Eiche, sprach ich, Eiche von Cheruska,
Lange stehst du, viel hast du gesehen,
Was du selbst nicht sahst, dir sang’s als jungem
Reis die Ahne zu, die hier gestanden.
Sieh, mich trieb Verlangen unbezwinglich
Her, von deines Landes Heldensohne
Einmal ein lebendiges Wort zu hören.
Ihn, den Rächer mein’ ich, den Erretter,
Den wir nur vom Lob des Feindes kennen,
Weil die Lieder seines Volks verstummt sind,
Der so herrlich strahlt in Feindesmunde,
Wie er spielend im verschlossenen Busen
Trug den Blitz der Tat, die uns befreite.
Alle die Wälder hab ich nun durchwandert
Wo des Varus Legionen schlafen,
Ob ein Sang noch sein gedenkt, ein Schatten
Seines Wesens geht auf roter Erde,
Ob vielleicht in einem Kinderreime,
Ob in eines Orts entstelltem Namen
Noch ein Nachhall unbewusst ihn nenne.
Auf dem Winfeld friedlich ästen Hirsche, Glashell rann zu Tal die Berlebeke, In Feldrom da weideten fette Herden, Von Arminius ward mir keine Kunde. Eiche, sieh, zu deinem Stamme tret ich, Drein Cheruskas Heldenkraft gebannt ist. Auch in meinen Adern rinnt ein Tropfe Sachsenblut und diesen Boden lieb ich Ehrfurchtsvoll wie den, der mich geboren. Kurz ist das Gedächtnis ja der Menschen Und sie ehren nur, was ihren Augen Nah, doch du und ich wir pflichten nicht der Zeit und weiter gehen unsere Blicke. Was sind tausend Jahre und abertausend Vor dem Zoll des Dankes, den wir ihm schulden, Vor der Treue, die wir ihm bewahren. Ja, mich kränkt’s, dass ich zu spät geboren, Seines Auges blauen Blitz zu sehen, Den der Römer schaudernd sah – und rühmte. Eiche, sprich mir von Armin, dem Helden.
Was mir ihr Laubgesäusel zur Antwort gab, war so dunkel, dass ich es erst Wochen später verstand, als Deutschland wie ein einziger Arminius aufstand, um mit dem halben Erdkreis um unsere Erhaltung zu ringen.
*
War es die Neuheit der im deutschen Norden gesehenen Dinge oder war es der Gegensatz zu dem darauffolgenden furchtbaren Weltgeschehen, der mir alle jene Reisetage so unvergesslich glanzvoll gemacht hat? Einer der schönsten war der Tag in dem köstlichen Worpswede, das nicht umsonst das Paradies der Maler hieß. Wie eine Oase lag es inmitten der sonst völlig öden, morastigen Niederung mit dem unsagbar zarten Farbenschmelz seiner Landschaft, dem stolzen Baumwuchs, der reizenden Pflasterung der Dorfstraßen – einer Mosaik aus bläulichen, roten und gelben Steinen –, mit dem leuchtenden grün und roten Anstrich der großen Gehöfte, den der blassere Himmel gerne litt. Um die geschnitzten Pferdehäupter auf den Firsten spann germanische Vorwelt. Diese niedersächsischen Bauernhöfe mit ihren überraschenden Ausmaßen, edel von Eichenhainen umgeben, machten mir einen starken Eindruck, da ich bisher nur die winzig aufgeteilten Bauerngütlein meiner schwäbischen Heimat gekannt hatte und die von ländlichen Colonen auf halb und halb bewirtschafteten toskanischen Herrschaftsgüter, woran die arbeitende Hand kein Eigentumsrecht hat. In Höfen wie diesen mochten voreinst auch die Edelinge und Stammeshäupter des Volkes gesessen haben. In den schönsten von allen traten wir ein und wurden von dem Besitzer, einem ernsten hochgewachsenen Manne, mit nahezu königlichem Anstand empfangen, aus dem der höfliche Stolz uralten Besitzes sprach. Er führte uns durch eine lange Diele, wo in Ständen rechts und links das trefflich gehaltene Vieh zur Seite stand und wo