Nun war vor allem Edgars schriftlicher Nachlass zu sichten, seine Tagebücher und die Gedichte, deren Zahl und Vortrefflichkeit mich in Erstaunen setzten. Mir waren eigentlich nur die »Gespensterlieder« bekannt, die er mir handschriftlich gewidmet hatte, köstliche Zeugnisse von der Feinheit seines Humors, und seine Übersetzung Toskanischer Volkslieder, die er mir hatte öffentlich zueignen wollen, was augenscheinlich an Empfindlichkeiten von anderer Seite scheiterte. Die Herausgabe dieser Lieder war seine letzte Freude gewesen, er sollte sie auf dem Sterbebette noch erleben. Es sind die gleichen Texte, die auch Heyse in seinem italienischen Liederbuch übersetzt hat. Dieser schrieb, seine eigene Übersetzung gefalle ihm besser, was ihm gewiss niemand verübeln konnte. Allein der in allen Sätteln gerechte Übersetzer hatte sich eine literarische Aufgabe gestellt: die klangschöne, nach Rhythmus und Wortsinn möglichst angenäherte Wiedergabe der italienischen Verse. Edgar suchte etwas völlig anderes. Die volkstümliche Naivität der toskanischen Lieder, die sich mit ihrer durchgehenden Getragenheit und gleichmäßigen Metrik doch nicht allzuweit von der Kunstsprache entfernen, wollte er in den wechselreicheren Ton des deutschen Volkslieds übertragen, wozu er durch mancherlei ihn überraschende Verwandtschaft des sprachlichen Ausdrucks angeregt wurde. So wie ein deutscher Volksdichter diesen Inhalt als Neuschöpfung behandelt hätte. Das sind zwei Möglichkeiten, eine literarische und eine volksmäßige, die beide ihre Berechtigung haben.
Die folgenden Wochen waren ausgefüllt von der Arbeit an dem Lebensbild des Verstorbenen, dass eigentlich gar keine Trauer aufkam: ich hatte ihn näher als er mir seit langen Jahren gewesen. Ich sah ihn, wie er neben mir aufgewachsen war, in zartester Jugend schon seine Begabung und seine Eigenheiten verratend, mit leidenschaftlicher Einseitigkeit auf Einen Punkt gespannt und ihn wieder verwerfend, wenn eine neue Stufe erstiegen war. Ich sah ihn als siebzehnjährigen Studenten der Philologie, als zwanzigjährigen Doktor der Medizin, zugleich in seiner Eigenschaft als Assistent an der Frauenklinik schon Lehrer im Fach der Gynäkologie, bei dem viel ältere Studierende hörten. Aus einem übermütigen Jugendtreiben heraus durch den Tod des Vaters schneller gereift, sich an auswärtigen Universitäten weiterbilden, um schließlich, weil ihm die Heimat das Rechte nicht bieten konnte und er nicht in irgendeiner Enge versauern wollte, kurzerhand zum Wanderstab greifen und uns alle nachziehen. Und nun erst in Florenz, in einer hohen und feinen Umwelt das werden, wozu die Natur ihn angelegt hatte: der Heilende und der Helfer mit dem durchdringenden Scharfsinn und dem fast weiblich feinen Einfühlen in die Zustände der Kranken, die ihn anbeteten und ihm blindlings vertrauten: der Mensch, der überall da eintrat, wo anderen der Mut zur Verantwortung ausging, denn zu den verzweifeltsten Fällen wurde Er gerufen, und wo keine Heilung möglich, die Qualen unerträglich wurden, da hatte er auch den Mut, sie mit lindernder Hand abzukürzen, ein Brückenbauer in das Land des ewigen Schlafs.
Und doch, wie sehr war auch er bei aller Weltweite und allem Weltverkehr Sohn seines Vaters, dass er seinen glühenden Ehrgeiz nur auf das Hochziel, dem er diente, nie auf persönlichen Vorteil richtete. So streifte auch ihn, den Weltkundigen, das Geschick des weltunkundigen Vaters, dass er ohne äußeren Lohn gedient hatte. Auch an ihm gingen die äußeren Ehren und Würden vorüber, weil er nicht dienern konnte. Die Größen seiner Wissenschaft in Deutschland anerkannten ihn nach Gebühr, sie besuchten ihn auf der Durchreise und standen mit ihm im Briefwechsel. Aber an den Stellen, wo Gewinn und Auszeichnungen zu holen sind, wurde seiner nicht gedacht. Er hatte statt Liebedienerei und Klüngelwesen nur Leistungen aufzuweisen, ein stehender Familienzug, und was ist Leistung, die sich selbst genugtun will? Man lässt es auch damit genug sein; sonst hätte ihm eine führende Stellung an irgendeiner deutschen Klinik zufallen müssen, wo er für sein Können und seinen Charakter ein ganz anderes Betätigungsfeld gefunden hätte als in der Privatpraxis. Vor wenigen Jahren, fast drei Jahrzehnte nach seinem Hingang, erfreute mich ein jüngerer, auf solchem Posten befindlicher Fachkollege des Frühgeschiedenen durch die Mitteilung, dass mein Bruder in der Wissenschaft keineswegs vergessen sei und dass eine seiner chirurgischen Erfindungen, die »Kurzsche Nadel«, immer im Gebrauch geblieben sei, weil sie, ebenso einfach und zweckgerecht wie die Dinge der Natur, gar nicht ersetzt noch verbessert werden könne.
