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DREIZEHNTES KAPITEL
Mein Charakter, geistige Mängel und Schwächen

Ist es schon an sich schwer, über dieses Thema zu schreiben, so noch viel mehr, wenn man bedenkt, dass die Menschen, die sonst wohl Selbstbiografien zu lesen pflegen, nicht gewohnt sind, darin eine ehrliche, aufrichtige Schilderung zu hören, wie ich sie hier geben will. Die einen, wie etwa Antoninus76, äußern sich darüber, wie sie hätten sein sollen; andere, wie Flavius Josephus77, berichten alles wahrheitsgetreu bis auf ihre eigenen Fehler, die sie unterschlagen. Wir aber wollen in dieser Sache der Wahrheit völlig zu Willen sein, obschon wir wohl wissen, dass, wer in sittlichen Dingen sich verfehlt, nicht, wie bei anderen Fehlern, Entschuldigung findet. Wer aber konnte mich zu dieser Aufrichtigkeit zwingen? Bin ich also nicht der eine von den zehn geheilten Aussätzigen, der dankbar zum Herrn zurückkehrte?

Ärzte und Astrologen sehen die natürlichen Charaktereigenschaften in den angeborenen Grundformen der Veranlagung begründet, die Formen der Charakterbildung dagegen von Erziehung, geistiger Beschäftigung und gesellschaftlichem Verkehr beeinflusst. Alles dies trifft nun zwar bei allen Menschen zu, doch weisen die einzelnen Altersstufen spezifische Unterschiede auf, und aus den gleichen äußeren Anlässen entstehen oft die allerverschiedensten Folgen. Weshalb in diesen Dingen Scheidung und Auswahl nötig ist. Ich will nun also vor allem von diesen wesentlichen Charaktereigenschaften sprechen, soweit eben jenes griechische γνωδτ σέαυιόν78 von mir gilt. Über meinen natürlichen Charakter bin ich mir durchaus klar geworden: Ich bin heftig von Temperament, naiv, der Sinnlichkeit ergeben. Und aus diesen Eigenschaften, gleichwie aus Prämissen, folgen die weiteren: Grausamkeit, hartnäckige Streitsucht, eine gewisse Rauheit des Charakters, Unvorsichtigkeit, Jähzorn und eine Rachgier, die das Maß meiner Kräfte und Mittel weit übersteigt, jedenfalls aber ein stets zur Vergeltung geneigter Wille, der dem alten Worte huldigte, das so viele – mit dem Munde wenigstens – verdammen:

»Süßeres Gut noch als selbst mein Leben dünkt mir die Rache.79«

Im Allgemeinen habe ich nie gewollt, dass der berühmte Satz an mir seine Gültigkeit verliere: »Unsere Natur ist geneigt zum Bösen.« Doch bin ich ein wahrheitsliebender Mensch, treu dankbar für empfangene Wohltaten, voll Gerechtigkeitsgefühl, anhänglich an die Meinigen, ein Verächter des Geldes, beseelt von dem Wunsche eines ruhmvollen Fortlebens in der Nachwelt. Stets gewohnt, Dinge von mittelmäßigem, geschweige denn von geringem Werte zu missachten, pflege ich doch keinerlei Gelegenheit, die sich mir bietet, geringschätzig zu übersehen, wohl wissend, von welch großer Bedeutung oft die kleinsten Dinge sind. Zwar bin ich von Natur zu jedem Laster und zu jedem Bösen geneigt, doch frei von jedem Streben nach äußeren Ehren und kenne meine eigene Unfähigkeit mehr als irgendein anderer. Auch übersehe ich oft mit Absicht Gelegenheiten, die sich mir zur Befriedigung meiner Rache bieten mögen, aus einer gewissen religiösen Empfindung heraus und weil ich sehr wohl einsehe, wie lächerlich all diese Dinge sind.

Ich bin von Natur furchtsam, habe ein kaltes Herz, aber einen heißen Kopf, bin ständig in Gedanken versunken und mit vielen und sehr großen, oft auch ganz unmöglichen und undurchführbaren Dingen beschäftigt. Auch ist mein Geist imstande, sich mit zwei verschiedenen Arbeiten zugleich zu befassen.

