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SECHZEHNTES KAPITEL
Von meinen Feinden und Neidern

Ich will in dieser Sache nicht die gleiche Methode verfolgen wie vorhin und die Namen meiner Feinde und Neider nicht ebenso eifrig aufzählen wie die meiner Freunde. Ich bin nämlich der Ansicht, dass Galenus keinen kleinen Fehler gemacht hat, den Thessalus98 überhaupt zu nennen; denn dadurch, dass er ihn zerpflückt und zerreißt, unterrichtet er seine Leser erst von dessen Existenz und zeigt, wie viel Achtung er selbst ihm schenkte. Wenn es nicht gerade feige ist, ist es immer besser, sich den Gegner, von dem man Unbill erlitten, zu versöhnen oder jedenfalls sich nicht zu rächen; tut man dies doch, so soll man es lieber mit Taten, nicht mit bloßen Worten tun. Ich habe gelernt, meine Gegner nicht bloß zu verachten, sondern sie in ihrer Erbärmlichkeit zu bemitleiden. Feinde, die uns im Geheimen angreifen, beweisen schon dadurch, dass sie nur zu bedauern sind; nur solche, die uns offen angreifen, sind darum anzuklagen, vorausgesetzt, dass sie auf gleicher Stufe mit uns stehen.

SIEBZEHNTES KAPITEL
Verleumdungen, falsche Anklagen, heimtückische Anschläge, mit denen mich Denunzianten verfolgten

Es gibt zwei Arten von verleumderischen Anschlägen: Die einen richten sich gegen unseren guten Ruf und unsere Ehre, und von solchen will ich hier erzählen; von den andern wird später die Rede sein. Wenn ich mich nun hier entschlossen habe, von derartigen Anschlägen, vor allem von geheimen, hinterlistigen, zu sprechen, so darf ich gleich hinzufügen, dass es sich dabei nur um Kleinigkeiten handelt; denn größere, wichtigere Dinge lassen sich nur schwer verheimlichen, und was in der Öffentlichkeit geschieht, ist eben nicht so heimlich-hinterlistig. Auf solche Kleinigkeiten nun aber seine angestrengte Aufmerksamkeit zu richten, wäre eine zu alberne Sache. Darum will ich mich hier mit der Erzählung von vier Fällen begnügen.

Der erste Fall spielte sich ab, als es sich für mich darum handelte, nach Bologna berufen zu werden. Damals schickten meine dortigen Feinde irgendeinen Beamten nach Pavia, Erkundigungen über mich einzuziehen; der sah weder mein Auditorium, noch befrug er meine Schüler, sondern schrieb glattweg, nachdem er zuvor einige ganz wunderbare Dinge von einem andern Herrn erzählt – wahrscheinlich, weil er glaubte, dass der ja doch nicht berufen würde, – ich weiß nicht, wie er dazu kam, folgenden Satz oder besser Urteilsspruch über mich nach Bologna zurück: »Was den Girolamo Cardano betrifft, so habe ich in Erfahrung gebracht, dass er ohne Schüler vor leeren Bänken unterrichtet. Er ist ein übelgesitteter Mensch, jedermann verhasst und nicht frei von Dummheit, hat ein völlig ungebildetes Auftreten, versteht auch von der medizinischen Wissenschaft recht wenig, sondern schwätzt hierin einigen fremden Meinungen nach; in seiner Heimat hat ihn darum auch niemand als Arzt angenommen, und so übt er keinerlei ärztliche Praxis aus.« Der Abgesandte selber verlas dies Schriftstück im Senat von Bologna in Gegenwart des hocherlauchten Borromeo, des päpstlichen Legaten in dieser Stadt, und man war schon entschlossen, meine Berufung fallen zu lassen. Als er aber zu der Stelle kam, wo es hieß, ich übte keinerlei ärztliche Praxis aus, rief einer der Anwesenden: »Ei, ei! Ich weiß, dass das Gegenteil wahr ist! Ich habe die angesehensten Herren kennengelernt, die ihn konsultierten, und habe selbst, obschon ich nicht zu den angesehensten Herren gehöre, mich von ihm kurieren lassen.« Und dann ergriff der Legat das Wort und sagte: »Auch ich kann bezeugen, dass er meine Mutter, die schon von allen andern Ärzten aufgegeben war, geheilt hat.« Worauf ein anderer hinzufügte: »In der Tat, dann wird wohl alles andere in diesem Bericht genau so wahr sein wie dies!« Dem stimmte der Legat bei, und der Abgesandte wurde still und schamrot. Daraufhin fasste dann der Senat folgenden Beschluss: »Cardano soll zunächst das Lehramt nur für ein Jahr, vom Tage des Beschlusses ab gerechnet, erhalten. Erweist er sich so, wie er im Bericht geschildert ist, oder auch sonst wenig nützlich und brauchbar für die Akademie und die Stadt, so mag er sich anderswo eine Stellung suchen; verhält sich dagegen die Sache anders, so können wir dann immer noch den Kontrakt verlängern und auch über die strittige Frage des Gehaltes festen Beschluss fassen.« Dem stimmte der Legat bei, und so wurde auch beschlossen.

