Isolde Kurz
Gesammelte Werke
Romane und Geschichten
Isolde Kurz
Gesammelte Werke
Romane und Geschichten
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020
1. Auflage, ISBN 978-3-962812-51-5
null-papier.de/544
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Biografie
Aus meinem Jugendland
Widmung
Vorwort
Lebensmorgen
Tante Berta und die Schwabenstreiche
Umzug nach Kirchheim
Das alte Tübingen
Die Heidenkinder
Ein Fluchtversuch
Von Ihr. Nachklänge des tollen Jahres. Das rote Album.
1866
Die Geburt der Tragödie
Vorfrühling
Ein Notelfer. Russische Freunde
Ein französischer Revolutionär. Jugendeseleien
1870
Rigi Regina
Besuch in Frankreich
Bedrängnisse
Der Brand und die Flamme. Hat der Mann ein Seelenleben?
Der 10. Oktober
Wieder bei den Griechen
Unzeitgemäßes und was es für Folgen hatte
München
Letzte Tage in der Heimat
Der Despot
Die Nacht im Teppichsaal
Widmung
Der Wanderer
Die Mär von der schönen Galiana
Wie die Florentiner Pisa behüteten
Die Verdammten
Die Dame von Forli
Das brennende Herz
Die Pilgerfahrt nach dem Unerreichlichen
Erstes Kapitel – Sternenstunde
Zweites Kapitel – Mutterrecht
Drittes Kapitel – Kindesseele und Überwelt
Viertes Kapitel – Das Gestirn des Vaters
Fünftes Kapitel – Noch einmal die Jugendstadt
Sechstes Kapitel – Florenz
Siebtes Kapitel – Der Weg
Achtes Kapitel – Unser Thole
Neuntes Kapitel – Die Villa mit dem Granatbaum
Zehntes Kapitel – Durchbruch
Elftes Kapitel – Wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen
Zwölftes Kapitel – Lebensmitte
Dreizehntes Kapitel – Wir begründen ein Weltbad
Vierzehntes Kapitel – Sonnenwende
Fünfzehntes Kapitel – Das Verglimmen
Sechzehntes Kapitel – Vorboten
Siebzehntes Kapitel – Im Weltbrand
Achtzehntes Kapitel – Den Du nicht verlässest
Die Stadt des Lebens
Lorenzo il Magnifico
Der mediceische Musenhof
La Bella Simonetta
Der Brutus der Mediceer
Bianca Cappello
Die Stunde des Unsichtbaren
Die vom Berge Latmos
Fatum?
Der Iettatore – Eine vergessene Geschichte
Das Bildnis der Unbekannten
Der alte Schrank
Fluchgold
Florentiner Novellen
Die Humanisten
Die Vermählung der Toten
Der heilige Sebastian
Florentinische Erinnerungen
Widmung
Die stille Königin
Agli Allori
Edgar Kurz – Ein Lebensbild
Alfred Kurz – Nachruf
Adolf Hildebrand – Zu seinem sechzigsten Geburtstage
In den Marmorbergen – I. Carrara
In den Marmorbergen – II. Serravezza.
Eine Tochter Octavio Piccolomini’s
Erdbebenerinnerungen
Blütentage in Florenz
Hermann Kurz
Widmung
Vorwort
Einleitung
Des Dichters Jugendjahre
Nachlese aus den Gedichten der Maulbronner Zeit
Das blaue Genie
Erste Schaffensperiode
Beziehungen zu Mörike
Der Dichterkreis um Alexander von Württemberg
Schwarz-rot-gold
Das Brunnowsche Haus
Heirat
In der Frone der Freiheit
Neue Schaffensperiode
Unsere Kinderstube
Oberesslingen
Der Fremdling
Treue
Letzte Lebensjahre.