Die Leute, die mir Geschwätzigkeit und maßloses Eigenlob vorwerfen, klagen mich eines Lasters an, das mir fremd ist. Ich greife niemanden an, verteidige mich nur. Und muss ich mich denn solcher Vorwürfe wegen abmühen, da ich doch oft genug versichert habe, für wie wertlos ich dies Leben halte? Was eine Entschuldigung ist, halten diese Leute für ein Selbstlob; ein so großes Ding dünkt es ihnen, einmal ohne Fehler zu sein.

Ich habe mich daran gewöhnt, meinen Gesichtszügen unmittelbar nacheinander den ganz entgegengesetzten Ausdruck zu geben. Ich vermag auf diese Weise ein fremdes Gefühl zu heucheln, doch verstehe ich es nicht, ein Gefühl, das ich wirklich besitze, zu verbergen. Dies ist nur dann leicht, wenn es sich darum handelt, den Ausdruck der Hoffnungslosigkeit vorzutäuschen. Volle 15 Jahre lang habe ich mir die größte Mühe gegeben, mir diese Fertigkeit anzueignen, und es gelang. Zu diesem Zwecke gehe ich bald in Lumpen, bald reich geschmückt, bin jetzt schweigsam, dann wieder gesprächig, bald heiter, bald traurig; denn jede Art des Benehmens und jeden Gefühlsausdruck gebe ich sofort auch in seinem Gegenspiel wieder.

In meinen jüngeren Jahren habe ich selten und nur wenig auf die äußere Pflege meiner Person geachtet, immer gierig besorgt, Wichtigeres zu tun. Meine Gangart ist ungleichmäßig: bald rasch, bald langsam. Zu Hause pflege ich die Beine bis zu den Knöcheln nackt zu tragen. Ich bin wenig fromm und sehr vorlaut im Reden; überaus jähzornig, sodass ich mich darob schäme und mir vor mir selber ekelt. Und wennschon ich stets bereut habe, so habe ich doch immer die schwersten Strafen des Geschicks auf mich genommen, um nur das schändlich üppige Leben eines Sardanapal80 abzubüßen, das ich in den Jahren meines Rektorats an der Universität zu Padua führte. Doch um zu meiner Schande ein Lob, zu meinem Verbrechen eine Tugend zu gesellen, füge ich hinzu, dass ich all dies mit Weisheit und Geduld getragen und stets mich zu bessern getrachtet habe. Zur Entschuldigung dieses Selbstlobs diene mir, dass ich mich gezwungen fühle, es auszusprechen. Ich wäre ja undankbar, wollte ich die gütigen Gaben Gottes verschweigen, und noch weniger darf ich doch von den Opfern reden, die ich gebracht, ohne zu erzählen, wie ich sie gebracht habe. Auch sind ja, wie ich schon gesagt, all diese Dinge durchaus nicht so hoch einzuschätzen, wie der Pöbel will; es sind wertlose und lächerliche Kleinigkeiten, sind wie die Schatten, die die untergehende Sonne wirft, groß, doch ohne Nutzen und von kurzer Dauer. Wenn man dies ohne Gehässigkeit erwägen und dazu überlegen wollte, warum es mir nicht erlaubt sein soll, auszuführen, mit welcher Gesinnung, unter welchem Druck und Zwang der Verhältnisse ich meine Fehler beging und wie viele Schmerzen mir alle diese Dinge schon bereitet haben; wenn man weiter bedenken wollte, dass andere Menschen, ohne dem geringsten Zwang zu unterstehen, viel schwerere Sünden als diese begangen haben, ohne sie zu bekennen, weder vor sich, noch öffentlich vor anderen, dass diese Leute ferner empfangene Wohltaten weder dankbar erwähnen, noch auch überhaupt ihrer gedenken, so würde man mich vielleicht etwas billiger beurteilen.

