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Vierzehntes Kapitel – Sonnenwende

Jetzt sehe ich mich wie­der in Flo­renz in der schöns­ten Heim­stät­te, die ich je be­ses­sen habe und der ich heu­te noch ein we­nig im Her­zen nach­traue­re. Sie liegt in der Via de’ Bar­di, in ei­nem Ne­ben­bau des mit der ge­schicht­li­chen Ver­gan­gen­heit von Flo­renz ver­knüpf­ten Palaz­zo Cap­po­ni, und das Haus hat eine wun­der­ba­re Dop­pelaus­sicht, nach Nor­den über den un­ten flie­ßen­den Arno mit sei­nen Brücken und die gan­ze am rech­ten Flus­sufer ge­la­ger­te Stadt bis nach Fie­so­le und der vier­fach ge­teil­ten Stirn des Mon­te Se­na­rio, die da­mals noch das dunkle Ge­lock ih­rer pracht­vol­len Be­wal­dung trug, nicht ah­nend, die schö­ne, wie bald sie der Geld­sucht zum Op­fer fal­len wür­de. Von der Süd­sei­te, wo mein zwei­fens­te­ri­ges Ar­beits­zim­mer lag, sa­hen die hän­gen­den ver­wil­der­ten Gär­ten un­ter­halb der Cos­ta San Gior­gio her­ein. Mei­nem Fens­ter im zwei­ten Stock­werk ge­ra­de ge­gen­über stand – er steht noch heu­te – auf glei­cher Höhe wie ein Wäch­ter, ei­ner be­ängs­ti­gend schma­len Mau­er auf­ge­pflanzt, ein Rit­ter aus Stein mit Helm und Schwert, au­gen­schein­lich die Ar­beit ei­nes Stein­met­zen, aber durch­aus künst­le­risch emp­fun­den. Ich blick­te je­den Abend noch ein­mal zu ihm hin­über und emp­fahl mich sei­ner tap­fe­ren Ob­hut, ihn sel­ber aber al­len gu­ten Geis­tern, dass ihn kein Erd­be­ben über Nacht von sei­nem luf­ti­gen Stand­ort her­un­ter­wer­fe. Die weit­räu­mi­ge Woh­nung mit den vie­len Ne­ben­ge­las­sen und ih­ren fan­ta­sie­vol­len Un­re­gel­mä­ßig­kei­ten war wie für mich er­fun­den. Auf der Nord­sei­te führ­te von dem großen Empfangs­zim­mer, das auf den Arno blickt, lin­ker Hand eine klei­ne Stu­fe in das tiefer lie­gen­de Schlaf­ge­mach, das durch eine große Glas­wand in zwei Tei­le ge­schie­den war und dem ein rie­si­ges Glas­fens­ter nach dem Flus­se ganz und gar das Aus­se­hen ei­nes glä­ser­nen Turm­ge­machs gab. Hier war die Au­ßen­wand durch eine klei­ne Tür durch­bro­chen, von der ein Trepp­chen zu der auf hal­ber Höhe des Stock­werks ge­le­ge­nen ge­räu­mi­gen Ve­ran­da führ­te, dem hoch­will­kom­me­nen, gleich in An­griff ge­nom­me­nen Raum für einen Haus­gar­ten, denn das Kli­ma ließ da­mals noch das Über­win­tern ed­ler Pflan­zen im Frei­en zu. In dem hin­aus­ge­bau­ten Glas­ge­mach, das mir oft mit dem wei­ten Ster­nen­him­mel dar­über wie ein die Dun­kel­heit durch­se­geln­des Schiff er­schi­en, hör­te ich so gern vor dem Ein­schla­fen dem wech­sel­lo­sen Rin­nen des Arno zu. Wie so ver­schie­den die Stim­me ei­nes Flus­ses von dem mäch­ti­gen, viel­stim­mi­gen Or­che­s­ter des Mee­res, sie regt nicht an wie die­ses, sie lullt durch ihre Ein­tö­nig­keit in Schlaf. Und beim Er­wa­chen schon wie­der der ers­te Blick auf die Har­mo­nie ei­nes Stadt­bil­des, wie die Welt kein zwei­tes be­sitzt. Durch eine Rei­he von Ta­gen war mein Ent­zücken über die neue Woh­nung so groß, dass ich zu gar kei­ner Be­schäf­ti­gung kam, ich ging im­mer von ei­ner Sei­te zur an­de­ren, nicht wis­send, wel­chem Aus­blick den Vor­zug ge­ben: bald schi­en mir die gel­be Schlan­ge des Flus­ses mit dem Ge­wo­ge der Brücken und al­len den licht­v­er­klär­ten Kup­peln und Tür­men da­hin­ter das schöns­te zu sein, dann ver­setz­te mich auf der Süd­sei­te der An­blick ei­nes Rei­ters, der un­ter dem hän­gen­den Grün des al­ten Ge­mäu­ers auf ed­lem Roß lang­sam die Win­dung der Via Scarpuc­cia hin­aufritt, in einen Ta­ges­traum aus den Zei­ten des Glan­zes und der Aben­teu­er.