Im Zeichen des Steinbocks
Im Zeichen des Steinbocks
Allgemeines vom Menschendasein
Mann und Weib
Aus der Welt des Herzens
Vom Kinde
Ethik und Rhythmus
Geheimnisse
Von der Sprache
Aus Völkerseelen
Vom Genius
Poesie
Kunst und Künstler
Unter Menschen
Allerlei Heilige
Aus der Zeit
Italienische Erzählungen
Schuster und Schneider
Mittagsgespenst
Pensa
Die Glücksnummern
Erreichtes Ziel
Ein Rätsel
Nächte von Fondi
Widmung
Frauen, Ritter, Waffen und Amuren
Die fliehende Nymphe
Fundi, mei Calamitas!
Phantasien und Märchen
Haschisch.
Der geborgte Heiligenschein.
Sternenmärchen.
Die goldenen Träume.
König Filz.
Vom Leuchtkäfer, der kein Mensch werden wollte.
Vanadis
Erstes Buch
Zweites Buch
Von dazumal
Es und ich.
Nachbars Werner
Das Vermächtnis der Tante Susanne.
Werters Grab.
Der Reisesack.
Der Aktiengarten.
Die Reise nach Tripstrill.
Wandertage in Hellas
Widmung
Triest – Piraeus
Athen
Ägina und Salamis
Eleusis
Menidhi-Acharnä
Kap Sunion
Die Argolis
Korinth und der Isthmus
Delphi
Nach Olympia
Ein arkadischer Frühlingstag
Besuch in Theben
Chalkis
Letzte Tage in Athen
Arnold Böcklin
Aus Garibaldis Memoiren
Der Aktiengarten
Das Haus des Atreus
Die Liebenden und der Narr
Ein sonderbarer Heiliger
Meine Mutter
Singende Flamme
»Le temps que je regrette …«
Kinderland
Des Kindes Tagewerk
Das Maienfest
Frühlingslied
Mädchenliebe
Um dich
Geheimnis
Ruhelos
Drei Jahre lang …
Die Nicht-Gewesenen
Wegwarte
Bedrängnis
Das Lämpchen
Schau’, die tiefen Täler …
Deutsche Gespenster
Wie die Jugend liebt
Philister
Bahnwärters Töchterlein
Das Bettelkind
Das bist du
Heldin, als wir dich hatten
Edgar
Nun bin ich stark …
O dass die Liebe sterben kann
Nein …
Jetzt heißt es still und heimlich …
Absage
Im starren Guß …
Die erste Nacht
Der Tod
Auf deine Gruft
Ein Schatten du …
Pieta
Finale (1933)
Im Verglimmen
Die Wege, die wir tausendmal gegangen
Der Bergsteiger
Bald
Purpurne Abendröte
Letzte Fahrt
Solleone
Unsere Carlotta
Index
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Ihr
Jürgen Schulze
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Isolde Maria Klara Kurz (21.12.1853–06.04.1944) war eine deutsche Schriftstellerin und Übersetzerin.
Ihr Vater Hermann war ebenfalls Schriftsteller und Übersetzer. Sie wuchs in einem liberalen und an Kunst und Literatur interessierten Haushalt auf. Schon früh wurde sie mit den Schriften der klassischen Antike bekannt und arbeitete in jungen Jahren als Übersetzerin. Sie war eine selbstständige Frau, die ihren eigenen Lebensunterhalt verdiente, was damals noch nicht üblich war. 1913 wurde Kurz als erste Frau zum Ehrendoktor der Universität Tübingen ernannt.
Anfang der 1890er Jahre errang sie erste literarische Erfolge mit der »Florentiner Novelle« und den »Italienischen Erzählungen«. Es folgten weitere Gedicht- und Erzählbände, Aufsätze in Magazinen (»Die Gartenlaube«) und aber auch biografische Arbeiten.
Ihre Rolle im Nationalsozialismus schwankte zwischen intellektueller, aber nicht geäußerter Abneigung und einem unkritischen Arrangement.