Doch fahren wir fort. Als eine eigenartige und große Untugend empfinde und betrachte ich es, dass ich gewohnt bin, lieber gar nichts zu reden, als etwas, was meinen Zuhörern missfallen könnte. Doch beharre ich in diesem Fehler mit Wissen und Willen, denn ich weiß sehr wohl, wie oft schon diese Sitte allein mir Feinde versöhnt und gewonnen hat. So viel vermag natürliche Anlage, wenn sie mit langer Gewohnheit verbunden ist. Meinen Wohltätern, auch angesehenen und mächtigen Leuten gegenüber unterlasse ich dies. Ich will kein Speichellecker, nicht einmal ein Schmeichler sein.

Auch im Handeln bin ich vorlaut und unbesonnen, wennschon ich sehr wohl weiß, was zu tun mir nützlich und schicklich wäre. Aber kaum wird man einen Menschen finden können, der so hartnäckig in diesem Fehler steckt wie ich. Ich lebe auch gerne und so viel ich kann in der Einsamkeit, obwohl mir bekannt ist, dass Aristoteles diese Lebensart verurteilt. Er sagt nämlich: »Der Einsiedler wird entweder zum Tier oder zum Gott.« Und den Beweis für die Wahrheit dieser Lehre habe ich selbst erbracht. Ein ähnlicher Wahnwitz, der mir nicht minder schadet, ist es, dass ich Diener bei mir zu behalten pflege, von denen ich ganz bestimmt weiß, dass sie nicht bloß mir nutzlos, sondern auch meinem guten Namen schädlich sind – ebenso, wie ich auch Tiere, die ich irgendeinmal zum Geschenk erhalten habe, wie Ziegenböckchen, Schafe, Hasen, Kaninchen, Störche, um mich behalte, sodass ihr Gestank das ganze Haus verpestet.

Auch habe ich immer unter dem Mangel an Freunden, besonders an treuen, sehr gelitten. Und viele, ja überaus viele Fehler habe ich dadurch begangen, dass ich mich überall in alle Dinge, von denen ich erfuhr, in wichtige und unwichtige, einzumischen suchte, bald mit, bald ohne Erfolg. Ganz besonders fehlte ich darin, dass ich Menschen beleidigte, die zu loben ich mir vorgenommen hatte; so war es auch gegenüber dem Präsidenten81 zu Paris, einem höchst gebildeten Manne, namens Aimar82 de Ranconet, von Nation ein Franzose. Und solche Fehler habe ich nicht etwa bloß aus meiner vorlauten, unbedachten Art heraus begangen oder aus einer Unkenntnis der Eigenschaften und Verhältnisse des anderen – Mängel, die leicht auszugleichen gewesen wären, – sondern darum, weil ich auf gewisse Formen gesellschaftlicher Lebensart, die ich erst später erlernte, nicht achtete, Umgangsformen, die den Menschen von Rang und Bildung fast durchweg geläufig sind.

Wenn es gilt zu überlegen, bin ich allzu rasch und hastig, weshalb meine Pläne zumeist überstürzt und voreilig sind. Bei Geschäften jeder Art dagegen dulde ich keinerlei Drängen. Nun haben meine Gegner wohl bemerkt, dass ich dann schwer zu fassen bin, wenn ich Zeit habe; darum richten sie nun ihr ganzes Augenmerk darauf, mich zu drängen. Ich ertappe sie oft bei solchem offenkundigen Treiben und hüte mich vor ihnen wie vor schlimmen Widersachern und betrachte sie als meine Feinde, was sie auch in Wirklichkeit sind.

Hätte ich mich nicht daran gewöhnt, nie eine Sache zu bereuen, die ich freiwillig unternommen habe, und hätte sie auch ein noch so übles Ende genommen, so hätte ich wohl beständig unter der unglücklichsten Stimmung zu leiden gehabt. Das meiste Unglück, das mich getroffen, hat jedoch die ungeheure Torheit meiner Söhne verschuldet, verbunden mit dem schändlichen Benehmen und der beschränkten Gesinnung meiner Verwandten, die stets gewohnt sind, die Ihrigen mit Neid und Scheelsucht zu betrachten – ein spezifisches Laster unserer Familie, das freilich fast allen Kleinstädtern anhaftet.