Damit waren nun aber meine Gegner nicht zufrieden; sie setzten es durch, dass der Senat bald darauf einen weiteren Boten an mich absandte, der zu den Bedingungen, auf die wir uns schon geeinigt hatten, andere beizufügen hatte. Ich lehnte jedoch die Annahme seiner Angebote ab; mein Gehalt war darin niedriger als zuvor angesetzt, kein bestimmter Ort für meine Vorlesungen war in Aussicht genommen, kein Heller Beitrag für meine Umzugskosten bewilligt. Da ich also glatt ablehnte, musste der Bote wieder nach Bologna zurückkehren und dann ein zweites Mal wiederkommen, diesmal mit den schon verabredeten Bedingungen. – Obwohl derlei Treibereien offensichtlich allen Beteiligten überaus schaden, so kommen sie doch immer wieder vor, infolge eines ganz verkehrten menschlichen Vorurteils. Alles nämlich, was wir Menschen tun, richtet sich nur nach schnell vergänglichen Zwecken, geschweige denn, dass es sich einmal um ewige Gedanken handelte. Darum ist es dem Weisen genug, auf diese Zwecke sein Augenmerk zu richten und sich nur um sie zu kümmern. Um die Wahl seiner Mittel macht er sich keine, auch nicht die allerleisesten Sorgen; jedermann steht es ja frei, die Augen offenzuhalten und auf alles zu achten. Er glaubt vielmehr, die Mittel durchaus als nebensächlich betrachten zu dürfen, weil sie ja, verglichen mit dem Zweck, um kein Haar wichtiger sind als die Nüsse, womit Kinder spielen. Wäre also der nicht ein vollendeter Narr, der sich über die Mittel und ihre Folgen und ihren Charakter Gedanken machte, wenn es sich darum handelt, mit einiger Geschicklichkeit sich den Lorbeer oder ein Amt oder eine Herrschaft zu erwerben, die ihm der Zufall in den Weg treibt? – Als ich dann meine Vorlesungen begann, suchten sie mir auf folgende hinterlistige Weise den Hörsaal zu entziehen: Sie setzten meine Vorlesungen ganz nahe der Essenszeit an und gaben überdies den Saal für die nämliche Stunde oder doch kurz zuvor einem andern Dozenten. Ich machte nun diesem drei Vorschläge: entweder solle er seine Vorlesungen früher beginnen, jedenfalls aber zeitiger schließen, oder aber sich einen andern Hörsaal aussuchen, sodass ich in dem mir angewiesenen unbehindert lesen könne, oder endlich, er möge in dem besagten Hörsaal lesen, worauf ich mir dann einen andern aussuchen würde. Als ich sah, dass er alle drei Vorschläge ablehnte, verlangte ich und setzte es auch tatsächlich durch, dass eine neue Anordnung getroffen und ihm irgend ein anderer Hörsaal angewiesen wurde. Darob nun großes Geschrei und Jammern. Aber inzwischen trat jener vierte Fall ein, wovon ich gleich reden werde, und hat es schließlich dahin gebracht, dass einerseits ich mit heiler Haut aus so vielen Anfeindungen und Komplotten entrann und andererseits meine Feinde davon verschont blieben, mich mein Lehramt ausüben sehen zu müssen.