Dem Lebensfreund
und Teilhaber meiner Jugenderinnerungen
Ernst von Mohl
Die vorliegenden Blätter danken ihr Entstehen zunächst einer Anregung der »Neuen Freien Presse«, die einen großen Teil davon zuerst in Einzelfeuilletons veröffentlicht hat. Erst die freundliche Aufnahme, die sie in Leserkreisen fanden, veranlasste die Abfassung des ganzen Buches. Dieses bildet gewissermaßen eine Fortsetzung und Ergänzung der Lebensgeschichte meines Vaters1 und die Überleitung zu den Florentinischen Erinnerungen,2 in denen ich die Charakterbilder meiner verstorbenen Brüder einzeln gezeichnet habe. Da ich bei Niederschrift der genannten Bücher nicht daran dachte, auch einmal die eigene Entwicklung zu erzählen, sind in beiden gelegentlich Dinge vorweggenommen, die hier mit größerer Ausführlichkeit behandelt sein wollten. Die Art des Entstehens dieser Aufzeichnungen bedingte ihre Einteilung in geschlossene Kapitel, die nicht streng chronologisch, sondern nach der inneren Ordnung gegliedert sind. Doch bin ich hierin nur dem Gesetz des Gedächtnisses gefolgt, das gleichfalls die Ereignisse nicht am langen Faden aufreiht, sondern das Zusammengehörige, auch wenn es zeitlich getrennt ist, aneinanderknüpft.
Natürlich kann das Bild, das ich von meiner damaligen Umwelt gebe, kein vollständiges sein. Es haben wertvolle Menschen meinen Jugendweg gekreuzt, deren hier keine oder nur flüchtige Erwähnung geschieht, weil ich sonst von der vorgesetzten Richtung zu weit abgelenkt würde. Die Wahl der eingeführten Personen bestimmt sich einzig nach ihrem Einfluss auf meinen Werdegang. Und ein solcher Einfluss hängt ja weit weniger von der wirklichen Bedeutung einer Persönlichkeit ab als von dem Zeitpunkt, wo unsere Lebenswege sich schneiden.
Auch wundere man sich nicht, wenn man in meinen Erinnerungen Größtes und Kleinstes, Völkergeschicke und Jugendeseleien, große Männer und kleine Mädchen bunt beisammen findet. In meinem Jugendgarten wuchsen alle Gewächse Gottes, große und kleine, einheimische und fremde, wild durcheinander. Da gab es himmelstrebende Zedern, wundersame Orchideen, seltene Rosenarten, daneben lustige Bauernblumen und allerhand blühendes Unkraut. Ich pflücke mit vollen Händen, was ich noch erraffen kann. Freilich musste ich manche lockende Blume nachträglich wieder aus dem Strauß werfen, weil mir die Rücksicht auf Lebende oder Verstorbene Zurückhaltung auferlegt. Und was die großen Männer betrifft, so nehmen sie die Nähe der kleinen Mädchen nicht übel; ja sie hätten, als sie lebten, die Welt ohne diese Nähe um vieles weniger anziehend gefunden.
Vielleicht erscheint es manchem als eine Vermessenheit, dass ich überhaupt inmitten des Weltkrieges von den Freuden und Leiden meiner eigenen Jugend erzähle. Zu meiner Rechtfertigung diene die Erwägung, dass die große Sintflut, aus der sich allmählich eine neue Welt emporzuringen beginnt, in Bälde vollends die letzten Spuren jener idyllischen Tage mit ihren Reizen und ihren unerträglichen Hemmungen hinweggefegt haben wird. Dann mag ein neues Geschlecht sich durch die verschönernde Zeitenferne hindurch vielleicht an ihrem Anblick behagen. Auch spiegeln sich ja in jedem Menschenleben immer unzählige andere, in denen die gleichen Ansätze enthalten sind und die nicht ungern im fremden Gesicht das eigene wiedererkennen.
Buoch i. R., im Sommer 1918
Isolde Kurz
1 Hermann Kurz. Ein Beitrag zu seiner Lebensgeschichte. München 1906, bei Georg Müller. Jetzt Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt. <<<
2 Florentinische Erinnerungen. München 1910, bei Georg Müller. 2. Aufl. Jetzt Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt. <<<
Es hat einen tiefen Reiz für das geistige Ich, seinen eigenen Anfängen nachzuspüren. Wann und wie ist von diesem Bewusstsein, das später die ganze Welt des Seienden, des Gewesenen und gar noch des Künftigen umspannen möchte, der erste Funke aufgedämmert? Die tägliche Umgebung, in die wir hineingeboren wurden, lässt kaum einen bewussten Eindruck zurück, sie ist uns das Selbstverständliche gewesen, auch sind es nicht Personen, sondern Dinge, die uns zuerst die Vorstellung der Außenwelt als mit uns im Gegensatz befindlich geben.
