Jetzt sehe ich mich wieder in Florenz in der schönsten Heimstätte, die ich je besessen habe und der ich heute noch ein wenig im Herzen nachtrauere. Sie liegt in der Via de’ Bardi, in einem Nebenbau des mit der geschichtlichen Vergangenheit von Florenz verknüpften Palazzo Capponi, und das Haus hat eine wunderbare Doppelaussicht, nach Norden über den unten fließenden Arno mit seinen Brücken und die ganze am rechten Flussufer gelagerte Stadt bis nach Fiesole und der vierfach geteilten Stirn des Monte Senario, die damals noch das dunkle Gelock ihrer prachtvollen Bewaldung trug, nicht ahnend, die schöne, wie bald sie der Geldsucht zum Opfer fallen würde. Von der Südseite, wo mein zweifensteriges Arbeitszimmer lag, sahen die hängenden verwilderten Gärten unterhalb der Costa San Giorgio herein. Meinem Fenster im zweiten Stockwerk gerade gegenüber stand – er steht noch heute – auf gleicher Höhe wie ein Wächter, einer beängstigend schmalen Mauer aufgepflanzt, ein Ritter aus Stein mit Helm und Schwert, augenscheinlich die Arbeit eines Steinmetzen, aber durchaus künstlerisch empfunden. Ich blickte jeden Abend noch einmal zu ihm hinüber und empfahl mich seiner tapferen Obhut, ihn selber aber allen guten Geistern, dass ihn kein Erdbeben über Nacht von seinem luftigen Standort herunterwerfe. Die weiträumige Wohnung mit den vielen Nebengelassen und ihren fantasievollen Unregelmäßigkeiten war wie für mich erfunden. Auf der Nordseite führte von dem großen Empfangszimmer, das auf den Arno blickt, linker Hand eine kleine Stufe in das tiefer liegende Schlafgemach, das durch eine große Glaswand in zwei Teile geschieden war und dem ein riesiges Glasfenster nach dem Flusse ganz und gar das Aussehen eines gläsernen Turmgemachs gab. Hier war die Außenwand durch eine kleine Tür durchbrochen, von der ein Treppchen zu der auf halber Höhe des Stockwerks gelegenen geräumigen Veranda führte, dem hochwillkommenen, gleich in Angriff genommenen Raum für einen Hausgarten, denn das Klima ließ damals noch das Überwintern edler Pflanzen im Freien zu. In dem hinausgebauten Glasgemach, das mir oft mit dem weiten Sternenhimmel darüber wie ein die Dunkelheit durchsegelndes Schiff erschien, hörte ich so gern vor dem Einschlafen dem wechsellosen Rinnen des Arno zu. Wie so verschieden die Stimme eines Flusses von dem mächtigen, vielstimmigen Orchester des Meeres, sie regt nicht an wie dieses, sie lullt durch ihre Eintönigkeit in Schlaf. Und beim Erwachen schon wieder der erste Blick auf die Harmonie eines Stadtbildes, wie die Welt kein zweites besitzt. Durch eine Reihe von Tagen war mein Entzücken über die neue Wohnung so groß, dass ich zu gar keiner Beschäftigung kam, ich ging immer von einer Seite zur anderen, nicht wissend, welchem Ausblick den Vorzug geben: bald schien mir die gelbe Schlange des Flusses mit dem Gewoge der Brücken und allen den lichtverklärten Kuppeln und Türmen dahinter das schönste zu sein, dann versetzte mich auf der Südseite der Anblick eines Reiters, der unter dem hängenden Grün des alten Gemäuers auf edlem Roß langsam die Windung der Via Scarpuccia hinaufritt, in einen Tagestraum aus den Zeiten des Glanzes und der Abenteuer.
