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Hallo Nachtgefährte,

leider kann ich unsere Verabredung heute nicht einhalten. Ich habe gespürt, dass du nicht bereit für mich bist. Dein Herz ist schwer, und es gibt vieles, was du bereinigen musst. Ich wäre dir jetzt nur im Wege. Ordne, was du ordnen musst. Pass’ auf, dass du dabei nicht Schaden nimmst. Du bist gefährdet. Wenn du nicht auf dich achtest, wirst du leicht ein Opfer.

Deine tiefe Traurigkeit hat mich gerührt. Es hat mir gefallen, dass du nicht auf ein schnelles Abenteuer aus warst. Ich wünsche mir, dass du wiederkommst, wenn du bereit für mich bist.

Gesine

Ich war erschrocken. Wie konnte eine Frau, die mich gerade mal ein paar Stunden kannte, mir einen solchen Brief schreiben? Ich war wütend über die Intimität ihrer Worte und erstaunt zugleich, wie sie mich in ihrer Einschätzung so genau treffen konnte.

Ich war auch enttäuscht, weil ich sie an diesem Tag nicht wieder sehen würde. Doch sie hatte Recht. Es gab so viele Dinge, die ich regeln musste.

Als ich meinen Kaffee beendet hatte, verabschiedete ich mich von ihrer Mutter, die die ganze Zeit hinter dem Tresen gestanden und mich beobachtet hatte. Ich bedankte mich noch einmal und bat sie, ihre Tochter zu grüßen.

Sie sagte noch: „Wir freuen uns, wenn Sie wiederkommen!“

Die Auszubildende öffnete mir die Tür. Ich trat auf den nassen Butzbacher Bürgersteig hinaus.

*

Es war ein ungemütlicher Mittwochmorgen. Ich entschloss mich noch ein paar Sachen aus meinem ehemaligen Haus zu holen. Es war noch nicht einmal zehn Uhr, also konnte ich sicher sein, dass weder meine Frau noch meine Kinder im Haus waren.

Als ich mein Auto abstellte, war niemand von den Nachbarn zu sehen. Ich war froh darüber. Ich schloss die Haustür auf und ging gleich ins Obergeschoss, um auf dem Dachboden meinen alten braunschwarzen Reisekoffer zu holen, den ich von meiner Großmutter geerbt hatte. Es war ein Modell aus den fünfziger Jahren, mit einem kaputten Schloss aber mit zwei Lederriemen zum Verschließen. Ich musste zuerst die Bücher ausräumen, die noch vom letzten Umzug darin verblieben waren. Dabei entdeckte ich ein altes Exemplar des Zauberbergs, das ich lange gesucht hatte. Ich ließ es im Koffer, stieg die steile Stiege hinunter und packte im Schlafzimmer wahllos einige Kleidungsstücke zusammen.

Unten an der Haustür klapperte etwas. Ich befürchtete schon, dass meine Frau früher aus der Schule zurückkommen würde. Aber es schien nur der Briefträger zu sein, der den Deckel des Briefkastens fallen ließ. Ich wollte jetzt nichts erklären. Hastig raffte ich noch einiges zusammen und verschloss den Koffer. Ich schaute mich noch einmal im Schlafzimmer um. Dann trug ich den Koffer ins Erdgeschoss, stellte ihn im Flur ab und überlegte einen Augenblick, ob ich eine Nachricht hinterlassen sollte. Ich entschied mich dagegen.

Ich verstaute den Koffer im Auto. Gegenüber stand Brunhilde, eine ältere Nachbarin, im Garten und hängte Wäsche auf.

„Na, verreist du?“ fragte sie.

„Ja, ich muss dienstlich weg“, log ich. „Tschüs“, sagte ich noch.

Ich setzte mich ins Auto und fuhr weg. Ich spürte eine grenzenlose Erleichterung. Endlich hatte ich die Schwelle überschritten, die ich so lange vor mir gesehen hatte. Ich schaltete das Autoradio ein, um den Verkehrsfunk zu hören. Es lief gerade Free Electric Band von Albert Hammond. Es passte - irgendwie.

In Herborn fuhr ich auf die A 45 Richtung Norden. Der Tag klarte auf, die Sonne zeigte sich, die Fahrbahn trocknete langsam ab. Genau wusste ich nicht, wie ich nach Gumpingen, Patrizias Wohnort, kommen würde. Ich wollte erst einmal Richtung Münster fahren. Das Weitere würde sich finden.