Es war der Herbst des glei­chen Jah­res, des­sen Auf­gang mir mein Häu­schen in For­te be­schert hat­te, und nun fiel mir zum zwei­ten Mal die fro­he Auf­ga­be zu, mir einen Wohn­sitz für die Dau­er – für eine Le­bens­dau­er –, wie ich mein­te, ein­zu­rich­ten. Nach all der Hei­mat­lo­sig­keit gleich dop­pelt ge­bor­gen! Ein Heim für den Som­mer, eins für den Win­ter, und die­ses letz­te­re für mei­nen aus­schließ­li­chen ei­ge­nen Be­darf. In je­dem Raum Stil­le und Wei­he wie in ei­ner Kir­che; Freun­de konn­ten sich an mei­nen Tisch set­zen wo ich al­lei­ne ge­bot; ich war be­se­ligt wie Walt­her von der Vo­gel­wei­de, als er end­lich sein Le­hen hat­te und es er­leb­te, dass er »den Gast auch grüe­ze«. Und alle Ge­gen­stän­de rund­um sag­ten ihr stum­mes Ja zu mei­ner Ge­gen­wart. Ich lieb­te sie alle, gab ih­nen Na­men, die sie zu schwei­gen­den Per­sön­lich­kei­ten mach­ten, denn teils hat­te ich sie schon so ge­wählt, dass man ih­nen an­se­hen konn­te, sie hat­ten zu mir ge­wollt, teils pass­ten sie sich, wenn sie von frem­der Hand ka­men, der Um­ge­bung an. Mei­ne Bü­cher und die klei­nen Kost­bar­kei­ten, die sich im Lauf der Jah­re an­ge­sam­melt hat­ten, wur­den wie­der auf­ge­stellt, edel ge­wirk­te ori­en­ta­li­sche Schals, ein großer ja­pa­ni­scher Tep­pich aus­ge­brei­tet. Man­ches gute Stück al­tes Haus­ge­rät war da­mals noch in klei­nen Läd­chen um bil­li­gen Preis auf­zu­trei­ben, an­de­res ließ ich nach gu­ten Mus­tern nach­schnit­zen; mein An­teil an dem Haus in der Via del­le Por­te nuo­ve war ab­ge­gol­ten, mein klei­nes Ka­pi­tal wie­der flüs­sig, die deut­schen Ho­no­ra­re wa­ren gut, man brauch­te nicht zu den Viel­schrei­bern zu ge­hö­ren. Und das Le­ben in Flo­renz war da­mals in vie­len Din­gen noch so pa­tri­ar­cha­lisch ein­fach. Wenn der Post­bo­te klin­gel­te, so wur­de von der Ar­beit auf­ge­sprun­gen und durch das Fens­ter ein Körb­chen an ro­tem Fa­den hin­ab­ge­las­sen, in das er sei­ne Fracht leg­te. Aus al­len Stock­wer­ken ge­sch­ah Glei­ches, denn nie­mand woll­te dem Mann ohne be­son­de­ren An­lass die Trep­pe zu­mu­ten. Wie vie­le lie­be, be­glücken­de Grü­ße sind Tag für Tag an dem ro­ten Fa­den zu mir her­auf­ge­schwebt, wie vie­le er­he­ben­de Zu­ru­fe von un­be­kann­ten Sei­ten, oft aus den ent­le­gens­ten Räu­men un­se­res Glo­bus, wo Deut­sche woh­nen. Ich be­kam da­mals so­gar eine lei­se Ah­nung von dem Nach­teil des Ei­gen­tums, dass es das Le­ben zu wert­voll macht; je­der der ver­trau­ten Ge­gen­stän­de wur­de mir zu ei­ner zärt­li­chen Bin­dung, und zum ers­ten Mal däm­mer­te mir das Be­wusst­sein vom Flu­ge der Zeit, dem ich im­mer wie ein Kind ge­gen­über­ge­stan­den hat­te, und dass es trau­rig sein müs­se, ein­mal von all dem Lie­ben und Hol­den, das mich um­gab, zu schei­den. Über­haupt, war es nicht viel­leicht zu viel des Gu­ten, was mir da in ei­nem Jah­re zu­ge­fal­len war? Lau­er­ten nicht viel­leicht schon wie­der die Dä­mo­nen dar­auf, es zu zer­schla­gen? Ja, sie lau­er­ten nahe, aber noch war ihre Macht ge­bun­den. Ge­bun­den nicht in dem Sin­ne, dass nun rings­um ei­tel Son­nen­schein ge­we­sen wäre. Wenn die äu­ße­ren Be­dräng­nis­se aus­setz­ten, schuf sich das In­ne­re sei­ne Ge­s­pens­ter. Ich hat­te noch im­mer die nächt­li­chen Angst­träu­me der Ju­gend, die sich erst lang­sam bei vor­rücken­den Le­bens­jah­ren mil­der­ten oder im Au­gen­blick höchs­ter Stei­ge­rung durch frei­wil­li­ges Er­wa­chen ab­schnei­den lie­ßen. Und nie­mals konn­te ich den un­sicht­ba­ren Auf­nah­me­ap­pa­rat in mei­nem In­ne­ren ab­stel­len, der mir Un­heils­bot­schaf­ten oft­mals zu Un­recht zu­trug, wie sie im Raum um­schwir­ren mö­gen. Sie rühr­ten wie Not­ru­fe mei­ner ab­we­sen­den Lie­ben an mei­ne emp­find­li­chen An­ten­nen und ver­ur­sach­ten mir ban­ge Stun­den, wenn sie auch in Wahr­heit gar nicht mir gal­ten. Es bil­de­te einen Teil die­ser An­la­ge, dass man nicht leicht mit ei­nem Ge­heim­nis in der See­le vor mich tre­ten konn­te, ohne dass es sich mir auf nicht zu er­klä­ren­de Wei­se über­trug, wo­für ich ge­le­gent­lich erst Jah­re spä­ter die Be­stä­ti­gung er­hielt. Dass Men­schen von sol­cher Be­schaf­fen­heit nie eine völ­li­ge Gleich­ge­wichts­la­ge ge­nie­ßen, son­dern im­mer die schwan­ken­den Scha­len aus­zu­glei­chen su­chen müs­sen; liegt auf der Hand, wie auch, dass die Auf­ge­reg­ten, ganz Un­aus­ge­gli­che­nen, die auf Scho­nung an­ge­wie­sen sind, leich­tes Spiel mit ihm ha­ben; nur dass mir bei der frü­he ge­wohn­ten äu­ße­ren Be­herrscht­heit nicht leicht je­mand das ste­te Hor­chen auf die Nähe der Schick­sals­mäch­te an­sah. So wag­te ich nie­mals, auch jetzt nicht, den Fuß völ­lig fest im Le­ben auf­zu­set­zen. Und es ge­sch­ah zum Schutz ge­gen den Neid der Dä­mo­nen, dass ich an die neue Woh­nung nie die not­wen­di­ge letz­te Hand leg­te. Ich hielt mich für ge­si­cher­ter, wenn mir ge­nug zu wün­schen blieb. Zu­gleich be­griff ich aber auch, wie we­nig ge­mäß mir ein dau­ern­des Gleich­maß, ein ver­bürg­tes wan­del­lo­ses Wohl­er­ge­hen ge­we­sen wäre. Denn gleich mel­de­ten sich die Ge­s­pens­ter al­ler der Din­ge, de­nen man im Le­ben be­geg­nen könn­te, aber nie­mals be­geg­net, de­ren angst­vol­ler Be­klem­mung ich in den »Geis­tern der Wind­stil­le« Wor­te gab:

