht ge­dacht. Er hat­te statt Lie­be­die­ne­rei und Klün­gel­we­sen nur Leis­tun­gen auf­zu­wei­sen, ein ste­hen­der Fa­mi­li­en­zug, und was ist Leis­tung, die sich selbst ge­nug­tun will? Man lässt es auch da­mit ge­nug sein; sonst hät­te ihm eine füh­ren­de Stel­lung an ir­gend­ei­ner deut­schen Kli­nik zu­fal­len müs­sen, wo er für sein Kön­nen und sei­nen Cha­rak­ter ein ganz an­de­res Be­tä­ti­gungs­feld ge­fun­den hät­te als in der Pri­vat­pra­xis. Vor we­ni­gen Jah­ren, fast drei Jahr­zehn­te nach sei­nem Hin­gang, er­freu­te mich ein jün­ge­rer, auf sol­chem Pos­ten be­find­li­cher Fach­kol­le­ge des Früh­ge­schie­de­nen durch die Mit­tei­lung, dass mein Bru­der in der Wis­sen­schaft kei­nes­wegs ver­ges­sen sei und dass eine sei­ner chir­ur­gi­schen Er­fin­dun­gen, die »Kurz­sche Na­del«, im­mer im Ge­brauch ge­blie­ben sei, weil sie, eben­so ein­fach und zweck­ge­recht wie die Din­ge der Na­tur, gar nicht er­setzt noch ver­bes­sert wer­den kön­ne.

Als ich mit dem Le­bens­bild fer­tig war, das erst­mals in den »Süd­deut­schen Mo­nats­hef­ten« er­schi­en, ju­bel­te das Mut­ter­herz. Ich hat­te mich nicht in ihr ge­täuscht. Ihren Lieb­ling so dar­ge­stellt zu se­hen, wie er in sich sel­ber war, dass auch die Fer­ner­ste­hen­den und die ganz Frem­den einen Hauch sei­nes We­sens ver­spür­ten, mach­te sie se­lig. Ich bin eine maß­los ehr­gei­zi­ge Mut­ter, sag­te sie mei­nen Arm pres­send. Du hast ihn mir so wie­der­ge­ge­ben, dass alle Müt­ter mich um einen sol­chen Sohn be­nei­den müs­sen. Die Brie­fe, die von den Kol­le­gen, von Ver­tre­tern der Wis­sen­schaft, von Män­nern der Fe­der an mich ge­rich­tet wur­den, ließ ich durch sei­ne Mut­ter be­ant­wor­ten, die da­durch gar nicht aus ei­ner se­li­gen Hoch­span­nung kam und ganz ver­gaß, dass es ein To­ter war, dem alle die Be­wun­de­rung und Lie­be galt. Sie ließ ihn ein­fach nicht tot sein. Und als gar Frau­en, die ihn le­bend nicht ge­kannt hat­ten, ihr Herz nach­träg­lich an den hoch­ge­sinn­ten rit­ter­li­chen Men­schen ver­lo­ren, schrieb sie ih­ren über­schweng­li­chen Dank in ein heim­lich ge­führ­tes poe­ti­sches Ta­ge­buch, das ich nach ih­rem Tod fin­den soll­te:

O sei ge­seg­net mir viel tau­send­fach,

Die du den Bru­der rie­fest wie­der wach,

In sol­chem Glanz ihn ließest auf­er­ste­hen

Um als Ero­be­rer ein­her­zu­ge­hen – – –

Der Zweck war er­reicht, ihr Sohn leb­te wie­der.

Eine zwei­te Freu­de konn­te ich ihr ma­chen durch die Her­aus­ga­be ei­ner grö­ße­ren Aus­wahl sei­ner Ge­dich­te bei Cot­ta. Aber der Wi­der­hall, den man wohl er­hof­fen durf­te, blieb aus; er war auch dar­in Sohn sei­nes Va­ters. Freund Krö­ner sag­te mir da­mals, es gebe im gan­zen Buch­han­del nichts so Un­be­re­chen­ba­res wie den Er­folg von Ge­dich­ten. So sind sie lei­der aus dem Buch­han­del ver­schwun­den, wo so vie­les Wert­lo­se wei­ter­lebt. Um we­nigs­tens einen klei­nen Aus­zug aus dem grö­ße­ren von 1904 der All­ge­mein­heit zu er­hal­ten, füge ich hier einen Längs­schnitt durch sein Dich­ten, das zu­gleich ein Längs­schnitt durch sein Le­ben ist, ein, denn Ed­gar hat nie eine Zei­le ge­schrie­ben, die nicht au­gen­blick­li­cher Aus­fluss des Er­leb­ten ge­we­sen wäre: sein Dich­ten war wie das Harz, das aus ei­nem Riss der Baum­rin­de quillt. Da ist zu­erst der Sturm­wind in­ne­rer Lei­den­schaft, der durch die Lie­der des Jüng­lings braust und im­mer­zu Tod und Le­ben zum Kamp­fe her­aus­for­dern muss, ja so­gar des Nachts auf dem Fried­hof bei den stil­len To­ten, zu de­nen es ihn hin­aus­zieht, um­sonst den Frie­den sucht:

Kein To­des­schau­er dämpft den Le­bens­mut,

Noch hei­ßer über Grä­bern kocht mein Blut,

Wer kühlt, die mich ver­zehrt, die wil­de Glut?

Wie glück­lich sind die To­ten!