Es war der Herbst des gleichen Jahres, dessen Aufgang mir mein Häuschen in Forte beschert hatte, und nun fiel mir zum zweiten Mal die frohe Aufgabe zu, mir einen Wohnsitz für die Dauer – für eine Lebensdauer –, wie ich meinte, einzurichten. Nach all der Heimatlosigkeit gleich doppelt geborgen! Ein Heim für den Sommer, eins für den Winter, und dieses letztere für meinen ausschließlichen eigenen Bedarf. In jedem Raum Stille und Weihe wie in einer Kirche; Freunde konnten sich an meinen Tisch setzen wo ich alleine gebot; ich war beseligt wie Walther von der Vogelweide, als er endlich sein Lehen hatte und es erlebte, dass er »den Gast auch grüeze«. Und alle Gegenstände rundum sagten ihr stummes Ja zu meiner Gegenwart. Ich liebte sie alle, gab ihnen Namen, die sie zu schweigenden Persönlichkeiten machten, denn teils hatte ich sie schon so gewählt, dass man ihnen ansehen konnte, sie hatten zu mir gewollt, teils passten sie sich, wenn sie von fremder Hand kamen, der Umgebung an. Meine Bücher und die kleinen Kostbarkeiten, die sich im Lauf der Jahre angesammelt hatten, wurden wieder aufgestellt, edel gewirkte orientalische Schals, ein großer japanischer Teppich ausgebreitet. Manches gute Stück altes Hausgerät war damals noch in kleinen Lädchen um billigen Preis aufzutreiben, anderes ließ ich nach guten Mustern nachschnitzen; mein Anteil an dem Haus in der Via delle Porte nuove war abgegolten, mein kleines Kapital wieder flüssig, die deutschen Honorare waren gut, man brauchte nicht zu den Vielschreibern zu gehören. Und das Leben in Florenz war damals in vielen Dingen noch so patriarchalisch einfach. Wenn der Postbote klingelte, so wurde von der Arbeit aufgesprungen und durch das Fenster ein Körbchen an rotem Faden hinabgelassen, in das er seine Fracht legte. Aus allen Stockwerken geschah Gleiches, denn niemand wollte dem Mann ohne besonderen Anlass die Treppe zumuten. Wie viele liebe, beglückende Grüße sind Tag für Tag an dem roten Faden zu mir heraufgeschwebt, wie viele erhebende Zurufe von unbekannten Seiten, oft aus den entlegensten Räumen unseres Globus, wo Deutsche wohnen. Ich bekam damals sogar eine leise Ahnung von dem Nachteil des Eigentums, dass es das Leben zu wertvoll macht; jeder der vertrauten Gegenstände wurde mir zu einer zärtlichen Bindung, und zum ersten Mal dämmerte mir das Bewusstsein vom Fluge der Zeit, dem ich immer wie ein Kind gegenübergestanden hatte, und dass es traurig sein müsse, einmal von all dem Lieben und Holden, das mich umgab, zu scheiden. Überhaupt, war es nicht vielleicht zu viel des Guten, was mir da in einem Jahre zugefallen war? Lauerten nicht vielleicht schon wieder die Dämonen darauf, es zu zerschlagen? Ja, sie lauerten nahe, aber noch war ihre Macht gebunden. Gebunden nicht in dem Sinne, dass nun ringsum eitel Sonnenschein gewesen wäre. Wenn die äußeren Bedrängnisse aussetzten, schuf sich das Innere seine Gespenster. Ich hatte noch immer die nächtlichen Angstträume der Jugend, die sich erst langsam bei vorrückenden Lebensjahren milderten oder im Augenblick höchster Steigerung durch freiwilliges Erwachen abschneiden ließen. Und niemals konnte ich den unsichtbaren Aufnahmeapparat in meinem Inneren abstellen, der mir Unheilsbotschaften oftmals zu Unrecht zutrug, wie sie im Raum umschwirren mögen. Sie rührten wie Notrufe meiner abwesenden Lieben an meine empfindlichen Antennen und verursachten mir bange Stunden, wenn sie auch in Wahrheit gar nicht mir galten. Es bildete einen Teil dieser Anlage, dass man nicht leicht mit einem Geheimnis in der Seele vor mich treten konnte, ohne dass es sich mir auf nicht zu erklärende Weise übertrug, wofür ich gelegentlich erst Jahre später die Bestätigung erhielt. Dass Menschen von solcher Beschaffenheit nie eine völlige Gleichgewichtslage genießen, sondern immer die schwankenden Schalen auszugleichen suchen müssen; liegt auf der Hand, wie auch, dass die Aufgeregten, ganz Unausgeglichenen, die auf Schonung angewiesen sind, leichtes Spiel mit ihm haben; nur dass mir bei der frühe gewohnten äußeren Beherrschtheit nicht leicht jemand das stete Horchen auf die Nähe der Schicksalsmächte ansah. So wagte ich niemals, auch jetzt nicht, den Fuß völlig fest im Leben aufzusetzen. Und es geschah zum Schutz gegen den Neid der Dämonen, dass ich an die neue Wohnung nie die notwendige letzte Hand legte. Ich hielt mich für gesicherter, wenn mir genug zu wünschen blieb. Zugleich begriff ich aber auch, wie wenig gemäß mir ein dauerndes Gleichmaß, ein verbürgtes wandelloses Wohlergehen gewesen wäre. Denn gleich meldeten sich die Gespenster aller der Dinge, denen man im Leben begegnen könnte, aber niemals begegnet, deren angstvoller Beklemmung ich in den »Geistern der Windstille« Worte gab:
Wie ein gespenstisches Trauerspiel
Weht’s dich an und umhüllt dich mit Schauern,
Alle Kraft verzehrt sich in Trauern
Um ein Opfer, das nirgends fiel.