Schließlich, als die Vertragsfrist zu Ende ging, verbreiteten sie das Gerücht, vor allem in den Ohren des Kardinals Morone, ich dozierte vor einem verschwindend kleinen Hörerkreis. Dies war nun durch und durch unwahr; ich hatte vielmehr von Anfang des Schuljahres bis in die Fastenzeit hinein eine sehr große Anzahl Hörer, trotz allen Verleumdungen und Intrigen meiner zahllosen Feinde. Aber schließlich wich dennoch die Tüchtigkeit, wie man zu sagen pflegt, der brutalen Gewalt. Sie hatten dem Kardinal eingeredet, scheinbar ganz im Interesse meiner Ehre, es sei notwendig, dass ich freiwillig auf mein Amt verzichte, und erreichten es wirklich, dass er entsprechende Schritte tat. So entschied sich die Sache, meinen Gegnern, die diesen Ausgang so sehnlichst herbeigewünscht hatten, mehr zu Gefallen als zu gutem Nutzen.

Ich will nicht weiter von dem reden, was ich sonst noch unter Verleumdungen und Ehrabschneidungen zu leiden hatte. Sie waren alle so übertrieben stark, so unermüdlich wiederkehrend, so töricht und so durchaus absurd, dass sie ihr Ziel, mich auf die Angeklagtenbank zu bringen, nicht erreichten, sondern nur die erwünschten Stänkereien zur Folge hatten. Offensichtlich haben meine Feinde damit auch mehr ihr eigenes Gewissen geplagt, als mir geschadet. Denn während sie mit vieler List mich von den allzu großen Mühen des Lehrberufs befreiten, wuchs mir die Arbeitslust und mehrte sich mein Wissen von vielen verborgenen Dingen; ich gewann durch ihr Treiben nur noch mehr freie Zeit zur Abfassung meiner Bücher, sorgte damit noch wirksamer für die Verbreitung meines Namens und verlängerte mein Leben. Deshalb pflege ich zu sagen und jedermann zu versichern, dass ich meine Feinde nicht hasse, wie auch keiner Strafe für würdig erachte, weil sie mir geschadet hätten; sie wollten mir ja nur schaden. Von jenen weit böseren Angriffen, die sie damals auf mich richteten, als ich in Bologna angestellt wurde, soll weiter unten, im dreißigsten Kapitel, die Rede sein.

ACHTZEHNTES KAPITEL
Liebhabereien

Ich habe Freude an feinen stilettartigen Schreibgriffeln, für die ich schon mehr als 20 Golddukaten ausgegeben habe. Große Geldsummen verwendete ich auch auf den Kauf verschiedener Arten von Federn; ich glaube sagen zu dürfen, dass mich mein ganzes Schreibzeug mehr als 200 Dukaten gekostet hat. Auch für Edelsteine habe ich eine große Leidenschaft, ferner für kleine Vasen, für Körbchen aus Bronze oder Silber, auch für kleine bemalte Glaskugeln99 und seltene Bücher. Das Schwimmen hat mir nur wenig, das Fischen sehr viel Freude gemacht, und ich habe, als ich zu Pavia wohnte, dieser Beschäftigung mich mit Eifer hingegeben und wollte, ich wäre nie davon abgekommen. Sehr gern lese ich Geschichtswerke, von den Philosophen am liebsten Aristoteles und Plotin100, abenteuerliche mystische Abhandlungen, auch medizinische Bücher. Die liebsten italienischen Dichter sind mir Petrarca101 und Luigi Pulci102. Einsamkeit ist mir lieber als der Umgang mit Freunden, denn ich habe deren nur ganz wenige ehrliche, gar keine gelehrten. Ich sage dies nicht etwa deshalb, weil ich von jedem Gelehrsamkeit verlangte – die ist ja doch immer und überall eine kleine –, aber wer will uns zwingen, unsere kostbare Zeit zu vergeuden? Das ist es, was ich verabscheue.