Dann kommt all das Schwel­gen und Tol­len der durch­zech­ten Näch­te, da­zwi­schen das geis­ti­ge Su­chen und Rin­gen bei ein­sa­mer mit­ter­nächt­li­cher Stu­dier­lam­pe, wo­bei we­der das eine noch das an­de­re die zeh­ren­de Un­ru­he be­schwich­tet:

Ru­he­los

Laut tönt vom Turm der Glo­cke Schlag

In stil­ler Mit­ter­nacht.

So hab’ ich stets den an­dern Tag

Heran­ge­wacht.

Und schlägt es eins, ich wa­che fort

Bei mei­ner Lam­pe Licht,

Denn Ruhe, die­ses La­be­wort,

Ich kenn’ es nicht.

Bald sitz’ ich schwär­me­nd beim Ge­lag,

Bald sin­nend und al­lein.

Die Son­ne ist mir und mein Tag

Der Lam­pen­schein.

Flücht’ ich mich in des Schla­fes Port,

Was hilft, was nützt mir das?

Es ringt mein Geist im Trau­me fort,

Weiß nicht nach was.

Es kommt Frau­en­lie­be, rasch mit vol­lem Ge­fühl er­grif­fen und wie­der aus der Hand ge­las­sen, denn es ist ja nie das Rech­te und Blei­ben­de bei die­sem Don Juan wi­der Wil­len, der so ger­ne treu ge­blie­ben wäre, hät­te er ir­gend ge­konnt:

Ich bin noch im­mer der alte Narr,

Ich ken­ne mich jetzt zur Ge­nü­ge,

Stets täuscht mich wie­der der freund­li­che Trug

Und trügt mich die lieb­li­che Lüge.

Doch wenn mir ein­mal die Wahr­heit blinkt,

Dann muss es an­ders gä­ren

Und sie­den und ko­chen in mei­nem Blut

Und Mark und Hirn ver­zeh­ren – – –

Ach, es gär­te und koch­te wohl noch lan­ge so wei­ter, aber die Part­ne­rin zu solch him­mel­ho­hem Ge­fühls­le­ben soll­te auch er nie­mals fin­den. Zu­meist sind es Aben­teu­er wie bei dem

Mär­chen

(Aus ei­nem Zy­klus Wie­ner Erin­ne­run­gen)

Ich wan­del­te am Ring zu spä­ter Stun­de,

Wo ich oft hal­be Näch­te schon ver­bracht,

Der Welt­stadt To­sen schwieg in wei­ter Run­de,

Und still und ein­sam war die Nacht.

Ein Wa­gen kommt, der­weil ich für­bass schrei­te,

Der hät­te mich bei­na­he über­rannt.

Er hält. Ich wen­de mich und will zur Sei­te,

Da winkt mir eine klei­ne Hand.

Ich stei­ge ein. Nun geht’s durch vie­le Gas­sen.

Ein al­tes Schloss ist un­ser Ziel zu­letzt.

Wer bist du, schö­ne Maid? Ich kann’s nicht fas­sen,

Und wo­hin füh­rest du mich jetzt?

Doch küs­send spricht die Klei­ne: Lass das Sor­gen,

Ich bin ein Mär­chen, nur für dich er­dacht.

Ich bin ein Traum, o träu­me bis zum Mor­gen!

Der Vor­hang fällt, und es ist Nacht. – –

Am Mor­gen, als es kaum be­ginnt zu ta­gen,

Irr’ ich um­her. Wo bin ich? Wär’ mir’s klar!

Ja – wo ich bin, das kann ich je­den fra­gen,

Al­lein, wer sagt mir, wo ich war?

Aus der­sel­ben leicht­her­zi­gen Ton­art geht

Der Lie­be Furcht

In der Nacht nach je­nem Tag

Sprach mein Lieb mich von sich drän­gend:

Wa­rum rückst du mir so nah?

Ach, ich fürch­te mich vor dir.

An dem Tag nach je­ner Nacht

Sprach mein Lieb sich an mich schmie­gend:

Wa­rum willst du von mir ge­hen?

Ach, ich fürcht’ mich ohne dich.

Aber die Lie­be hat auch in­ni­ge­re Töne: Da ist ein er­grei­fen­des Er­le­ben des Arz­tes:

Und seh’ ich dich mit ro­ten Wan­gen,

So wird mir in der See­le weh,

Mich fasst ein un­nenn­ba­res Ban­gen,

Du blei­che Maid, ach Gott, ich seh’,

Ich seh’, ich seh’ die wei­ße Rose

In Pur­pur krank­haft schön er­blühn,

Dem un­ab­wend­bar blas­sen Lose

In has­ti­ger Glut ent­ge­gen­glühn.

Ich seh’s und ach, ich kann nicht weh­ren,

Du blei­ches Lieb, der Fie­ber­glut,

Ich wein’, ich wei­ne her­be Zäh­ren,

Die Krank­heit kenn’ ich, ach, zu gut.

Da ist das spä­te Wie­der­se­hen mit ei­ner Ju­gend­nei­gung:

Ein Bild tritt wie­der

In mei­ne Ruh:

Herz mei­ner Lie­der,

An­ni­na, du.

Da­hin, ver­gan­gen

Ist un­se­re Zeit.

Wa­rum so be­fan­gen

Nahst du mir heut?

Was blickt durch Trä­nen

Dein Aug’ mich an?

Frucht­lo­ses Seh­nen,

Ver­lor­ner Wahn.

Uns wies das Le­ben

Ge­trenn­ten Stand,

Was drückst mit Be­ben

Du mei­ne Hand!?