Kennst du das Stück?
Nein, und kennst der Spieler nicht einen,
Aber weinen musst du und weinen
Um ein verlorenes
Und doch nie besessenes Glück.
Eine Schuld, die du nicht begangen,
Bleicht dir die Wangen,
Ein Vergangnes, das nie gewesen,
Hält dich und lässt dich nimmer genesen. – –
Gegen solche innere Verfolgung gab es keine andere Zuflucht als die ins Werk.
*
Das erste, was die Gunst der neuen Wohnung mir bescherte, war die Vollendung der »Stadt des Lebens«. Dann formte sich der Inhalt eines neuen Novellenbandes, der unter dem nicht ganz entsprechenden Titel »Lebensfluten« bei Cotta erschien. Er sollte zuvor »Den Strom hinunter« heißen nach der Anfangserzählung, die diesen Titel im doppelten Sinne trug. Aber Heyse bat mich, darauf zu verzichten, weil er selbst im Begriffe stehe, ein Novellenbuch unter dieser Flagge segeln zu lassen. Die Rücksichtnahme war selbstverständlich, aber ich geriet in Verlegenheit um einen neuen Titel, bis man sich nach wiederholter Verhandlung mit dem beiderseitigen Verleger, der kein anderer war als der alte Freund Kröner, jetzt Cotta Nachfolger, sich auf »Lebensfluten« einigte, ein Notbehelf, der von dem wechselvollen Inhalt nichts aussagen konnte als das wechselvolle Spiel des Lebens selbst.
In dem stillen Glasgemach, beim Rinnen des Arno, während das nächtliche Florenz im Sternenschimmer lag, fügte sich mir nach und nach die zweite Folge meiner Gedichte. Manches davon war schon in den guten Jahren am Poggio Imperiale entstanden. Immer wenn der zarte Geist der Lieder auf seinen Schmetterlingsflügeln erschien, den das Tun des Tages so gerne verscheucht, musste auf Wochen die Feder, die Prosa schrieb, ruhen, denn er brachte seine Gaben nie vereinzelt, sondern reihte sie, Heiteres und Ernstes, in vielfarbigen Ketten auf. Er war noch immer gleich launenhaft und gleich erfüllend. Rufen ließ er sich nicht gern, denn es bleibt immer etwas Unwägbares um das Gedicht, und was ich in ahnender Jugend darüber gesagt hatte: »Von Menschen ist es nicht gemacht, es wächst mit andrem Blumenflore, gefunden wird’s und nicht erdacht«, das bestand mir noch immer in gewissem Sinne zu Recht. Das Gedicht kommt viel weiter her, als Uneingeweihte ahnen, und es ist früher als sein menschlicher Anlass. Dieser lockt es nur hervor, aber es braucht ihm gar nicht genau zu entsprechen, wie ja männiglich bekannt, dass Goethes Lied an den Mond: »Füllest wieder …« durch den Selbstmord eines jungen Mädchens, das ihn persönlich nichts anging, veranlasst wurde. Zuweilen tritt es gar stückweise heraus, Jahre können dazwischen liegen, bis die getrennten Glieder sich von selbst zusammenfügen. So stand ich einmal hoch oben in den Apuanischen Alpen am Fenster meines Gasthofs und sah in die Mondnacht hinaus. Da sprach eine Stimme in mir selbst den Vers:
Jede Nacht hört sie’s vorübertraben,
Jede Nacht den Reiter mit dem Knaben –
Ich horchte auf und begann der Stimme nachzugehen, aber sie schwieg und gab nichts weiter her. Durch Jahre konnte ich nicht erfahren, was es mit dem Reiter und dem Knaben für eine Bewandtnis habe. Nachdenken half nichts, es wehte vielmehr die Schmetterlingsflügel weit hinweg; der Fund musste sich ereignen. Und er ereignete sich wirklich ganz plötzlich einmal im Zug einer wochenlangen lyrischen Erregung, nachdem schon eine Reihe von anderen Gedichten entstanden waren. Von selbst entstanden, aber zurechtgehämmert, denn völlig fertig fallen sie ja nicht vom Himmel, der menschliche Angstschweiß gehört mit dazu. Nun erfuhr ich erst den Inhalt der Ballade »Der schwarze Reiter«, wovon mich zwei umherflatternde Zeilen voreilig gestreift hatten, von dem heimlich verscharrten Geliebten und dem im Mutterleib getöteten Kinde, das seine Mutter ruft.