Als ich mit dem Lebensbild fertig war, das erstmals in den »Süddeutschen Monatsheften« erschien, jubelte das Mutterherz. Ich hatte mich nicht in ihr getäuscht. Ihren Liebling so dargestellt zu sehen, wie er in sich selber war, dass auch die Fernerstehenden und die ganz Fremden einen Hauch seines Wesens verspürten, machte sie selig. Ich bin eine maßlos ehrgeizige Mutter, sagte sie meinen Arm pressend. Du hast ihn mir so wiedergegeben, dass alle Mütter mich um einen solchen Sohn beneiden müssen. Die Briefe, die von den Kollegen, von Vertretern der Wissenschaft, von Männern der Feder an mich gerichtet wurden, ließ ich durch seine Mutter beantworten, die dadurch gar nicht aus einer seligen Hochspannung kam und ganz vergaß, dass es ein Toter war, dem alle die Bewunderung und Liebe galt. Sie ließ ihn einfach nicht tot sein. Und als gar Frauen, die ihn lebend nicht gekannt hatten, ihr Herz nachträglich an den hochgesinnten ritterlichen Menschen verloren, schrieb sie ihren überschwenglichen Dank in ein heimlich geführtes poetisches Tagebuch, das ich nach ihrem Tod finden sollte:
O sei gesegnet mir viel tausendfach,
Die du den Bruder riefest wieder wach,
In solchem Glanz ihn ließest auferstehen
Um als Eroberer einherzugehen – – –
Der Zweck war erreicht, ihr Sohn lebte wieder.
Eine zweite Freude konnte ich ihr machen durch die Herausgabe einer größeren Auswahl seiner Gedichte bei Cotta. Aber der Widerhall, den man wohl erhoffen durfte, blieb aus; er war auch darin Sohn seines Vaters. Freund Kröner sagte mir damals, es gebe im ganzen Buchhandel nichts so Unberechenbares wie den Erfolg von Gedichten. So sind sie leider aus dem Buchhandel verschwunden, wo so vieles Wertlose weiterlebt. Um wenigstens einen kleinen Auszug aus dem größeren von 1904 der Allgemeinheit zu erhalten, füge ich hier einen Längsschnitt durch sein Dichten, das zugleich ein Längsschnitt durch sein Leben ist, ein, denn Edgar hat nie eine Zeile geschrieben, die nicht augenblicklicher Ausfluss des Erlebten gewesen wäre: sein Dichten war wie das Harz, das aus einem Riss der Baumrinde quillt. Da ist zuerst der Sturmwind innerer Leidenschaft, der durch die Lieder des Jünglings braust und immerzu Tod und Leben zum Kampfe herausfordern muss, ja sogar des Nachts auf dem Friedhof bei den stillen Toten, zu denen es ihn hinauszieht, umsonst den Frieden sucht:
Kein Todesschauer dämpft den Lebensmut,
Noch heißer über Gräbern kocht mein Blut,
Wer kühlt, die mich verzehrt, die wilde Glut?
Wie glücklich sind die Toten!
Dann kommt all das Schwelgen und Tollen der durchzechten Nächte, dazwischen das geistige Suchen und Ringen bei einsamer mitternächtlicher Studierlampe, wobei weder das eine noch das andere die zehrende Unruhe beschwichtet:
Ruhelos
Laut tönt vom Turm der Glocke Schlag
In stiller Mitternacht.
So hab’ ich stets den andern Tag
Herangewacht.
Und schlägt es eins, ich wache fort
Bei meiner Lampe Licht,
Denn Ruhe, dieses Labewort,
Ich kenn’ es nicht.
Bald sitz’ ich schwärmend beim Gelag,
Bald sinnend und allein.
Die Sonne ist mir und mein Tag
Der Lampenschein.
Flücht’ ich mich in des Schlafes Port,
Was hilft, was nützt mir das?
Es ringt mein Geist im Traume fort,
Weiß nicht nach was.
