Читать книгу: «Isolde Kurz – Gesammelte Werke», страница 68

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Ei­che, sprach ich, Ei­che von Che­rus­ka,

Lan­ge stehst du, viel hast du ge­se­hen,

Was du selbst nicht sahst, dir sang’s als jun­gem

Reis die Ahne zu, die hier ge­stan­den.

Sieh, mich trieb Ver­lan­gen un­be­zwing­lich

Her, von dei­nes Lan­des Hel­den­soh­ne

Ein­mal ein le­ben­di­ges Wort zu hö­ren.

Ihn, den Rä­cher mein’ ich, den Er­ret­ter,

Den wir nur vom Lob des Fein­des ken­nen,

Weil die Lie­der sei­nes Volks ver­stummt sind,

Der so herr­lich strahlt in Fein­des­mun­de,

Wie er spie­lend im ver­schlos­se­nen Bu­sen

Trug den Blitz der Tat, die uns be­frei­te.

Alle die Wäl­der hab ich nun durch­wan­dert

Wo des Va­rus Le­gio­nen schla­fen,

Ob ein Sang noch sein ge­denkt, ein Schat­ten

Sei­nes We­sens geht auf ro­ter Erde,

Ob viel­leicht in ei­nem Kin­der­rei­me,

Ob in ei­nes Orts ent­stell­tem Na­men

Noch ein Nach­hall un­be­wusst ihn nen­ne.

Auf dem Win­feld fried­lich äs­ten Hir­sche, Glas­hell rann zu Tal die Ber­le­be­ke, In Feldrom da wei­de­ten fet­te Her­den, Von Ar­mi­ni­us ward mir kei­ne Kun­de. Ei­che, sieh, zu dei­nem Stam­me tret ich, Drein Che­rus­kas Hel­den­kraft ge­bannt ist. Auch in mei­nen Adern rinnt ein Trop­fe Sach­sen­blut und die­sen Bo­den lieb ich Ehr­furchts­voll wie den, der mich ge­bo­ren. Kurz ist das Ge­dächt­nis ja der Men­schen Und sie eh­ren nur, was ih­ren Au­gen Nah, doch du und ich wir pflich­ten nicht der Zeit und wei­ter ge­hen un­se­re Bli­cke. Was sind tau­send Jah­re und aber­tau­send Vor dem Zoll des Dan­kes, den wir ihm schul­den, Vor der Treue, die wir ihm be­wah­ren. Ja, mich kränk­t’s, dass ich zu spät ge­bo­ren, Sei­nes Au­ges blau­en Blitz zu se­hen, Den der Rö­mer schau­dernd sah – und rühm­te. Ei­che, sprich mir von Ar­min, dem Hel­den.

Was mir ihr Laub­ge­säu­sel zur Ant­wort gab, war so dun­kel, dass ich es erst Wo­chen spä­ter ver­stand, als Deutsch­land wie ein ein­zi­ger Ar­mi­ni­us auf­stand, um mit dem hal­b­en Erd­kreis um un­se­re Er­hal­tung zu rin­gen.