in früheren Zeiten der Rauch vom Vorplatz durchzog. Der Vorplatz prangte mit prächtigen geschnitzten Schränken, alten Uhren, Geschirr und Gläsern und aufgehängten Kränzen dazwischen, vieles vom Besitzer und seinem Vater gesammelt, das meiste von je im Hause. Der Garten mit seinen herrlichen Bäumen, seinen Blumen und einem Sumpfweiher voll Wasserlilien war mehr ein Park zu nennen. Wir mussten auch unsere Namen in ein Buch eintragen, und beim Abschied überreichte er mir eine Fotografie seines Vorraums mit den fast feierlichen Worten: Das mögen Sie haben; ich bewahre sie noch heute auf. Er riet uns auch einen seiner kleineren Höfe zu besuchen, wo die Einrichtung noch altertümlicher sei. Dort fanden wir die Diele ähnlich gebaut, nur kleiner, im Hintergrund eine schön mit Kacheln eingelegte Wand und auf niedrig aufgemauerter Feuerstelle einen großen, an Eisenketten hängenden Kessel, dessen gleichen ich öfters in Oberitalien und in den Dolomiten schon gesehen hatte. Würste und Schinken, letztere in weißes Zeug verhüllt, hingen zum Räuchern herum, und die Decke um die Feuerstelle her war blinkend schwarz von Glanzruß (Die Frauen trügen, sagte man mir, des Rauches wegen meist schwarze Kleider.) Der Mann, der uns führte, sah todestraurig aus, und als er uns mitteilte, dass er jetzt allein lebe, weil die Kinder fort seien und die Frau tot, kämpften seine harten Gesichts- und Halsmuskeln mit dem unterdrückten Weinen. Wir gingen schleunig, denn solch ein einsamer, hart gewordener Schmerz leidet keinen Zuspruch. Bodenverwachsener noch als anderwärts, aber auch schicksalgebundener erschien mir hier das bäuerliche Leben. Und hatte mich zuvor als Städterin ohne eigene Scholle deutschen Bodens dem reichen Erbbauern gegenüber fast ein Gefühl von Beschämung beschleichen wollen, so sagte ich mir jetzt vor der tiefen Hilflosigkeit der Ungeistigen, dass wir mit den frühe überkommenen Schätzen der deutschen Geisteswelt doch den besseren Teil des Vätererbes erlost hatten. – Bevor wir schieden, erstiegen wir noch den Stolz von Worpswede, den schön mit Eichen und Fichten bewachsenen »Berg«, der mitten aus der tellerflachen Landschaft aufragt, aber freilich nur etliche Meter hoch ist. Ungemein freundlich mutete mich auch die im Freien in einem Holzgestühl aufgehängte Dorfglocke an und weckte die dämmernde Erinnerung an jene irgendwo gehörte Mär von dem in Not geratenen Grautier – oder war’s ein Pferd? –, das an der aufgehängten Dorfglocke Hilfe herbeiläutete.
Auffallend war mir; im deutschen Norden die gesamte Lebenshaltung, auch bei gesichertem Wohlstand, unendlich karger zu finden als in dem sinnenfrohen Süden; auch die Küche, wenigstens in den kleineren Gaststätten und auf dem Lande viel dürftiger bestellt und häufig unter Verwendung von minderwertigem Fett, sodass ich mir gleich den Magen verdarb und trotz der Reisestrapazen manchen Tag bei strengem Fasten verbrachte, ja selbst auf der unruhigen Überfahrt nach Sylt nichts genossen hatte als einen recht fragwürdigen Morgenkaffee. Aber ich ließ mich durch nichts Persönliches anfechten, benommen wie ich war von dem Wunder Deutschland, das zu seinem farbenreichen Süden einen solchen großartig herben Norden hinzubesaß, und dass beide ungleiche Hälften zusammenpassten wie die einer Eierschale, weil keine einem anderen als dem deutschen Volk angehören konnte.