Es kommt Frauenliebe, rasch mit vollem Gefühl ergriffen und wieder aus der Hand gelassen, denn es ist ja nie das Rechte und Bleibende bei diesem Don Juan wider Willen, der so gerne treu geblieben wäre, hätte er irgend gekonnt:
Ich bin noch immer der alte Narr,
Ich kenne mich jetzt zur Genüge,
Stets täuscht mich wieder der freundliche Trug
Und trügt mich die liebliche Lüge.
Doch wenn mir einmal die Wahrheit blinkt,
Dann muss es anders gären
Und sieden und kochen in meinem Blut
Und Mark und Hirn verzehren – – –
Ach, es gärte und kochte wohl noch lange so weiter, aber die Partnerin zu solch himmelhohem Gefühlsleben sollte auch er niemals finden. Zumeist sind es Abenteuer wie bei dem
Märchen
(Aus einem Zyklus Wiener Erinnerungen)
Ich wandelte am Ring zu später Stunde,
Wo ich oft halbe Nächte schon verbracht,
Der Weltstadt Tosen schwieg in weiter Runde,
Und still und einsam war die Nacht.
Ein Wagen kommt, derweil ich fürbass schreite,
Der hätte mich beinahe überrannt.
Er hält. Ich wende mich und will zur Seite,
Da winkt mir eine kleine Hand.
Ich steige ein. Nun geht’s durch viele Gassen.
Ein altes Schloss ist unser Ziel zuletzt.
Wer bist du, schöne Maid? Ich kann’s nicht fassen,
Und wohin führest du mich jetzt?
Doch küssend spricht die Kleine: Lass das Sorgen,
Ich bin ein Märchen, nur für dich erdacht.
Ich bin ein Traum, o träume bis zum Morgen!
Der Vorhang fällt, und es ist Nacht. – –
Am Morgen, als es kaum beginnt zu tagen,
Irr’ ich umher. Wo bin ich? Wär’ mir’s klar!
Ja – wo ich bin, das kann ich jeden fragen,
Allein, wer sagt mir, wo ich war?
Aus derselben leichtherzigen Tonart geht
Der Liebe Furcht
In der Nacht nach jenem Tag
Sprach mein Lieb mich von sich drängend:
Warum rückst du mir so nah?
Ach, ich fürchte mich vor dir.
An dem Tag nach jener Nacht
Sprach mein Lieb sich an mich schmiegend:
Warum willst du von mir gehen?
Ach, ich fürcht’ mich ohne dich.
Aber die Liebe hat auch innigere Töne: Da ist ein ergreifendes Erleben des Arztes:
Und seh’ ich dich mit roten Wangen,
So wird mir in der Seele weh,
Mich fasst ein unnennbares Bangen,
Du bleiche Maid, ach Gott, ich seh’,
Ich seh’, ich seh’ die weiße Rose
In Purpur krankhaft schön erblühn,
Dem unabwendbar blassen Lose
In hastiger Glut entgegenglühn.
Ich seh’s und ach, ich kann nicht wehren,
Du bleiches Lieb, der Fieberglut,
Ich wein’, ich weine herbe Zähren,
Die Krankheit kenn’ ich, ach, zu gut.
Da ist das späte Wiedersehen mit einer Jugendneigung:
Ein Bild tritt wieder
In meine Ruh:
Herz meiner Lieder,
Annina, du.
Dahin, vergangen
Ist unsere Zeit.
Warum so befangen
Nahst du mir heut?
Was blickt durch Tränen
Dein Aug’ mich an?
Fruchtloses Sehnen,
Verlorner Wahn.
Uns wies das Leben
Getrennten Stand,
Was drückst mit Beben
Du meine Hand!?
Entschwundene Tage,
Verklungnes Glück
Bringt keine Klage,
Kein Wunsch zurück.
Herzen wie dieses verzehren sich in lauen Friedenstagen, da sie nicht finden, wofür sich selber würdig vergeuden, und weder Freund noch Feind ihrer wert achten. Aber der Jüngling ist nun zum Manne gereift und flüchtet sich in die Strenge der Pflicht, die fortan mit ihm gehen wird und ihm durch sich selber lohnen, solange er lebt:
Auf einem Berufsgang
Es bläst der Wind, der Regen gießt in Strömen,
Die schwarze Wolke stellt sich vor den Mond,
Im Dunkeln heißt die Pflicht den Weg mich weiter nehmen!
So sei ich durch mich selbst belohnt.
Ich will die Schmerzen kühlen
Und meiner Seele Not
Im Kampf mit Wind und Wetter,
Im Ringen mit dem Tod.