*

War es die Neu­heit der im deut­schen Nor­den ge­se­he­nen Din­ge oder war es der Ge­gen­satz zu dem dar­auf­fol­gen­den furcht­ba­ren Welt­ge­sche­hen, der mir alle jene Rei­se­ta­ge so un­ver­ge­ss­lich glanz­voll ge­macht hat? Ei­ner der schöns­ten war der Tag in dem köst­li­chen Worps­we­de, das nicht um­sonst das Pa­ra­dies der Ma­ler hieß. Wie eine Oase lag es in­mit­ten der sonst völ­lig öden, mo­ras­ti­gen Nie­de­rung mit dem un­sag­bar zar­ten Far­ben­schmelz sei­ner Land­schaft, dem stol­zen Baum­wuchs, der rei­zen­den Pflas­te­rung der Dorf­stra­ßen – ei­ner Mo­sa­ik aus bläu­li­chen, ro­ten und gel­ben Stei­nen –, mit dem leuch­ten­den grün und ro­ten An­strich der großen Ge­höf­te, den der blas­se­re Him­mel ger­ne litt. Um die ge­schnitz­ten Pfer­de­häup­ter auf den Firs­ten spann ger­ma­ni­sche Vor­welt. Die­se nie­der­säch­si­schen Bau­ern­hö­fe mit ih­ren über­ra­schen­den Aus­ma­ßen, edel von Ei­chen­hai­nen um­ge­ben, mach­ten mir einen star­ken Ein­druck, da ich bis­her nur die win­zig auf­ge­teil­ten Bau­ern­güt­lein mei­ner schwä­bi­schen Hei­mat ge­kannt hat­te und die von länd­li­chen Co­lo­nen auf halb und halb be­wirt­schaf­te­ten tos­ka­ni­schen Herr­schafts­gü­ter, wor­an die ar­bei­ten­de Hand kein Ei­gen­tums­recht hat. In Hö­fen wie die­sen moch­ten vor­einst auch die Ede­lin­ge und Stam­mes­häup­ter des Vol­kes ge­ses­sen ha­ben. In den schöns­ten von al­len tra­ten wir ein und wur­den von dem Be­sit­zer, ei­nem erns­ten hoch­ge­wach­se­nen Man­ne, mit na­he­zu kö­nig­li­chem An­stand emp­fan­gen, aus dem der höf­li­che Stolz ur­al­ten Be­sit­zes sprach. Er führ­te uns durch eine lan­ge Die­le, wo in Stän­den rechts und links das treff­lich ge­hal­te­ne Vieh zur Sei­te stand und wo in frü­he­ren Zei­ten der Rauch vom Vor­platz durch­zog. Der Vor­platz prang­te mit präch­ti­gen ge­schnitz­ten Schrän­ken, al­ten Uhren, Ge­schirr und Glä­sern und auf­ge­häng­ten Krän­zen da­zwi­schen, vie­les vom Be­sit­zer und sei­nem Va­ter ge­sam­melt, das meis­te von je im Hau­se. Der Gar­ten mit sei­nen herr­li­chen Bäu­men, sei­nen Blu­men und ei­nem Sumpf­wei­her voll Was­ser­li­li­en war mehr ein Park zu nen­nen. Wir muss­ten auch un­se­re Na­men in ein Buch ein­tra­gen, und beim Ab­schied über­reich­te er mir eine Fo­to­gra­fie sei­nes Vor­raums mit den fast fei­er­li­chen Wor­ten: Das mö­gen Sie ha­ben; ich be­wah­re sie noch heu­te auf. Er riet uns auch einen sei­ner klei­ne­ren Höfe zu be­su­chen, wo die Ein­rich­tung noch al­ter­tüm­li­cher sei. Dort fan­den wir die Die­le ähn­lich ge­baut, nur klei­ner, im Hin­ter­grund eine schön mit Ka­cheln ein­ge­leg­te Wand und auf nied­rig auf­ge­mau­er­ter Feu­er­stel­le einen großen, an Ei­sen­ket­ten hän­gen­den Kes­sel, des­sen glei­chen ich öf­ters in Ober­ita­li­en und in den Do­lo­mi­ten schon ge­se­hen hat­te. Würs­te und Schin­ken, letz­te­re in wei­ßes Zeug ver­hüllt, hin­gen zum Räu­chern her­um, und die De­cke um die Feu­er­stel­le her war blin­kend schwarz von Glanz­ruß (Die Frau­en trü­gen, sag­te man mir, des Rau­ches we­gen meist schwar­ze Klei­der.) Der Mann, der uns führ­te, sah to­destrau­rig aus, und als er uns mit­teil­te, dass er jetzt al­lein lebe, weil die Kin­der fort sei­en und die Frau tot, kämpf­ten sei­ne har­ten Ge­sichts- und Hals­mus­keln mit dem un­ter­drück­ten Wei­nen. Wir gin­gen schleu­nig, denn solch ein ein­sa­mer, hart ge­wor­de­ner Schmerz lei­det kei­nen Zu­spruch. Bo­den­ver­wach­se­ner noch als an­der­wärts, aber auch schick­sal­ge­bun­de­ner er­schi­en mir hier das bäu­er­li­che Le­ben. Und hat­te mich zu­vor als Städ­te­rin ohne ei­ge­ne Schol­le deut­schen Bo­dens dem rei­chen Erb­bau­ern ge­gen­über fast ein Ge­fühl von Be­schä­mung be­schlei­chen wol­len, so sag­te ich mir jetzt vor der tie­fen Hilf­lo­sig­keit der Un­geis­ti­gen, dass wir mit den frü­he über­kom­me­nen Schät­zen der deut­schen Geis­tes­welt doch den bes­se­ren Teil des Vä­te­rer­bes er­lost hat­ten. – Be­vor wir schie­den, er­stie­gen wir noch den Stolz von Worps­we­de, den schön mit Ei­chen und Fich­ten be­wach­se­nen »Berg«, der mit­ten aus der tel­ler­fla­chen Land­schaft auf­ragt, aber frei­lich nur et­li­che Me­ter hoch ist. Un­ge­mein freund­lich mu­te­te mich auch die im Frei­en in ei­nem Holz­ge­stühl auf­ge­häng­te Dorf­glo­cke an und weck­te die däm­mern­de Erin­ne­rung an jene ir­gend­wo ge­hör­te Mär von dem in Not ge­ra­te­nen Grau­tier – oder war’s ein Pferd? –, das an der auf­ge­häng­ten Dorf­glo­cke Hil­fe her­bei­läu­te­te.

Auf­fal­lend war mir; im deut­schen Nor­den die ge­sam­te Le­bens­hal­tung, auch bei ge­si­cher­tem Wohl­stand, un­end­lich kar­ger zu fin­den als in dem sin­nen­fro­hen Sü­den; auch die Kü­che, we­nigs­tens in den klei­ne­ren Gast­stät­ten und auf dem Lan­de viel dürf­ti­ger be­stellt und häu­fig un­ter Ver­wen­dung von min­der­wer­ti­gem Fett, so­dass ich mir gleich den Ma­gen verd­arb und trotz der Rei­se­stra­pa­zen man­chen Tag bei stren­gem Fas­ten ver­brach­te, ja selbst auf der un­ru­hi­gen Über­fahrt nach Sylt nichts ge­nos­sen hat­te als einen recht frag­wür­di­gen Mor­gen­kaf­fee. Aber ich ließ mich durch nichts Per­sön­li­ches an­fech­ten, be­nom­men wie ich war von dem Wun­der Deutsch­land, das zu sei­nem far­ben­rei­chen Sü­den einen sol­chen groß­ar­tig her­ben Nor­den hin­zu­be­saß, und dass bei­de un­glei­che Hälf­ten zu­sam­men­pass­ten wie die ei­ner Eier­scha­le, weil kei­ne ei­nem an­de­ren als dem deut­schen Volk an­ge­hö­ren konn­te.