Ent­schwun­de­ne Tage,

Ver­k­lung­nes Glück

Bringt kei­ne Kla­ge,

Kein Wunsch zu­rück.

Her­zen wie die­ses ver­zeh­ren sich in lau­en Frie­dens­ta­gen, da sie nicht fin­den, wo­für sich sel­ber wür­dig ver­geu­den, und we­der Freund noch Feind ih­rer wert ach­ten. Aber der Jüng­ling ist nun zum Man­ne ge­reift und flüch­tet sich in die Stren­ge der Pf­licht, die fort­an mit ihm ge­hen wird und ihm durch sich sel­ber loh­nen, so­lan­ge er lebt:

Auf ei­nem Be­rufs­gang

Es bläst der Wind, der Re­gen gießt in Strö­men,

Die schwar­ze Wol­ke stellt sich vor den Mond,

Im Dun­keln heißt die Pf­licht den Weg mich wei­ter neh­men!

So sei ich durch mich selbst be­lohnt.

Ich will die Schmer­zen küh­len

Und mei­ner See­le Not

Im Kampf mit Wind und Wet­ter,

Im Rin­gen mit dem Tod.

Die­se Kehr­sei­te der Schwel­ge­rei, den Tag und Nacht zur äu­ßers­ten Leis­tung und Selbst­ver­leug­nung ge­spann­ten Hel­fer­wil­len, muss man im Auge be­hal­ten um zu be­grei­fen, wie stark die Ker­ze fort und fort an bei­den En­den ge­brannt hat. Aber end­lich, da das Fie­ber nach­lässt, wird ihm sei­ne Poe­sie zu der war­men Asche in der, wenn man sie auf­rührt, ein so rei­zen­des Fun­ken­spiel sich schlän­gelt. Jetzt ist nichts Per­sön­li­ches mehr da­bei, eine hei­te­re Lau­ne treibt mit den Din­gen und dem ei­ge­nen Ich ih­ren Scherz wie in dem:

Heim­ritt

Zäumt mir mei­nen Pe­ga­sus

Mit den lan­gen Ohren,

Weil ich heut noch rei­ten muss

In das Land der To­ren.

Grau­er, hast auf die­sem Weg

Dich noch nie ver­lo­ren,

Kenn’ ich selbst doch Weg und Steg,

Bin ja dort ge­bo­ren.

Und so reit’ ich wie­der heim,

Weil ich Heim­weh habe,

Wechs­le nun­mehr auch den Reim

Und den Schritt zum Tra­be.

In der Frem­de leg­t’ ich brach

Mei­ne bes­te Gabe;

War wie and­re klug und, ach,

Ernst­haft wie ein Schwa­be.

Bin nun all des Erns­tes satt,

Geb dem Tier die Spo­ren.

Im Ga­lopp zur Nar­ren­stadt!

Noch ist nichts ver­lo­ren.

Fri­sches Le­ben, Saus und Braus,

Bin wie neu­ge­bo­ren,

Ewig bleib’ ich jetzt zu Haus

In dem Land der To­ren.

Gera­de in der leich­ten un­per­sön­li­chen Gat­tung fin­det er sei­nen vol­len Per­sön­lich­keits­s­til, dass, wer ihn kann­te, zu­wei­len eine münd­li­che Re­de­wei­se her­aus­hört. So in dem lie­bens­wür­di­gen:

Rin­gel­rei­hen

(zu ei­nem von sei­nem Töch­ter­chen

ge­mal­ten Bild­chen)

El­fen­kin­der so rund und klein

Tan­zen in lus­ti­gem Rin­gel­reihn

Wohl um die schwei­gen­de Eule.

Denkt sich die Eule: bin ich ihr Gott?

Oder bin ich nur Kin­der­spott?

Ob ich jetzt lach’ oder heu­le?

Aber die Kro­ne sei­nes Hu­mors sind die Ge­s­pens­ter­lie­der, eine an­de­re Art von To­ten­tanz, worin der ärzt­li­che Dich­ter die ver­schie­dens­ten mensch­li­chen Ty­pen ihr teils ba­rockes, teils schau­er­li­ches We­sen wei­ter­trei­ben lässt. Die Ver­su­chung ist groß, alle her­zu­set­zen, aber ich be­schrän­ke mich auf ei­ni­ge der tref­fends­ten Pro­ben:

Der Ängst­li­che

Um Mit­ter­nacht, im Mon­den­schein,

Sitz’ ich auf mei­nem Lei­chen­stein,

Doch feucht und neb­lig wird die Luft,

Drum kreuch’ ich ein in mei­ne Gruft.

Der Ei­fer­süch­ti­ge

Als ich im stil­len Gra­be lag und schlief,

Hör­t’ ich wie ei­ner mei­nem Schätz­lein rief.

Da warf ich alle Erde schnell em­por

Und sprang her­aus und schlug dem Kerl aufs Ohr.

Der Geiz­hals

In mei­nem Gra­be fin­d’ ich kei­ne Ruh,

Um­sonst sind mei­ne Au­gen tot und zu.

In je­der Nacht muss ich den Sarg ver­las­sen,

Durchs Fens­ter schaun, wie mei­ne Er­ben pras­sen.

Von mei­nem Wein gil­t’s heut das letz­te Glas,

O mehr als alle Wür­mer wurmt mich das.

Der Ge­lehr­te

Kein Le­ben­der kann mei­ne Qual er­mes­sen:

Ich wäl­ze mich im Sar­ge hin und her,

Aus ei­nem Bu­che hab’ ich was ver­ges­sen,

Wenn ich mich doch be­sän­ne, was es wär!