Diese Kehrseite der Schwelgerei, den Tag und Nacht zur äußersten Leistung und Selbstverleugnung gespannten Helferwillen, muss man im Auge behalten um zu begreifen, wie stark die Kerze fort und fort an beiden Enden gebrannt hat. Aber endlich, da das Fieber nachlässt, wird ihm seine Poesie zu der warmen Asche in der, wenn man sie aufrührt, ein so reizendes Funkenspiel sich schlängelt. Jetzt ist nichts Persönliches mehr dabei, eine heitere Laune treibt mit den Dingen und dem eigenen Ich ihren Scherz wie in dem:
Heimritt
Zäumt mir meinen Pegasus
Mit den langen Ohren,
Weil ich heut noch reiten muss
In das Land der Toren.
Grauer, hast auf diesem Weg
Dich noch nie verloren,
Kenn’ ich selbst doch Weg und Steg,
Bin ja dort geboren.
Und so reit’ ich wieder heim,
Weil ich Heimweh habe,
Wechsle nunmehr auch den Reim
Und den Schritt zum Trabe.
In der Fremde legt’ ich brach
Meine beste Gabe;
War wie andre klug und, ach,
Ernsthaft wie ein Schwabe.
Bin nun all des Ernstes satt,
Geb dem Tier die Sporen.
Im Galopp zur Narrenstadt!
Noch ist nichts verloren.
Frisches Leben, Saus und Braus,
Bin wie neugeboren,
Ewig bleib’ ich jetzt zu Haus
In dem Land der Toren.
Gerade in der leichten unpersönlichen Gattung findet er seinen vollen Persönlichkeitsstil, dass, wer ihn kannte, zuweilen eine mündliche Redeweise heraushört. So in dem liebenswürdigen:
Ringelreihen
(zu einem von seinem Töchterchen
gemalten Bildchen)
Elfenkinder so rund und klein
Tanzen in lustigem Ringelreihn
Wohl um die schweigende Eule.
Denkt sich die Eule: bin ich ihr Gott?
Oder bin ich nur Kinderspott?
Ob ich jetzt lach’ oder heule?
Aber die Krone seines Humors sind die Gespensterlieder, eine andere Art von Totentanz, worin der ärztliche Dichter die verschiedensten menschlichen Typen ihr teils barockes, teils schauerliches Wesen weitertreiben lässt. Die Versuchung ist groß, alle herzusetzen, aber ich beschränke mich auf einige der treffendsten Proben:
Der Ängstliche
Um Mitternacht, im Mondenschein,
Sitz’ ich auf meinem Leichenstein,
Doch feucht und neblig wird die Luft,
Drum kreuch’ ich ein in meine Gruft.
Der Eifersüchtige
Als ich im stillen Grabe lag und schlief,
Hört’ ich wie einer meinem Schätzlein rief.
Da warf ich alle Erde schnell empor
Und sprang heraus und schlug dem Kerl aufs Ohr.
Der Geizhals
In meinem Grabe find’ ich keine Ruh,
Umsonst sind meine Augen tot und zu.
In jeder Nacht muss ich den Sarg verlassen,
Durchs Fenster schaun, wie meine Erben prassen.
Von meinem Wein gilt’s heut das letzte Glas,
O mehr als alle Würmer wurmt mich das.
Der Gelehrte
Kein Lebender kann meine Qual ermessen:
Ich wälze mich im Sarge hin und her,
Aus einem Buche hab’ ich was vergessen,
Wenn ich mich doch besänne, was es wär!
Behandelt’s die Unsterblichkeit der Seele?
Das Dasein Gottes? Gott, ich werde krank!
Wie ich mir meinen hohlen Schädel quäle,
Ich muss hinauf an meinen Bücherschrank.
Ich such’ und suche in dem alten Buche,
Einst war mir jede Zeile doch bekannt,
Und eben find’ ich beinah was ich suche,
Da werd’ ich plötzlich schnöd hinweggebannt.
Es kommt mit Licht des Hauses alter Meister –
Als ich noch lebte, diente er mir gern,
Jetzt ruft er schaudernd: Alle guten Geister
Die loben Gott den Herrn!
Der Stutzer
Sie haben mich in meinem Frack begraben,
Das freut mich sehr, das wollt’ ich eben haben.
Auch sitzt die weiße Binde ganz korrekt,
Die Stiefel sind so blank als wie geleckt.
Mein Stöckchen ziert der Schmuck des Elfenbeins,
So promenier’ ich nachts von Zwölf bis Eins.
Und dass ich tot bin, sieht mir niemand an,
Zwei Dirnlein flüstern: Welch ein hübscher Mann.
Der Raufbold
Das Totsein wäre gar zu arg,
Hätt’ ich mein Schwert nicht mit im Sarg,
Und hei! ich höre Degenklirren.
Welch frech Gesindel kämpft auf meiner Gruft?
Ich muss dabei sein! Hurra! Frische Luft!
Die Terzen pfeifen und die Quarten schwirren,
Schon stürmt ein junger Fant auf mich daher,
Wie ist mir heute doch der Arm so schwer!
Die Terzen schwirren und die Quarten sausen,
Der Hieb saß gut!