Wie ein ge­spens­ti­sches Trau­er­spiel

Weht’s dich an und um­hüllt dich mit Schau­ern,

Alle Kraft ver­zehrt sich in Trau­ern

Um ein Op­fer, das nir­gends fiel.

Kennst du das Stück?

Nein, und kennst der Spie­ler nicht einen,

Aber wei­nen musst du und wei­nen

Um ein ver­lo­re­nes

Und doch nie be­ses­se­nes Glück.

Eine Schuld, die du nicht be­gan­gen,

Bleicht dir die Wan­gen,

Ein Ver­gang­nes, das nie ge­we­sen,

Hält dich und lässt dich nim­mer ge­ne­sen. – –

Ge­gen sol­che in­ne­re Ver­fol­gung gab es kei­ne an­de­re Zuf­lucht als die ins Werk.

*

Das ers­te, was die Gunst der neu­en Woh­nung mir be­scher­te, war die Vollen­dung der »Stadt des Le­bens«. Dann form­te sich der In­halt ei­nes neu­en No­vel­len­ban­des, der un­ter dem nicht ganz ent­spre­chen­den Ti­tel »Le­bens­flu­ten« bei Cot­ta er­schi­en. Er soll­te zu­vor »Den Strom hin­un­ter« hei­ßen nach der An­fangs­er­zäh­lung, die die­sen Ti­tel im dop­pel­ten Sin­ne trug. Aber Hey­se bat mich, dar­auf zu ver­zich­ten, weil er selbst im Be­grif­fe ste­he, ein No­vel­len­buch un­ter die­ser Flag­ge se­geln zu las­sen. Die Rück­sicht­nah­me war selbst­ver­ständ­lich, aber ich ge­riet in Ver­le­gen­heit um einen neu­en Ti­tel, bis man sich nach wie­der­hol­ter Ver­hand­lung mit dem bei­der­sei­ti­gen Ver­le­ger, der kein an­de­rer war als der alte Freund Krö­ner, jetzt Cot­ta Nach­fol­ger, sich auf »Le­bens­flu­ten« ei­nig­te, ein Not­be­helf, der von dem wech­sel­vol­len In­halt nichts aus­sa­gen konn­te als das wech­sel­vol­le Spiel des Le­bens selbst.

In dem stil­len Glas­ge­mach, beim Rin­nen des Arno, wäh­rend das nächt­li­che Flo­renz im Ster­nen­schim­mer lag, füg­te sich mir nach und nach die zwei­te Fol­ge mei­ner Ge­dich­te. Man­ches da­von war schon in den gu­ten Jah­ren am Pog­gio Im­pe­ria­le ent­stan­den. Im­mer wenn der zar­te Geist der Lie­der auf sei­nen Schmet­ter­lings­flü­geln er­schi­en, den das Tun des Ta­ges so ger­ne ver­scheucht, muss­te auf Wo­chen die Fe­der, die Pro­sa schrieb, ru­hen, denn er brach­te sei­ne Ga­ben nie ver­ein­zelt, son­dern reih­te sie, Hei­te­res und Erns­tes, in viel­far­bi­gen Ket­ten auf. Er war noch im­mer gleich lau­nen­haft und gleich er­fül­lend. Ru­fen ließ er sich nicht gern, denn es bleibt im­mer et­was Un­wäg­ba­res um das Ge­dicht, und was ich in ah­nen­der Ju­gend dar­über ge­sagt hat­te: »Von Men­schen ist es nicht ge­macht, es wächst mit andrem Blu­men­flo­re, ge­fun­den wird’s und nicht er­dacht«, das be­stand mir noch im­mer in ge­wis­sem Sin­ne zu Recht. Das Ge­dicht kommt viel wei­ter her, als Un­ein­ge­weih­te ah­nen, und es ist frü­her als sein mensch­li­cher An­lass. Die­ser lockt es nur her­vor, aber es braucht ihm gar nicht ge­nau zu ent­spre­chen, wie ja män­nig­lich be­kannt, dass Goe­thes Lied an den Mond: »Fül­lest wie­der …« durch den Selbst­mord ei­nes jun­gen Mäd­chens, das ihn per­sön­lich nichts an­ging, ver­an­lasst wur­de. Zu­wei­len tritt es gar stück­wei­se her­aus, Jah­re kön­nen da­zwi­schen lie­gen, bis die ge­trenn­ten Glie­der sich von selbst zu­sam­men­fü­gen. So stand ich ein­mal hoch oben in den Apua­ni­schen Al­pen am Fens­ter mei­nes Gast­hofs und sah in die Mond­nacht hin­aus. Da sprach eine Stim­me in mir selbst den Vers:

Jede Nacht hört sie’s vor­über­tra­ben,

Jede Nacht den Rei­ter mit dem Kna­ben –

Ich horch­te auf und be­gann der Stim­me nach­zu­ge­hen, aber sie schwieg und gab nichts wei­ter her. Durch Jah­re konn­te ich nicht er­fah­ren, was es mit dem Rei­ter und dem Kna­ben für eine Be­wandt­nis habe. Nach­den­ken half nichts, es weh­te viel­mehr die Schmet­ter­lings­flü­gel weit hin­weg; der Fund muss­te sich er­eig­nen. Und er er­eig­ne­te sich wirk­lich ganz plötz­lich ein­mal im Zug ei­ner wo­chen­lan­gen ly­ri­schen Er­re­gung, nach­dem schon eine Rei­he von an­de­ren Ge­dich­ten ent­stan­den wa­ren. Von selbst ent­stan­den, aber zu­recht­ge­häm­mert, denn völ­lig fer­tig fal­len sie ja nicht vom Him­mel, der mensch­li­che Angst­schweiß ge­hört mit dazu. Nun er­fuhr ich erst den In­halt der Bal­la­de »Der schwar­ze Rei­ter«, wo­von mich zwei um­her­flat­tern­de Zei­len vor­ei­lig ge­streift hat­ten, von dem heim­lich ver­scharr­ten Ge­lieb­ten und dem im Mut­ter­leib ge­tö­te­ten Kin­de, das sei­ne Mut­ter ruft.