Mir fiel ein, dass ich vergessen hatte, mich krank zu melden. An der nächsten Raststätte, rief ich im Büro an. Friede war am Telefon. Ich log irgendetwas von Erkältung. Friede wünschte mir noch gute Besserung. Im Lokal bestellte ich mir eine Gulaschsuppe mit Pommes und eine Cola, kaufte mir die BILD und verzog mich in eine Ecke. Es war ein Ritual, das ich viele Jahre praktiziert hatte. Ich schüttete einen Teil der Pommes in die Suppe, wartete, bis sie durchtränkt waren, und aß sie dann mit dem Löffel. Dazu die Sportseite der Zeitung – und nur die Sportseite. Das war eine coole Sache.

Nach dem Essen fiel mir ein, dass ich nur die Schuhe dabei hatte, die ich an den Füßen trug. Ich würde mir welche kaufen müssen. Ich schlenderte zurück zum Auto. Bevor ich einstieg, zündete ich mir eine Zigarette an, lehnte mich gegen die Kühlerhaube und betrachtete das Treiben auf dem Parkplatz. Irgendwo musste am Abend ein Fußballspiel sein, es waren eine ganze Menge Autos mit Schals und Fahnen von Fußballclubs unterwegs. Sie hatten hier Rast gemacht und die meisten kamen mit Bierdosen zu ihren Fahrzeugen zurück. Sie grölten bereits ihre Schlachtgesänge und einige würden wohl am Abend nicht mehr viel von dem Spiel mitbekommen. Ich drückte meine Kippe aus und warf sie in einen Müllbehälter.

Die Sonne war hinter dunklen Regenwolken verschwunden. Regen hatte eingesetzt. Ich musste mir langsam Gedanken machen, wo ich an diesem Abend übernachten würde, mittlerweile war es später Nachmittag geworden. Ich nahm mir vor, die Autobahn bei der nächsten Abfahrt zu verlassen, tat es dann doch nicht. Das ging eine ganze Zeit so. Dann beschloss ich, so lange zu fahren, wie ich konnte, und irgendwo am Straßenrand zu schlafen.

Es war dunkel geworden, ich wusste nicht mehr genau, wo ich war. Also nahm ich die nächste Abfahrt, fuhr einfach drauflos und kam in ein kleines Straßendorf, wo eine Kneipe war. Ich fuhr erst daran vorbei, bremste dann aber, fuhr rückwärts und parkte genau vor der Tür. Ich überlegte noch, ob ich das Standlicht anlassen sollte, weil die Durchgangsstraße nicht sehr gut beleuchtet war, ließ es dann aber. Ich betrat den Gastraum, das übliche Gelsenkirchener Barock, ein kleiner hufeisenförmiger Tresen, ein paar Tische und wenige Gäste, die sich gedämpft unterhielten. Oder es kam mir so vor, weil ich das Brummen von Motoren im Ohr hatte. Hinter dem Tresen stand eine dralle Blondine, Ende fünfzig, und wünschte mir einen guten Abend.

„Kann ich noch etwas zu essen bekommen?“ fragte ich.

„Aber sicher, für Reisende tun wir doch alles“, sagte sie mit ziemlich verrauchter Stimme.

Die Uhr mit dem schmiedeeisernen Zifferblatt an der Wand hinter dem Tresen zeigte immerhin schon halb zwölf.

„Wie wär’s mit einem Schnitzel mit Brot?“ fragte sie.

„Gute Idee, vermieten Sie auch Zimmer?“

„Auch das.“

„Na gut, dann hätte ich gerne ein großes Pils und das Schnitzel.“

„Pils dauert einen Moment.“

Sie zapfte es an und verschwand in der Küche, wo ich sie hantieren und klappern hörte. Ich wollte eine Zigarette anzünden, aber mein Zippo war leer. Ich sah mich um. An einem runden Tisch in einer Nische neben dem Tresen saßen drei Männer in mittleren Jahren, alle in Anzug mit Krawatte. Da sie rauchten, ging ich hinüber und bat um Feuer.

„Auf der Durchreise?“ fragte einer.

„Ja, nach Münster“, antwortete ich.