Mein Schädel klafft. Der Gegner sieht mit Grausen:
Aus dieser breiten Spalte fließt kein Blut.
O weh der Schmach von einem grünen Jungen!
Als ich noch lebte, wär’s ihm nicht gelungen.
Ins Grab schleich’ ich zurück aus dem Gefecht.
Ich weiß es jetzt, die Toten fechten schlecht.
Der Totengräber
Seid still, ihr Tote, lärmt nicht immerzu!
Bleibt starr und steif in euren Gräbern liegen!
Gebt endlich doch hier unten Fried’ und Ruh
Und lasst euch in den ewigen Schlummer wiegen!
Legt euch aufs Ohr! Was wollt ihr Beßres haben?
Ich hab’ euch tief, ich hab’ euch gut begraben.
Der neue Totengräber ist ein Wicht,
Sein edles Handwerk, das versteht er nicht.
Mich selbst, den alten Meister unsrer Zunft,
Verscharrt’ er ohne jegliche Vernunft.
Ihr habt es gut, nur ich hab’ Grund zur Klage,
Hab’ keine Ruh bei Nacht und nicht am Tage,
Es quält mich euer beinernes Geklapper
Und der Lebendigen läppisches Geplapper.
Und heute Nacht schon gräbt der schlechte Bube
Aufs neue wieder eine schlechte Grube,
Nun steig’ ich auf und stelle ihm ein Bein
Und stürz’ ihn in sein eignes Grab hinein.
Edgars Poesie ist ein Garten voll heimatlicher und südländischer Flora, wo inmitten des Blumengemischs ein Häuflein verkauzter Gnomen am Boden hockt, an denen er sich gleichfalls von Herzen ergötzt.
Über diesen Gedichten geschah es mir, dass ich den Bruder seit unseren Kindertagen zum ersten Mal wieder richtig sah. Der ganze Mensch eine federnde Stahlkraft, unbesiegbar in Männerfehden, immer besiegt von Frauen, die er nicht kannte und zu sich in ein Reich der Poesie erhob, wo sie nicht beheimatet waren. Dieses vulkanisch gelebte und doch so zart gefühlte Leben, das wie hinter einem eisernen Vorhang vor sich gegangen war, löste mir viele Rätsel seiner wechselnden Stimmungen, und nachträglich ergriff es mich, wie er mir, nicht gerade oft, aber doch immer wieder einmal mit einer eigenen Weichheit begegnet war wie mit einem leisen Werben: Versteh mich doch, ich bin ja der alte. Aber ehe ich die Hand ausstrecken konnte, war schon wieder eine Störung dazwischengetreten, und so standen wir uns nicht getrennt und nicht verbunden, immer felsenfest aufeinander vertrauend, aber lebenslang im gleichen Abstand gegenüber.
Die Lenze schwinden,
Die Sommer verglühen,
Durchs Fenster nur seh ich
Die Blumen blühen
Und hör das Leben, das lockt und lärmt.
Mich rufen klagend
Des Lebens Stimmen,
Ich hüt’ ein Lämpchen, das im Verglimmen,
Wenn draußen die Freude vorüberschwärmt.
Ich folg’ ihr nimmer, ich horch’ in Zagen
Auf eines Herzens schwächeres Schlagen,
Das mit dem meinen sich freut und härmt.
Und möchte die Stunde
Umklammern und halten,
Die noch mit süßen Liebesgewalten
Das sterbende Lämpchen durchhellt und wärmt.
In den ersten Tagen nach Edgars schnellem Aufbruch war es gewesen, als ob er alle, die er einst mit sich nach Italien gezogen, auch jetzt wieder nachziehen müsse; war ja selbst sein Freund, der lebenslustigste aller Menschen, vorübergehend dem Eindruck erlegen, als ob das Leben jetzt ganz leer und ausgelebt sei. Bei der Mutter hatte ich diese Stimmung durch das verklärte Lebensbild ihres Einzigen – denn das war und blieb er ihr neben allen seinen Geschwistern – gleich zu Anfang ablenken können. Aber würde der leichte Champagnerrausch, in den sie versetzt war, vorhalten? Das Wunder geschah, er hielt vor. Sie verbrachte die Stunden damit, seine Gedichte, die sie mit auswählte, für den Druck abzuschreiben und schrieb sie immer von neuem ab, für sich und andere. Auch in Forte, wo sie nun niemals wieder die geliebteste Gestalt aus dem Nachbarhause treten sah, erwies sich die fast unglaubliche Unabhängigkeit ihrer Liebe von der sinnlichen Erscheinung. Dazu halfen auch die Freunde mit, für die er gleichfalls ein Lebendiger blieb. Vor allen anderen, wie sich’s versteht, sein zweites Ich, sein Carlo Vanzetti.
