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Wie sie es sagte, verwirrte mich. Sie war nicht mehr das fröhliche Mädchen, das ich in ihr gesehen hatte.

Sie setzte die Grappaflasche noch einmal an. Ich muss etwas verstört ausgesehen haben, weil sie jetzt ihrerseits „Ist was?“ fragte.

„Nichts“, antwortete ich. „Ich mag es nur nicht, wenn du schneller betrunken bist als ich. Ich werde dann zum Beobachter, und das mag ich nicht. Lass’ uns ins Wohnzimmer gehen. Hast du vielleicht eine CD von Dire Straits?“

„Klar, im Schrank unter dem CD-Player. Such’ was aus, während ich die Brötchen fertig mache. Nimm bitte den Rotwein mit rüber.“

Sie hatte plötzlich wieder einen sehr normalen Ton in ihrer Stimme. Ich fand Brothers in Arms und schob die CD in den Player. Ich setzte mich aufs Sofa, zündete mir eine Zigarette an und schaute den Rauchwölkchen nach.

„Bring’ die Grappaflasche mit!“ rief ich in die Küche. Ich war jetzt auch in der Stimmung, mich zu betrinken. Sie kam mit einem Tablett und der Grappaflasche, die sie unter ihre linke Achsel geklemmt hatte.

Sie setzte die Flasche und das Tablett auf dem Wohnzimmertisch ab, und ließ sich auf das Sofa fallen.

„Puh, war das ein Tag!“

„Für mich auch“, sagte ich. „Ich glaube, ich sollte dir mal erzählen, warum ich nach Gumpingen gekommen bin.“

„Ich bin gespannt. Ich habe mir schon die verrücktesten Erklärungen ausgedacht.“

„So? Was ist denn im Augenblick deine Lieblingsgeschichte?“

„Am spannendsten wäre, wenn du aus einem Irrenhaus ausgebrochen wärst und versuchtest, dich bei mir zu verstecken. Das fände ich richtig cool.“

„Hast du keine Angst bei dem Gedanken? Entlaufene Psychopathen vergewaltigen und morden meistens.“

„Du guckst zu viele schlechte Filme.“

„Aber im Ernst, in letzter Zeit habe ich öfter das Gefühl, ich stehe neben mir. Irgendwie bin ich nicht mehr ich selbst.“

„Und daran ist diese Frau schuld?“

„Sie wohnt hier, ich habe sie heute im Supermarkt gesehen. Es hat mich ganz schön mitgenommen. Außerdem komme ich mir wie ein Spanner vor.“

„Stalker heißt das neuerdings, klingt ein bisschen professioneller.“

„Sie hat mir keine Chance gegeben, mich von ihr zu verabschieden. Ich habe nicht den Mut, mit ihr offen Kontakt aufzunehmen. Deshalb schleiche ich um sie herum.“

„Wovor hast du Angst? Was denkst du, könnte passieren?“

„Ich weiß nicht, vielleicht sagt sie, sie will mich nicht sehen, oder sie ist sauer, weil ich sie nicht in Ruhe lasse.“

„Hast du sie denn irgendwie genervt?“

„Ach, die ganze Geschichte ist so kompliziert. Ich sträube mich dagegen, sie zu erzählen, weil ich das Gefühl habe, dass ich mich permanent zum Deppen mache. Ich kann nur so viel sagen: Sie hat mich an der Stelle erwischt, wo ich sterblich bin. Ich hab mich sowas von verliebt, und ich weiß seit einiger Zeit nicht mehr, wo mir der Kopf oder sonst was steht. Ich hätte niemals für möglich gehalten, dass es das gibt. Es ist aber wohl so, dass die größten Skeptiker am leichtesten in emotionale Fallen tappen. Aber um deine Frage zu beantworten: Ich hab’ vielleicht zu lange gebaggert, und das hat wohl nicht in ihren Plan gepasst. Sie wollte wahrscheinlich nicht so einen Flächenbrand legen, aber sie hat dann die Kontrolle verloren.“

„Du meinst, sie ist eine kleine Schlampe, die mal schnell was mitnehmen wollte.“

„Ich hab’ immer noch Schwierigkeiten, es so auszudrücken, aber das war es wohl. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und einen sanften Mann, der ihr ein wenig zu sanft ist.“