„Da haben Sie’s ja nicht mehr weit morgen, möchten Sie sich nicht zu uns setzen?“

Ich nahm die Einladung an, holte meine Zigaretten vom Tresen und setzte mich auf einen freien Stuhl. Ich stellte mich vor, was sie der Reihe nach auch taten. Ich kam mir vor wie im Film. Es waren tatsächlich der Lehrer, der Doktor und der Apotheker, fehlte eigentlich nur der Pfarrer. Sie erzählten, dass sie hier nach der Gemeinderatssitzung noch hängen geblieben seien. Sie wollten natürlich wissen, was ich denn beruflich machte. Vage erzählte ich etwas von einer Tätigkeit im Bereich der beruflichen Qualifikation und erfand eine Fortbildungsveranstaltung in der Nähe von Münster, an der ich teilnehmen wollte. Inzwischen hatte die Wirtin ein großes Pils vor mich hingestellt.

„Schnitzel kommt gleich.“

„Gehören Sie denn alle der gleichen Partei an?“ wollte ich wissen.

„Nein, nein“, sagte der Apotheker, „wir gehören alle verschiedenen Parteien an, das heißt ich bin in einer freien Wählergruppe. Wir sind aber alte Schulfreunde und treffen uns sozusagen überparteilich.“

Sie lachten alle drei, als er das sagte, und ich lachte mit, weil es so ehrlich klang. Gar nicht wie ich es von diesen unsäglichen Kommunalpolitikern kannte, die mir bei meiner Arbeit immer wieder begegnet waren.

Sie wünschten mir einen guten Appetit, als das Schnitzel kam, und der Lehrer bestellte noch eine Runde Pils. Ich merkte erst jetzt, wie hungrig ich war. Das Schnitzel schmeckte. Das Bauernbrot war frisch trotz der vorgerückten Stunde.

„Trinken Sie einen Grappa mit mir?“ fragte ich, als ich fertig war.

„Natürlich“, kam es einstimmig zurück.

Da wir inzwischen die letzten Gäste waren, lud ich die Wirtin auch ein. Sie brachte fünf Gläser und die Grappaflasche. Als sie die Gläser auffüllte, lächelte sie mir zu, und dieses Lächeln war hart an der Grenze zur Anmache. Ich lächelte zurück und wir stießen alle an. Schon wieder war ich nicht mehr ganz nüchtern. Worüber wir redeten weiß ich nicht mehr. Wir erzählten Witze, die immer frivoler wurden. Bei allen wurde langsam die Zunge schwer.

Die Wirtin, die Sieglinde hieß, sagte irgendwann: „So jetzt ist Feierabend! Ich muss Ihnen noch Ihr Zimmer zeigen.“

Die anderen drei verabschiedeten sich, wir umarmten uns alle. Ich trank mein letztes Bier aus, holte meinen Koffer aus dem Auto und sie schloss die Tür ab.

Sie schaltete die meisten Lampen aus, kam dann an den Tisch, an dem ich wieder Platz genommen hatte, setzte sich neben mich und küsste mich unvermittelt. Das heißt sie steckte mir ihre Zunge in den Hals und begann, meinen Schritt abzugreifen. Obwohl ich ziemlich betrunken war, reagierte ich sofort. Wir umklammerten uns und begaben uns auf den Boden, wo sie meine Hose öffnete und meinen Penis heraus holte. Sie knetete ihn so heftig, dass ich vor Schmerz aufschrie.

„Warte“, sagte sie und riss sich die Kleider vom Leib. Sie hatte große, schwere Brüste mit großen Warzenhöfen, ein gewaltiges Gesäß und dichte dunkelblonde Schamhaare. Ich vergrub meine Zunge in ihrer Vagina. Sie schmeckte herb, ein wenig ungewaschen und sie war sehr nass. Sie machte sich frei und setzte sich auf mich. Mein Penis verlor sich in ihrer Höhle. Sie versuchte, auf mir zu reiten, aber mein Penis wurde schlaff. Sie stieg ab und versuchte ihn mit dem Mund zu stimulieren. Ohne Erfolg.

Sie küsste mich auf den Mund und sagte: „Wir gehen jetzt wohl besser schlafen.“

Ich erhob mich, sie ging nackt vor mir her, die Treppe hoch, zeigte mir mein Zimmer, drückte noch einmal meinen Penis, der immer noch schlaff aus meinem Hosenschlitz hing, und sagte: „Frühstück zwischen sieben und neun!“

Ich war der einzige Übernachtungsgast. Am nächsten Morgen setzte sich Sieglinde zu mir und wir frühstückten gemeinsam im Gastzimmer.