Gleich nach Edgars Tod hatte Hildebrand gegen mich die Meinung geäußert, dieser werde nun ohne den Freund in sein Nichts zurücksinken. Aber Vanzetti war ein Stück Volk und darum unverderblich. Der strengen Wissenschaftlichkeit Edgars gleichsam entschlüpfend, ließ er jetzt seiner magischen Natur erst recht die Zügel schießen. Er geriet beim Landvolk in den Ruf eines Wundertäters, und auch viele von den fremden Badegästen, für die er noch etwas von dem Nimbus Edgars an sich trug, gewann er für seine Kuren. Was er verschrieb, kam weniger in Frage, der Glaube tat es, den er besaß wie irgendein Magier. Dass auch mein Mütterlein dem Zauber verfiel, war für mich ein großer Segen; ich konnte sie ihm zuweilen zur Obhut überlassen und mich innerlich ausrasten. Er hatte die eigene Mutter verloren, an der er mit so ängstlicher Liebe hing, dass er nie den Mut fand, ihr Herz zu behorchen, und ihre Behandlung Edgar überlassen hatte; so verstand er meine Bangnis und war trotz seiner Leichtherzigkeit immer zur Hand, wenn man den Arzt brauchte. Wenn er pfeifend am Strande herankam, von der Jugend und der Weiblichkeit wie ein Rattenfänger umschwärmt, so glänzte sie auf und zählte die Schritte, bis er mit einer rauschenden Woge von Fröhlichkeit ins Haus trat. Trotz aller äußeren und inneren Unähnlichkeit sah sie doch immer ein Stück Edgar in ihm. Seit er ganz frei von geistigen Belangen nur noch die Bauernhöfe in den Bergwäldern aufsuchte oder am Strand mit seinen Patienten Ball und Boccia spielte, erinnerte er mit den zugespitzten Ohren unter dem dunklen Ringelhaar mehr und mehr an Pan, den ländlichen Gott. Da er nicht wusste, was das für ein Ding war, so ließ ich ihm zu seinem Entzücken aus Berlin ein Lichtbild von dem schönen Pan des Signorelli im Friedrichsmuseum kommen, zu dessen bocksfüßiger Majestät die Lebensalter ihre Wünsche und Klagen bringen; in dieser Gestalt erkannte er sich selbst. Nur die schmerzliche Tragik im Angesichte des Gottes war ihm fremd; in solche Tiefen drang die unbeschwerte Seele nicht, die auch längst schon die Trauer um den verlorenen Freund in heiter liebende Erinnerung verkehrt hatte.
Meine Mutter war bis zu Edgars Tod niemals ernstlich krank gewesen mit Ausnahme eines einzigen Falles im Vorjahr, der auf eine bei Krankenpflege im Hause des Sohnes, von der sie sich nicht abhalten ließ, geholte Überanstrengung zurückging. Ich hatte sie damals bei mir gehabt und gesund gepflegt; die glückliche Seelenverfassung hatte dem Körper schnell wieder aufgeholfen. Jetzt war es anders. Die vorigen beängstigenden Erscheinungen stellten sich von Zeit zu Zeit aufs neue ein, und da war in ihrem Florenz kein Edgar mehr, sie richtig zu überwachen. Der erste neue Anfall trat auf, als sie es durchgesetzt hatte, mit Freunden in deren Wagen den Vielgeliebten auf Trespiano zu besuchen, wobei es auf der Heimfahrt gerade an der steilsten Stelle zum Zusammenstoß mit einem anderen Fuhrwerk kam. Sie trug zwar keine Verletzung davon, denn man fuhr noch nicht mit Benzin, wohl aber eine starke Erschütterung, sodass sie sich für Tage legen musste, für sie eine harte Zumutung. Von da an konnte ihre flammende Seele nicht mehr verheimlichen, dass es eine Achtundsiebzigjährige war, die der Tod ihres Lieblings ins Herz getroffen hatte! Sie war nicht krank, aber sie kränkelte, ein Rad war gebrochen in dem so wunderbaren Gefüge, wenn es auch weiter arbeitete. Auch das Zusammenleben wurde schwieriger: Gesichter, die sie nicht gerne sah, durften nicht mehr ins Haus, gleichviel, in welche Lage ich dadurch geriet. Für sie war es das Recht des Unglücks, auch Ungerechtes zu fordern, und ich musste willfahren, um schlimmste Krisen zu vermeiden –, nicht weil sie meine Mutter, sondern weil sie mein Kind war, mein schwer getroffenes Kind, das, wie ich mir nicht verhehlen konnte, jetzt seine letzten Kräfte verbrauchte. Den Verbrauch verlangsamen, schonen und wieder schonen war das einzige, was zu tun blieb. Aber nur die Sommer in Forte taten ihr noch