Am Anfang meiner Erinnerungen steht ein Rad. Diese früheste Gedächtnisspur hat sich mir in meinem achtzehnten Lebensmonat eingegraben. Es war ein mit grünem Schlamm behangenes, verwittertes Mühlrad, das sich in einem eilenden Schwarzwaldbach drehte. Ich hielt es für den großen Garnhaspel unserer Josephine, woraus ich schließen muss, dass mir dieser schon eine ganz geläufige Vorstellung war, aber wann ich seiner bewusst wurde, weiß ich nicht. Das Rad war also nicht das erste, ich müsste vielleicht sagen: im Anfang war der Haspel; allein nun stutze ich wie der Doktor Faust bei der Bibelübersetzung: ich kann den Haspel so hoch unmöglich schätzen. Es müssen noch andere Erkenntnisse in Menge vor und mit dem Haspel gewesen sein, jedoch sie sind auf ewig unter die Schwelle meines Bewusstseins hinabgetaucht, und das Mühlrad steht als erster sicherer Meilenstein auf meiner Lebensstraße. Ich zappelte also vom Arm des Kindermädchens herunter, um den vermeintlichen Haspel aus dem Wasser zu langen – die Größenverhältnisse waren mir noch nicht aufgegangen – und ich setzte durch diese Absicht das Mädchen in berechtigtes Erstaunen, denn sie trug mich schleunig hinweg, wobei ich meine Missbilligung durch Schreien und Treten aufs lebhafteste äußerte. Dieses Mädchen hieß Justine, sie war bei der gleichnamigen Heldin des Weihnachtsfundes, den mein Vater um jene Zeit schrieb, Pate gestanden, und der Auftritt spielte auf einer moosbewachsenen Steinbrücke in dem kleinen Schwarzwaldbad Liebenzell, die ich bei einem vor wenigen Jahren dort abgestatteten Besuch auf der Stelle wieder erkannte.
Dieselbe Justine, die, beiläufig gesagt, erst vierzehn Jahre alt war, mir aber als eine sehr ehrwürdige Persönlichkeit erschien, trug mich einmal in eine Schmiede, wo rußige Männer tief innen um loderndes Feuer hantierten. Ich sah sie mit unbeschreiblichem Entsetzen und hielt sie für Teufel. Wie aber kam der Teufel, von dem ich nie gehört hatte, in meine Vorstellung? Ich weiß es nicht und kann nur annehmen, dass der Teufel zu den angeborenen Begriffen gehört. Ich schrie und sträubte mich gewaltig, als es in diese Hölle ging, und als gar einer der Schwarzen – es war, wie ich später erfuhr, der Vater des Mädchens – sich mir verbindlich nähern wollte, ließ ich jenes im ganzen Ort bekannte Geschrei ertönen, woran mich der Nachtwächter straßenweit zu erkennen pflegte, dass das Mädchen eiligst mit mir das Weite suchte. Ich konnte mich übrigens damals schon ganz gut verständlich machen, denn ich sprach, wie man mir erzählte, schon im ersten Lebensjahr zusammenhängend. Mein um elf Monate älteres, sonst sehr begabtes Brüderchen Edgar lernte es erst an meinem Beispiel. Aber wahrscheinlich hätte er es ebenso früh wie ich gekonnt und ließ sich nur durch irgendein inneres Hemmnis die Zunge binden, denn er war ein wunderliches, äußerst schwierig veranlagtes kleines Menschenkind, dem meine größere Unbefangenheit ebenso nützlich war wie mir sein schon entwickelterer Verstand.