Im Ham­bur­ger Ha­fen hat­te ich eine Stun­de tiefer Ge­nug­tu­ung. Ja, wir wa­ren ein großes Volk. In lan­gen Was­ser­stra­ßen la­gen sie da Bord an Bord, die Nach­kom­men un­se­rer al­ten Han­sa, rie­si­ge Über­see­damp­fer, und sie fan­den drau­ßen ei­ge­ne Hä­fen wie die der an­dern großen Völ­ker. Denn un­ter­des­sen war es zur Wahr­heit ge­wor­den, was ich mir in jün­ge­ren Jah­ren so bren­nend für mein Volk er­sehnt hat­te: auch wir be­sa­ßen über­see­i­sche Ko­lo­ni­en. Nicht als hät­te ich mich viel um un­se­re Han­dels­be­lan­ge ge­sorgt, von de­nen ich nichts ver­stand; es ging mir um Frei­zü­gig­keit und Welt­wei­te, um die Lüf­tung un­se­rer Le­bens­sphä­re, um eine Schu­le der Tat­kraft und Selbst­ver­ant­wor­tung für un­se­re Ju­gend, die ich all­zu staat­lich ge­gän­gelt sah. Die­sen Schif­fen, die mir schon vom Hauch der Ent­de­ckun­gen und der Aben­teu­er um­wit­tert wa­ren, gab ich den Dank an un­se­re stol­ze Nord­see und alle Se­gens­sprü­che für die Fern­fahrt mit:

Weitoff­nes Fens­ter nach dem Welt­meer, lass

Den Atem ein der un­ge­mes­se­nen Wei­te,

Die Düns­te trei­bend aus der Deut­schen Haus

Und al­les was uns schwach und klein ge­macht;

Wie Bri­ten stolz doch mensch­li­cher als sie

Fahr, deut­sche Ju­gend, nach den ferns­ten Küs­ten.

Im Wa­g­nis rei­fe du, der Kauf­mann su­che

Ge­winn und Aben­teu­er der Sol­dat.

Von eu­rem Erb­teil ewi­ger Ge­dan­ken

Schei­det ihr Küh­nen nie, mit lei­sem Tritt

Geht un­ge­seh’n auf den be­weg­ten Plan­ken

Die Muse Deutsch­lands mit.

Wur­de die­se Stro­phe ei­nes lan­gen Lie­bes­lie­des an Deutsch­land – mei­ne gan­ze Rei­se war ein sol­ches – auch erst zu An­fang des Welt­kriegs nie­der­ge­schrie­ben, so war sie doch bei der be­glücken­den Schau im Ham­bur­ger Ha­fen un­mit­tel­bar emp­fan­gen.

*

Aber die Kro­ne al­les Er­le­bens war die In­sel Sylt. Hier gin­gen die Wor­te aus. Von Eu­ro­pa war nichts üb­rig, nicht ein­mal die Vor­stel­lung, alle Wei­te zu­sam­men­ge­zo­gen in das klei­ne Stück Fest­land, das wie ein auf­ge­schos­se­ner Pilz auf dem Was­ser schwamm und in nichts den süd­li­chen In­seln mei­ner al­ten Lie­be glich. Ein selt­sam en­ger Ho­ri­zont frie­det es völ­lig ein, und der Him­mel wölbt sich dar­über wie ein rund­ge­spann­tes blau­es Ge­zelt oder eine lich­te Glo­cke, die im Mee­re auf­steht. So hat­te ich mir einst Thu­le ge­dacht als letz­ten ferns­ten Aus­läu­fer des Ge­schaf­fe­nen. Lan­ge Dü­nen­zü­ge, kühn ge­formt wie Ge­bir­ge und mit har­ten Strand­grä­sern be­wach­sen, durch­zo­gen das In­ne­re, da­hin­ter bran­de­te die Nord­see, ver­ebb­te das Watt und nir­gends et­was Fes­tes, auch das rote Kliff, das Fes­tes­te, was es gab, aus Meer­sand ge­ballt. Wie der Raum, so war auch die Zeit ver­schwun­den, der nor­di­sche Tag schi­en gar nicht nie­der­zu­ge­hen, um zehn Uhr abends konn­te ich noch im Frei­en einen Brief le­sen. In dem Brief stand, wann ich denn end­lich nach For­te zu kom­men ge­däch­te, wo mein Haus, das Meer, die Freun­de mich er­war­te­ten. Aber For­te war mir jetzt so fern. Über mei­nem Haupt glänz­te hoch und hell der Po­lars­tern, der zu die­ser Stun­de nur matt und tief­ge­neigt über mei­ner Ter­ras­se am süd­li­chen Mee­re stand. Herr­lich, so al­les Ir­di­sche ab­ge­wor­fen zu ha­ben und nur noch mit den Ster­nen zu den­ken. Das selt­sa­me über­große Glücks­ge­fühl wur­de so mäch­tig in mir, dass ich die gan­ze Nacht schlaf­los lag und mein­te, das Herz wol­le mir vor ei­tel Freu­de zer­sprin­gen.