Von früher Jugend an bin ich ein über alle Maßen leidenschaftlicher Schachspieler gewesen. Ich habe auf diese Weise die Bekanntschaft des Herzogs Francesco Sforza II.83 von Mailand gemacht und mir außerdem die Freundschaft vieler vornehmer Herren erworben. Da ich mich aber viele Jahre, fast 40, beständig diesem Spiele widmete, ist kaum zu sagen, wie viel an Vermögen, ohne jeden greifbaren Nutzen, ich durch diese Leidenschaft vergeudet habe. Noch schädlicher freilich ist mir das Würfelspiel geworden; denn ich habe darin auch meine Kinder unterrichtet, und nur zu oft stand mein Haus allen Würfelspielern offen. Ich habe für dieses Laster nur eine einzige, recht dürftige Entschuldigung: die ärmlichen Verhältnisse, in denen ich geboren bin, verbunden mit der nicht unbedeutenden Geschicklichkeit, die ich nun einmal für solche Dinge habe.

Es ist dies eben eine menschliche Unsitte. Andere gibt es, die man nicht nennen will und nicht nennen darf, und wer weiß, ob sie besser und weiser sind? Wie, wenn einer zu den Königen der Erde sich wenden und ihnen sagen wollte: »Ist doch keiner unter euch, der nicht schon Läuse, Fliegen, Wanzen, Flöhe und anderen noch hässlicheren Unrat aus der Hand seiner Diener gegessen hat«? Wie werden die Herren dies hören mögen? Und doch ist es sicher wahr. Wir wollen eben gewisse Dinge nicht wissen, auch wenn sie uns eigentlich längst bekannt sind, und wollen sie lieber mit Gewalt unterdrücken. Und was ist der Grund? Nichts anders als eine Unkenntnis unseres allgemeinen Zustandes. So ist es auch mit unseren Sünden und allem andern; es sind eben hässliche, lächerliche, unordentliche und unzuverlässige Dinge: faules Fallobst am Baume. Ich habe also hier nichts Neues vorgebracht, nur die nackte Wahrheit gesprochen.

VIERZEHNTES KAPITEL
Meine geistigen Vorzüge, Standhaftigkeit und Charakterfestigkeit

In vielen Irrtümern sind die Menschen befangen, keiner aber ist größer als der, wenn sie das Wort »Standhaftigkeit« schwatzend im Munde führen. Denn einmal muss hier wohl unterschieden werden: die wahre Beharrlichkeit ist eine Gabe Gottes, die unechte dagegen eine Sache der Tölpel und Narren. Jedermann wird die Standhaftigkeit des Diogenes, der den ganzen Sommer in der Sonne lag und im glühend heißen Sand sich wälzte und winters eiskalte Säulen nackt umarmte, lächerlich und völlig töricht finden. Eine ganz herrliche Tugend aber war die Standhaftigkeit des Bragadino84, jenes venezianischen Adligen, der Dinge erduldete, die selbst der roheste seiner übermütigen Besieger sich scheute an ihm zu vollziehen, Qualen, die ihn unsterblichen Ruhmes würdig machten: Es wurde ihm lebendigen Leibes die Haut abgezogen. Und wenn es auch Gnade Gottes war, dass er solche Martern ertragen konnte, so war es doch gewiss menschliche Größe, sie ertragen zu wollen.