Mein nächster bleibender Eindruck war ein frischgefallener Schnee in den Straßen von Stuttgart, den ich mit inniger Freude für Streuzucker ansah. Dann aber kam eine Stunde unvergesslichen Jammers. Unsere Josephine, das geliebte Erbstück aus dem großväterlichen Hause, hatte mich im Wägelchen auf den Schlossplatz geführt und war unter der sogenannten Ehrensäule, die auf einem, wie mir schien, himmelhohen Unterbau eine Gruppe von Steinfiguren trägt, mit mir angefahren. In einer dieser Gestalten glaubte ich unsere Mutter zu erkennen und rief sie erschrocken an herabzukommen. Da sie sich nicht regte, schrie ich immer ängstlicher und flehender mein »Mamale, komm lunter«. Dieses starre, steinerne Dastehen flößte mir eine bange Furcht, ein wachsendes Grauen ein, ich begann zu ahnen, dass es ein Entrücktsein geben könne, wo kein Ruf die geliebte Seele mehr erreicht. In meinen Jammer mischte sich noch ein dunkles Schuldgefühl, als ob dieses Unglück die Strafe für irgendeine von mir begangene Unbotmäßigkeit wäre, ich brach in ein fürchterliches Wehgeschrei aus und blieb für alle Tröstungen taub, während man mich schreiend die ganze Königstraße entlang nach Hause führte, wo erst der lebendige Anblick der für verloren Beweinten mir den Frieden wiedergab.
Und dann sehe ich in eben dieser Königstraße eine braune einflügelige Eichentür mit messingener Klinke, die so niedrig stand, dass ich sie mit einiger Mühe gerade erreichen und aufdrücken konnte. Sie führte in einen Bäckerladen, den wir Kinder täglich auf unserem Spaziergang mit Josephine besuchten. Dort durfte jedes von uns sich ein schmackhaftes Backwerk, eine sogenannte »Seele«, selber vom Tisch langen. Eines Tages kam Edgar mit seiner Wahl nicht zustande. Welche Seele man ihm anbot, es war immer nicht die rechte. Er wurde darüber sehr schwermütig und erklärte immerzu: ’s Herzele will was und ’s Herzele kriegt nix. Als Josephine nach vielen vergeblichen Versuchen, ihn zu befriedigen, endlich mit uns den Laden verließ, verwandelte sich sein Gram in lauten Jammer, und während wir anderen freudig unsere Seelen verzehrten, erfuhr es die ganze Königstraße hinab jeder Vorübergehende, dass das Herzele etwas wollte und nichts bekam. Daheim ergoss sich der Enttäuschungsschmerz in einen Strom von Tränen, bis Josephine ihren Liebling still beiseite nahm und ihm die heimlich eingesteckte Seele reichte. Er verzehrte sie befriedigt und sagte dann: ’s Herzele will noch mehr.
In mein drittes Lebensjahr fällt die erste Bekanntschaft mit dem Dichter Ludwig Pfau, der als politischer Flüchtling in Paris lebte und nun zu heimlichem Besuche nach Stuttgart gekommen war. Es verkehrten zwar viele Freunde in meinem Elternhause, aber sie alle tauchen in meinem Gedächtnis erst viel später auf. Aus jener frühen Stuttgarter Zeit blicken mich nur Ludwig Pfaus vorstehende blaue Augen aus einem rötlich umrahmten Gesicht strafend an. Das ging so zu: Pfau hielt sich acht Tage in unserem Hause verborgen und pflegte während der Arbeitsstunden meines Vaters bei meiner Mutter zu sitzen, mit deren Anschauungen er sich besonders gut verstand. Mich konnte er nicht ausstehen, und diese