Die hohe, festlich hohe Zeit solcher lyrischen Offenbarungen wurde jedes Mal zu frühe, wenn noch die Stimmen raunten, durch irgendeinen äußeren Eingriff aus persönlichen Bereichen abgeschnitten; dann half kein Horchen mehr, es war alles jählings zu Ende, und ich konnte mich wieder langsam auf die erzählende Gestaltung umstellen.
Über den Prosaarbeiten fielen je und je gedankliche Splitter ab, die ich nicht mitverarbeitete, um nicht den schwebenden Gang der Erfindung durch zu viel Gedachtes zu belasten. Ich schrieb jedoch zur Erinnerung für mich selber auf, was mir da geblitzt hatte und wofür ich keinen Abnehmer besaß als das Papier. Dabei wurden die Einfälle gelegentlich zu Ausführungen über dies und jenes erweitert, bis eines Tages ungewollt eine ganze Sammlung solcher ungesuchter Eingebungen, teils aus knappen Aphorismen, teils aus längeren Gedankengängen bestehend, fertig lag, die unter dem auf das Eingangsgedicht bezogenen Titel »Im Zeichen des Steinbocks« 1905 erstmalig erschien. Wer heute das kleine Buch, das unlängst bei Rainer Wunderlich in dritter Auflage neu herauskam, stark gekürzt, aber inhaltlich unverändert, zur Hand nimmt, ohne das erste Erscheinungsjahr oder gar die noch früheren Entstehungsjahre zu kennen, der kann leicht auf den Verdacht einer öden Konjunkturhascherei verfallen, wenn er Hinweise und Anschauungen liest, die dem deutschen Weltbild von heute abgelauscht scheinen, ihm aber in Wahrheit um zwanzig Jahre vorangegangen sind. Und wieder einmal muss ich mich verwundern, wie in der kurzen Spanne eines Menschenalters gesellschaftliche und staatliche Wertsetzungen, die für unumstößliche Grundpfeiler gegolten hatten, sich in ihr völliges Gegenteil verkehren können. Was ich als hohes Beispiel an der Stammesethik der Griechen und ihren daraus hervorgehenden eugenetischen Maßnahmen pries, das zog mir den empörten Aufschrei des geistigen Philistertums zu. Jener selbe literarische Gönner an der »Ulmer Post«, der meine ersten Gedichte so warm empfohlen hatte, mit der apologetischen Versicherung, dass ich außer dem Dichten auch das Nähen und Kochen verstünde, sagte mir seine Gunst auf und fand die ausgesprochenen Leitgedanken abstoßend. Heute sind sie zum Teil gesetzgeberische Wahrheiten. Was ich von fernen Jahrhunderten erhoffte, lag von niemand geahnt schon in der Richtung eines unsichtbar näher kommenden Geschehens.
Die Aphorismen, für die ich nicht leicht ein älteres Verlagshaus hätte gewinnen können, wurden Anlass zu meiner Verbindung mit dem eben aufkommenden vielversprechenden Georg-Müller-Verlag in München, der eine sorgfältige Ausgabe veranstaltete mit einer von befreundeter Hand entworfenen Titelzeichnung. Derselben Stelle dachte ich auch das Werk zu, das ich nach langem Verschub jetzt endlich in Angriff nehmen musste, sollte mir nicht die Erinnerung verblassen: die Lebensgeschichte meines Vaters. Es war nicht ganz leicht, außerhalb des Bereichs literarischer Hilfsmittel, bei nur sehr mäßigem Rüstzeug an brieflichem und sonstigem schriftlichem Nachlass, an dieses verantwortungsvolle Unternehmen heranzutreten. Ich verließ mich dabei vor allem auf das ausgiebigere Gedächtnis der zwei älteren Brüder, von denen ich hoffte, bei den nächsten Sommerferien in Forte dei Marmi, wohin auch Alfred des öfteren zu Gaste kam, manche wesentlichen, von mir vergessenen oder vielleicht gar nicht gekannten Züge erkunden zu können. Aber jetzt eben holte das Schicksal zu dem Schlage aus, der den ganzen Neubau meines Lebens im Grund erschüttern und in seinen Folgen eine weite Verwüstungszone um mich schaffen sollte.