Im Hamburger Hafen hatte ich eine Stunde tiefer Genugtuung. Ja, wir waren ein großes Volk. In langen Wasserstraßen lagen sie da Bord an Bord, die Nachkommen unserer alten Hansa, riesige Überseedampfer, und sie fanden draußen eigene Häfen wie die der andern großen Völker. Denn unterdessen war es zur Wahrheit geworden, was ich mir in jüngeren Jahren so brennend für mein Volk ersehnt hatte: auch wir besaßen überseeische Kolonien. Nicht als hätte ich mich viel um unsere Handelsbelange gesorgt, von denen ich nichts verstand; es ging mir um Freizügigkeit und Weltweite, um die Lüftung unserer Lebenssphäre, um eine Schule der Tatkraft und Selbstverantwortung für unsere Jugend, die ich allzu staatlich gegängelt sah. Diesen Schiffen, die mir schon vom Hauch der Entdeckungen und der Abenteuer umwittert waren, gab ich den Dank an unsere stolze Nordsee und alle Segenssprüche für die Fernfahrt mit:
Weitoffnes Fenster nach dem Weltmeer, lass
Den Atem ein der ungemessenen Weite,
Die Dünste treibend aus der Deutschen Haus
Und alles was uns schwach und klein gemacht;
Wie Briten stolz doch menschlicher als sie
Fahr, deutsche Jugend, nach den fernsten Küsten.
Im Wagnis reife du, der Kaufmann suche
Gewinn und Abenteuer der Soldat.
Von eurem Erbteil ewiger Gedanken
Scheidet ihr Kühnen nie, mit leisem Tritt
Geht ungeseh’n auf den bewegten Planken
Die Muse Deutschlands mit.
Wurde diese Strophe eines langen Liebesliedes an Deutschland – meine ganze Reise war ein solches – auch erst zu Anfang des Weltkriegs niedergeschrieben, so war sie doch bei der beglückenden Schau im Hamburger Hafen unmittelbar empfangen.
*
Aber die Krone alles Erlebens war die Insel Sylt. Hier gingen die Worte aus. Von Europa war nichts übrig, nicht einmal die Vorstellung, alle Weite zusammengezogen in das kleine Stück Festland, das wie ein aufgeschossener Pilz auf dem Wasser schwamm und in nichts den südlichen Inseln meiner alten Liebe glich. Ein seltsam enger Horizont friedet es völlig ein, und der Himmel wölbt sich darüber wie ein rundgespanntes blaues Gezelt oder eine lichte Glocke, die im Meere aufsteht. So hatte ich mir einst Thule gedacht als letzten fernsten Ausläufer des Geschaffenen. Lange Dünenzüge, kühn geformt wie Gebirge und mit harten Strandgräsern bewachsen, durchzogen das Innere, dahinter brandete die Nordsee, verebbte das Watt und nirgends etwas Festes, auch das rote Kliff, das Festeste, was es gab, aus Meersand geballt. Wie der Raum, so war auch die Zeit verschwunden, der nordische Tag schien gar nicht niederzugehen, um zehn Uhr abends konnte ich noch im Freien einen Brief lesen. In dem Brief stand, wann ich denn endlich nach Forte zu kommen gedächte, wo mein Haus, das Meer, die Freunde mich erwarteten. Aber Forte war mir jetzt so fern. Über meinem Haupt glänzte hoch und hell der Polarstern, der zu dieser Stunde nur matt und tiefgeneigt über meiner Terrasse am südlichen Meere stand. Herrlich, so alles Irdische abgeworfen zu haben und nur noch mit den Sternen zu denken. Das seltsame übergroße Glücksgefühl wurde so mächtig in mir, dass ich die ganze Nacht schlaflos lag und meinte, das Herz wolle mir vor eitel Freude zerspringen.