„Du hast mich ziemlich überrumpelt gestern“, sagte ich. „Tut mir leid, dass es nicht so gelaufen ist, wie du es dir vorgestellt hast.“

„Dich beschäftigt eine Frau“, sagte sie. „Es muss dich heftig erwischt haben.“

Sie war nicht angezogen, saß in einem dunkelblauen Morgenmantel aus Satin am Tisch. Ihre schweren Brüste zeichneten sich ab. Bei manchen Bewegungen klaffte der Morgenmantel so auseinander, dass ich sehen konnte, dass sie nichts darunter trug.

„Und du?“ fragte ich, „hast du einen Mann?“

„Ach, die Männer und ich, das ist eine lange, traurige Geschichte“, sagte sie und grinste dabei. „Mein Mann ist vor drei Jahren gestorben. Darmkrebs. Innerhalb von drei Monaten war alles vorbei. Wir waren auf der Heimfahrt vom Urlaub in Italien. Er bekam eine Schmerzattacke. Als wir ins Krankenhaus gingen, war alles schon viel zu spät.“

„Das tut mir leid.“

„Es muss dir nicht leid tun, es sollte wohl so sein. Seither habe ich immer mal wieder Männergeschichten. Es sind halt Geschichten. Ich nehme mit, was ich kriegen kann. Das Leben ist kurz und kann schnell zu Ende sein.“

Sie strich eine lange, etwas fettige Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie war keine Schönheit. Ihr Lächeln, das zuweilen in ein Grinsen überging, hatte etwas Schelmisches.

„Ich habe gerade was mit dem Fahrer, der mir die Tiefkühlkost bringt. Jeden Donnerstagnachmittag. Du wirst es nicht glauben, seine Frau ist dahinter gekommen und hat ihm neue Unterhosen gekauft, damit sie sich nicht schämen muss, wie sie sagt. Menschen sind manchmal komisch.“

Mir war bis dahin noch nicht aufgefallen, dass sie einen leichten englischen Akzent hatte.

„Mein Mann war Lehrer am Gymnasium in der Kreisstadt. Wir haben uns kennen gelernt, als er Assistant Teacher in Brighton war. Ich bin mit ihm nach Deutschland gegangen.“

„Hast du es jemals bereut?“ wollte ich wissen.

„Vielleicht. Manchmal. Ich weiß nicht.“

Eine Weile tranken wir schweigend unseren Kaffee.

„Kommst du mal wieder vorbei?“ fragte sie dann. Ihre Stimme klang unsicher.

„Kann schon sein. Ich habe was in Münster zu erledigen. Kann ein paar Tage dauern. Auf dem Rückweg. Vielleicht können wir dann was nachholen.“

Ich küsste sie auf den Mund. Sie schien gierig nach Zärtlichkeit. Ich war versucht, meine Hand in ihren Morgenmantel gleiten zu lassen, diese großen Brüste zu betasten. Ich tat es nicht.

„Ich glaube, ich muss jetzt los.“

Nachdem ich meine Rechnung gezahlt hatte, ging ich auf mein Zimmer und packte meinen Koffer. Wir umarmten uns noch einmal, bevor ich das Haus verließ. Sie suchte meinen Mund und küsste mich gierig, fast gewalttätig, vergrub ihre Zunge tief in mir. Ich riss mich los, winkte ihr und stieg in mein Auto.

Der Tag war sonnig, die Luft war wunderbar klar, fast würzig. Jetzt sah ich, dass ich mich in eine grüne, hügelige Landschaft verirrt hatte. Ich fuhr die Bundesstraße zurück zur Autobahn. Bis Münster war es nicht mehr weit. Kurz vor Münster musste ich auf die Autobahn Richtung Dülmen, von der ich die Abfahrt Gumpingen nehmen wollte.

*

Ich hatte bisher nicht über Einzelheiten nachgedacht. Es gab in meinem Kopf eine grobe Planung, wie ich mich Patrizia annähern würde. Ich hatte aber bisher keine Strategien entwickelt, wie ich es vor Ort angehen würde.

Zunächst brauchte ich ein Basislager. Ich dachte an eine kleine Pension, vielleicht ein Privatzimmer, zur Not durfte es auch ein kleines Hotel sein. Ich würde mich als jemanden ausgeben, der ein paar Tage ausspannen, seine Ruhe haben wollte. Doch zuallererst brauchte ich noch ein, besser zwei Paar Schuhe. Ich hatte eine ganz bestimmte Vorstellung wie sie aussehen sollten: leichte, schwarze, geflochtene Schnürschuhe, möglichst italienische. Ich richtete mich also nach dem weißen Verkehrsschild, das den Weg zur Innenstadt anzeigte. Direkt am Eingang der Fußgängerzone fand ich einen Parkplatz, hatte aber kein Kleingeld für den Parkautomaten. Ich stellte das Auto einfach ab. Würde schon nichts passieren.