Am 27. April 1904 schied Edgar nach nur vierzehntägiger Krankheit aus dem Leben. Man hatte ihn nicht mehr bettlägerig gesehen seit unseren gemeinsamen Kinderkrankheiten; alle Anfechtungen seiner zarten und durch eine überängstliche Erziehung noch verzärtelten Körperanlage hatte er mit eisernem Willen stehend und gehend in voller Tätigkeit überwunden. Mit dem dämonisch gespannten Blick des delphischen Wagenlenkers, der seine Rennbahn misst, ohne rechts und links zu sehen, hatte er jederzeit seinen Wahlspruch »Ich will« zum Siege geführt. Auch der Todeskrankheit, einer doppelseitigen Lungenentzündung, hatte er sich erst im letzten Stadium ergeben. Ja, er war noch einmal aufgestanden, um einen Schwerkranken zu besuchen, der seinen Arzt um einen Tag überleben sollte. Edgar war der mutigste Mensch, den ich je gekannt habe, denn zu dem durch Selbstzwang gestählten physischen Mut, der zu seiner physischen Kraft außer Verhältnis stand, gesellte sich bei ihm der seltenere Mut des Gedankens und der allerseltenste: der sittliche Mut zur Verantwortung jeder Art. Unfassbar war es für die Angehörigen, diesen Menschen, der überallhin als Helfer und Retter kam, jetzt vor sich zu sehen in der Hilflosigkeit der Krankheit. Die befreundeten Ärzte wussten sich nicht zu raten; er selber sah wohl, dass er in ungenügenden Händen war, weil keiner seinen durchdringenden Scharfsinn besaß. Es fehlt die Logik, sagte er zu mir, als er sich einen Augenblick mit mir allein sah, wenn ich doch selber den Verlauf besser überwachen könnte. Er verfolgte wohl die Symptome, aber das Fieber hatte ihn im Bann, dass er die Gedanken nicht klar zu halten vermochte. Die Muse aber blieb ihm zur Seite; noch wenige Tage vor der Auflösung übergab er seiner Mutter eine mit sicherer und scheinbar müheloser Sprachkunst geschmiedete Übersetzung eines Horazischen Gedichts. Nach dem letzten schweren Röcheln, im Augenblick wo der Atem stillstand geschah etwas Unfassbares: als ob eine Hand blitzschnell über die eben noch tiefbeseelten Züge, die im letzten Kampf noch leuchtenden dunkelblauen Augen hinführe und jeden Ausdruck wegwischte, dass nichts übrig war als ein bleiches ausgeleertes Wachsbild. An keinem anderen Sterbebette war je vor meinen Augen diese Wandlung eingetreten, die mir den oft gehörten Ausdruck: »der Geist entfloh« so unbezweifelbar in seiner Wahrheit vorführte: ich hatte ihn wirklich und tatsächlich entfliehen sehen, mit solcher Schnelle, wie es nur bei ihm, dem Schnellsten, geschehen konnte. Wo war er hin, dass auch nicht die blasseste Spur seines Wesens dem seelenlosen, keine Erinnerung festhaltenden Abbild eingeprägt blieb? Keinen anderen Toten sah ich so als bloße Schale daliegen. Dieser, man sah es, ließ auf der Erde nichts zurück, was ihn halten konnte, es war alles abgefallen; blitzschnell wie ein Meteor, so schien es mir, fuhr er einer neuen, höheren Aufgabe zu. Vanzetti, der danebenstand, schloss die erloschenen Augen und sicherte den Mund mit einem Gummistrang. Der Arme hatte sein Bestes verloren, aber in diesem Einsturz diente er jetzt allen zum Halt.