Und wenn nun auch im Unglück leichter einer zu strahlender Seelengröße sich erheben mag, so gibt es doch auch in glücklichen Lebenslagen nicht seltener Gelegenheiten, sich echter Bewunderung würdig zu erweisen. Und weiter sind auch Menschen, denen solche Gelegenheiten fehlen, darum doch nicht als minder standhaft zu betrachten. Da man sich nun auf so vielerlei Weise in Bezug auf diese Tugend irren kann, so ist jedenfalls festzuhalten, dass wir an sich es uns weder zum Ruhm anrechnen dürfen, wenn wir ein Übel ertragen haben, noch zum Tadel, wenn uns die Gelegenheit dazu fehlte, dass wir nicht als unser Verdienst noch als unsere Schande betrachten dürfen, was die Natur getan oder unterlassen hat. Ich will mich nicht damit verteidigen, dass ich behaupte, es habe mir in irgendeiner Weise an Gelegenheiten zum Erweis meiner Standhaftigkeit gefehlt; denn niemand, glaube ich, ist mir so feind und beurteilt mich so ungerecht, dass er nicht eher meine Geduld im Unglück und meine Selbstbeherrschung im Glück bewunderte, als mir zum Vorwurfe machte, dass ich angenehme Dinge missachte oder unangenehme ruhig ertrage. Ich erinnere an die Vergnügungen und heiteren Ereignisse meines Lebens, aber auch an meine Krankheiten, an meine stets schwachen Leibeskräfte, an die Verleumdungen meiner Neider, an manche wenig glücklichen Erfolge, an Prozesse, Anfeindungen, an die Drohungen einflussreicher Leute, an die Verdächtigungen, womit Einzelne mich verfolgten, an das Unglück in meiner Familie, an den Mangel so vieler irdischer Güter, endlich an die zweifelhaften Ratschläge, die mir solche gaben, die wirklich meine Freunde waren oder mir doch Freundschaft heuchelten, vor allem an die Gefahren, die für mich die überall wuchernden Irrlehren mit sich brachten.

Mochte mir auch manchmal ein freundliches Geschick lächeln und mochten mir auch noch so viele glückliche Erfolge beschieden sein, nie habe ich meine Sitten und mein Betragen geändert; ich bin dadurch nicht hochmütiger geworden, noch ehrgeiziger, noch auch ungeduldiger, ich habe deswegen nicht die Armen verachtet, noch meine alten Freunde vergessen, ich bin nicht spröder im Verkehr, noch hochfahrender in meiner Rede geworden; ich habe auch darum keine kostbareren Kleider getragen, außer, wenn die gesellschaftliche Stellung, die ich einnahm, mich dazu zwang, und vielleicht auch im Allgemeinen, weil ich, wie ich schon erzählte, in früheren Jahren meiner Armut wegen eben allzu schäbige Kleidung getragen hatte. In widrigen Lebenslagen freilich erwies sich mein Charakter als nicht ganz so fest und standhaft. Hatte ich doch auch Dinge zu ertragen, die in keinem Verhältnis zu meinen Kräften standen. In solchen Fällen habe ich mit äußeren Mitteln meine Natur bezwungen. Ich habe nämlich mitten unter den ärgsten Seelenqualen mit einer Rute meine Beine gepeitscht, habe mich stark in den linken Arm gebissen, habe gefastet und durch reichliche Tränen mein Herz erleichtert, wenn es mir gelang zu weinen, was freilich nur sehr selten der Fall war. Auch habe ich dann mit Vernunftgründen gegen meine seelischen Schmerzen angekämpft, habe mir selbst versichert: »Es ist ja gar nichts Neues geschehen, die Zeit nur hat sich geändert, rascher freilich, als ich dachte. Aber hätte ich denn für ewige Zeiten von dieser Stunde und ihrer Qual verschont bleiben können? Und bin ich so um ein paar Jahre betrogen worden, was soll dies bisschen Zeit, verglichen mit der Ewigkeit? Schließlich, habe ich nur noch wenige Jahre, so habe ich nur wenig verloren; lebe ich noch länger, nun, so lacht mir ein langes Leben, und vielleicht wird noch manches eintreten, das meinen Schmerz lindert und mir an seiner Stelle ewigen Ruhm schenken mag. Und endlich, stünde ich besser, wenn dieser Schmerz mir nie geworden wäre? In Wirklichkeit freilich war ich dem Schmerz nie gewachsen, wie ich weiter unten erzählen werde, Gottes Barmherzigkeit und ein offensichtliches Wunder haben mich von ihm befreit.