Die hohe, fest­lich hohe Zeit sol­cher ly­ri­schen Of­fen­ba­run­gen wur­de je­des Mal zu frü­he, wenn noch die Stim­men raun­ten, durch ir­gend­ei­nen äu­ße­ren Ein­griff aus per­sön­li­chen Be­rei­chen ab­ge­schnit­ten; dann half kein Hor­chen mehr, es war al­les jäh­lings zu Ende, und ich konn­te mich wie­der lang­sam auf die er­zäh­len­de Ge­stal­tung um­stel­len.

Über den Pro­sa­ar­bei­ten fie­len je und je ge­dank­li­che Sp­lit­ter ab, die ich nicht mit­ver­ar­bei­te­te, um nicht den schwe­ben­den Gang der Er­fin­dung durch zu viel Ge­dach­tes zu be­las­ten. Ich schrieb je­doch zur Erin­ne­rung für mich sel­ber auf, was mir da ge­blitzt hat­te und wo­für ich kei­nen Ab­neh­mer be­saß als das Pa­pier. Da­bei wur­den die Ein­fäl­le ge­le­gent­lich zu Aus­füh­run­gen über dies und je­nes er­wei­tert, bis ei­nes Ta­ges un­ge­wollt eine gan­ze Samm­lung sol­cher un­ge­such­ter Ein­ge­bun­gen, teils aus knap­pen Apho­ris­men, teils aus län­ge­ren Ge­dan­ken­gän­gen be­ste­hend, fer­tig lag, die un­ter dem auf das Ein­gangs­ge­dicht be­zo­ge­nen Ti­tel »Im Zei­chen des Stein­bocks« 1905 erst­ma­lig er­schi­en. Wer heu­te das klei­ne Buch, das un­längst bei Rai­ner Wun­der­lich in drit­ter Auf­la­ge neu her­aus­kam, stark ge­kürzt, aber in­halt­lich un­ver­än­dert, zur Hand nimmt, ohne das ers­te Er­schei­nungs­jahr oder gar die noch frü­he­ren Ent­ste­hungs­jah­re zu ken­nen, der kann leicht auf den Ver­dacht ei­ner öden Kon­junk­tur­ha­sche­rei ver­fal­len, wenn er Hin­wei­se und An­schau­un­gen liest, die dem deut­schen Welt­bild von heu­te ab­ge­lauscht schei­nen, ihm aber in Wahr­heit um zwan­zig Jah­re vor­an­ge­gan­gen sind. Und wie­der ein­mal muss ich mich ver­wun­dern, wie in der kur­z­en Span­ne ei­nes Men­schen­al­ters ge­sell­schaft­li­che und staat­li­che Wert­set­zun­gen, die für un­um­stöß­li­che Grund­pfei­ler ge­gol­ten hat­ten, sich in ihr völ­li­ges Ge­gen­teil ver­keh­ren kön­nen. Was ich als ho­hes Bei­spiel an der Stam­me­sethik der Grie­chen und ih­ren dar­aus her­vor­ge­hen­den eu­ge­ne­ti­schen Maß­nah­men pries, das zog mir den em­pör­ten Auf­schrei des geis­ti­gen Phi­lis­ter­tums zu. Je­ner sel­be li­te­ra­ri­sche Gön­ner an der »Ul­mer Post«, der mei­ne ers­ten Ge­dich­te so warm emp­foh­len hat­te, mit der apo­lo­ge­ti­schen Ver­si­che­rung, dass ich au­ßer dem Dich­ten auch das Nä­hen und Ko­chen ver­stün­de, sag­te mir sei­ne Gunst auf und fand die aus­ge­spro­che­nen Leit­ge­dan­ken ab­sto­ßend. Heu­te sind sie zum Teil ge­setz­ge­be­ri­sche Wahr­hei­ten. Was ich von fer­nen Jahr­hun­der­ten er­hoff­te, lag von nie­mand ge­ahnt schon in der Rich­tung ei­nes un­sicht­bar nä­her kom­men­den Ge­sche­hens.

Die Apho­ris­men, für die ich nicht leicht ein äl­te­res Ver­lags­haus hät­te ge­win­nen kön­nen, wur­den An­lass zu mei­ner Ver­bin­dung mit dem eben auf­kom­men­den viel­ver­spre­chen­den Ge­org-Mül­ler-Ver­lag in Mün­chen, der eine sorg­fäl­ti­ge Aus­ga­be ver­an­stal­te­te mit ei­ner von be­freun­de­ter Hand ent­wor­fe­nen Ti­tel­zeich­nung. Der­sel­ben Stel­le dach­te ich auch das Werk zu, das ich nach lan­gem Ver­schub jetzt end­lich in An­griff neh­men muss­te, soll­te mir nicht die Erin­ne­rung ver­blas­sen: die Le­bens­ge­schich­te mei­nes Va­ters. Es war nicht ganz leicht, au­ßer­halb des Be­reichs li­te­ra­ri­scher Hilfs­mit­tel, bei nur sehr mä­ßi­gem Rüst­zeug an brief­li­chem und sons­ti­gem schrift­li­chem Nach­lass, an die­ses ver­ant­wor­tungs­vol­le Un­ter­neh­men her­an­zu­tre­ten. Ich ver­ließ mich da­bei vor al­lem auf das aus­gie­bi­ge­re Ge­dächt­nis der zwei äl­te­ren Brü­der, von de­nen ich hoff­te, bei den nächs­ten Som­mer­fe­ri­en in For­te dei Mar­mi, wo­hin auch Al­fred des öf­te­ren zu Gas­te kam, man­che we­sent­li­chen, von mir ver­ges­se­nen oder viel­leicht gar nicht ge­kann­ten Züge er­kun­den zu kön­nen. Aber jetzt eben hol­te das Schick­sal zu dem Schla­ge aus, der den gan­zen Neu­bau mei­nes Le­bens im Grund er­schüt­tern und in sei­nen Fol­gen eine wei­te Ver­wüs­tungs­zo­ne um mich schaf­fen soll­te.