Ich konnte nur stehen und ins Leere staunen. Da lag nun der Mensch, den mir die Natur zum Freund hatte geben wollen, der in der Kindheit zwillingsartig mit mir verwachsen gewesen, der mir im Wollen, Fühlen, Meinen am verwandtesten war, verwandter auch als die geliebte Mutter, der bis zuletzt alle tiefen und zarten Seelenregungen mit mir gemein gehabt hatte, der einzige unter den Brüdern, dem wie mir bei einem hohen und geheimen Dichterwort der Atem stockte, der wie ich in dem Leben der Sprache einen heilig zu haltenden organischen Vorgang sah; der Mensch, der sogar die äußeren Merkmale des Seelenlebens mit mir gemein hatte, wie den schnellen Wechsel der Farbe und das von Freunden oft beredete Aufflammen und Schwarzwerden der Pupillen in Momenten der Erregung. Und dennoch bei einer so seltenen inneren Übereinstimmung und im nahen persönlichen Zusammenleben waren wir eins dem anderen entglitten, und jedes lebte in seiner Seelenwelt allein. Keins von beiden vermochte es zu erklären, und keins vermochte es zu ändern. Vielleicht wenn wir nicht Bruder und Schwester gewesen wären, würden wir uns geliebt haben. In seinem Nachlass fand ich das Gedicht »Warum?«
Warum denn sollen auf getrennten Pfaden
Wir unsre Wege gehn zum gleichen Ziel?
Ist’s Schicksalsfluch, mit welchem wir beladen?
Ist’s eines bösen Zufalls tückisch Spiel?
Wir sind uns fremd, doch keines von uns beiden
Weiß, welche Saite fehlt zur Harmonie.
Was sind es denn für Schranken, die uns scheiden?
Warum, warum denn finden wir uns nie?
Darf ich das Dunkel wohl zu lüften wagen?
Bleibt denn dein Herz und Mund für immer stumm?
O gib mir Antwort! sprich! ich will dich fragen
Mit meiner Seele ganzer Glut: Warum?
Ich hätte die gleiche unausgesprochene Frage stellen können, auf die beide keine Antwort wussten. So weit ich durch den Nebel der Vergangenheit stoßen kann, sehe ich die Entfremdung bis auf die Übergangszeit vom Knaben zum Jüngling zurückgehen. Zwar hatte es für Edgar keine Flegeljahre wie für den wilden Alfred gegeben, dafür war er zu zart und zu vornehm, aber es trat ein vorübergehendes Stocken seiner Entwicklung ein, dass ihm die nur wenig jüngere Schwester, wie es beim weiblichen Geschlecht natürlich ist, um eine Wegstrecke voranlief, sowohl was die geistige Reife als was die körperliche Länge betrifft. Zugleich erlebte er, dass ich blutjung, wie ich war, doch von den männlichen Besuchern des Hauses schon mit Aufmerksamkeiten umgeben und von ihm abgedrängt wurde, während er noch als halber Knabe danebenstand. Gewiss hat er mit seinem reizbaren Ehrgefühl dabei mehr gelitten, als ich ahnen konnte und als er ahnen ließ. Wenn er mir mit nassen Augen die Niedernauer Balltrophäen vom Arme riss und in das vorbeifließende Bächlein warf, so fühlte ich mich als unschuldige Zielscheibe einer knabenhaften Laune, und wenn er dann gar noch eine Streitschrift gegen das Tanzen verfasste und drucken ließ, so sah ich darin nur das Anzeichen einer wachsenden Schrullenhaftigkeit, der ich bestrebt war auszuweichen. Dass in ihm etwas riss und blutete, sah ich nicht, denn er zog eine Dornenhecke um sich, der niemand nahen konnte. Vielleicht geschah es, weil er im Grunde eine weichere Natur war als ich und weil er Weichheit für unmännlich hielt. Und als gar seine leidenschaftliche Jünglingsfreundschaft mit unserem Ernst Mohl an seinem Anspruch des Alleinbesitzens in Stücke ging, gab es fortan für ihn keine Gefühlsäußerung mehr. Wie er als Kind unter allen Geschwistern allein ein verschließbares Kästchen besessen hatte, worin er seine kindlichen Herrlichkeiten, wie Farbenschalen, bunte Bleistifte und blinkende Rechenpfennige, bewahrte und in das auch ich, die er am meisten liebte, nur in seltenen Stunden einen Blick werfen durfte, so trug er später sein ganzes inneres Leben als verschlossenen Schrein mit sich, nur je und je der Muse sich im Tiefgeheimen offenbarend, dass nicht einmal seine Mutter sich ihm mit einer Zärtlichkeit