Bei meinen wissenschaftlichen Arbeiten bewies ich eine noch größere Beharrlichkeit, vor allem bei der Abfassung meiner Bücher. Boten sich mir auch die günstigsten Gelegenheiten anderer Art, ich ließ doch nie von dem einmal Angefangenen ab, sondern harrte treu bei der begonnenen Arbeit aus; bei meinem Vater nämlich hatte ich die Beobachtung gemacht, wie viel ihm der stete Wechsel in seinen Beschäftigungen geschadet hat. Ich glaube nicht, dass mich jemand darum tadeln wird, dass ich damals, als man mich in die Accademia degli Affidati85 aufnahm, in der viele Fürstlichkeiten und Kardinäle die erste Rolle spielten, nicht von vornherein ablehnte und mich der Sache ganz entzog. Nur aus ängstlicher Bescheidenheit nahm ich damals an; als die Akademiker aber, mit allen Insignien bekleidet, dem König vorgestellt werden sollten, lehnte ich für meinen Teil ab und erklärte offen, dass ein derartiger Pomp meinem Charakter nicht entspreche. Bezüglich der Tugend im Allgemeinen habe ich nichts anderes zu sagen, als was schon Horaz gesagt hat:

»Tugend heißt das Laster fliehen.«86

Nie habe ich mit einem Freunde gebrochen, und war es dennoch einmal wider meinen Willen zum Bruch gekommen, so habe ich nie Geheimnisse ausgeschwatzt, die ich als Freund erfahren – wie ich denn überhaupt mir niemals fremdes geistiges Eigentum angeeignet habe –, und habe auch nie dem mir Verfeindeten frühere Äußerungen vorgehalten, ein Punkt, in dem ein Aristoteles manches, ein Galenus, der bis zu den hässlichsten Streitereien sich hinreißen ließ, sehr viel gesündigt hat. Nur dem Plato stehe ich in dieser Sache nach. Ein Vorbild in dieser Tugend hatte ich an Andreas Vesal, einem vornehm ruhigen Charakter, der, von Matteo Curzio87 durch kleinliche Angriffe gereizt, gleichwohl dessen nie tadelnd erwähnen wollte. Auch habe ich, stets von reinem wissenschaftlichem Interesse beherrscht, den Curzio seiner Gelehrsamkeit wegen nie beneidet. Und wenn er mich auch als Dieb verschrien hat, weil ich einmal ein Pfand von ihm zurückbehielt für eine Geldsumme, die er mir ohne Zeugen versprochen hatte, so hat er doch, als er nach Pisa übersiedelte und der Senat der Universität von Pavia ihn frug, ob ich wohl geeignet sei, seine Stelle einzunehmen, geantwortet: »Mehr als irgendein anderer.« Und da der Senat wohl wusste, dass wir uns nicht versöhnt hatten, erteilte er mir den Lehrauftrag, den Curzio innegehabt. Zu meinen guten Eigenschaften gehört auch zweifellos, dass ich von frühester Jugend an niemals eine Lüge gesprochen, dass ich Armut, Verleumdungen und so viel anderes Unglück ertragen habe und dass man mit einigem Rechte mich niemals der Undankbarkeit bezichtigen konnte. Doch schon zu viel des Selbstlobes!