wohl; in dem ihr öde gewordenen Florenz hatte sie keine Ruhe mehr. Bald zog sie’s nach Venedig, wo Alfred immer sehnsuchtsvoller die Arme nach seiner Mutter ausstreckte, bald nach München zu Erwin. Die Wahl fiel auf München, wohin ich sie in Begleitung von Hildebrands vorausreisen ließ, um selber die Wohnung aufzuräumen und nachzufolgen. Ich suchte mir eine Pension in ihrer Nähe und hoffte wieder einmal aufzuatmen, aber nun quälte sie eine ahnende Sorge um Alfred. Ich war der Reise nach Venedig entgegen gewesen, weil ich wusste, dass der sie am tiefsten von allen ihren Söhnen liebende am wenigsten imstande war, ihrem Seelenfrieden Rechnung zu tragen. Denn weil er in seiner venezianischen Ehe keine Spur von dem häuslichen Umsorgtsein hatte finden können, das deutschen Männern ein Bedürfnis ist, und es einen geistigen Umgang dort für ihn nicht gab, war er in eine Lebensweise verfallen, die seine Gesundheit aufs schwerste schädigte und der er bei der feurigsten Liebe zu den Seinen nicht mehr zu entsagen vermochte. Da wurde mit einem Male der Drang zu diesem Sohn in dem Mutterherzen unwiderstehlich, dass sie sogar den ganz fantastischen Entschluss fasste, allein zu ihm zu fahren; so blieb mir nichts übrig als nach einer Reisegesellschaft für sie zu suchen. Aber ehe sich Gelegenheit fand, rief ein Telegramm der Angehörigen Erwin zu dem jählings Schwererkrankten nach Venedig. Er fuhr augenblicklich und kam gerade recht, ihm die Augen zuzudrücken, – der zweite tiefgeliebte Bruder, den er in weniger als zehn Monaten sterben sehen musste. Hatte der eingliedrige aber zähe Edgar vierzehn Tage mit dem Tode gerungen, so fiel Alfreds strotzende Kraftnatur auf den ersten Streich. Er hatte keinen Widerstand mehr aufzubieten, denn bei dem Verluste dieses Bruders war das Herz in ihm gebrochen. Er hatte in der Tat mehr verloren als alle andern. Seit er erwachsen war, hatte er in dem älteren Bruder, der ihm in der Wissenschaft wie im Leben voranleuchtete, seinen väterlichen Vormund und Berater gesehen, wie er in der Mutter nach wie vor die Führerin sah, der er zwar oft aber immer mit schlechtem Gewissen ungehorsam war. Bei den beiden je und je ein paar selige heimatliche Tage in Florenz in der Via delle Porte nuove zu verbringen, das war für ihn der Traum des ganzen Jahres. Nun war dieses ganze Florenz für ihn eingestürzt; er saß an Leib und Seele frierend in seiner letzten schönen Wohnung, dem Palazzo Falier am Canal Grande, und verbrachte seine Nächte einsam bei den großen Bücherschätzen, die er von seinem Freund, dem Pastor Elze in Venedig, geerbt hatte, und beim Wein, der ein tröstendes Gift für ihn war.
Als ich mit der Todesbotschaft zu der Mutter trat, wusste sie gleich alles und saß auch diesmal wie eine Niobe, stumm und ohne Tränen. Seltsam war es, dass mich mehrere Nächte zuvor eine Ahnung des Kommenden in symbolischer Weise gestreift hatte. Es träumte mir, ich säße in Florenz zwischen den beiden älteren Brüdern an Edgars Schreibtisch, und dieser in seiner gewohnten entschlossenen Haltung setzte dem Jüngeren, Unschlüssigen eine Sache, die ihn stark zu bewegen schien, mit Nachdruck auseinander, irgend etwas Medizinisches, ein Unternehmen, zu dem er Alfred zu überreden suchte. Ich hörte nicht zu, ganz befangen von der Verwunderung, dass dieser, den ich doch im Sarge gesehen hatte, hier wieder lebendig vor mir saß. Ich benützte den ersten Augenblick, um ihn mit gehemmter Zunge mühsam zu fragen, wie es ihm jetzt gehe. Er sah mich nachsichtig lächelnd mit seinen durchdringenden dunkelblauen Augen an, als ob ich etwas ganz Verkehrtes gefragt hätte, nahm, ohne zu antworten, mit den langen spitzigen Fingern, die den meinigen ähnlich waren, ein Blättchen Seidenpapier vom Tisch, tupfte mir damit vorsichtig wie ein Augenarzt die vordringenden Tränen weg und wandte sich wieder – er selbst in jeder Bewegung – an Alfred, der dem Zwang der Überredung nicht länger widerstehen konnte und sich noch zögernd erhob, um ihm aus der Tür zu folgen.