Wir mie­te­ten uns für ein paar Tage in Wes­ter­land ein. Dort be­such­ten wir den »Fried­hof der Hei­mat­lo­sen«, de­nen Car­men Syl­va einen ge­mein­sa­men Spruch ge­stif­tet hat­te. Ich ent­zif­fer­te je­den Na­men auf den Stei­nen, man­che wa­ren un­be­kannt ge­blie­ben und man las nur den Tag, wo das Meer den To­ten an­spül­te. Ein from­mer Christ mag vor die­sen Grä­bern ein stil­les Ge­bet spre­chen, ich tat was ich konn­te, in­dem ich je­dem der na­men­lo­sen Schlä­fer einen tröst­li­chen Gruß aus dem Lan­de der Le­ben­di­gen nach­zu­sen­den such­te. Ich habe Sylt nicht wie­der­ge­se­hen, kann aber nicht ohne Schau­er den­ken, zu wel­chem Um­fang die­se Ru­he­stät­te der Ge­schei­ter­ten im Welt­krieg an­ge­wach­sen sein muss. Hof­fent­lich ist der ehr­furcht­los nahe her­an­ge­bau­te Ten­nis­platz bei der Er­wei­te­rung ver­schwun­den. – Das Hü­nen­grab in­mit­ten des wei­ten blü­hen­den Hei­de­grunds, eine hohe Ra­sen­um­wal­lung. in die wir mit­tels ei­ner Lei­ter ein­stie­gen, ent­hielt zwar kei­ne Fund­stücke, brach­te mich aber in mei­ne ed­dat­run­ke­nen Kin­der­ta­ge zu­rück, da ich mit dem Bru­der Ed­gar ein Ei­land im Nord­meer zu­sam­men­fa­bel­te, um das Dra­chen­schif­fe kämpf­ten und Wal­kü­ren flo­gen und wo wir un­se­ren Herr­scher­sitz auf­schla­gen woll­ten, wenn wir erst groß wä­ren. Die­ses Grab, al­len Schmuckes be­raubt und na­men­los, hat­te den­noch ein kö­nig­li­ches An­se­hen, dass ich es mir nur als das des ge­wal­ti­gen Hel­ge, des Hun­ding­tö­ters, den­ken konn­te, bei dem sei­ne trau­ern­de Wal­kü­re all­abend­lich des to­ten Hel­den Rück­kehr aus Wal­hall ab­war­tet, um ihn in ih­ren Ar­men wie­der zu wär­men.

Ein Frös­teln über­läuft mich wie ich’s den­ke.

Ist es der Schau­er vor der To­ten Nähe?

Sin­d’s Abend­lüf­te, die mich küh­ler mah­nen?

Ist es die Schön­heit un­se­rer Hel­den­sa­ge?

O nein, ich weiß, mich traf ein jä­hes Ah­nen

Von al­tem Leid, das neu ge­bo­ren wird,

Von Hel­denster­ben, das in Lüf­ten irrt,

Und neu­er Wit­wen­kla­ge.

Als wir in Ham­burg den Fuß wie­der an Land setz­ten, traf uns wie ein Blitz­strahl die Nach­richt von der am sel­ben Tage er­folg­ten Er­mor­dung des ös­ter­rei­chi­schen Thron­fol­ger­paa­res in Sera­je­wo.

Siebzehntes Kapitel – Im Weltbrand

Dass kein frem­der Fuß be­tre­te den hei­mi­schen Grund,

Stirbt ein Bru­der in Po­len, liegt ei­ner in Flan­dern wund

Alle schüt­zen wir dei­ner Gren­ze hei­li­gen Saum.

Un­ser blü­hends­tes Le­ben für dei­nen dürrs­ten Baum,

Deutsch­land.

Karl Brö­ger

Nun stand es ge­ra­de über un­se­rem Haupt, das Ge­wit­ter des­sen Grol­len ich so­lan­ge vor­aus ver­nom­men hat­te, bis ich am Ende sel­ber nur noch halb dar­an glaub­te. Und jetzt horch­ten alle auf und staun­ten, was da wer­den woll­te. Aber auf welch selt­sa­me Wei­se oft un­ser Schick­sal ge­lenkt wird. Nach­träg­lich könn­te ich mir ein­bil­den, es habe mich das Vor­ge­fühl ge­trie­ben, von der jähr­li­chen Rei­se nach Sü­den, für die al­les be­rei­tet war, ab­zu­ste­hen, und doch er­in­ne­re ich mich ge­nau, dass es nur die klei­nen all­täg­li­chen Hin­der­nis­se wa­ren, die sich mir je­des Mal in den Weg stell­ten, wenn ich glaub­te mit al­len Ge­schäf­ten und Auf­ga­ben fer­tig zu sein und fort zu kön­nen, jene wun­der­li­chen Ko­bol­de, de­ren Scha­ber­nack uns das ei­nemal die Freu­de zer­stört, das an­de­re­mal wohl­tä­tig einen schick­sals­blin­den Vor­satz hemmt.