FÜNFZEHNTES KAPITEL
Von meinen Freunden und Gönnern

Mein erster Jugendfreund war Ambrogio Varadeo, mein Genosse im Schachspiel und im Musizieren; Ähnlichkeit des Charakters hatte uns zusammengeführt. In späteren Jugendjahren war ich dann vor allem befreundet mit Prospero Marinoni aus Pavia, mit dem Mailänder Ottaviano Scotto, der mir oft mit Darlehen aus Geldverlegenheiten geholfen hat, und mit Gaspare Gallareato. Während meines Aufenthaltes im Städtchen Sacco verband mich eine enge Freundschaft mit Giovanni Maria Mauroceno, einem venezianischen Adligen, und mit dem Drogisten Paolo Illirico. Nach meiner Rückkehr nach Mailand gewann ich die Freundschaft des dortigen Erzbischofs, Filippo Archinti, der mich dann mit Lodovico Madio bekannt machte, dessen Unterstützung ich bedurfte und genossen habe. Unter manchen anderen lernte ich zu Mailand den Juwelier Girolamo Guerrini kennen, von dem ich viele Geheimmittel erfuhr, über die ich später in meinen Büchern berichtet habe, aber nicht in der Art der Plagiatoren, die aus fremden Büchern ihre Weisheit zusammenstehlen. Durch Guerrini wurde ich auch bei dem Florentiner Francesco Belloti eingeführt. Des Weiteren befreundete ich mich mit dem Rechtsgelehrten Francesco della Croce, einem angesehenen, wackeren Manne, der auch in der Mathematik Bescheid wusste und dessen Hilfe ich sehr viel verdankte, als es sich um meine Aufnahme in das Kollegium der Ärzte handelte. Durch die Vermittlung des Drogisten Donato Lanza wurde ich mit dem Senator von Cremona, Francesco Sfondrati, befreundet, der später Kardinal wurde; und durch diesen wiederum machte ich die Bekanntschaft des Giambattista Speciario, der gleichfalls von Cremona gebürtig und Vorstand des dortigen Kriminalgerichtshofes war, ein gebildeter und überaus tüchtiger Mann, durch den ich dem Gouverneur von Mailand und Kommandanten der kaiserlichen Armee, Alfonso d'Avalos88, vorgestellt wurde. Sfondrati war es auch, der mir die Stelle eines Dozenten der Medizin in Pavia verschaffte.

Später schenkte mir Andrea Alciati89 seine Freundschaft, jener berühmte Jurist und glänzende Redner, und nach ihm sein Neffe Francesco Alciati90, der jetzt Kardinal ist. Einige Zeit darauf lernte ich noch zwei andere Kardinäle kennen, den Giovanni Morone und den Pietro Donato Cesi. Und auf dem Mäzenat dieser drei Kardinäle ruht heute meine Lebensstellung. Ein vierter Kardinal, mit dem ich befreundet bin, ist Christoforo Madruzzo91, Bischof von Trient, der Sprössling eines hocherlauchten Fürstengeschlechts, der wie kein Zweiter mich mit Wohltaten überhäuft und freigebig ist gegen jedermann.

Dann stand ich – um wieder von Freunden zu sprechen, die mir gleichgestellt waren, – in herzlichem Verkehr mit Panaetius Benevento aus Arezzo, dem allertrefflichsten Manne, und diese Freundschaft, die nur auf der eigenen Kraft unserer Zuneigung ruhte, schien mir würdiger und köstlicher als alle anderen, die für mich mit finanziellen Vorteilen verknüpft waren. In Rom war ich befreundet mit dem ehrwürdigen Bischof Taddeo Massa, einem ebenso hochintelligenten Kopf als reinen Charakter, und schon früher mit Giovanni Meone, einem der Räte des Dom Ferrante Gonzaga92, Gouverneurs von Mailand und Generals der kaiserlichen Armee. Auch mit den Kardinälen Carlo Borromeo93 und Marco Antonio Amulio94, einem Venezianer, zwei ganz ausgezeichneten Männern, war ich befreundet und mit noch so viel anderen, dass es zu viel wäre, sie alle aufzuzählen. Dem Einfluss der angesehenen Kardinäle Borromeo und Alciati verdanke ich es auch, dass ich, als ich nach Bologna kam, Medizin zu dozieren, die Freundschaft des ganzen dortigen erlauchten Senats gewonnen habe; denn diese edlen Herren sind ganz staunenswert gefällig und liebenswürdig und ebenso klug als vornehm.