Am 27. April 1904 schied Ed­gar nach nur vier­zehn­tä­gi­ger Krank­heit aus dem Le­ben. Man hat­te ihn nicht mehr bett­lä­ge­rig ge­se­hen seit un­se­ren ge­mein­sa­men Kin­der­krank­hei­ten; alle An­fech­tun­gen sei­ner zar­ten und durch eine über­ängst­li­che Er­zie­hung noch ver­zär­tel­ten Kör­pe­r­an­la­ge hat­te er mit ei­ser­nem Wil­len ste­hend und ge­hend in vol­ler Tä­tig­keit über­wun­den. Mit dem dä­mo­nisch ge­spann­ten Blick des del­phi­schen Wa­gen­len­kers, der sei­ne Renn­bahn misst, ohne rechts und links zu se­hen, hat­te er je­der­zeit sei­nen Wahl­spruch »Ich will« zum Sie­ge ge­führt. Auch der To­des­krank­heit, ei­ner dop­pel­sei­ti­gen Lun­gen­ent­zün­dung, hat­te er sich erst im letz­ten Sta­di­um er­ge­ben. Ja, er war noch ein­mal auf­ge­stan­den, um einen Schwer­kran­ken zu be­su­chen, der sei­nen Arzt um einen Tag über­le­ben soll­te. Ed­gar war der mu­tigs­te Mensch, den ich je ge­kannt habe, denn zu dem durch Selbstzwang ge­stähl­ten phy­si­schen Mut, der zu sei­ner phy­si­schen Kraft au­ßer Ver­hält­nis stand, ge­sell­te sich bei ihm der sel­te­ne­re Mut des Ge­dan­kens und der al­ler­sel­tens­te: der sitt­li­che Mut zur Verant­wor­tung je­der Art. Un­fass­bar war es für die An­ge­hö­ri­gen, die­sen Men­schen, der über­all­hin als Hel­fer und Ret­ter kam, jetzt vor sich zu se­hen in der Hilf­lo­sig­keit der Krank­heit. Die be­freun­de­ten Ärz­te wuss­ten sich nicht zu ra­ten; er sel­ber sah wohl, dass er in un­ge­nü­gen­den Hän­den war, weil kei­ner sei­nen durch­drin­gen­den Scharf­sinn be­saß. Es fehlt die Lo­gik, sag­te er zu mir, als er sich einen Au­gen­blick mit mir al­lein sah, wenn ich doch sel­ber den Ver­lauf bes­ser über­wa­chen könn­te. Er ver­folg­te wohl die Sym­pto­me, aber das Fie­ber hat­te ihn im Bann, dass er die Ge­dan­ken nicht klar zu hal­ten ver­moch­te. Die Muse aber blieb ihm zur Sei­te; noch we­ni­ge Tage vor der Auf­lö­sung übergab er sei­ner Mut­ter eine mit si­che­rer und schein­bar mü­he­lo­ser Sprach­kunst ge­schmie­de­te Über­set­zung ei­nes Hora­zi­schen Ge­dichts. Nach dem letz­ten schwe­ren Rö­cheln, im Au­gen­blick wo der Atem still­stand ge­sch­ah et­was Un­fass­ba­res: als ob eine Hand blitz­schnell über die eben noch tief­be­seel­ten Züge, die im letz­ten Kampf noch leuch­ten­den dun­kelblau­en Au­gen hin­füh­re und je­den Aus­druck weg­wisch­te, dass nichts üb­rig war als ein blei­ches aus­ge­leer­tes Wachs­bild. An kei­nem an­de­ren Ster­be­bet­te war je vor mei­nen Au­gen die­se Wand­lung ein­ge­tre­ten, die mir den oft ge­hör­ten Aus­druck: »der Geist ent­floh« so un­be­zwei­fel­bar in sei­ner Wahr­heit vor­führ­te: ich hat­te ihn wirk­lich und tat­säch­lich ent­flie­hen se­hen, mit sol­cher Schnel­le, wie es nur bei ihm, dem Schnells­ten, ge­sche­hen konn­te. Wo war er hin, dass auch nicht die blas­ses­te Spur sei­nes We­sens dem see­len­lo­sen, kei­ne Erin­ne­rung fest­hal­ten­den Ab­bild ein­ge­prägt blieb? Kei­nen an­de­ren To­ten sah ich so als blo­ße Scha­le da­lie­gen. Die­ser, man sah es, ließ auf der Erde nichts zu­rück, was ihn hal­ten konn­te, es war al­les ab­ge­fal­len; blitz­schnell wie ein Me­te­or, so schi­en es mir, fuhr er ei­ner neu­en, hö­he­ren Auf­ga­be zu. Van­zet­ti, der da­ne­ben­stand, schloss die er­lo­sche­nen Au­gen und si­cher­te den Mund mit ei­nem Gum­mistrang. Der Arme hat­te sein Bes­tes ver­lo­ren, aber in die­sem Ein­sturz diente er jetzt al­len zum Halt.