Be­han­del­t’s die Uns­terb­lich­keit der See­le?

Das Da­sein Got­tes? Gott, ich wer­de krank!

Wie ich mir mei­nen hoh­len Schä­del quä­le,

Ich muss hin­auf an mei­nen Bü­cher­schrank.

Ich such’ und su­che in dem al­ten Bu­che,

Einst war mir jede Zei­le doch be­kannt,

Und eben fin­d’ ich bei­nah was ich su­che,

Da werd’ ich plötz­lich schnöd hin­weg­ge­bannt.

Es kommt mit Licht des Hau­ses al­ter Meis­ter –

Als ich noch leb­te, diente er mir gern,

Jetzt ruft er schau­dernd: Alle gu­ten Geis­ter

Die lo­ben Gott den Herrn!

Der Stut­zer

Sie ha­ben mich in mei­nem Frack be­gra­ben,

Das freut mich sehr, das woll­t’ ich eben ha­ben.

Auch sitzt die wei­ße Bin­de ganz kor­rekt,

Die Stie­fel sind so blank als wie ge­leckt.

Mein Stöck­chen ziert der Schmuck des El­fen­beins,

So pro­me­nier’ ich nachts von Zwölf bis Eins.

Und dass ich tot bin, sieht mir nie­mand an,

Zwei Dirn­lein flüs­tern: Welch ein hüb­scher Mann.

Der Rauf­bold

Das Tot­sein wäre gar zu arg,

Hät­t’ ich mein Schwert nicht mit im Sarg,

Und hei! ich höre De­gen­k­lir­ren.

Welch frech Ge­sin­del kämpft auf mei­ner Gruft?

Ich muss da­bei sein! Hur­ra! Fri­sche Luft!

Die Ter­zen pfei­fen und die Quar­ten schwir­ren,

Schon stürmt ein jun­ger Fant auf mich da­her,

Wie ist mir heu­te doch der Arm so schwer!

Die Ter­zen schwir­ren und die Quar­ten sau­sen,

Der Hieb saß gut!

Mein Schä­del klafft. Der Geg­ner sieht mit Grau­sen:

Aus die­ser brei­ten Spal­te fließt kein Blut.

O weh der Schmach von ei­nem grü­nen Jun­gen!

Als ich noch leb­te, wär’s ihm nicht ge­lun­gen.

Ins Grab schleich’ ich zu­rück aus dem Ge­fecht.

Ich weiß es jetzt, die To­ten fech­ten schlecht.

Der To­ten­grä­ber

Seid still, ihr Tote, lärmt nicht im­mer­zu!

Bleibt starr und steif in eu­ren Grä­bern lie­gen!

Gebt end­lich doch hier un­ten Frie­d’ und Ruh

Und lasst euch in den ewi­gen Schlum­mer wie­gen!

Legt euch aufs Ohr! Was wollt ihr Beß­res ha­ben?

Ich hab’ euch tief, ich hab’ euch gut be­gra­ben.

Der neue To­ten­grä­ber ist ein Wicht,

Sein ed­les Hand­werk, das ver­steht er nicht.

Mich selbst, den al­ten Meis­ter uns­rer Zunft,

Ver­scharr­t’ er ohne jeg­li­che Ver­nunft.

Ihr habt es gut, nur ich hab’ Grund zur Kla­ge,

Hab’ kei­ne Ruh bei Nacht und nicht am Tage,

Es quält mich euer bei­ner­nes Ge­klap­per

Und der Le­ben­di­gen läp­pi­sches Ge­plap­per.

Und heu­te Nacht schon gräbt der schlech­te Bube

Aufs neue wie­der eine schlech­te Gru­be,

Nun steig’ ich auf und stel­le ihm ein Bein

Und stürz’ ihn in sein eig­nes Grab hin­ein.

Ed­gars Poe­sie ist ein Gar­ten voll hei­mat­li­cher und süd­län­di­scher Flo­ra, wo in­mit­ten des Blu­men­ge­mischs ein Häuf­lein ver­kauz­ter Gno­men am Bo­den hockt, an de­nen er sich gleich­falls von Her­zen er­götzt.

Über die­sen Ge­dich­ten ge­sch­ah es mir, dass ich den Bru­der seit un­se­ren Kin­der­ta­gen zum ers­ten Mal wie­der rich­tig sah. Der gan­ze Mensch ei­ne fe­dern­de Stahl­kraft, un­be­sieg­bar in Män­ner­feh­den, im­mer be­siegt von Frau­en, die er nicht kann­te und zu sich in ein Reich der Poe­sie er­hob, wo sie nicht be­hei­ma­tet wa­ren. Die­ses vul­ka­nisch ge­leb­te und doch so zart ge­fühl­te Le­ben, das wie hin­ter ei­nem ei­ser­nen Vor­hang vor sich ge­gan­gen war, lös­te mir vie­le Rät­sel sei­ner wech­seln­den Stim­mun­gen, und nach­träg­lich er­griff es mich, wie er mir, nicht ge­ra­de oft, aber doch im­mer wie­der ein­mal mit ei­ner ei­ge­nen Weich­heit be­geg­net war wie mit ei­nem lei­sen Wer­ben: Ver­steh mich doch, ich bin ja der alte. Aber ehe ich die Hand aus­stre­cken konn­te, war schon wie­der eine Stö­rung da­zwi­schen­ge­tre­ten, und so stan­den wir uns nicht ge­trennt und nicht ver­bun­den, im­mer fel­sen­fest auf­ein­an­der ver­trau­end, aber le­bens­lang im glei­chen Ab­stand ge­gen­über.