Wie in den meisten Fußgängerzonen in Deutschland gab es ein Schuhgeschäft neben dem anderen. Ich vermied Deichmann und Görtz und betrat einen kleinen boutiquenähnlichen Laden. Die Schuhe standen nicht in Regalen, sondern ringsum an den Wänden auf braunen Schuhkartons. Aus unsichtbaren Lautsprechern erklang sanfte Musik. Zwei, drei Kundinnen wurden auf Polstern sitzend von Verkäuferinnen beraten. Ich drückte mich an der Wand entlang, beschaute mir die Schuhpaare. Damen- und Herrenschuhe standen ohne sichtbare Ordnung nebeneinander. Die Farbpalette war sehr ungewöhnlich, von den üblichen Farben bis zu gelb, lila und hellblau. Alles in Leder. Es gab auch solche geflochtene, wie ich sie suchte, in einem eleganten Stahlblau. Es gab sie auch in Größe 46. Ich nahm einen Schuh in die Hand, befühlte ihn innen und außen. Er war wunderbar weich. Ich nahm auch den zweiten und schaute mich suchend nach einem freien Polster um, als eine Verkäuferin mich fragte, ob sie mir helfen könne. Sie trug Jeans und ein ärmelloses Top in demselben Braunton wie die Schuhkartons. Ich schätzte sie auf etwa fünfundzwanzig. Ihre kräftig ausgebildeten Oberarme verrieten ihre häufigen Besuche im Fitnessstudio. Sie trug ihre ebenfalls braunen Haare sehr kurz, fast zu kurz. Ich fragte mich, ob sie die Haare passend zur Uniform gefärbt hatte. Die Augen waren grell geschminkt, ein Nasenflügel trug einen winzigen Brillistecker.

„Ich möchte dieses Paar gerne anprobieren. Haben Sie die vielleicht auch noch in schwarz?“

„Da muss ich im Lager nachschauen, Sie können schon mal da drüben in der Ecke Platz nehmen.“

Sie zeigte auf ein freies Polster und verschwand hinter einem Vorhang, den ich bisher nicht bemerkt hatte. Ich schlüpfte aus meinen schwarzen Halbschuhen, die ich nun schon seit drei Tagen trug. Ich konnte ohne Schuhlöffel in die Geflochtenen hineinfahren. Ich stand auf, ging ein paar Schritte, bewegte die Zehen. In einer plötzlichen Laune drehte ich mich um mich selbst, bekam dafür missbilligende Blicke von den anwesenden Kundinnen. Das störte mich nicht. Mittlerweile war meine Verkäuferin wieder hinter dem Vorhang hervorgekommen.

„Tut mir leid, in schwarz sind sie nicht mehr da. Aber ich habe etwas anderes gefunden, ich denke, die passen zu Ihrem Typ.“

Sie trug unter dem rechten Arm ein Paar vorne leicht angespitzte anthrazitfarbene Cowboystiefel. Ich schaute sie erstaunt an, weil sie so treffsicher meinen Geschmack erraten hatte.

„Entwickelt man mit der Zeit einen Blick für so etwas, oder was ist das?“ fragte ich sie und nahm einen Stiefel entgegen.

„Man bekommt ein Feeling dafür, vielleicht hat es auch etwas mit Intuition zu tun, vielleicht auch mit der Verarbeitung von vielen Informationen.“

Ich war sehr überrascht über ihre Ausdrucksweise. „Sie machen sich offensichtlich Gedanken über das, was Sie tun“, sagte ich. „Das ist heutzutage eher außergewöhnlich.“

„Das ist hier nur ein Nebenjob für mich, ich studiere Psychologie. Es macht Spaß, mit Menschen umzugehen. Und ich beobachte viel. Sie, zum Beispiel, passen irgendwie nicht in diese Stadt. Sie haben etwas Suchendes oder gar Gehetztes in Ihrem Blick.“

„Ja, natürlich, ich suche Schuhe und hetze seit zwei Tagen hinter meinem Zeitplan her“, versuchte ich zu scherzen.

Sie lächelte, als sie mich ansah: „Ich glaube, Sie wissen, was ich meine.“

Ich zog die blauen Geflochtenen wieder aus. „Die nehme ich auf jeden Fall.“

Auch die Stiefel waren aus weichem Leder und saßen wie eine zweite Haut.