Wir mieteten uns für ein paar Tage in Westerland ein. Dort besuchten wir den »Friedhof der Heimatlosen«, denen Carmen Sylva einen gemeinsamen Spruch gestiftet hatte. Ich entzifferte jeden Namen auf den Steinen, manche waren unbekannt geblieben und man las nur den Tag, wo das Meer den Toten anspülte. Ein frommer Christ mag vor diesen Gräbern ein stilles Gebet sprechen, ich tat was ich konnte, indem ich jedem der namenlosen Schläfer einen tröstlichen Gruß aus dem Lande der Lebendigen nachzusenden suchte. Ich habe Sylt nicht wiedergesehen, kann aber nicht ohne Schauer denken, zu welchem Umfang diese Ruhestätte der Gescheiterten im Weltkrieg angewachsen sein muss. Hoffentlich ist der ehrfurchtlos nahe herangebaute Tennisplatz bei der Erweiterung verschwunden. – Das Hünengrab inmitten des weiten blühenden Heidegrunds, eine hohe Rasenumwallung. in die wir mittels einer Leiter einstiegen, enthielt zwar keine Fundstücke, brachte mich aber in meine eddatrunkenen Kindertage zurück, da ich mit dem Bruder Edgar ein Eiland im Nordmeer zusammenfabelte, um das Drachenschiffe kämpften und Walküren flogen und wo wir unseren Herrschersitz aufschlagen wollten, wenn wir erst groß wären. Dieses Grab, allen Schmuckes beraubt und namenlos, hatte dennoch ein königliches Ansehen, dass ich es mir nur als das des gewaltigen Helge, des Hundingtöters, denken konnte, bei dem seine trauernde Walküre allabendlich des toten Helden Rückkehr aus Walhall abwartet, um ihn in ihren Armen wieder zu wärmen.
Ein Frösteln überläuft mich wie ich’s denke.
Ist es der Schauer vor der Toten Nähe?
Sind’s Abendlüfte, die mich kühler mahnen?
Ist es die Schönheit unserer Heldensage?
O nein, ich weiß, mich traf ein jähes Ahnen
Von altem Leid, das neu geboren wird,
Von Heldensterben, das in Lüften irrt,
Und neuer Witwenklage.
Als wir in Hamburg den Fuß wieder an Land setzten, traf uns wie ein Blitzstrahl die Nachricht von der am selben Tage erfolgten Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares in Serajewo.
Dass kein fremder Fuß betrete den heimischen Grund,
Stirbt ein Bruder in Polen, liegt einer in Flandern wund
Alle schützen wir deiner Grenze heiligen Saum.
Unser blühendstes Leben für deinen dürrsten Baum,
Deutschland.
Karl Bröger
Nun stand es gerade über unserem Haupt, das Gewitter dessen Grollen ich solange voraus vernommen hatte, bis ich am Ende selber nur noch halb daran glaubte. Und jetzt horchten alle auf und staunten, was da werden wollte. Aber auf welch seltsame Weise oft unser Schicksal gelenkt wird. Nachträglich könnte ich mir einbilden, es habe mich das Vorgefühl getrieben, von der jährlichen Reise nach Süden, für die alles bereitet war, abzustehen, und doch erinnere ich mich genau, dass es nur die kleinen alltäglichen Hindernisse waren, die sich mir jedes Mal in den Weg stellten, wenn ich glaubte mit allen Geschäften und Aufgaben fertig zu sein und fort zu können, jene wunderlichen Kobolde, deren Schabernack uns das einemal die Freude zerstört, das anderemal wohltätig einen schicksalsblinden Vorsatz hemmt.