Gesinnung war gegenseitig, denn wir waren einander im Wege. Ich war durchaus nicht gewohnt, dass die Mama, die ich sonst nur mit den Brüdern zu teilen hatte, sich so viel und andauernd mit einer fremden Person beschäftigte. Wenn die beiden also politisierend in dem großen Besuchszimmer auf und ab gingen, drängte ich mich gewaltsam zwischen die mütterlichen Knie, dass ihr der Schritt gesperrt wurde, und der Gast ärgerte sich heftig, ohne dass er bei der abgöttischen Liebe, die meine Mutter für ihre Kleinen hatte, es wagen durfte, mich vor die Tür zu setzen. Er wollte sich daher in Güte mit mir einigen, und nachdem er sich eines Tages doch zu einem Ausgang entschlossen hatte, brachte er eine Tüte voll Zuckerwerk mit, dem er den mir noch unbekannten Namen Bonbons gab. Dieses unschöne Wort für einen so schönen Gegenstand missfiel mir sehr: in dem nasalen O und in der Verdoppelung der Silbe fühlte ich dunkel etwas Groblüsternes und Unwürdiges. Wie mich ein neues Wort, das meinen Ohren schön oder geheimnisvoll klang, in einen stillen Rausch versetzen konnte, auch wenn ich seinen Sinn gar nicht verstand, ja dann erst recht, sodass ich damit umherging wie mit dem schönsten Geschenk, so gab es andere, die mir einen Widerwillen einflößten und die ich einfach nicht in den Mund nahm. Ich wurde nun auf den breiten hölzernen Tritt gesetzt, der das halbe Zimmer ausfüllte, und unter dem Beding, mich für eine Weile ruhig zu verhalten, erhielt ich ein rundes bernsteinfarbiges Zuckerchen, das ich alsbald in Arbeit nahm. Aber es rutschte mir glatt den Hals hinunter, mich um den Genuss betrügend. Sogleich brach ich den Frieden, indem ich wie Quecksilber auffuhr und mich miauend zwischen die Knie der Mutter klemmte, in der Hoffnung, eine Entschädigung zu erlangen. Fordern mochte ich sie nicht, weil ich nicht wusste, wie das Ding benamsen, da mir das widerwärtige Wort, das ich ganz leicht hätte aussprechen können, nicht von der Zunge wollte. Ich antwortete also auf die erschreckte Frage, was mir geschehen sei, nur, ich hätte »das Ding« verschluckt. Was für ein Ding? fragte sie, schon an allen Gliedern zitternd, denn sie dachte an irgendeinen spitzigen oder gar giftigen Gegenstand. Das Ding! Das Ding! rief ich geängstigt, dass man mich nicht verstand, und nun erst recht entschlossen, das verhaßte Wort keinenfalls auszusprechen. Mama war schon aus der Tür gestürzt, um den Arzt zu rufen, aber der Gast hatte die Geistesgegenwart, mich besser ins Verhör zu nehmen: Wie sah denn das Ding aus? – Es war rund und gelb und ganz süß, sagte ich schnell, erleichtert, dass ich nun endlich den Weg sah, mich verständlich zu machen. Du dummes Kind, das war ja dein Bonbon, konntest du das nicht gleich sagen? hieß es nun. Mama wurde zurückgerufen, die mich jubelnd als eine Gerettete in die Arme schloss, ich erhielt ein zweites Bonbon, das ich trotz dem widrigen Namen vergnügt in Empfang nahm, und das Zwiegespräch konnte endlich seinen Fortgang nehmen. Aber diesen Zwischenfall hat mir Pfau nie vergessen. Er versicherte mir später oft, ich sei das unausstehlichste Kind gewesen, was ich ihm von seinem Standpunkt aus gerne zugeben will.