NEUNZEHNTES KAPITEL
Spiel und Würfelspiel

Vielleicht verdiene ich in keiner Beziehung Lob, am allerwenigsten aber darob, dass ich dem Schach- und Würfelspiel frönte; ich tat dies so über die Maßen leidenschaftlich, dass ich mir vielmehr bewusst bin, Tadel zu verdienen. Beide Spiele habe ich während vieler Jahre getrieben, das Schachspiel mehr als 40, das Würfelspiel etwa 25 Jahre lang, und zwar während dieser Zeit – zu meiner Schande sei es gesagt – Tag für Tag. Ich habe auf diese Weise gleichermaßen an Achtung wie an Vermögen und Zeit Einbuße erlitten. Und ich habe nicht das leiseste Recht, mich zu entschuldigen, es sei denn, dass einer mich damit verteidigen wollte, dass er sagte, ich hätte nicht das Spiel geliebt, sondern die bitteren Umstände gehasst, die mich zum Spiel getrieben haben: erlittenes Unrecht, Verleumdungen, Armut, die Unverschämtheit gewisser Leute, die beständige Unklarheit meiner beruflichen Stellung, das Missachtetsein, meine dauernde Kränklichkeit und die Folge aller dieser üblen Umstände, die unwürdige und unfreiwillige Beschäftigungslosigkeit. Dass diese Erklärung berechtigt ist, das beweist der Umstand, dass ich tatsächlich das Spielen aufgegeben habe, sobald ich eine standesgemäße berufliche Stellung gefunden hatte. Ich habe also nicht aus Spielwut oder Vergnügungssucht gespielt, sondern aus Missmut und um meine üble Lage zu vergessen. – In meinem Buch über das Schachspiel103 habe ich viele wichtige Erfindungen und Beobachtungen aus diesem Gebiete niedergeschrieben. Manches davon ging freilich unter der Beschäftigung mit anderen Dingen wieder verloren. Acht oder zehn Punkte waren es vor allem, die ich nie wieder finden noch auch rekonstruieren konnte und die von ganz unglaublicher Stärke der Erfindung waren und allen menschlichen Scharfsinn zu übersteigen schienen. Ich erwähne dies hier deshalb, weil ich hoffe, dass bald ein neugieriger Leser darauf stoßen und dem Werkchen die Krone, das heißt den Schlussschnörkel aufsetzen möge.

ZWANZIGSTES KAPITEL
Kleidung

Was ich in diesem Punkt über mich zu sagen habe, das deckt sich ganz mit dem, was Horaz von seinem Tigellius104 sagt; ja ich möchte fast sagen, Horaz habe mich selbst mit dieser Person gemeint:

»Nichts von Gleichmaß war an dem Mann. Bald rannt er, als folgt' ihm

Hart auf den Fersen der Feind, bald ging er behutsam und würdig, Gleich als trüg er ein Heiligtum. Heut hat er zweihundert,

Morgen nur zehn der Diener. Heut spricht er prahlend von Fürsten,

Kön'gen und Herrlichkeiten und morgen heißt es: Ein Tischchen Klein und bescheiden lieb ich, ein Schüsselchen Salz und der Kälte Wegen ein Kleid und wär‘s noch so grob.«