„Ich behalte sie gleich an, verpacken Sie bitte meine eigenen Schuhe zusammen mit den blauen.“

„Klar doch, die Stiefel sind wirklich wie für Sie gemacht. Gehen Sie dann bitte rüber zur Kasse?“

„Eine Frage habe ich noch“, sagte ich hastig. „Sie kennen sich doch sicher hier aus. Kennen Sie vielleicht hier eine Pension oder ein kleines Hotel?“

„Für wie lange suchen Sie denn?“

„Genau weiß ich es noch nicht, vielleicht zwei, drei Wochen.“

„Ich wüsste da vielleicht etwas für Sie. Haben Sie große Ansprüche, was den Komfort betrifft?“

„Ich brauche eigentlich nur ein Bett und eine Dusche. Frühstücken kann ich auch woanders.“

„Ich habe mit einer Kommilitonin eine kleine Wohnung hier. Sie macht im Augenblick in Hamburg ein Praktikum. Ich könnte Ihnen ihr Zimmer vermieten.“

Sie lachte laut, als sie mein verdutztes Gesicht sah. „Sie sollen mich nicht heiraten, das Zimmer steht leer und ich hätte weniger Miete zu zahlen. Sie brauchen nur ja zu sagen.“

„Ich schnarche, dass sich die Balken biegen. Nicht, dass Sie hinterher behaupten, ich hätte es Ihnen nicht gesagt. Ich nehme Ihr Angebot gerne an. Soll ich Sie nach Feierabend hier abholen?“

„Ich kann jetzt Schluss machen, wir können uns hier die Zeit frei einteilen. Aber die Schuhe müssen Sie noch bezahlen.“

„Ja, natürlich.“ Ich hatte überhaupt nicht auf den Preis geschaut und war nun erstaunt, wie preisgünstig der Laden war, als ich mit der Kreditkarte zahlte. Als ich meine Tüten in Empfang nahm, stand sie schon hinter mir. Sie hatte eine gelbe Jeansjacke über die Schultern geworfen. Mir fiel jetzt zum ersten Mal auf, dass sie so groß war wie ich.

„Sind Sie mit dem Auto hier?“

„Ja, ich stehe da vorne am Eingang der Fußgängerzone“.

Sie hängte sich unkompliziert in meinem linken Arm ein. Es tat mir gut. Das Auto war noch da. An der Windschutzscheibe hing kein Strafzettel.

„Da haben Sie Glück gehabt. Normalerweise sind die hier ziemlich fix mit den Tickets und dem Abschleppen. Ich heiße übrigens Inga.“

„Peter“, sagte ich. „Was studiert Ihre Freundin?“ fragte ich, nur um etwas zu sagen. Ich merkte, wie befangen ich in ihrer Nähe wurde. Sie hätte meine Tochter sein können.

„Sie ist ein ziemliches Ass in BWL. Sie macht gerade ein Praktikum bei PHILIPS in Hamburg, vielleicht kann sie da auch mal einsteigen. Ich habe BWL im Nebenfach und das macht mir manchmal ganz schön zu schaffen. Und du, was machst du?“

„Ich bin Knecht bei einem Bildungsträger, der für das Arbeitsamt arbeitet. Sprachkurse, Personaltraining, Motivation und so.“

„Klingt interessant. Bist du verheiratet?“

Sie war ganz selbstverständlich zum Du übergegangen. Es schmeichelte mir.

„Ist auch interessant, wird aber beschissen bezahlt, das heißt einige verdienen sich eine goldene Nase dabei, und die, die Arbeit machen, bekommen ein Butterbrot dafür. Ja, verheiratet, zwei Kinder, Ehe zerrüttet, Traumfrau gerade getroffen, aussichtslos, weil Mann und Kinder an ihr ziehen. Stimmung depressiv, null Bock auf nix, reif für die Insel. Sonst noch Fragen?“

Sie lachte wieder ihr unbekümmertes Lachen, das ich im Schuhgeschäft schon gehört hatte.

„Hört sich an, als wärst du so richtig kaputt.“

„Nee nicht ganz, solange Frauen wie du mich noch bemerken.“

Ich lachte jetzt auch. Wir standen immer noch vor meinem Auto.