Fünfzehntes Kapitel – Das Verglimmen

Die Len­ze schwin­den,

Die Som­mer ver­glü­hen,

Durchs Fens­ter nur seh ich

Die Blu­men blü­hen

Und hör das Le­ben, das lockt und lärmt.

Mich ru­fen kla­gend

Des Le­bens Stim­men,

Ich hüt’ ein Lämp­chen, das im Ver­glim­men,

Wenn drau­ßen die Freu­de vor­über­schwärmt.

Ich fol­g’ ihr nim­mer, ich horch’ in Za­gen

Auf ei­nes Her­zens schwä­che­res Schla­gen,

Das mit dem mei­nen sich freut und härmt.

Und möch­te die Stun­de

Um­klam­mern und hal­ten,

Die noch mit sü­ßen Lie­bes­ge­wal­ten

Das ster­ben­de Lämp­chen durch­hellt und wärmt.

In den ers­ten Ta­gen nach Ed­gars schnel­lem Auf­bruch war es ge­we­sen, als ob er alle, die er einst mit sich nach Ita­li­en ge­zo­gen, auch jetzt wie­der nach­zie­hen müs­se; war ja selbst sein Freund, der le­bens­lus­tigs­te al­ler Men­schen, vor­über­ge­hend dem Ein­druck er­le­gen, als ob das Le­ben jetzt ganz leer und aus­ge­lebt sei. Bei der Mut­ter hat­te ich die­se Stim­mung durch das ver­klär­te Le­bens­bild ih­res Ein­zi­gen – denn das war und blieb er ihr ne­ben al­len sei­nen Ge­schwis­tern – gleich zu An­fang ab­len­ken kön­nen. Aber wür­de der leich­te Cham­pa­gner­rausch, in den sie ver­setzt war, vor­hal­ten? Das Wun­der ge­sch­ah, er hielt vor. Sie ver­brach­te die Stun­den da­mit, sei­ne Ge­dich­te, die sie mit aus­wähl­te, für den Druck ab­zu­schrei­ben und schrieb sie im­mer von neu­em ab, für sich und an­de­re. Auch in For­te, wo sie nun nie­mals wie­der die ge­lieb­tes­te Ge­stalt aus dem Nach­bar­hau­se tre­ten sah, er­wies sich die fast un­glaub­li­che Un­ab­hän­gig­keit ih­rer Lie­be von der sinn­li­chen Er­schei­nung. Dazu hal­fen auch die Freun­de mit, für die er gleich­falls ein Le­ben­di­ger blieb. Vor al­len an­de­ren, wie sich’s ver­steht, sein zwei­tes Ich, sein Car­lo Van­zet­ti.

Gleich nach Ed­gars Tod hat­te Hil­de­brand ge­gen mich die Mei­nung ge­äu­ßert, die­ser wer­de nun ohne den Freund in sein Nichts zu­rück­sin­ken. Aber Van­zet­ti war ein Stück Volk und dar­um un­ver­derb­lich. Der stren­gen Wis­sen­schaft­lich­keit Ed­gars gleich­sam ent­schlüp­fend, ließ er jetzt sei­ner ma­gi­schen Na­tur erst recht die Zü­gel schie­ßen. Er ge­riet beim Land­volk in den Ruf ei­nes Wun­der­tä­ters, und auch vie­le von den frem­den Ba­de­gäs­ten, für die er noch et­was von dem Nim­bus Ed­gars an sich trug, ge­wann er für sei­ne Ku­ren. Was er ver­schrieb, kam we­ni­ger in Fra­ge, der Glau­be tat es, den er be­saß wie ir­gend­ein Ma­gier. Dass auch mein Müt­ter­lein dem Zau­ber ver­fiel, war für mich ein großer Se­gen; ich konn­te sie ihm zu­wei­len zur Ob­hut über­las­sen und mich in­ner­lich aus­ras­ten. Er hat­te die ei­ge­ne Mut­ter ver­lo­ren, an der er mit so ängst­li­cher Lie­be hing, dass er nie den Mut fand, ihr Herz zu be­hor­chen, und ihre Be­hand­lung Ed­gar über­las­sen hat­te; so ver­stand er mei­ne Bang­nis und war trotz sei­ner Leicht­her­zig­keit im­mer zur Hand, wenn man den Arzt brauch­te. Wenn er pfei­fend am Stran­de her­an­kam, von der Ju­gend und der Weib­lich­keit wie ein Rat­ten­fän­ger um­schwärmt, so glänz­te sie auf und zähl­te die Schrit­te, bis er mit ei­ner rau­schen­den Woge von Fröh­lich­keit ins Haus trat. Trotz al­ler äu­ße­ren und in­ne­ren Un­ähn­lich­keit sah sie doch im­mer ein Stück Ed­gar in ihm. Seit er ganz frei von geis­ti­gen Be­lan­gen nur noch die Bau­ern­hö­fe in den Berg­wäl­dern auf­such­te oder am Strand mit sei­nen Pa­ti­en­ten Ball und Boc­cia spiel­te, er­in­ner­te er mit den zu­ge­spitz­ten Ohren un­ter dem dunklen Rin­gel­haar mehr und mehr an Pan, den länd­li­chen Gott. Da er nicht wuss­te, was das für ein Ding war, so ließ ich ihm zu sei­nem Ent­zücken aus Ber­lin ein Licht­bild von dem schö­nen Pan des Si­gno­rel­li im Fried­richs­mu­se­um kom­men, zu des­sen bocks­fü­ßi­ger Ma­je­stät die Le­bensal­ter ihre Wün­sche und Kla­gen brin­gen; in die­ser Ge­stalt er­kann­te er sich selbst. Nur die schmerz­li­che Tra­gik im An­ge­sich­te des Got­tes war ihm fremd; in sol­che Tie­fen drang die un­be­schwer­te See­le nicht, die auch längst schon die Trau­er um den ver­lo­re­nen Freund in hei­ter lie­ben­de Erin­ne­rung ver­kehrt hat­te.