Ich konn­te nur ste­hen und ins Lee­re stau­nen. Da lag nun der Mensch, den mir die Na­tur zum Freund hat­te ge­ben wol­len, der in der Kind­heit zwil­lings­ar­tig mit mir ver­wach­sen ge­we­sen, der mir im Wol­len, Füh­len, Mei­nen am ver­wand­tes­ten war, ver­wand­ter auch als die ge­lieb­te Mut­ter, der bis zu­letzt alle tie­fen und zar­ten See­len­re­gun­gen mit mir ge­mein ge­habt hat­te, der ein­zi­ge un­ter den Brü­dern, dem wie mir bei ei­nem ho­hen und ge­hei­men Dich­ter­wort der Atem stock­te, der wie ich in dem Le­ben der Spra­che einen hei­lig zu hal­ten­den or­ga­ni­schen Vor­gang sah; der Mensch, der so­gar die äu­ße­ren Merk­ma­le des See­len­le­bens mit mir ge­mein hat­te, wie den schnel­len Wech­sel der Far­be und das von Freun­den oft be­re­de­te Auf­flam­men und Schwarz­wer­den der Pu­pil­len in Mo­men­ten der Er­re­gung. Und den­noch bei ei­ner so sel­te­nen in­ne­ren Über­ein­stim­mung und im na­hen per­sön­li­chen Zu­sam­men­le­ben wa­ren wir eins dem an­de­ren ent­glit­ten, und je­des leb­te in sei­ner See­len­welt al­lein. Keins von bei­den ver­moch­te es zu er­klä­ren, und keins ver­moch­te es zu än­dern. Vi­el­leicht wenn wir nicht Bru­der und Schwes­ter ge­we­sen wä­ren, wür­den wir uns ge­liebt ha­ben. In sei­nem Nach­lass fand ich das Ge­dicht »Wa­rum?«

Wa­rum denn sol­len auf ge­trenn­ten Pfa­den

Wir uns­re Wege gehn zum glei­chen Ziel?

Ist’s Schick­sals­fluch, mit wel­chem wir be­la­den?

Ist’s ei­nes bö­sen Zu­falls tückisch Spiel?

Wir sind uns fremd, doch kei­nes von uns bei­den

Weiß, wel­che Sai­te fehlt zur Har­mo­nie.

Was sind es denn für Schran­ken, die uns schei­den?

Wa­rum, warum denn fin­den wir uns nie?

Darf ich das Dun­kel wohl zu lüf­ten wa­gen?

Bleibt denn dein Herz und Mund für im­mer stumm?

O gib mir Ant­wort! sprich! ich will dich fra­gen

Mit mei­ner See­le gan­zer Glut: Wa­rum?

Ich hät­te die glei­che un­aus­ge­spro­che­ne Fra­ge stel­len kön­nen, auf die bei­de kei­ne Ant­wort wuss­ten. So weit ich durch den Ne­bel der Ver­gan­gen­heit sto­ßen kann, sehe ich die Ent­frem­dung bis auf die Über­gangs­zeit vom Kna­ben zum Jüng­ling zu­rück­ge­hen. Zwar hat­te es für Ed­gar kei­ne Fle­gel­jah­re wie für den wil­den Al­fred ge­ge­ben, da­für war er zu zart und zu vor­nehm, aber es trat ein vor­über­ge­hen­des Sto­cken sei­ner Ent­wick­lung ein, dass ihm die nur we­nig jün­ge­re Schwes­ter, wie es beim weib­li­chen Ge­schlecht na­tür­lich ist, um eine Weg­stre­cke vor­an­lief, so­wohl was die geis­ti­ge Rei­fe als was die kör­per­li­che Län­ge be­trifft. Zu­gleich er­leb­te er, dass ich blut­jung, wie ich war, doch von den männ­li­chen Be­su­chern des Hau­ses schon mit Auf­merk­sam­kei­ten um­ge­ben und von ihm ab­ge­drängt wur­de, wäh­rend er noch als hal­ber Kna­be da­ne­ben­stand. Ge­wiss hat er mit sei­nem reiz­ba­ren Ehr­ge­fühl da­bei mehr ge­lit­ten, als ich ah­nen konn­te und als er ah­nen ließ. Wenn er mir mit nas­sen Au­gen die Nie­der­nau­er Ball­tro­phä­en vom Arme riss und in das vor­bei­flie­ßen­de Bäch­lein warf, so fühl­te ich mich als un­schul­di­ge Ziel­schei­be ei­ner kna­ben­haf­ten Lau­ne, und wenn er dann gar noch eine Streit­schrift ge­gen das Tan­zen ver­fass­te und dru­cken ließ, so sah ich dar­in nur das An­zei­chen ei­ner wach­sen­den Schrul­len­haf­tig­keit, der ich be­strebt war aus­zu­wei­chen. Dass in ihm et­was riss und blu­te­te, sah ich nicht, denn er zog eine Dor­nen­he­cke um sich, der nie­mand na­hen konn­te. Vi­el­leicht ge­sch­ah es, weil er im Grun­de eine wei­che­re Na­tur war als ich und weil er Weich­heit für un­männ­lich hielt. Und als gar sei­ne lei­den­schaft­li­che Jüng­lings­freund­schaft mit un­se­rem Ernst Mohl an sei­nem An­spruch des Al­lein­be­sit­zens in Stücke ging, gab es fort­an für ihn kei­ne Ge­fühls­äu­ße­rung mehr. Wie er als Kind un­ter al­len Ge­schwis­tern al­lein ein ver­schließ­ba­res Käst­chen be­ses­sen hat­te, worin er sei­ne kind­li­chen Herr­lich­kei­ten, wie Far­ben­scha­len, bun­te Blei­stif­te und blin­ken­de Re­chen­pfen­ni­ge, be­wahr­te und in das auch ich, die er am meis­ten lieb­te, nur in sel­te­nen Stun­den einen Blick wer­fen durf­te, so trug er spä­ter sein gan­zes in­ne­res Le­ben als ver­schlos­se­nen Schrein mit sich, nur je und je der Muse sich im Tief­ge­hei­men of­fen­ba­rend, dass nicht ein­mal sei­ne Mut­ter sich ihm mit ei­ner Zärt­lich­keit zu na­hen wag­te. Aber die Fremd­heit zwi­schen uns war nur eine schein­ba­re, die in­ne­re Wär­me dau­er­te auch un­aus­ge­spro­chen bis zu­letzt. Nicht ein­mal die Ehe ver­moch­te sie wirk­lich zu zer­stö­ren, die­se ge­fähr­lichs­te von al­len Bin­dun­gen, die jede an­de­re Bin­dung durch den blo­ßen Trop­fen­fall des All­tags auf­löst, wie es kein Sturm der Lei­den­schaft ver­mag; die aus ei­nem Gan­zen eine Hälf­te macht, oft ge­nug aus ei­nem großen star­ken Gan­zen die Hälf­te ei­nes klei­nen und schwa­chen, auch sie rüt­tel­te nicht wahr­haft an dem an­ge­bo­re­nen Band. Und im­mer blieb die Aus­sicht, man wür­de sich in spä­te­ren Jah­ren wie­der nä­her und bes­ser ver­ste­hen. Und nun mit ei­nem Male al­les vor­über? Das gan­ze Spiel zwi­schen Tod und Le­ben schi­en mir so mas­ken­haft und un­wahr­schein­lich. Denn da stand noch im­mer die Ge­stalt mei­nes Bru­ders ne­ben dem Wachs­bild auf dem La­ger, völ­lig un­ver­sehrt und ge­gen­wär­tig, von Geist strah­lend; ich such­te mir die Vor­stel­lung sei­nes Nicht­mehr­seins ein­zu­prä­gen, aber es ge­lang mir nicht. War es eine Schwä­che der Emp­fin­dung? Hat­te es eine tiefe­re me­ta­phy­si­sche Ur­sa­che? Ich konn­te bei kei­nem To­des­fall wahr­haft trau­ern. Nie­mand starb mir je. Ich glaub­te im tiefs­ten In­nern nicht an den Tod.