Ich kann mir nicht ausmalen, welche innere Zerstörung ich davongetragen hätte, wäre ich draußen vom Kriegsausbruch überrascht worden und all der aufgestaute Hass, der sich über das unglückliche ahnungslose Deutschland ergießen sollte, wäre mir eigenstes unmittelbarstes Erlebnis geworden. Und wahrscheinlich hätte mir gleich die österreichische Mobilmachung den Rückweg versperrt, dass ich gezwungen gewesen wäre, mitten durch die aufgepeitschten Leidenschaften eines gehässigen internationalen Reisepublikums hindurch mir einen anderen Grenzübergang zu suchen. Zum Glück zog mich’s persönlich nicht stark nach Süden; bei der vierzehntägigen Wanderung im nördlichen Deutschland war mir alles Deutsche so zärtlich nahegekommen, dass ich nur zögernd schied. Ich packte, aber ich packte langsam. Endlich gab ich mir selbst den Befehl, bis zum 6. August, dem Geburtstag des Mütterleins, den ich noch all die Jahre mit den dortigen Freunden gefeiert hatte, in Forte zu sein. Da kam das unannehmbare Ultimatum Österreichs an Serbien, und jetzt zitterte der Boden Europas. Als Österreich an Serbien den Krieg erklärte, gab es gewaltige Kundgebungen vor der österreichischen Gesandtschaft, die sich durch mehrere Nächte wiederholten. Man sang vaterländische Lieder und den Guten Kameraden. Wird der Brand sich ausbreiten? Das war das einzige, was noch gesprochen wurde. Man wusste, dass unsere Regierenden endlich erwacht waren und taten was sie konnten, um den Frieden zu erhalten. Man hoffte halb und fürchtete das Gelingen ihrer Bemühungen, denn man sagte sich, wenn es sein muss, dann je eher je besser. Die Menge hatte damals im Tritt etwas wie ein Aufstampfen, das nach Entscheidung drängte. Doch erinnere ich mich aus jenen Tagen höchster Erregbarkeit nur einer einzigen Ausschreitung, der Zertrümmerung eines Kaffeehauses am Karlsplatz, wo serbische Studenten durch ihre Haltung öffentliches Ärgernis erregt hatten. Damals war die Stimmung vorübergehend gefährlich, die Polizei trat aber auch gleich mit so nachdrücklichen Warnungen ein, dass es bei dem einen Falle blieb.
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Vielleicht wird eine spätere Geschichtsschreibung für diesen Krieg gar keine zureichenden politischen Ursachen finden können, sondern ihn eher einem tellurischen Einsturz, der ganze Kontinente mitreißt, vergleichen. Kann es ein kläglich hilfloseres Schauspiel geben als den letzten Notenwechsel der beiden scheinbar mächtigsten Männer, des russischen und des deutschen Kaisers, unmittelbar vor dem Kriegsausbruch, wie sie sich umeinander drehen, sich stemmen, jeder den andern um Erhaltung des Friedens anflehend, beide unvermögend, das Geschehende noch aufzuhalten, und so ein Nichtwollender den anderen Nichtwollenden mit sich in den feurigen Abgrund reißt!
Nein, dieser Krieg, wie überzeugt ein Teil dem andern die Schuld zuschob, ist kein ausgesuchtes Werk bösen menschlichen Willens gewesen, sondern nur menschlicher Ohnmacht vor dem Durchbruch dämonischer Gewalten. Ob nicht einmal Gelehrte kommen werden und nachweisen, dass es kosmische Strahlen waren, die den Weltkrieg entzündeten, und als er erloschen war, ihn im fernen Osten neu aufleben ließen?