Mei­ne Mut­ter war bis zu Ed­gars Tod nie­mals ernst­lich krank ge­we­sen mit Aus­nah­me ei­nes ein­zi­gen Fal­les im Vor­jahr, der auf eine bei Kran­ken­pfle­ge im Hau­se des Soh­nes, von der sie sich nicht ab­hal­ten ließ, ge­hol­te Übe­r­an­stren­gung zu­rück­ging. Ich hat­te sie da­mals bei mir ge­habt und ge­sund ge­pflegt; die glück­li­che See­len­ver­fas­sung hat­te dem Kör­per schnell wie­der auf­ge­hol­fen. Jetzt war es an­ders. Die vo­ri­gen be­ängs­ti­gen­den Er­schei­nun­gen stell­ten sich von Zeit zu Zeit aufs neue ein, und da war in ih­rem Flo­renz kein Ed­gar mehr, sie rich­tig zu über­wa­chen. Der ers­te neue An­fall trat auf, als sie es durch­ge­setzt hat­te, mit Freun­den in de­ren Wa­gen den Viel­ge­lieb­ten auf Tre­spia­no zu be­su­chen, wo­bei es auf der Heim­fahrt ge­ra­de an der steils­ten Stel­le zum Zu­sam­men­stoß mit ei­nem an­de­ren Fuhr­werk kam. Sie trug zwar kei­ne Ver­let­zung da­von, denn man fuhr noch nicht mit Ben­zin, wohl aber eine star­ke Er­schüt­te­rung, so­dass sie sich für Tage le­gen muss­te, für sie eine har­te Zu­mu­tung. Von da an konn­te ihre flam­men­de See­le nicht mehr ver­heim­li­chen, dass es eine Achtund­sieb­zig­jäh­ri­ge war, die der Tod ih­res Lieb­lings ins Herz ge­trof­fen hat­te! Sie war nicht krank, aber sie krän­kel­te, ein Rad war ge­bro­chen in dem so wun­der­ba­ren Ge­fü­ge, wenn es auch wei­ter ar­bei­te­te. Auch das Zu­sam­men­le­ben wur­de schwie­ri­ger: Ge­sich­ter, die sie nicht ger­ne sah, durf­ten nicht mehr ins Haus, gleich­viel, in wel­che Lage ich da­durch ge­riet. Für sie war es das Recht des Un­glücks, auch Un­ge­rech­tes zu for­dern, und ich muss­te will­fah­ren, um schlimms­te Kri­sen zu ver­mei­den –, nicht weil sie mei­ne Mut­ter, son­dern weil sie mein Kind war, mein schwer ge­trof­fe­nes Kind, das, wie ich mir nicht ver­heh­len konn­te, jetzt sei­ne letz­ten Kräf­te ver­brauch­te. Den Ver­brauch ver­lang­sa­men, scho­nen und wie­der scho­nen war das ein­zi­ge, was zu tun blieb. Aber nur die Som­mer in For­te ta­ten ihr noch wohl; in dem ihr öde ge­wor­de­nen Flo­renz hat­te sie kei­ne Ruhe mehr. Bald zog sie’s nach Ve­ne­dig, wo Al­fred im­mer sehn­suchts­vol­ler die Arme nach sei­ner Mut­ter aus­streck­te, bald nach Mün­chen zu Er­win. Die Wahl fiel auf Mün­chen, wo­hin ich sie in Beglei­tung von Hil­de­brands vor­aus­rei­sen ließ, um sel­ber die Woh­nung auf­zuräu­men und nach­zu­fol­gen. Ich such­te mir eine Pen­si­on in ih­rer Nähe und hoff­te wie­der ein­mal auf­zuat­men, aber nun quäl­te sie eine ah­nen­de Sor­ge um Al­fred. Ich war der Rei­se nach Ve­ne­dig ent­ge­gen ge­we­sen, weil ich wuss­te, dass der sie am tiefs­ten von al­len ih­ren Söh­nen lie­ben­de am we­nigs­ten im­stan­de war, ih­rem See­len­frie­den Rech­nung zu tra­gen. Denn weil er in sei­ner ve­ne­zia­ni­schen Ehe kei­ne Spur von dem häus­li­chen Um­sorgt­sein hat­te fin­den kön­nen, das deut­schen Män­nern ein Be­dürf­nis ist, und es einen geis­ti­gen Um­gang dort für ihn nicht gab, war er in eine Le­bens­wei­se ver­fal­len, die sei­ne Ge­sund­heit aufs schwers­te schä­dig­te und der er bei der feu­rigs­ten Lie­be zu den Sei­nen nicht mehr zu ent­sa­gen ver­moch­te. Da wur­de mit ei­nem Male der Drang zu die­sem Sohn in dem Mut­ter­her­zen un­wi­der­steh­lich, dass sie so­gar den ganz fan­tas­ti­schen Ent­schluss fass­te, al­lein zu ihm zu fah­ren; so blieb mir nichts üb­rig als nach ei­ner Rei­se­ge­sell­schaft für sie zu su­chen. Aber ehe sich Ge­le­gen­heit fand, rief ein Te­le­gramm der An­ge­hö­ri­gen Er­win zu dem jäh­lings Schwe­rer­krank­ten nach Ve­ne­dig. Er fuhr au­gen­blick­lich und kam ge­ra­de recht, ihm die Au­gen zu­zu­drücken, – der zwei­te tief­ge­lieb­te Bru­der, den er in we­ni­ger als zehn Mo­na­ten ster­ben se­hen muss­te. Hat­te der ein­glied­ri­ge aber zähe Ed­gar vier­zehn Tage mit dem Tode ge­run­gen, so fiel Al­freds strot­zen­de Kraft­na­tur auf den ers­ten Streich. Er hat­te kei­nen Wi­der­stand mehr auf­zu­bie­ten, denn bei dem Ver­lus­te die­ses Bru­ders war das Herz in ihm ge­bro­chen. Er hat­te in der Tat mehr ver­lo­ren als alle an­dern. Seit er er­wach­sen war, hat­te er in dem äl­te­ren Bru­der, der ihm in der Wis­sen­schaft wie im Le­ben vor­an­leuch­te­te, sei­nen vä­ter­li­chen Vor­mund und Be­ra­ter ge­se­hen, wie er in der Mut­ter nach wie vor die Füh­re­rin sah, der er zwar oft aber im­mer mit schlech­tem Ge­wis­sen un­ge­hor­sam war. Bei den bei­den je und je ein paar se­li­ge hei­mat­li­che Tage in Flo­renz in der Via del­le Por­te nuo­ve zu ver­brin­gen, das war für ihn der Traum des gan­zen Jah­res. Nun war die­ses gan­ze Flo­renz für ihn ein­ge­stürzt; er saß an Leib und See­le frie­rend in sei­ner letz­ten schö­nen Woh­nung, dem Palaz­zo Fa­lier am Canal Gran­de, und ver­brach­te sei­ne Näch­te ein­sam bei den großen Bü­cher­schät­zen, die er von sei­nem Freund, dem Pas­tor Elze in Ve­ne­dig, ge­erbt hat­te, und beim Wein, der ein trös­ten­des Gift für ihn war.