Auch mei­ner Mut­ter schi­en es so zu ge­hen. Sie stand in Ruhe und Fas­sung ne­ben dem La­ger, von dem man sie wäh­rend des letz­ten Kamp­fes fern­ge­hal­ten hat­te, sie klag­te und wein­te nicht und folg­te mir am Abend still aus dem für sie leer ge­wor­de­nen Hau­se.

Nach der Ein­äsche­rung in Tre­spia­no, als die Trau­er­gäs­te sich bei mir in der Via de’ Bar­di ver­sam­mel­ten, er­schi­en auch Rö­mer und über­reich­te mir eine Li­lie, in de­ren Kelch er einen klei­nen wei­ßen Aschen­rest aus dem Lei­chen­brand mei­nes Bru­ders ver­bor­gen hat­te. Er war zu dem Feu­er hin­ab­ge­stie­gen, ihn für mich zu ho­len.

Es war ei­ner je­ner Au­gen­bli­cke im Le­ben, die nicht ver­ge­hen. Noch im­mer be­wah­re ich den Aschen­rest mit der zer­fal­le­nen Li­lie in ei­nem klei­nen glä­ser­nen Sar­ge.

Was ist mir von dir noch ge­schenkt?

Nur ein Rest von schnee­wei­ßer Asche,

In den Kelch ei­ner Li­lie ver­senkt.

Ein Lie­ben­der hol­te sie fromm

Aus sin­ken­dem Feu­er­ba­de,

Wo die edle Hül­le ver­glomm.

Die Li­lie duf­tet so schwül,

Um­fängt mit Tau­mel die Stir­ne

Und ver­weh­ter Bil­der Ge­wühl.

Ich schau durch der Jah­re Flor,

Da seh ich als Kin­der uns bei­de

Vor des Le­bens schim­mern­dem Tor.

Ein­tra­ten wir Hand in Hand,

Durch­schwärm­ten in glei­chem Ver­lan­gen

Der Ju­gend Ver­hei­ßungs­land.

In der Dich­tung Wun­der­pa­last,

Wo sma­rag­den die Wän­de fun­keln,

Wa­ren wir bei­de zu Gast.

Doch Pfa­de schat­tig und hell

Ent­fern­ten uns für­der im Le­ben,

Wie kam das Ende so schnell?

Vor­bei das be­we­gen­de Stück,

Ge­trenn­te, ge­mein­sa­me Pfa­de,

Was blieb von al­lem zu­rück?

Die Li­lie von dei­nem Sarg,

In der die wei­nen­de Treue

Ein hei­li­ges Klein­od barg.

Der Spen­der der poe­sie­vol­len Auf­merk­sam­keit sah aber, dass sei­ne Ge­gen­wart der Mut­ter auch jetzt nicht an­ge­nehm war, so ent­fern­te er sich bald mit der Er­klä­rung, sich Van­zet­ti wid­men zu wol­len, den er in tiefer Ver­stö­rung zu­rück­ge­las­sen habe. Die bei­den zo­gen sich ge­gen­sei­tig nicht an, denn die Schwer­mut des Ei­nen wuss­te mit der Glücks­na­tur des An­dern nichts an­zu­fan­gen, aber nun emp­fand er sei­ne Ver­las­sen­heit schmerz­lich mit. Ich be­stärk­te ihn sehr in sei­ner Ab­sicht, denn mir hat­te Van­zet­ti am Vora­bend ge­sagt, er zie­he sich ge­flis­sent­lich eine Lun­gen­ent­zün­dung groß. So eng ver­wach­sen wie die bei­den wa­ren, muss­te ja dem Über­le­ben­den schei­nen, dass der Pfei­ler sei­nes Da­seins ge­stürzt sei.

Schön hat­te auf der Heim­fahrt von Tre­spia­no Grä­fin Gra­vi­na, die Stief­toch­ter Richard Wa­gners, ge­gen mich ge­äu­ßert, die Treue Van­zet­tis zu dem hö­her ge­ar­te­ten Freund habe sie stets an die des Kur­ven­al zu sei­nem Tris­tan er­in­nert. Es war in der Tat et­was wie mit­tel­al­ter­li­che Man­nen­treue in die­sem Freund­schafts­bund, der weit über Ed­gars Tod hin­aus bis zu sei­nem ei­ge­nen Hin­gang in dem Über­le­ben­den fort­dau­er­te und ihn zum Sohn und Bru­der und vä­ter­li­chen Be­ra­ter sämt­li­cher ver­wais­ter Fa­mi­li­en­glie­der mach­te.