Von den Ärzten, die ich kannte, verband mich ein besonders freundschaftliches Wohlwollen mit Camillo Montagnani und Aurelio Stagni, beide aus Modena gebürtig, von untadelhafter Lebensführung und nicht geringer Bildung, des Weiteren mit dem Mailänder Melchiorre della Valle und mit Toma Iseo aus Brescia; ich habe freilich darum auch die schwersten Feindschaften auf mich genommen. In England lernte ich an vornehmen Männern vor allem den Sir John Cheke, den Jugendlehrer des späteren Königs Eduard VI.95, kennen und den Franzosen Claude Laval, Herrn von Boisdauphin, der damals Gesandter seines Königs am englischen Hofe war. Von den Bürgern unserer Stadt schuldete ich nicht wenig Dank der unvergleichlichen Tüchtigkeit des sehr intelligenten Stadtpräfekten Lodovico Taverna. Von den Professoren achtete ich am meisten den Francesco Vicomercato, Professor der Philosophie in Mailand, und den Andreas Vesal, die erste Autorität im Fach der Anatomie. Zwei Freunde meines Vaters verehrte ich besonders in meinen jungen Jahren, den Senatssekretär Agostino Lanizario aus Como und den Schmied Galeazzo Rossi, die beide ich mehrfach schon erwähnt habe; ebenso den Francesco Buonafede, Arzt zu Padua, von dem gleichfalls an anderer Stelle die Rede war. Viele andere sehr gebildete und mir befreundete Männer übergehe ich hier, weil sie auch ohne mein Zutun bekannt genug geworden sind durch ihre Gelehrsamkeit. Ich gebe nur einige Beispiele meiner dankbaren Gesinnung, die dem Leser beweisen sollen, dass ich keinen vergessen habe, dem ich Dank schulde, sodass ich, so viel an mir liegt, gerne jedem dadurch, dass ich ihn hier nenne, einen ewigen Namen schenken würde. Ich nenne also noch den Guillaume Choul, den königlichen Statthalter in Savoyen und in der Dauphine, der ein gelehrter Herr war, und den Bonifazio Rodigino, bekannt als Rechtsgelehrter und zugleich als trefflicher Astrolog, des Weiteren den Giorgio Porro aus Rhätien, den Genuesen Luca Giustiniani und den berühmten Mathematiker Gabriele Aratore aus Caravaggio. Einen ganz außerordentlich regen freundschaftlichen Verkehr pflog ich mit dem Mailänder Arzt und Professor Gianpietro Albuzio, mit Marco Antonio Majoragio96 und mit Mario Gessio aus Bologna.

Viel aufrichtige Freundestreue, große Dienste und Wohltaten erwies mir auch der kärntische Arzt Lorenz Zehener und der Belgier Adrian. Noch göttlicher aber war die Gunst, die mir der Fürst von Matelica97 schenkte; größer ist sie, als dass ich glauben könnte, sie aus menschlichen Gründen gewonnen zu haben. Ich will hier nicht von des Fürsten seltenen Geistesgaben reden, die einer Königskrone würdig wären; von seiner allseitigen Kenntnis und Bildung, von der Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit seines Charakters, nicht von der Größe seines Vermögens noch von seiner vornehmen Abstammung, von seiner Weisheit, die alle menschlichen Begriffe übersteigt, oder von seiner dankbaren Gesinnung, die nie empfangener Dienste und früherer Beziehungen vergisst. – Was war an mir, das ihn zu solch huldvoller Freundschaft bewegen konnte? Ich hatte ihm nie Dienste geleistet, und er konnte nichts mehr von mir erhoffen; ich bin ein alter Mann, verachtet und gebrochen, ein unsympathischer Mensch. Wenn es etwas sein konnte, so war es einzig und allein der Glaube an meine Redlichkeit.

Mögen die Leser alle diese Männer – Götter sollte ich lieber sagen – achten und schätzen, die in warmem Bildungsinteresse, in edel einfacher Lebensauffassung und dankbaren, treuen Sinnes den lobwürdigen Versuchen und Unternehmungen einer auf ewige Werte gerichteten wissenschaftlichen Arbeit so viele und große Opfer gebracht haben, als sonst wohl ein anderer dem Machthunger oder stolzen Hoffnungen, der alltäglichen Gewohnheit, dienstbeflissener Unterwürfigkeit und Schmeicheleien zu bringen pflegt.

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9783899976045
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