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Ich hatte um jene Zeit keinen Haushalt und ging zum Mittagstisch in eine Pension in die Türkenstraße. Dort war eine laute, schlecht erzogene Russengesellschaft beisammen, die sich über den Tisch herüber mit Semmeln bewarf und sich gegen die Einheimischen so herausfordernd betrug, als ob wir schon im Krieg mit Russland und sie die Sieger wären. Sie gingen mir so auf die Nerven, dass ich mir wegdecken ließ zu einer netten kleinen amerikanischen Familie, die von Anfang wärmste Hinneigung zu Deutschland zeigte. Nach der englischen Kriegserklärung sagte mir der Mann, ein Dr. Henry, in seinem fast unverständlichen Deutsch: Es ist eine Verschworung. Wenn ich nicht hätte Familie, ich würde gehen freiwillig für Deutschland. – Die Stadt wimmelte damals von Amerikanern, die vom Morgen des 5. August an alle ihre Landesfarben trugen, zur Unterscheidung von den Engländern, eine Sitte, die dann auch bei uns allgemein wurde. Diese Amerikaner betätigten warmen Anteil und wurden wiederum von der Stadt mit großer Auszeichnung behandelt, bis sie mit Sonderzügen und Sonderschiffen in ihre Heimat zurückkehren konnten. Meine Russen dagegen waren schon vor der Mobilmachung samt und sonders wie aufgescheuchte Spatzen davongeflogen. Einer, der lange dagewesen und still auf seinem Zimmer gearbeitet hatte, wurde durch die unerwartete Ankunft seiner Frau und Kinder aus Russland in solch zornige Überraschung versetzt, dass er augenblicklich mit ihnen heimreiste, was den schleunigen Aufbruch aller andern nach sich zog. Sie schienen mehr von den kommenden Dingen zu wissen als wir anderen. Mit der Mobilmachung kam die Spionenriecherei, die zwar nicht grundlos aber doch sehr übertrieben war und einmal sogar mich selber ansteckte, dass mir ein Mensch verdächtig wurde, der bei einem Auflauf abseits stand und hastig in ein Merkbuch schrieb, gewiss das letzte, was unter erregten Volkshaufen einem wirklichen Spion einfallen könnte. Als ich es bedachte, musste ich über mich selber lachen, begegnete aber gleich darauf meinem Kyrios, der gleichfalls einen Verdächtigen aufgetrieben hatte, und nun wurde mir angst und bange vor dem Massenwahn, der augenblicks den ruhigsten Kopf ergreifen konnte. Einmal wurde ernstlich vor dem Trinkwasser gewarnt, es sei vielleicht vergiftet, doch nach ein paar Stunden ließ der Magistrat nach vorgenommener Untersuchung das Gegenteil versichern. Französische Offiziere suchten mit Gold für Russland über die Grenze zu kommen, seitdem wurden alle Autos angehalten und wenn sie nicht gehorchten, beschossen, wodurch viel Unheil geschah; auch feindliche Flieger weckten Beunruhigung, bis die Militärbehörde durch Anschläge warnte, auf sie zu schießen, es seien die Unsern. Dazu herrschte immerfort das herrlichste Sommerwetter, jetzt doppelt willkommen der ausrückenden Truppen und der noch nicht eingeheimsten Ernte wegen, für die die Frauen und Knaben aufgeboten wurden. Nie war die Stadt so voller Blumen, jeder Balkon ein kleiner Garten, die Türkenkaserne, wo das Leibregiment, der Stolz der Münchner, einquartiert war, ein Meer von blühenden Geranien; das alles hob die Herzen. Alte Prophezeiungen, ob echt oder gefälscht, gingen durch das Land und verkündeten ein wundergroßes Heil aus diesem Kriege; wie mundete der süße Hoffnungstrank. Die nichts von Mystik wissen wollten, bauten ihre Sicherheit auf ein still umgehendes Wehrgeheimnis, wonach durch eine künstliche Rheinüberschwemmung das Aufmarschgebiet der Franzosen sofort unter Wasser gesetzt werden könne, und wer den wilden Fantasien nicht glaubte, verließ sich auf die alsbald sichtbar werdenden Wunder unserer Organisation. Dass uns etwas Ernstliches zustoßen könnte, glaubte niemand.