*

Als ich un­se­re Mut­ter von Ed­gars Lei­che weg in mei­ne Woh­nung in der Via de’ Bar­di führ­te, war ihr ers­tes Wort: Ich habe bis­her für ihn ge­lebt, jetzt will ich für dich le­ben. – Und ich will ihn dir wie­der le­ben­dig ma­chen, sag­te ich. Ein Wort, des­sen Ver­mes­sen­heit, und in ei­nem sol­chen Au­gen­blick, je­dem an­de­ren Mut­ter­her­zen ge­gen­über bis zur Lä­cher­lich­keit an­ma­ßend ge­we­sen wäre. Aber ich wuss­te ja, zu wem ich sprach, und dass bei der au­ßer­or­dent­li­chen Ver­geis­ti­gungs­fä­hig­keit des Emp­fin­dungs­le­bens die­ser Frau ein sol­ches Wun­der mög­lich war. –

Man muss schnell sein, be­vor die Erin­ne­rung bläs­ser wird, wenn man dem Zer­stö­rer den ein­zi­gen Teil sei­ner Beu­te wie­der ab­neh­men will, den er der star­ken Be­schwö­rung zu­rück­ge­ben muss, das mensch­li­che Bild. So­bald die leib­li­che Er­schei­nung ver­schwun­den ist, er­scheint dem Schau­en­den das ewi­ge An­ge­sicht, das zu Leb­zei­ten un­ter dem wech­seln­den Spiel des Ta­ges ver­bor­gen war, und zu­gleich füllt sich der Luf­traum mit ei­ner see­li­schen Es­senz, die das gan­ze We­sen des Da­hin­ge­gan­ge­nen spür­bar wie ein al­lerfeins­tes Aro­ma ent­hält. Trun­ken von die­ser Es­senz schrieb ich gleich in den ers­ten Ta­gen einen län­ge­ren Nach­ruf in Ro­den­bergs »Deut­sche Rund­schau«, und dann schick­te ich mich zu ei­nem grö­ße­ren Le­bens­bild an. Wie­de­r­um war ich die ein­zi­ge, die die­sen Lie­bes­dienst leis­ten konn­te, und ein sol­cher ge­hört auch zu den schöns­ten Auf­ga­ben für eine be­ru­fe­ne Fe­der. Zwar trug sich Van­zet­ti län­ge­re Zeit mit der Ab­sicht, sel­ber über den ver­stor­be­nen Freund zu schrei­ben, aber ich wuss­te wohl, dass er dazu völ­lig un­ge­eig­net war, denn er war viel zu flüch­ti­gen Geis­tes, um sich auf eine in­ne­re Auf­ga­be zu­sam­men­fas­sen zu kön­nen, und sei­ne Fe­der war auch durch die da­mals noch in den ita­lie­ni­schen Schu­len ge­lehr­te bom­bas­ti­sche Rhe­to­rik ver­dor­ben, so­dass, was so le­bens­voll und far­big wahr aus sei­nem Mun­de kam, ge­schrie­ben un­ge­nieß­bar wur­de. Un­ter den Freun­den war es nur Hil­de­brand, der dem Ver­stor­be­nen einen zwar kur­z­en, aber sehr war­men und tief­ver­ste­hen­den Nach­ruf wid­me­te, und des­sen Bru­der Otto, der Ber­li­ner Chir­urg, tat im wis­sen­schaft­li­chen Sinn das glei­che. Was sonst ge­schrie­ben wur­de, war zum größ­ten Tei­le kläg­lich. Be­son­ders ver­gräm­te mich ein deut­scher Zei­tungs­schrei­ber, der mit dem Ver­stor­be­nen beim Wein ge­ses­sen hat­te und von sei­nem »der­ben Schwa­ben­hu­mor« sprach. Ich mach­te bei die­ser Ge­le­gen­heit die Wahr­neh­mung, wie leicht ober­fläch­li­che Fe­dern in die For­mel­haf­tig­keit ei­nes ste­hen­den Bei­worts ent­glei­sen: weil Ed­gar Schwa­be war und hu­mor­be­gabt, wur­de ihm der be­ru­fe­ne der­be Schwa­ben­hu­mor zu­ge­spro­chen. Aber in Wahr­heit hat­te Ed­gar bei den fein­geis­ti­gen flo­ren­ti­ni­schen Sym­po­si­en ge­ra­de durch die un­über­treff­li­che Fein­heit sei­nes Hu­mors ge­glänzt. – Ein hei­te­res Bei­spiel sei­ner schla­gen­den Re­pli­ken war sei­ne ers­te Be­geg­nung mit dem Ma­ler Al­bert Lang, der sich ihm vor­stell­te mit den Wor­ten: Mein Name ist kurz, ich hei­ße Lang. Worauf Ed­gar a tem­po: Mein Name ist auch nicht lang, ich hei­ße Kurz. – In ähn­lich miss­ver­stan­de­ner Wei­se war mein Va­ter be­den­ken­los in der Pres­se als »ver­knorr­ter Ein­sied­ler« be­zeich­net wor­den, und vie­le ha­ben es nach­ge­schrie­ben, weil er Ein­sied­ler war und sol­che ver­knorrt zu sein pfle­gen. Dem Le­ben­den kön­nen der­ar­ti­ge Ver­zeich­nun­gen nichts an­ha­ben: er tritt her­ein, man sieht das Licht sei­ner Au­gen und das Lä­cheln sei­nes Mun­des und weiß, wen man vor sich hat. Aber an den To­ten ist je­des Fehl­grei­fen eine Schä­di­gung. Um so mehr tat es not, dass ich sel­ber das Wort er­griff, im einen und im an­de­ren Fall, um für mei­ne Lie­ben zu zeu­gen.

94,80 ₽
Возрастное ограничение:
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5251 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783962812515
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