Und willst du den Grund oder die Gründe hierfür wissen, so habe ich deren zur Genüge bereit: Erstens ist der stete Wechsel in meinen Ansichten und Sitten daran schuld, sodann der Umstand, dass ich immer in erster Linie für meine körperliche Gesundheit Sorge trage. Ferner zwang mich auch der häufige Orts- und Wohnungswechsel zu Änderungen in meiner Kleidung; ich konnte die Kleider weder verkaufen, des Verlustes wegen, den ich dabei erlitten hätte, noch sie immer wieder unbenutzt für spätere Zeiten aufbewahren. So war mir hierin die Not ein Gesetz. Ein anderer Grund, der nicht weniger wichtig als dieser, noch auch weniger zwingend war, lag darin, dass ich der wissenschaftlichen Arbeiten wegen mein Hauswesen vernachlässigte; die Folge davon war eine Vernachlässigung meiner Kleider, deren große Zahl durch die wenig schonende Benutzung auf eine recht geringe zusammenschmolz. Ich bin darum mit Galen durchaus einverstanden, wenn er erklärt, der Mensch müsse mit vier Kleidern zufrieden sein, oder auch nur mit zweien, wenn man nämlich die Unterkleider nicht dazu zählen will. Und da man tatsächlich mit diesen Kleidern im einzelnen Falle dem Zweck und den Umständen entsprechend wechseln kann und soll, so glaube auch ich, dass vier Anzüge genügen, ein solcher von etwas schwerem, einer von ganz schwerem, einer von leichterem und endlich einer von ganz leichtem Stoffe. Damit kann man dann 14 Zusammenstellungen erzielen, wobei die eine nicht gerechnet ist, die darin besteht, dass man alle zugleich anzieht.

EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Meine Nachdenklichkeit und meine Art zu gehen

Der Grund meiner ungleichmäßigen Art zu gehen liegt in meinem dauernden Versunkensein in Gedanken. Sobald nämlich einer nicht darauf achtet, bewegen sich seine Beine ganz von selbst; bei vielen Leuten kann man auch ein unwillkürliches Fuchteln mit den Händen als ein Zeichen ihres unruhig beschäftigten Geistes beobachten. Dazu kommen dann noch der Wechsel in der beruflichen Beschäftigung, Überraschungen, vor allem aber auch der gesundheitliche Zustand des Körpers: Befinden wir uns wohl und sind wir jugendlich lebhaft, nicht ermüdet, sorglos und heiter, so pflegen wir rasch zu gehen; alle anderen Zustände und Stimmungen verlangsamen den Gang. Meine Art zu gehen passt wie ein Exempel zu dieser Regel: Sie ist stets hastig und unregelmäßig, wenn ich mich im Geiste gerade mit anderen Dingen befasse als denen, die vor meinen Augen liegen. Überhaupt sind wohl alle Bewegungen dann ungleichmäßig, wenn die harte Notwendigkeit drängt und ein von Natur ungestümer Geist die Zügel führt, der alles Gute dauernd machen kann und nichts Übles ertragen möchte. Diese Nachdenklichkeit, von der ich sprach, beherrscht mich zwar ununterbrochen, richtet sich aber nicht ununterbrochen auf denselben Gegenstand. Nichtsdestoweniger ist sie immer so stark, dass ich nicht essen oder sonstiger Vergnügung mich hingeben, ja nicht einmal Schmerzen verspüren oder schlafen kann, ohne von ihr beherrscht zu sein. Und doch weiß ich nicht, ob es zu größerem Nutzen oder Schaden wäre, wenn sie aufhörte; denn der einzige Vorteil wäre dann, dass ich Ruhe hätte und ein anderes Übel käme. – Im Übrigen ist mein Gang bald rasch, bald langsam, bald sind Kopf und Schultern aufrecht, bald gesenkt, eine Unregelmäßigkeit, die den Eindruck der Jugendlichkeit macht, in Wirklichkeit freilich weit davon entfernt ist.

ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Religion und Frömmigkeit

Ich bin geboren in der Zeit der größten Religionswirren, hatte, von Armut niedergedrückt, zahllose Gelegenheiten zum Abfall, habe auf meinen Reisen viele Menschen kennengelernt, die der Religion nicht nur fremd, sondern feindselig gegenüberstanden – wenn ich mich trotz alledem nicht habe verführen lassen, so ist dies mehr einem Wunder als meiner Weisheit, der göttlichen Hilfe eher als meiner Stärke zuzuschreiben. War ich doch auch von früher Jugend an zu beten gewohnt: »Herr mein Gott, in deiner grenzenlosen Güte schenke mir ein langes Leben, Weisheit und Gesundheit an Leib und Seele.« So ist es kein Wunder, wenn ich stets ein treuer Anhänger meiner Religion und ein gottesfürchtiger Mann geblieben bin. Auch andere Gaben sind mir zuteil geworden, wie man meinen könnte, aber sie waren derart, dass sie offenbar eher einem andern zu Nutz und Vorteil wurden als mir. Ich war in Wirklichkeit ununterbrochen krank und war gelehrt, um es gerade herauszusagen, mehr in solchen Dingen, die ich gar nicht studierte und die ich auch von keinem andern gelernt habe, als in denen, deretwegen ich den Lehrern nachlief.

Meinen Kindern war ich ein liebevoller Vater, und ich habe damals gegen den Tod und das Leiden meines Sohnes nach Kräften gekämpft. Er sollte sterben, und wenig fehlte, so hätte er die Welt ohne Nachkommenschaft verlassen; nun habe ich von ihm einen Enkel, der, wenn ich mich nicht täusche, noch im Jahre seines Todes zur Welt kam. – Doch was soll dies? Warum willst du der Menschen Leiden und Elend dem Glück der Seligen gegenüberstellen? Freimütig sei es gesagt: Würde er denn ewig leben, wenn er damals nicht gestorben wäre? Was soll das also nur? Was habe ich dabei verloren? O eitel törichtes Denken der Menschen! Sträflicher Wahnwitz!

Ich gedenke im Gebete nicht nur der göttlichen Majestät, sondern auch der seligsten Jungfrau Maria und des heiligen Martinus; denn ein Traum hat mir verheißen, dass ich unter seinem Schutze einst noch ein ruhigeres, langes Leben führen werde.

Ich habe vor Jahren einmal eine Abhandlung geschrieben, von der ich hier einen Auszug geben will. Ich führte darin aus, dass die Trübsal dieses Lebens in keiner Weise mit dem Glück verglichen werden könne, das wir vom anderen Leben uns erhoffen. Wenn derartige übernatürliche Hoffnungen uns beseelen, so sind sie freilich so stark, dass wir nicht an ihnen zweifeln können und sie für das höchste Gut halten möchten; sobald sie uns aber entschwunden sind, scheint uns der ganze Glaube wie ein Traum. O dass es Gott gefallen hätte, diese Charybdis des Zweifels zum höchsten Heile von uns zu nehmen! Viel eifriger würden die Menschen den göttlichen Weisungen gehorchen, viel treuer der Gebote Gottes gedenken und die Wohltat dieser Gebote viel reichlicher genießen, viel frömmer würden sie leben und andern zum guten Beispiele sein! – Doch ich sehe ein, dass nur Schande und Schmach mich für meine Mühe lohnt, den Menschen ein Gesetz der Weisheit aufnötigen zu wollen. Frommes Mitleid mit den Leiden dieser Armen riss mich hin. So habe ich auch über die Unsterblichkeit der Seele in der besagten Abhandlung einige Gedanken vorgebracht, die mit Plato, Aristoteles und Plotin, mit dem gesunden Menschenverstand und der allgemeinen Lehre übereinstimmen, die natürlichsten Gedanken, glaube ich, von all denen, die einfache Laien darüber geäußert haben. Bei Plato nämlich ist die Tiefe der Gedanken, bei Aristoteles die scharfe logische Einteilung, bei Plotin die klare letzte Definition, was hervorgehoben zu werden verdient, der Hinweis auf die Folgen aber wird vermisst – eine Entdeckung, die freilich nicht ich gemacht habe, sondern Avicenna105, dessen Ansicht in diesem Punkte, als die vernünftigste aller Philosophen, ich gerne unterschreibe.

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