„Vielleicht sollten wir was essen gehen, ich habe heute nur wenig gefrühstückt.“

„Ich werde uns was kochen“, sagte sie. „Magst du Ratatouille? „

„Liebe ich abgöttisch, aber lass‘ mich den Rotwein beisteuern. Kennst du einen Weinladen hier?“

„Ja, ganz in der Nähe meiner Wohnung, lass‘ uns fahren.“ Sie dirigierte mich in ein Wohnviertel etwas außerhalb, zum großen Teil Einfamilienhäuser. Sie ließ mich vor einem Mehrfamilienhaus anhalten.

„Du kannst deinen Wagen auf Britts Parkplatz stellen. Lass uns noch schnell in den Weinladen gehen um die Ecke.“

Ich parkte das Auto rückwärts auf dem markierten Parkstreifen. Wir stiegen aus und liefen wieder Arm in Arm die paar Meter zu dem kleinen Laden, der wirklich gut sortiert war. Ein älterer Mann begrüßte uns freundlich, wie Weinhändler das eben tun, und fragte, wie er uns helfen könne. Ich fragte nach einem Bordeaux vom letzten Jahr.

„Da hab ich was Besonderes für Sie und das Fräulein Tochter, wenn Sie bitte hier herüber kommen möchten!“

Inga und ich schauten uns nur an und grinsten. Dann probierten wir den Wein, er war genau richtig. Ich nahm zwei Flaschen. Als ich bezahlen wollte, hatte ich nicht genug Bargeld. Ich hatte einfach vergessen, zum Geldautomaten zu gehen. Es war mir sehr unangenehm, Inga zu bitten, mir den Betrag vorzuschießen. Sie lachte wieder dieses Lachen, was ich inzwischen so sehr mochte.

„Kein Problem, Papa“, sagte sie und zückte ihren Geldbeutel. „Aber dafür musst du mir heute Abend eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen“, fügte sie hinzu. Sie war großartig in ihrer Unbekümmertheit.

Der freundliche Weinhändler gab uns noch eine Jutetasche für die Flaschen, auf der seine Geschäftsadresse aufgedruckt war. Auf dem Weg zurück zu ihrem Haus konnten wir uns fast nicht einkriegen vor Lachen. Ich holte noch meinen Koffer aus dem Auto und schleppte ihn in den dritten Stock, wo sie eine 3 ZKB-Wohnung mit Britt hatte. Die Wände des Flurs waren ganz in Weiß gestrichen. Über der Tür zu Britts Zimmer am Ende des Flurs hing eines meiner Lieblingsbilder von Edward Hopper, eines mit Leuchtturm und Segelboot.

„Geh einfach hinein,“ sagte sie, „mach’s dir bequem. Du kannst deine Sachen in den Schrank hängen. Das Wohnzimmer gehört dir, du kannst schon mal den Wein aufmachen, damit er atmet.“

Ich sah mich in dem Zimmer um. Ein Schreibtisch, ziemlich antik, mit Computer, einige Familienbilder, ein Bett im IKEA-Stil, ein kleiner runder Tisch, zwei kleine Ledersessel in dunkelblau und rot. Ein riesiger Bauernschrank, der als Kleiderschrank diente. Er war fast leer, Britt musste fast ihre gesamten Kleidungsstücke mitgenommen haben. Ich räumte ein, was ich in den nächsten Tagen zu brauchen glaubte. Meine Hosen hängte ich auf die hölzernen Hosenbügel, die es auch gab.

Ich ging durch den Flur in das Wohnzimmer, hörte sie in der Küche klappern. Das Wohnzimmer war gemütlich eingerichtet Es gab eine weitläufige Couchlandschaft aus dunkelblauem Leder, einen niedrigen Tisch aus Glas, einen Fernseher mit riesigem Bildschirm, Bilder von Hopper und Dali an der Wand. Neben einem großen Spiegel hing ein Druck der brennenden Giraffe. Den Korkenzieher fand ich in der obersten Schublade einer Anrichte aus Kirschbaumholz. Als ich die Flasche geöffnet hatte, ging ich in die kleine Küche und fragte Inga nach einer Weinkaraffe. „Da oben im Hängeschrank“, sagte sie, während sie mit dem Oberarm ihre Nase rieb, weil sie feuchte Finger hatte. Ich holte die Karaffe heraus und ließ den Wein langsam hinein fließen. Die rote Farbe erinnerte stark an Holundersaft. Inga war dabei, verschiedene Gemüse in Würfel zu schneiden.

„Kann ich auch was tun?“ fragte ich.

In ihrer Reichweite stand ein Glas, in dem sich der Rest einer Flüssigkeit befand, die wie ein Eiweißshake aussah.