Frühzeitig schlich sich auch die Nachtseite des Lebens in meine Innenwelt. Die Missgestalten des Struwwelpeters arbeiteten zum Nachteil meines Seelenfriedens in meiner Fantasie, die genötigt war, im Traum noch mehr solcher Ungeheuer zu erzeugen. Eins der schrecklichsten war der Häkelmann, eine Gestalt, die mich jahrelang verfolgte. Er war lang und mager mit grasgrünem Frack und roten Beinkleidern und fuhr blitzschnell durch alle Zimmer, indem er mit einem langen Haken die Kinder, die sich vor ihm verkrochen, unter den Tischen und Betten hervorzuhäkeln suchte. Wann er erschien, brachte er das ganze Haus um den Schlaf, so furchtbar war mein Angstgeschrei. Wie bei Nacht vor dem Häkelmann, so fürchtete ich mich wachend vor der Lichtputzschere, die damals noch im Gebrauche war. Ich hatte nämlich auf einem Bilderbogen eine solche gesehen, die ein kleines Mädchen einschnappte, und glaubte mich seitdem zum gleichen Schicksal bestimmt. Wenn es dämmerte und die Kerzen angezündet wurden, so blinzelte ich immer mit tiefem Misstrauen nach der messingenen Putzschere, und so oft sie in Tätigkeit trat, fürchtete ich, in dem gähnenden schwarzen Rachen verschwinden zu müssen, denn so frühreif ich in allem anderen war, die Größenverhältnisse waren mir noch immer nicht aufgegangen. Desgleichen gab es im Hause einen Bilderkalender mit einer Karikatur, aus der ich schreckliche Ängste sog: das waren die Kränzelesfrauen. Mit großgeblumten Kleidern im Biedermeierstil, Kaffeekannen und Tassen in der Hand, saßen sie um einen runden Tisch; sie hatten grausige Drachenköpfe auf langen, schlangenartigen Hälsen und auf den Köpfen große nickende Hauben, und sie neigten diese unheimlichen Köpfe geifernd und schnatternd gegeneinander. Ein längeres Gedicht mit Aufzählung ihrer Untaten war beigegeben, wovon jeder Vers mit dem Kehrreim schloss: Hütet euch vor den Kränzelesfrauen. Ich nahm mir natürlich vor, mich vor diesen Ungetümen zu hüten, doch hat mir das im Leben wenig genutzt, denn als ich ihnen später leibhaftig begegnete, da hatten sie leider keine Drachenköpfe noch Schlangenhälse, woran ich sie zu erkennen vermocht hätte; sie schnatterten mir auch nicht entgegen, sondern küssten mich auf beide Wangen, und erst wenn ich den Rücken gedreht hatte, spritzten sie ihr Gift. Da wusste ich nun, weshalb sie mir in den frühesten Kinderjahren den tödlichen Abscheu eingeflößt hatten.
Meine erste Bekanntschaft mit den Kränzelesfrauen fällt übrigens schon nicht mehr in meine illiterate Zeit, denn ich erinnere mich, besagtes Gedicht zu wiederholten Malen selbst gelesen zu haben. Allerdings hatte ich diese Kunst schon im dritten Jahr, dem älteren Bruder zur Gesellschaft, unter mütterlicher Leitung zu erlernen begonnen. Auch in die klassische Literatur wurde ich bereits eingeführt, denn Mama ließ mich als erstes das Uhlandsche Gedicht vom Wirte wundermild schreiben und auswendig hersagen; und etwas später, es mag zwischen meinem vierten und fünften Lebensjahr gewesen sein, las sie mir Schillersche Balladen vor, die mich sehr entzückten, mit Ausnahme der Bürgschaft, die ich als einen unzarten Angriff auf meine Tränendrüsen empfand und verstimmt abgleiten ließ. Der scheinbare Kaltsinn empörte mein rasches Mütterlein, sie schalt mich einen Eisklotz und hielt mir zur Rüge vor, dass mein von mir sehr bewunderter Bruder Edgar beim Vorlesen in Tränen zerflossen sei. Aber es half nichts, ich konnte über die Bürgschaft nicht weinen, und es war gerade die frühreife Empfänglichkeit, die mich gegen das gröbere Pathos störrisch machte. Die Bürgschaft ist auch zeitlebens für mich auf dem Index geblieben, ein Beweis für die vollkommene Unveränderlichkeit unserer angeborenen Innenwelt.
Hier ziehe ich einen Siebenmeilenschuh an und stapfe ohne weiteres in unsere Obereßlinger Tage hinüber. Da ich aber alle äußere Szenerie sowie die Fülle der teils rührenden, teils wunderlichen Käuze, die unsere Kinderstube umgaben, schon in meiner Hermann-Kurz-Biografie ausführlich geschildert habe, werde ich auch hier fortfahren, nur von den inneren Erlebnissen zu reden, an denen das kleine Menschlein allmählich zum Menschen ward.