Auch diesmal griff ich zu dem schon bewährten Mittel, den ersten Mutterschmerz zu lindern, indem ich das Lebensbild auch dieses Geschiedenen schrieb und es zuerst in der »Allgemeinen Zeitung«, dann in meinen »Florentinischen Erinnerungen« neben dem seines Bruders veröffentlichte. Diesmal hatte ich nicht einen Kämpfer und Helden, nicht einen Forscher und Dichter zu schildern, nur ein goldenes, an Liebe und Güte unerschöpfliches Herz, einen aufopferungsvollen Arzt, einen Freund und Schützer aller Kreatur und ein freudiges, sinnenfrohes, aber doch immer im Geistigen verwurzeltes Temperament voll strahlender Laune. Dieses goldene Herz besaß ringsum in der Welt Freunde, denen er in seinem Venedig Gutes getan, – bei seiner großen Zugänglichkeit besaß er deren sogar mehr als sein weit bedeutenderer älterer Bruder. Sie alle erreichte der Nachruf in der »Allgemeinen Zeitung« und erweckte die dankbare Erinnerung, dass sie sich mit teilnehmenden Briefen an die Mutter wandten und damit die erste durch den Ausfall der Sohnesbriefe entstandene Leere deckten. Aber der Riss ins Leben war zu groß geworden, als dass eine Fortsetzung des bisherigen Zustands möglich gewesen wäre. Schon der vergangene Winter hatte gezeigt, dass ein trauliches Eigenheim als Nest der Geborgenheit und Arbeitsstille mit dem Mütterlein zusammen sich auch jetzt nicht durchführen ließ. Ihr beginnendes Siechtum, das doch das starke Temperament nicht dämpfen konnte, hinderte den Gleichlauf der Tage. Und nun fehlte nicht nur Edgar, es war auch kein Alfred mehr da, sie wenigstens aus der Ferne zu umsorgen. Zwar die strahlenden Sommer in Forte konnte ich ihr und mir noch erhalten. Aber die schöne Wohnung in der Via de’ Bardi musste schließlich aufgegeben werden, nachdem sie zwei Jahre lang so gut wie leer gestanden hatte. Nur der Eintritt in eine festgefügte, von anderer Hand geleitete Hausordnung konnte die Not wenden und mir die Kraft zur Pflege und, wenn möglich, auch noch ein Endchen Zeit für die Arbeit am Schreibtisch wahren. Denn die Lebensbeschreibung meines Vaters, für die ich noch im letzten Sommer in der Via de’ Bardi die schriftlichen Zeugnisse gesammelt und gesichtet hatte, war ja im ersten Stadium des Werdens, und die beiden älteren Brüder, auf deren Mithilfe ich, wenn auch bloß durch belebende persönliche Erinnerungen, gezählt hatte, waren dahingegangen, bevor ich auch nur in der Lage war, die Absicht mit ihnen durchzusprechen. Es gibt ein italienisches Sprichwort: Chi ha tempo non aspetti tempo, eine Umformung des alten Carpe diem: So gern lässt man ja den nächsten Augenblick aus der Hand, auf einen besseren wartend, der nicht mehr kommt. Meine Mutter war zu fantasievoll und zu persönlich befangen, um als sichere historische Stütze dienen zu können. Außerdem fehlte es stark an einschlägiger Literatur, die sich in Florenz nicht auftreiben ließ. Also war ich wieder einmal fast ganz auf mich selber angewiesen, und wenn es mir schießlich doch gelang, die schwerwiegende Aufgabe zu lösen, so habe ich wahrhaftig keiner Gunst der Umstände zu danken, sondern einzig der Größe und Bedeutung des Gegenstands. Dabei widerfuhr mir der seltsame Irrtum, dass ich mich in der Vorrede zu einem Bruch bekannte, der – vermeintlicherweise – durch die jähen Schicksalsstöße während der Arbeit in die Darstellung gekommen wäre. Es soll nur niemand glauben, ein Unrecht, das er sich selber getan, werde je von fremder Seite berichtigt werden; ist eine Formel geprägt, so bleibt sie stehen. Die Kritik, die im übrigen das Buch sehr warm aufnahm, bemächtigte sich meines falschen Geständnisses, und ich bekam wieder und wieder zu hören, dass ein Bruch durch das Buch gehe. Als ich aber nach Jahr und Tag einmal selber das Buch mit unbefangenen Augen musterte, entdeckte ich, dass da von einem Bruch keine Spur war: dieser war nur durch meine eigene Seele gegangen! Bei der jüngsten Neuauflage nun, aus der besagtes Vorwort wegblieb, geschah das Sonderbare, dass die Kritik mich wegen der endlichen Entfernung des störenden »Bruches« belobte, in Wahrheit war jedoch der Text – fotografiert!