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Zögernd schickt sich jetzt die Feder an, von der inneren Erhebung jener Tage zu berichten, die nur wer sie miterlebt hat, richtig fassen kann und auch der nur, wenn er das reine Bild des Anfangs aus den Greueln des Fortgangs und aus der Verworrenheit und Würdelosigkeit des Endes herauszuretten vermag. Wer gesteht sich’s noch, wer wagt es auszusprechen, dass dieses Furchtbare zuerst wie eine Gnade über uns kam, wie eine Erlösung aus stumpfer Stofflichkeit und Ichsucht? Welch ein ver sakrum, diese bekränzte, todgeweihte Jugend! Wie der Flügelschlag eines Adlers war es über diese Gesichter hingegangen und hatte die verworrene unzufriedene oder herausfordernd kalte Schrift der Vorkriegsjahre weggewischt. Ihre glühende Bereitschaft zum Opfer und die neuerkannte Heiligkeit des Daseins: es war, als hielten sie mit einem Arm das Leben, mit dem andern den Tod umfasst. Aber der Krieg, das kriegerische Heldentum, war es denn nicht ein überlebtes Ideal ferner barbarischer Zeiten? Gewiss, die Neutralen sahen es so an und viele von den Unsern auch. Aber ich vermochte nicht so kühl und objektiv zu empfinden, da ich den heiligen Ernst in den verwandelten Zügen meines Volkes sah. Ich wollte mir das Ungeheure, Einmalige, was ich da miterleben durfte, nicht zerdenken. War es ein Irrtum, so würde mich’s schmerzen, nicht mitgeirrt zu haben, wo das Gewaltige mich mitaufgehoben und dahingetragen hatte. Der reine Hauch der großen Mythe war ringsum und ließ mich die ersten Kriegsmonate wie Gesänge des Homer miterleben.
Die Tage der Mobilmachung! Unvergesslich ein nächtlicher Spaziergang mit Mohl im Englischen Garten. Die ganze Sommernacht erfüllt von Soldatenabschied. Jeder Feldgraue mit seinem Mädchen am Arm. Heute gab’s das noch, das Mädchen und die Liebe. Von morgen an gab’s nur noch die Pflicht und den Kameraden. O dieses Heute. Für viele ihr letztes Heute, das es noch auszukosten galt. Ein nicht endendes Sichverschenken, Sichverströmen. Keine Bank, wo nicht zwei Liebende saßen, kein Gebüsch, hinter dem es nicht flüsterte, und alles war jetzt heilig und groß. Wie ein einziger stummer Liebeszwiegesang stieg es auf zu den Wipfeln des weiten Parks: Ich und Du – Du und Ich und morgen das Ende!
Eine unsägliche Ergriffenheit ließ niemand in diesen Sommernächten zu Hause bleiben. Die sonst so stillen Straßen Münchens fluteten immerzu vom Menschengewühl. Mit dem Fremdesten wurden Reden getauscht, jeder Begegnende war wie ein Verwandter, das gemeinsame Schicksal, das über uns hing, löste die Starre die sonst Mensch vom Menschen trennt. Und tauchte ein bekanntes Gesicht in der Menge auf, so gab es einen Jubel, und auf allen Lippen war das eine Wort: Deutschland. Was gab es jetzt noch zu erhoffen und zu erflehen aus ungeteiltem Herzen als eben den Sieg der deutschen Waffen – und nicht einmal einen zu raschen Sieg, sagte ich leise zu mir selber, damit das Feuer der Läuterung Zeit habe. Es war eine Besessenheit, wie junge Liebe, die mit einem Male die Welt verwandelt, weil nichts anderes neben ihr Raum hat. Die ganze Weltweite des täglichen Denkens zusammengezogen in das Eine: Vaterland! Und dieses Eine zur Unendlichkeit ausgeweitet durch das Gefühl das die Gewähr seiner Berechtigung in sich selber trug. Nicht bei uns allein geschah dies, auch bei den anderen Völkern, von uns ungewusst, loderte das Opferfeuer, in das die Jugend sich bekränzt und jauchzend stürzte. Sie hatten ja keinen Hass, diese todbereiten Knaben, sie kannten den Gegner nicht einmal –, den Hass hatten nur die Hetzer. Es war der unfassbare Zustand, für den Hölderlin das seherische Wort gefunden hat: Und Völker auch ergreifet die Todeslust / Und Heldenstädte sinken –