Als ich mit der To­des­bot­schaft zu der Mut­ter trat, wuss­te sie gleich al­les und saß auch dies­mal wie eine Nio­be, stumm und ohne Trä­nen. Selt­sam war es, dass mich meh­re­re Näch­te zu­vor eine Ah­nung des Kom­men­den in sym­bo­li­scher Wei­se ge­streift hat­te. Es träum­te mir, ich säße in Flo­renz zwi­schen den bei­den äl­te­ren Brü­dern an Ed­gars Schreib­tisch, und die­ser in sei­ner ge­wohn­ten ent­schlos­se­nen Hal­tung setz­te dem Jün­ge­ren, Un­schlüs­si­gen eine Sa­che, die ihn stark zu be­we­gen schi­en, mit Nach­druck aus­ein­an­der, ir­gend et­was Me­di­zi­ni­sches, ein Un­ter­neh­men, zu dem er Al­fred zu über­re­den such­te. Ich hör­te nicht zu, ganz be­fan­gen von der Ver­wun­de­rung, dass die­ser, den ich doch im Sar­ge ge­se­hen hat­te, hier wie­der le­ben­dig vor mir saß. Ich be­nütz­te den ers­ten Au­gen­blick, um ihn mit ge­hemm­ter Zun­ge müh­sam zu fra­gen, wie es ihm jetzt gehe. Er sah mich nach­sich­tig lä­chelnd mit sei­nen durch­drin­gen­den dun­kelblau­en Au­gen an, als ob ich et­was ganz Ver­kehr­tes ge­fragt hät­te, nahm, ohne zu ant­wor­ten, mit den lan­gen spit­zi­gen Fin­gern, die den mei­ni­gen ähn­lich wa­ren, ein Blätt­chen Sei­den­pa­pier vom Tisch, tupf­te mir da­mit vor­sich­tig wie ein Au­gen­arzt die vor­drin­gen­den Trä­nen weg und wand­te sich wie­der – er selbst in je­der Be­we­gung – an Al­fred, der dem Zwang der Über­re­dung nicht län­ger wi­der­ste­hen konn­te und sich noch zö­gernd er­hob, um ihm aus der Tür zu fol­gen.