zu nahen wagte. Aber die Fremdheit zwischen uns war nur eine scheinbare, die innere Wärme dauerte auch unausgesprochen bis zuletzt. Nicht einmal die Ehe vermochte sie wirklich zu zerstören, diese gefährlichste von allen Bindungen, die jede andere Bindung durch den bloßen Tropfenfall des Alltags auflöst, wie es kein Sturm der Leidenschaft vermag; die aus einem Ganzen eine Hälfte macht, oft genug aus einem großen starken Ganzen die Hälfte eines kleinen und schwachen, auch sie rüttelte nicht wahrhaft an dem angeborenen Band. Und immer blieb die Aussicht, man würde sich in späteren Jahren wieder näher und besser verstehen. Und nun mit einem Male alles vorüber? Das ganze Spiel zwischen Tod und Leben schien mir so maskenhaft und unwahrscheinlich. Denn da stand noch immer die Gestalt meines Bruders neben dem Wachsbild auf dem Lager, völlig unversehrt und gegenwärtig, von Geist strahlend; ich suchte mir die Vorstellung seines Nichtmehrseins einzuprägen, aber es gelang mir nicht. War es eine Schwäche der Empfindung? Hatte es eine tiefere metaphysische Ursache? Ich konnte bei keinem Todesfall wahrhaft trauern. Niemand starb mir je. Ich glaubte im tiefsten Innern nicht an den Tod.
Auch meiner Mutter schien es so zu gehen. Sie stand in Ruhe und Fassung neben dem Lager, von dem man sie während des letzten Kampfes ferngehalten hatte, sie klagte und weinte nicht und folgte mir am Abend still aus dem für sie leer gewordenen Hause.
Nach der Einäscherung in Trespiano, als die Trauergäste sich bei mir in der Via de’ Bardi versammelten, erschien auch Römer und überreichte mir eine Lilie, in deren Kelch er einen kleinen weißen Aschenrest aus dem Leichenbrand meines Bruders verborgen hatte. Er war zu dem Feuer hinabgestiegen, ihn für mich zu holen.
Es war einer jener Augenblicke im Leben, die nicht vergehen. Noch immer bewahre ich den Aschenrest mit der zerfallenen Lilie in einem kleinen gläsernen Sarge.
Was ist mir von dir noch geschenkt?
Nur ein Rest von schneeweißer Asche,
In den Kelch einer Lilie versenkt.
Ein Liebender holte sie fromm
Aus sinkendem Feuerbade,
Wo die edle Hülle verglomm.
Die Lilie duftet so schwül,
Umfängt mit Taumel die Stirne
Und verwehter Bilder Gewühl.
Ich schau durch der Jahre Flor,
Da seh ich als Kinder uns beide
Vor des Lebens schimmerndem Tor.
Eintraten wir Hand in Hand,
Durchschwärmten in gleichem Verlangen
Der Jugend Verheißungsland.
In der Dichtung Wunderpalast,
Wo smaragden die Wände funkeln,
Waren wir beide zu Gast.
Doch Pfade schattig und hell
Entfernten uns fürder im Leben,
Wie kam das Ende so schnell?
Vorbei das bewegende Stück,
Getrennte, gemeinsame Pfade,
Was blieb von allem zurück?
Die Lilie von deinem Sarg,
In der die weinende Treue
Ein heiliges Kleinod barg.
Der Spender der poesievollen Aufmerksamkeit sah aber, dass seine Gegenwart der Mutter auch jetzt nicht angenehm war, so entfernte er sich bald mit der Erklärung, sich Vanzetti widmen zu wollen, den er in tiefer Verstörung zurückgelassen habe. Die beiden zogen sich gegenseitig nicht an, denn die Schwermut des Einen wusste mit der Glücksnatur des Andern nichts anzufangen, aber nun empfand er seine Verlassenheit schmerzlich mit. Ich bestärkte ihn sehr in seiner Absicht, denn mir hatte Vanzetti am Vorabend gesagt, er ziehe sich geflissentlich eine Lungenentzündung groß. So eng verwachsen wie die beiden waren, musste ja dem Überlebenden scheinen, dass der Pfeiler seines Daseins gestürzt sei.
Schön hatte auf der Heimfahrt von Trespiano Gräfin Gravina, die Stieftochter Richard Wagners, gegen mich geäußert, die Treue Vanzettis zu dem höher gearteten Freund habe sie stets an die des Kurvenal zu seinem Tristan erinnert. Es war in der Tat etwas wie mittelalterliche Mannentreue in diesem Freundschaftsbund, der weit über Edgars Tod hinaus bis zu seinem eigenen Hingang in dem Überlebenden fortdauerte und ihn zum Sohn und Bruder und väterlichen Berater sämtlicher verwaister Familienglieder machte.