Dann der Aufbruch zwischen enggedrängtem Menschenspalier durch die wimmelnden Straßen, alle die graubezogenen niederen Helme mit Eichenlaub, alle Geschütze mit Blumengewinden, Blumen in ihren gähnenden Mäulern wie zu einem Fest, der Marschtakt der singenden Kolonnen, auch Frauen mit im Zug – der eine hatte seine Mutter, der andere sein Mädchen am Arm, der stürmende Marsch riss sie in Riesenschritten mit, denn heute war alles erlaubt. Den Kanonieren auf ihren Protzkästen strecken die jungen Mädchen noch ihre Hände hinauf, die Soldaten fassen und drücken sie, und immer wieder ein Rufen und Winken der Abziehenden in die Menge hinein: »Lieb Vaterland, magst ruhig sein« – und Wir schaffens schon – bis die Musik in der Richtung des Bahnhofs verhallte und die weite Ludwigstraße, die schönste Münchens, fortan leer und ohne Leben lag. Und dann das atemlose Horchen ins Leere hinaus. Auch wer keine Angehörigen im Feld hatte, war doch mit seinem ganzen Herzen draußen. Allenthalben sah die erregte Fantasie Vorzeichen: so finde ich in meinen Papieren aus dem August 1914 ein seltsames eben beobachtetes Wolkenspiel eingetragen: Im weißen Cumulus entstand ein edler Männerkopf mit kühner Nase, lockenumwallter Stirn, der langsam rückwärts nach Osten segelte. Eine formlose weiße Wolke rückte ihm nach. Ich musste denken: wenn er sich jetzt plötzlich in einen Totenkopf verwandeln würde? Kaum gedacht, geschah es; die edel geformte Nase sank ein, der Mund öffnete sich weiter und weiter, die Zähne fletschten. Die weiße Wolke zog ihm jetzt schneller nach (mir unverständlich, weil ein Wind sie trieb), erreichte, durchdrang ihn langsam, bis auch er sich in Formlosigkeit auflöste. Es gab mir einen Stich ins Herz, ich musste an das große Männersterben denken und an die edelsten Gesichter, die sich jetzt in nichts auflösten.
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In den frühen Augusttagen kam Thole, der, weil ungedient, noch nicht einberufen war, und sagte, die deutsche Jugend erwarte von mir ein Lied. Ich schwankte. Unseren Urmüttern, die im Notfall selber in den Kampf eingriffen, stand es an, den ausziehenden Männern das Schwert zu segnen. Aber eine Frau von heute? Doch ehe ich mich’s versah, war der Funke übergesprungen und hatte gezündet. Ich sah im Geist eine feierliche Halle, an ihrer Wand ein gefeites Schwert in der Scheide aufgehängt. Torhüter wachen, innen aber liegen heilige Frauen auf den Knien und beten, dass das Schwert nicht von selbst aus der Scheide fahre:
In der Halle des Hauses da hängt ein Schwert,
Schwert in der Scheide.
In seinem Blitzen vergeht die Erd’.
Wir hüten’s und beten Tag und Nacht,
Dass es nicht klirrend von selbst erwacht.
Denn uns ist geschrieben ein heiliges Gebot:
Ihr sollt es nur brauchen in letzter Not,
Schwert in der Scheide.
In der zweiten Strophe blühte das Friedensmotiv aus dem Winfeld noch einmal auf:
Wir sind geduldig wie Starke sind,
Schwert in der Scheide.
Wir achten’s nicht, was der Neid uns spinnt.
Sie haben uns manchen Tort getan,
Wir litten’s und hielten den Atem an.
Die Sonne glüht auf der Ernte Gold.
Friede, wie bist du so hold, so hold,
Schwert in der Scheide!
Aber umsonst, das Verhängnis geht seinen Gang:
Doch der Neid missgönnt uns den Platz am Licht,
Schwert in der Scheide!
Feinde umzieh’n uns wie Wolken dicht.
Hier stockte das Wort und blieb für mehrere Tage in der Schwebe. Bis es um uns her von Kriegserklärungen wie von platzenden Raketen prasselte, jeder Tag einen neuen Feind brachte und nun auch Italien von unserer Seite wegtrat. Da brach der Schluss wie ein Notschrei heraus:
Бесплатный фрагмент закончился.