Ich kann mir nicht aus­ma­len, wel­che in­ne­re Zer­stö­rung ich da­von­ge­tra­gen hät­te, wäre ich drau­ßen vom Kriegs­aus­bruch über­rascht wor­den und all der auf­ge­stau­te Hass, der sich über das un­glück­li­che ah­nungs­lo­se Deutsch­land er­gie­ßen soll­te, wäre mir ei­gens­tes un­mit­tel­bars­tes Er­leb­nis ge­wor­den. Und wahr­schein­lich hät­te mir gleich die ös­ter­rei­chi­sche Mo­bil­ma­chung den Rück­weg ver­sperrt, dass ich ge­zwun­gen ge­we­sen wäre, mit­ten durch die auf­ge­peitsch­ten Lei­den­schaf­ten ei­nes ge­häs­si­gen in­ter­na­tio­na­len Rei­se­pu­bli­kums hin­durch mir einen an­de­ren Grenz­über­gang zu su­chen. Zum Glück zog mich’s per­sön­lich nicht stark nach Sü­den; bei der vier­zehn­tä­gi­gen Wan­de­rung im nörd­li­chen Deutsch­land war mir al­les Deut­sche so zärt­lich na­he­ge­kom­men, dass ich nur zö­gernd schied. Ich pack­te, aber ich pack­te lang­sam. End­lich gab ich mir selbst den Be­fehl, bis zum 6. Au­gust, dem Ge­burts­tag des Müt­ter­leins, den ich noch all die Jah­re mit den dor­ti­gen Freun­den ge­fei­ert hat­te, in For­te zu sein. Da kam das un­an­nehm­ba­re Ul­ti­ma­tum Ös­ter­reichs an Ser­bi­en, und jetzt zit­ter­te der Bo­den Eu­ro­pas. Als Ös­ter­reich an Ser­bi­en den Krieg er­klär­te, gab es ge­wal­ti­ge Kund­ge­bun­gen vor der ös­ter­rei­chi­schen Ge­sandt­schaft, die sich durch meh­re­re Näch­te wie­der­hol­ten. Man sang va­ter­län­di­sche Lie­der und den Gu­ten Ka­me­ra­den. Wird der Brand sich aus­brei­ten? Das war das ein­zi­ge, was noch ge­spro­chen wur­de. Man wuss­te, dass un­se­re Re­gie­ren­den end­lich er­wacht wa­ren und ta­ten was sie konn­ten, um den Frie­den zu er­hal­ten. Man hoff­te halb und fürch­te­te das Ge­lin­gen ih­rer Be­mü­hun­gen, denn man sag­te sich, wenn es sein muss, dann je eher je bes­ser. Die Men­ge hat­te da­mals im Tritt et­was wie ein Auf­stamp­fen, das nach Ent­schei­dung dräng­te. Doch er­in­ne­re ich mich aus je­nen Ta­gen höchs­ter Er­reg­bar­keit nur ei­ner ein­zi­gen Aus­schrei­tung, der Zer­trüm­me­rung ei­nes Kaf­fee­hau­ses am Karls­platz, wo ser­bi­sche Stu­den­ten durch ihre Hal­tung öf­fent­li­ches Är­ger­nis er­regt hat­ten. Da­mals war die Stim­mung vor­über­ge­hend ge­fähr­lich, die Po­li­zei trat aber auch gleich mit so nach­drück­li­chen War­nun­gen ein, dass es bei dem einen Fal­le blieb.

*

Vi­el­leicht wird eine spä­te­re Ge­schichts­schrei­bung für die­sen Krieg gar kei­ne zu­rei­chen­den po­li­ti­schen Ur­sa­chen fin­den kön­nen, son­dern ihn eher ei­nem tel­lu­ri­schen Ein­sturz, der gan­ze Kon­ti­nen­te mit­reißt, ver­glei­chen. Kann es ein kläg­lich hilflo­se­res Schau­spiel ge­ben als den letz­ten No­ten­wech­sel der bei­den schein­bar mäch­tigs­ten Män­ner, des rus­si­schen und des deut­schen Kai­sers, un­mit­tel­bar vor dem Kriegs­aus­bruch, wie sie sich um­ein­an­der dre­hen, sich stem­men, je­der den an­dern um Er­hal­tung des Frie­dens an­fle­hend, bei­de un­ver­mö­gend, das Ge­sche­hen­de noch auf­zu­hal­ten, und so ein Nicht­wol­len­der den an­de­ren Nicht­wol­len­den mit sich in den feu­ri­gen Ab­grund reißt!

Nein, die­ser Krieg, wie über­zeugt ein Teil dem an­dern die Schuld zu­schob, ist kein aus­ge­such­tes Werk bö­sen mensch­li­chen Wil­lens ge­we­sen, son­dern nur mensch­li­cher Ohn­macht vor dem Durch­bruch dä­mo­ni­scher Ge­wal­ten. Ob nicht ein­mal Ge­lehr­te kom­men wer­den und nach­wei­sen, dass es kos­mi­sche Strah­len wa­ren, die den Welt­krieg ent­zün­de­ten, und als er er­lo­schen war, ihn im fer­nen Os­ten neu auf­le­ben lie­ßen?