*
Als ich unsere Mutter von Edgars Leiche weg in meine Wohnung in der Via de’ Bardi führte, war ihr erstes Wort: Ich habe bisher für ihn gelebt, jetzt will ich für dich leben. – Und ich will ihn dir wieder lebendig machen, sagte ich. Ein Wort, dessen Vermessenheit, und in einem solchen Augenblick, jedem anderen Mutterherzen gegenüber bis zur Lächerlichkeit anmaßend gewesen wäre. Aber ich wusste ja, zu wem ich sprach, und dass bei der außerordentlichen Vergeistigungsfähigkeit des Empfindungslebens dieser Frau ein solches Wunder möglich war. –
Man muss schnell sein, bevor die Erinnerung blässer wird, wenn man dem Zerstörer den einzigen Teil seiner Beute wieder abnehmen will, den er der starken Beschwörung zurückgeben muss, das menschliche Bild. Sobald die leibliche Erscheinung verschwunden ist, erscheint dem Schauenden das ewige Angesicht, das zu Lebzeiten unter dem wechselnden Spiel des Tages verborgen war, und zugleich füllt sich der Luftraum mit einer seelischen Essenz, die das ganze Wesen des Dahingegangenen spürbar wie ein allerfeinstes Aroma enthält. Trunken von dieser Essenz schrieb ich gleich in den ersten Tagen einen längeren Nachruf in Rodenbergs »Deutsche Rundschau«, und dann schickte ich mich zu einem größeren Lebensbild an. Wiederum war ich die einzige, die diesen Liebesdienst leisten konnte, und ein solcher gehört auch zu den schönsten Aufgaben für eine berufene Feder. Zwar trug sich Vanzetti längere Zeit mit der Absicht, selber über den verstorbenen Freund zu schreiben, aber ich wusste wohl, dass er dazu völlig ungeeignet war, denn er war viel zu flüchtigen Geistes, um sich auf eine innere Aufgabe zusammenfassen zu können, und seine Feder war auch durch die damals noch in den italienischen Schulen gelehrte bombastische Rhetorik verdorben, sodass, was so lebensvoll und farbig wahr aus seinem Munde kam, geschrieben ungenießbar wurde. Unter den Freunden war es nur Hildebrand, der dem Verstorbenen einen zwar kurzen, aber sehr warmen und tiefverstehenden Nachruf widmete, und dessen Bruder Otto, der Berliner Chirurg, tat im wissenschaftlichen Sinn das gleiche. Was sonst geschrieben wurde, war zum größten Teile kläglich. Besonders vergrämte mich ein deutscher Zeitungsschreiber, der mit dem Verstorbenen beim Wein gesessen hatte und von seinem »derben Schwabenhumor« sprach. Ich machte bei dieser Gelegenheit die Wahrnehmung, wie leicht oberflächliche Federn in die Formelhaftigkeit eines stehenden Beiworts entgleisen: weil Edgar Schwabe war und humorbegabt, wurde ihm der berufene derbe Schwabenhumor zugesprochen. Aber in Wahrheit hatte Edgar bei den feingeistigen florentinischen Symposien gerade durch die unübertreffliche Feinheit seines Humors geglänzt. – Ein heiteres Beispiel seiner schlagenden Repliken war seine erste Begegnung mit dem Maler Albert Lang, der sich ihm vorstellte mit den Worten: Mein Name ist kurz, ich heiße Lang. Worauf Edgar a tempo: Mein Name ist auch nicht lang, ich heiße Kurz. – In ähnlich missverstandener Weise war mein Vater bedenkenlos in der Presse als »verknorrter Einsiedler« bezeichnet worden, und viele haben es nachgeschrieben, weil er Einsiedler war und solche verknorrt zu sein pflegen. Dem Lebenden können derartige Verzeichnungen nichts anhaben: er tritt herein, man sieht das Licht seiner Augen und das Lächeln seines Mundes und weiß, wen man vor sich hat. Aber an den Toten ist jedes Fehlgreifen eine Schädigung. Um so mehr tat es not, dass ich selber das Wort ergriff, im einen und im anderen Fall, um für meine Lieben zu zeugen.