Auch dies­mal griff ich zu dem schon be­währ­ten Mit­tel, den ers­ten Mut­ter­schmerz zu lin­dern, in­dem ich das Le­bens­bild auch die­ses Ge­schie­de­nen schrieb und es zu­erst in der »All­ge­mei­nen Zei­tung«, dann in mei­nen »Flo­ren­ti­ni­schen Erin­ne­run­gen« ne­ben dem sei­nes Bru­ders ver­öf­fent­lich­te. Dies­mal hat­te ich nicht einen Kämp­fer und Hel­den, nicht einen For­scher und Dich­ter zu schil­dern, nur ein gol­de­nes, an Lie­be und Güte un­er­schöpf­li­ches Herz, einen auf­op­fe­rungs­vol­len Arzt, einen Freund und Schüt­zer al­ler Krea­tur und ein freu­di­ges, sin­nen­fro­hes, aber doch im­mer im Geis­ti­gen ver­wur­zel­tes Tem­pe­ra­ment voll strah­len­der Lau­ne. Die­ses gol­de­ne Herz be­saß rings­um in der Welt Freun­de, de­nen er in sei­nem Ve­ne­dig Gu­tes ge­tan, – bei sei­ner großen Zu­gäng­lich­keit be­saß er de­ren so­gar mehr als sein weit be­deu­ten­de­rer äl­te­rer Bru­der. Sie alle er­reich­te der Nach­ruf in der »All­ge­mei­nen Zei­tung« und er­weck­te die dank­ba­re Erin­ne­rung, dass sie sich mit teil­neh­men­den Brie­fen an die Mut­ter wand­ten und da­mit die ers­te durch den Aus­fall der Soh­nes­brie­fe ent­stan­de­ne Lee­re deck­ten. Aber der Riss ins Le­ben war zu groß ge­wor­den, als dass eine Fort­set­zung des bis­he­ri­gen Zu­stands mög­lich ge­we­sen wäre. Schon der ver­gan­ge­ne Win­ter hat­te ge­zeigt, dass ein trau­li­ches Ei­gen­heim als Nest der Ge­bor­gen­heit und Ar­beits­s­til­le mit dem Müt­ter­lein zu­sam­men sich auch jetzt nicht durch­füh­ren ließ. Ihr be­gin­nen­des Siech­tum, das doch das star­ke Tem­pe­ra­ment nicht dämp­fen konn­te, hin­der­te den Gleich­lauf der Tage. Und nun fehl­te nicht nur Ed­gar, es war auch kein Al­fred mehr da, sie we­nigs­tens aus der Fer­ne zu um­sor­gen. Zwar die strah­len­den Som­mer in For­te konn­te ich ihr und mir noch er­hal­ten. Aber die schö­ne Woh­nung in der Via de’ Bar­di muss­te schließ­lich auf­ge­ge­ben wer­den, nach­dem sie zwei Jah­re lang so gut wie leer ge­stan­den hat­te. Nur der Ein­tritt in eine fest­ge­füg­te, von an­de­rer Hand ge­lei­te­te Haus­ord­nung konn­te die Not wen­den und mir die Kraft zur Pfle­ge und, wenn mög­lich, auch noch ein End­chen Zeit für die Ar­beit am Schreib­tisch wah­ren. Denn die Le­bens­be­schrei­bung mei­nes Va­ters, für die ich noch im letz­ten Som­mer in der Via de’ Bar­di die schrift­li­chen Zeug­nis­se ge­sam­melt und ge­sich­tet hat­te, war ja im ers­ten Sta­di­um des Wer­dens, und die bei­den äl­te­ren Brü­der, auf de­ren Mit­hil­fe ich, wenn auch bloß durch be­le­ben­de per­sön­li­che Erin­ne­run­gen, ge­zählt hat­te, wa­ren da­hin­ge­gan­gen, be­vor ich auch nur in der Lage war, die Ab­sicht mit ih­nen durch­zu­spre­chen. Es gibt ein ita­lie­ni­sches Sprich­wort: Chi ha tem­po non as­pet­ti tem­po, eine Um­for­mung des al­ten Car­pe diem: So gern lässt man ja den nächs­ten Au­gen­blick aus der Hand, auf einen bes­se­ren war­tend, der nicht mehr kommt. Mei­ne Mut­ter war zu fan­ta­sie­voll und zu per­sön­lich be­fan­gen, um als si­che­re his­to­ri­sche Stüt­ze die­nen zu kön­nen. Au­ßer­dem fehl­te es stark an ein­schlä­gi­ger Li­te­ra­tur, die sich in Flo­renz nicht auf­trei­ben ließ. Also war ich wie­der ein­mal fast ganz auf mich sel­ber an­ge­wie­sen, und wenn es mir schieß­lich doch ge­lang, die schwer­wie­gen­de Auf­ga­be zu lö­sen, so habe ich wahr­haf­tig kei­ner Gunst der Um­stän­de zu dan­ken, son­dern ein­zig der Grö­ße und Be­deu­tung des Ge­gen­stands. Da­bei wi­der­fuhr mir der selt­sa­me Irr­tum, dass ich mich in der Vor­re­de zu ei­nem Bruch be­kann­te, der – ver­meint­li­cher­wei­se – durch die jä­hen Schick­sals­stö­ße wäh­rend der Ar­beit in die Dar­stel­lung ge­kom­men wäre. Es soll nur nie­mand glau­ben, ein Un­recht, das er sich sel­ber ge­tan, wer­de je von frem­der Sei­te be­rich­tigt wer­den; ist eine For­mel ge­prägt, so bleibt sie ste­hen. Die Kri­tik, die im üb­ri­gen das Buch sehr warm auf­nahm, be­mäch­tig­te sich mei­nes falschen Ge­ständ­nis­ses, und ich be­kam wie­der und wie­der zu hö­ren, dass ein Bruch durch das Buch gehe. Als ich aber nach Jahr und Tag ein­mal sel­ber das Buch mit un­be­fan­ge­nen Au­gen mus­ter­te, ent­deck­te ich, dass da von ei­nem Bruch kei­ne Spur war: die­ser war nur durch mei­ne ei­ge­ne See­le ge­gan­gen! Bei der jüngs­ten Neu­auf­la­ge nun, aus der be­sag­tes Vor­wort weg­b­lieb, ge­sch­ah das Son­der­ba­re, dass die Kri­tik mich we­gen der end­li­chen Ent­fer­nung des stö­ren­den »Bru­ches« be­lob­te, in Wahr­heit war je­doch der Text – fo­to­gra­fiert!

94,80 ₽
Возрастное ограничение:
18+
Объем:
5251 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783962812515
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
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