*

Ich hat­te um jene Zeit kei­nen Haus­halt und ging zum Mit­tags­tisch in eine Pen­si­on in die Tür­ken­stra­ße. Dort war eine lau­te, schlecht er­zo­ge­ne Rus­sen­ge­sell­schaft bei­sam­men, die sich über den Tisch her­über mit Sem­meln be­warf und sich ge­gen die Ein­hei­mi­schen so her­aus­for­dernd be­trug, als ob wir schon im Krieg mit Russ­land und sie die Sie­ger wä­ren. Sie gin­gen mir so auf die Ner­ven, dass ich mir weg­de­cken ließ zu ei­ner net­ten klei­nen ame­ri­ka­ni­schen Fa­mi­lie, die von An­fang wärms­te Hin­nei­gung zu Deutsch­land zeig­te. Nach der eng­li­schen Kriegs­er­klä­rung sag­te mir der Mann, ein Dr. Hen­ry, in sei­nem fast un­ver­ständ­li­chen Deutsch: Es ist eine Ver­schworung. Wenn ich nicht hät­te Fa­mi­lie, ich wür­de ge­hen frei­wil­lig für Deutsch­land. – Die Stadt wim­mel­te da­mals von Ame­ri­ka­nern, die vom Mor­gen des 5. Au­gust an alle ihre Lan­des­far­ben tru­gen, zur Un­ter­schei­dung von den Eng­län­dern, eine Sit­te, die dann auch bei uns all­ge­mein wur­de. Die­se Ame­ri­ka­ner be­tä­tig­ten war­men An­teil und wur­den wie­der­um von der Stadt mit großer Aus­zeich­nung be­han­delt, bis sie mit Son­der­zü­gen und Son­der­schif­fen in ihre Hei­mat zu­rück­keh­ren konn­ten. Mei­ne Rus­sen da­ge­gen wa­ren schon vor der Mo­bil­ma­chung samt und son­ders wie auf­ge­scheuch­te Spat­zen da­von­ge­flo­gen. Ei­ner, der lan­ge da­ge­we­sen und still auf sei­nem Zim­mer ge­ar­bei­tet hat­te, wur­de durch die un­er­war­te­te An­kunft sei­ner Frau und Kin­der aus Russ­land in solch zor­ni­ge Über­ra­schung ver­setzt, dass er au­gen­blick­lich mit ih­nen heim­reis­te, was den schleu­ni­gen Auf­bruch al­ler an­dern nach sich zog. Sie schie­nen mehr von den kom­men­den Din­gen zu wis­sen als wir an­de­ren. Mit der Mo­bil­ma­chung kam die Spio­nen­rie­che­rei, die zwar nicht grund­los aber doch sehr über­trie­ben war und ein­mal so­gar mich sel­ber an­steck­te, dass mir ein Mensch ver­däch­tig wur­de, der bei ei­nem Auf­lauf ab­seits stand und has­tig in ein Merk­buch schrieb, ge­wiss das letz­te, was un­ter er­reg­ten Volks­hau­fen ei­nem wirk­li­chen Spi­on ein­fal­len könn­te. Als ich es be­dach­te, muss­te ich über mich sel­ber la­chen, be­geg­ne­te aber gleich dar­auf mei­nem Ky­ri­os, der gleich­falls einen Ver­däch­ti­gen auf­ge­trie­ben hat­te, und nun wur­de mir angst und ban­ge vor dem Mas­sen­wahn, der au­gen­blicks den ru­higs­ten Kopf er­grei­fen konn­te. Ein­mal wur­de ernst­lich vor dem Trink­was­ser ge­warnt, es sei viel­leicht ver­gif­tet, doch nach ein paar Stun­den ließ der Ma­gis­trat nach vor­ge­nom­me­ner Un­ter­su­chung das Ge­gen­teil ver­si­chern. Fran­zö­si­sche Of­fi­zie­re such­ten mit Gold für Russ­land über die Gren­ze zu kom­men, seit­dem wur­den alle Au­tos an­ge­hal­ten und wenn sie nicht ge­horch­ten, be­schos­sen, wo­durch viel Un­heil ge­sch­ah; auch feind­li­che Flie­ger weck­ten Beun­ru­hi­gung, bis die Mi­li­tär­be­hör­de durch An­schlä­ge warn­te, auf sie zu schie­ßen, es sei­en die Un­sern. Dazu herrsch­te im­mer­fort das herr­lichs­te Som­mer­wet­ter, jetzt dop­pelt will­kom­men der aus­rücken­den Trup­pen und der noch nicht ein­ge­heims­ten Ern­te we­gen, für die die Frau­en und Kna­ben auf­ge­bo­ten wur­den. Nie war die Stadt so vol­ler Blu­men, je­der Bal­kon ein klei­ner Gar­ten, die Tür­ken­ka­ser­ne, wo das Lei­bre­gi­ment, der Stolz der Münch­ner, ein­quar­tiert war, ein Meer von blü­hen­den Gera­ni­en; das al­les hob die Her­zen. Alte Pro­phe­zei­un­gen, ob echt oder ge­fälscht, gin­gen durch das Land und ver­kün­de­ten ein wun­der­großes Heil aus die­sem Krie­ge; wie mun­de­te der süße Hoff­nungs­trank. Die nichts von Mys­tik wis­sen woll­ten, bau­ten ihre Si­cher­heit auf ein still um­ge­hen­des Wehr­ge­heim­nis, wo­nach durch eine künst­li­che Rhein­über­schwem­mung das Auf­marsch­ge­biet der Fran­zo­sen so­fort un­ter Was­ser ge­setzt wer­den kön­ne, und wer den wil­den Fan­tasi­en nicht glaub­te, ver­ließ sich auf die als­bald sicht­bar wer­den­den Wun­der un­se­rer Or­ga­ni­sa­ti­on. Dass uns et­was Ernst­li­ches zu­sto­ßen könn­te, glaub­te nie­mand.