„Du kannst uns einen Schnaps einschenken. Da oben im Regal. Der mit den Knoblauchstücken drin.“

Sie zeigte auf eine Wodkaflasche, in der kleine weiße Teilchen schwammen. „Ein altes Rezept meines Großvaters, der trank täglich drei Gläschen davon und ist uralt geworden. Ich habe einen Wodka mit Zitrone genommen, da kommt der Knoblauchgeschmack besser zur Geltung.“

Ich nahm zwei Schnapsgläser vom Regal und füllte sie auf. Sie wischte sich die Hände ab und prostete mir zu: „Hau wech!“ Knoblauch und Wodka ergänzten sich ideal. Die Wärme tat mir gut. Der Knoblauchgeschmack weckte Erinnerungen an den Süden, an schöne Tage in Italien. Aber das war aus einem anderen Leben.

„Dein Großpapa wusste, was gut ist. Und wenn es hilft, sehr alt zu werden - umso besser.“

„Wie alt bist du eigentlich?“ fragte sie.

„Neunundvierzig und ein paar Tage.“

„Kompliment, ich hätte dich glatt zehn Jahre jünger geschätzt.“

„Eine meiner Sprachschülerinnen aus der Ukraine hat mich mal gefragt, wie ich es schaffe, so jung auszusehen. Ich habe ihr gesagt, das komme vom Wein und von den Weibern.“

„Und ist das so?“

„Ja, irgendwie schon. Ihr haltet uns jung. Aber im Ernst, ich glaube, das spielt sich im Kopf ab. Wenn du dir einredest, du wirst alt, dann alterst du. Ich kenne eine Menge Leute, die beschlossen haben, sich nicht mehr jung zu fühlen. Und dann haben sie angefangen zu verkalken. Schlimm, sag ich dir. Wie alt bist du denn?“

„Schätz’ mal!“

„Na ja, du studierst, du machst einen sehr lebenserfahrenen Eindruck auf mich. Ich denke mal so Mitte zwanzig.“

„Ich bin letzte Woche achtundzwanzig geworden. Mein gefühltes Alter liegt aber ungefähr bei neunzehn. Du magst Knoblauch, wie ich sehe.“

Sie deutete auf den Schnaps und schälte drei Knoblauchzehen, die sie anschließend mit der Knoblauchpresse in den Topf mit dem Gemüse drückte.

„Erzähl’ doch mal ein wenig von dir“, sagte sie beim Umrühren und Würzen. „Ich will mehr von dir wissen.“

„Stell’ mir doch lieber Fragen, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Was interessiert dich?“

„Magst du lieber Baguette oder Couscous?“

„Merkwürdige Anfangsfrage. Zum Ratatouille lieber Baguette.“

Sie lachte. „Wie lange bist du denn schon verheiratet?“

„Genau genommen bin ich mit meiner Frau fast vierundzwanzig Jahre zusammen, davon elf Jahre verheiratet. Nächste Frage.“

„Bist du zu Hause abgehauen?“

„So ähnlich. Sieht man mir das an?“

„Ich schon. Du siehst so abgehauen aus. Weißt du, was ich meine?“

„Nicht so ganz, kannst du’s mir erklären?“

„Als du heute in den Laden kamst, kam es mir vor, als seist du vor etwas auf der Flucht. Du sahst so unausgeschlafen aus, hast dich öfter umgeschaut. Es war so ein Gefühl, ich kann’s nicht näher beschreiben.“

„Ja, ich bin in der Tat auf der Flucht, nicht so wie Richard Kimble, eben auf meine Weise.“

„Wie ist sie, deine Frau?“

„Schwierig. Ich kann’s ihr nie recht machen. Sie kommt aus einem Elternhaus, wo jeder das tat, was ihm irgendwie nützte oder zu nutzen schien. Das hat sie geprägt. Sie hat so gar keinen Blick dafür, dass es neben ihr auch noch andere Menschen gibt. Ich habe fast fünfundzwanzig Jahre gebraucht um herauszufinden, dass ich nicht mit ihr zusammenleben kann.“

„Hast du Kinder?“

„Zwei. Junge und Mädchen. Um die tut es mir am meisten leid. Ich liefere sie ihr aus. Aber was soll ich machen, wenn ich überleben will? Es geht einfach nicht mehr.“

Ich drehte mich um und schaute aus dem kleinen Fenster auf einen jetzt langsam dunkler werdenden Innenhof. Ich wollte ihr nicht zeigen, dass meine Augen feucht wurden.

„Kann ich noch so einen Knobischnaps haben?“

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9783844253122
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