*

Zö­gernd schickt sich jetzt die Fe­der an, von der in­ne­ren Er­he­bung je­ner Tage zu be­rich­ten, die nur wer sie mit­er­lebt hat, rich­tig fas­sen kann und auch der nur, wenn er das rei­ne Bild des An­fangs aus den Greu­eln des Fort­gangs und aus der Ver­wor­ren­heit und Wür­de­lo­sig­keit des En­des her­aus­zu­ret­ten ver­mag. Wer ge­steht sich’s noch, wer wagt es aus­zu­spre­chen, dass die­ses Furcht­ba­re zu­erst wie eine Gna­de über uns kam, wie eine Er­lö­sung aus stump­fer Stoff­lich­keit und Ich­sucht? Welch ein ver sa­krum, die­se be­kränz­te, tod­ge­weih­te Ju­gend! Wie der Flü­gel­schlag ei­nes Ad­lers war es über die­se Ge­sich­ter hin­ge­gan­gen und hat­te die ver­wor­re­ne un­zu­frie­de­ne oder her­aus­for­dernd kal­te Schrift der Vor­kriegs­jah­re weg­ge­wischt. Ihre glü­hen­de Be­reit­schaft zum Op­fer und die neu­er­kann­te Hei­lig­keit des Da­seins: es war, als hiel­ten sie mit ei­nem Arm das Le­ben, mit dem an­dern den Tod um­fasst. Aber der Krieg, das krie­ge­ri­sche Hel­den­tum, war es denn nicht ein über­leb­tes Ide­al fer­ner bar­ba­ri­scher Zei­ten? Ge­wiss, die Neu­tra­len sa­hen es so an und vie­le von den Un­sern auch. Aber ich ver­moch­te nicht so kühl und ob­jek­tiv zu emp­fin­den, da ich den hei­li­gen Ernst in den ver­wan­del­ten Zü­gen mei­nes Vol­kes sah. Ich woll­te mir das Un­ge­heu­re, Ein­ma­li­ge, was ich da mit­er­le­ben durf­te, nicht zer­den­ken. War es ein Irr­tum, so wür­de mich’s schmer­zen, nicht mit­ge­irrt zu ha­ben, wo das Ge­wal­ti­ge mich mit­auf­ge­ho­ben und da­hin­ge­tra­gen hat­te. Der rei­ne Hauch der großen My­the war rings­um und ließ mich die ers­ten Kriegs­mo­na­te wie Ge­sän­ge des Ho­mer mit­er­le­ben.

Die Tage der Mo­bil­ma­chung! Un­ver­ge­ss­lich ein nächt­li­cher Spa­zier­gang mit Mohl im Eng­li­schen Gar­ten. Die gan­ze Som­mer­nacht er­füllt von Sol­da­ten­ab­schied. Je­der Feld­graue mit sei­nem Mäd­chen am Arm. Heu­te gab’s das noch, das Mäd­chen und die Lie­be. Von mor­gen an gab’s nur noch die Pf­licht und den Ka­me­ra­den. O die­ses Heu­te. Für vie­le ihr letz­tes Heu­te, das es noch aus­zu­kos­ten galt. Ein nicht en­den­des Sich­ver­schen­ken, Sich­ver­strö­men. Kei­ne Bank, wo nicht zwei Lie­ben­de sa­ßen, kein Ge­büsch, hin­ter dem es nicht flüs­ter­te, und al­les war jetzt hei­lig und groß. Wie ein ein­zi­ger stum­mer Lie­bes­zwie­ge­sang stieg es auf zu den Wip­feln des wei­ten Parks: Ich und Du – Du und Ich und mor­gen das Ende!

Eine un­säg­li­che Er­grif­fen­heit ließ nie­mand in die­sen Som­mer­näch­ten zu Hau­se blei­ben. Die sonst so stil­len Stra­ßen Mün­chens flu­te­ten im­mer­zu vom Men­schen­ge­wühl. Mit dem Frem­des­ten wur­den Re­den ge­tauscht, je­der Be­geg­nen­de war wie ein Ver­wand­ter, das ge­mein­sa­me Schick­sal, das über uns hing, lös­te die Star­re die sonst Mensch vom Men­schen trennt. Und tauch­te ein be­kann­tes Ge­sicht in der Men­ge auf, so gab es einen Ju­bel, und auf al­len Lip­pen war das eine Wort: Deutsch­land. Was gab es jetzt noch zu er­hof­fen und zu er­fle­hen aus un­ge­teil­tem Her­zen als eben den Sieg der deut­schen Waf­fen – und nicht ein­mal einen zu ra­schen Sieg, sag­te ich lei­se zu mir sel­ber, da­mit das Feu­er der Läu­te­rung Zeit habe. Es war eine Be­ses­sen­heit, wie jun­ge Lie­be, die mit ei­nem Male die Welt ver­wan­delt, weil nichts an­de­res ne­ben ihr Raum hat. Die gan­ze Welt­wei­te des täg­li­chen Den­kens zu­sam­men­ge­zo­gen in das Eine: Va­ter­land! Und die­ses Eine zur Unend­lich­keit aus­ge­wei­tet durch das Ge­fühl das die Ge­währ sei­ner Be­rech­ti­gung in sich sel­ber trug. Nicht bei uns al­lein ge­sch­ah dies, auch bei den an­de­ren Völ­kern, von uns un­ge­wusst, lo­der­te das Op­fer­feu­er, in das die Ju­gend sich be­kränzt und jauch­zend stürz­te. Sie hat­ten ja kei­nen Hass, die­se tod­be­rei­ten Kna­ben, sie kann­ten den Geg­ner nicht ein­mal –, den Hass hat­ten nur die Het­zer. Es war der un­fass­ba­re Zu­stand, für den Höl­der­lin das se­he­ri­sche Wort ge­fun­den hat: Und Völ­ker auch er­grei­fet die To­des­lust / Und Hel­den­städ­te sin­ken –

Dann der Auf­bruch zwi­schen eng­ge­dräng­tem Men­schen­spa­lier durch die wim­meln­den Stra­ßen, alle die grau­be­zo­ge­nen nie­de­ren Hel­me mit Ei­chen­laub, alle Ge­schüt­ze mit Blu­men­ge­win­den, Blu­men in ih­ren gäh­nen­den Mäu­lern wie zu ei­nem Fest, der Marsch­t­akt der sin­gen­den Ko­lon­nen, auch Frau­en mit im Zug – der eine hat­te sei­ne Mut­ter, der an­de­re sein Mäd­chen am Arm, der stür­men­de Marsch riss sie in Rie­sen­schrit­ten mit, denn heu­te war al­les er­laubt. Den Ka­no­nie­ren auf ih­ren Protz­käs­ten stre­cken die jun­gen Mäd­chen noch ihre Hän­de hin­auf, die Sol­da­ten fas­sen und drücken sie, und im­mer wie­der ein Ru­fen und Win­ken der Ab­zie­hen­den in die Men­ge hin­ein: »Lieb Va­ter­land, magst ru­hig sein« – und Wir schaf­fens schon – bis die Mu­sik in der Rich­tung des Bahn­hofs ver­hall­te und die wei­te Lud­wig­stra­ße, die schöns­te Mün­chens, fort­an leer und ohne Le­ben lag. Und dann das atem­lo­se Hor­chen ins Lee­re hin­aus. Auch wer kei­ne An­ge­hö­ri­gen im Feld hat­te, war doch mit sei­nem gan­zen Her­zen drau­ßen. Al­lent­hal­ben sah die er­reg­te Fan­ta­sie Vor­zei­chen: so fin­de ich in mei­nen Pa­pie­ren aus dem Au­gust 1914 ein selt­sa­mes eben be­ob­ach­te­tes Wol­ken­spiel ein­ge­tra­gen: Im wei­ßen Cu­mu­lus ent­stand ein ed­ler Män­ner­kopf mit küh­ner Nase, lo­cken­um­wall­ter Stirn, der lang­sam rück­wärts nach Os­ten se­gel­te. Eine form­lo­se wei­ße Wol­ke rück­te ihm nach. Ich muss­te den­ken: wenn er sich jetzt plötz­lich in einen To­ten­kopf ver­wan­deln wür­de? Kaum ge­dacht, ge­sch­ah es; die edel ge­form­te Nase sank ein, der Mund öff­ne­te sich wei­ter und wei­ter, die Zäh­ne fletsch­ten. Die wei­ße Wol­ke zog ihm jetzt schnel­ler nach (mir un­ver­ständ­lich, weil ein Wind sie trieb), er­reich­te, durch­drang ihn lang­sam, bis auch er sich in Form­lo­sig­keit auf­lös­te. Es gab mir einen Stich ins Herz, ich muss­te an das große Män­nerster­ben den­ken und an die edels­ten Ge­sich­ter, die sich jetzt in nichts auf­lös­ten.

*

In den frü­hen Au­gust­ta­gen kam Tho­le, der, weil un­ge­dient, noch nicht ein­be­ru­fen war, und sag­te, die deut­sche Ju­gend er­war­te von mir ein Lied. Ich schwank­te. Un­se­ren Ur­müt­tern, die im Not­fall sel­ber in den Kampf ein­grif­fen, stand es an, den aus­zie­hen­den Män­nern das Schwert zu seg­nen. Aber eine Frau von heu­te? Doch ehe ich mich’s ver­sah, war der Fun­ke über­ge­sprun­gen und hat­te ge­zün­det. Ich sah im Geist eine fei­er­li­che Hal­le, an ih­rer Wand ein ge­fei­tes Schwert in der Schei­de auf­ge­hängt. Tor­hü­ter wa­chen, in­nen aber lie­gen hei­li­ge Frau­en auf den Kni­en und be­ten, dass das Schwert nicht von selbst aus der Schei­de fah­re:

In der Hal­le des Hau­ses da hängt ein Schwert,

Schwert in der Schei­de.

In sei­nem Blit­zen ver­geht die Erd’.

Wir hü­ten’s und be­ten Tag und Nacht,

Dass es nicht klir­rend von selbst er­wacht.

Denn uns ist ge­schrie­ben ein hei­li­ges Ge­bot:

Ihr sollt es nur brau­chen in letz­ter Not,

Schwert in der Schei­de.

In der zwei­ten Stro­phe blüh­te das Frie­dens­mo­tiv aus dem Win­feld noch ein­mal auf:

Wir sind ge­dul­dig wie Star­ke sind,

Schwert in der Schei­de.

Wir ach­ten’s nicht, was der Neid uns spinnt.

Sie ha­ben uns man­chen Tort ge­tan,

Wir lit­ten’s und hiel­ten den Atem an.

Die Son­ne glüht auf der Ern­te Gold.

Frie­de, wie bist du so hold, so hold,

Schwert in der Schei­de!

Aber um­sonst, das Ver­häng­nis geht sei­nen Gang:

Doch der Neid miss­gönnt uns den Platz am Licht,

Schwert in der Schei­de!

Fein­de um­zieh’n uns wie Wol­ken dicht.

Hier stock­te das Wort und blieb für meh­re­re Tage in der Schwe­be. Bis es um uns her von Kriegs­er­klä­run­gen wie von plat­zen­den Ra­ke­ten pras­sel­te, je­der Tag einen neu­en Feind brach­te und nun auch Ita­li­en von un­se­rer Sei­te weg­trat. Da brach der Schluss wie ein Not­schrei her­aus:

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Возрастное ограничение:
18+
Объем:
5251 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783962812515
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
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