„Ja, soll’s geben, ich mag auch die sanften Männer nicht so sehr.“

„Das ist ja auch ok, wenn sie sich gelegentlich was nimmt. Nur scheint sie sich keine Gedanken zu machen, welche Katastrophen sie heraufbeschwört. Sie ist eine faszinierende Frau, die bei Männern den Wunsch nach mehr weckt. Das hat zumindest bei mir fatale Folgen gehabt. So wie sie mir erzählt hat, war ich wohl nicht ihr einziges Opfer. Es fühlt sich ein bisschen so an, als sammle sie Männer wie Trophäen.“

„Und du kannst es nicht ertragen, die Trophäe einer Frau zu sein?“ Sie schaute mich mit ihren großen grünen Augen an, als sie das sagte.

„Darum geht’s mir nicht. Wenn ich wüsste, dass sie nur eine Schlampe ist, könnte ich es vielleicht besser wegstecken. Ich kenne sie einfach zu wenig. Deshalb ist es wahrscheinlich so hart.“

Ich nahm einen Schluck aus der Grappaflasche und merkte plötzlich wie fertig ich war. Die Tränen stiegen mir in die Augen. Ich tat mir so leid. Gleichzeitig schämte ich mich vor Inga, weil ich mich so gehen ließ. Sie schien es zu spüren, denn sie stand auf, lief in die Küche und machte sich dort zu schaffen. Ich suchte mein Taschentuch, fand es nicht und schnäuzte in die gelbe Papierserviette, die auf dem Tisch lag. Dann schämte ich mich auch dafür.

Inga kam zurück. „Hör auf damit!“ sagte sie sehr bestimmt. „Den letzten Mann, der sich bei mir ausgeheult hat, habe ich rausgeschmissen. Ich habe keine Lust, die tröstende Tante zu machen.“

„Tut mir Leid, ich reiß’ mich zusammen. Hast du vielleicht ein Taschentuch für mich?“

Sie öffnete eine Schublade in der Anrichte, holte eine Packung Papiertaschentücher heraus und warf sie mir zu. „Mach’ dich frisch und dann erzähl mir, was du vorhast.“

Ich nahm die Packung und ging mit der Grappaflasche auf die Toilette. Ich putzte mir die Nase und betrachtete mich im Spiegel über dem Waschbecken: graues Gesicht, Bartstoppeln und unendlich müde Augen.

Ich setzte mich auf die Toilette und dachte nach. Ich wollte das alles nicht mehr. Ich wollte nicht mehr Mitleid mit mir haben, ich wollte mich nicht bei wildfremden Frauen ausweinen. Ich wollte glücklich sein, ich wollte geliebt werden, ich wollte Lust empfinden. Ich hatte so die Schnauze voll von allem, und besonders von den Frauen. Ich wusste, dass ich Inga Unrecht tat, aber sie bekam eben alles ab.

Zum tausendsten Mal schwor ich mir, mein Leben zu ändern, und zum tausendsten Mal wusste ich nicht wie. Ich saß auf dem Klodeckel, die Grappaflasche in der Hand und fühlte mich elend.

Dann leerte ich den Grappa langsam ins Waschbecken neben dem Klo. Morgen würde ich ihr eine neue Flasche kaufen. Ich brauchte jetzt dieses Ritual. Es war schade um den guten Schnaps, aber es musste sein. Es war genau so wie mit den Zigaretten. Viele Schachteln hatte ich schon, obwohl noch halb voll, weggeworfen - und mir dann am nächsten Morgen eine neue gekauft.

Als die Flasche leer war, stand ich auf, lauschte an der Tür, ob von Inga etwas zu hören war. Dann schlich ich mich in Britts Zimmer, entkleidete mich und legte mich in der Unterwäsche aufs Bett. Morgen würde ein anderer Tag sein.

*

Ich erwachte, schaute auf meine Armbanduhr, es war halb vier. Ein Traum hatte mich geweckt.

Ich saß wieder im Mathematikabitur und sollte eine Formel ableiten. Ich war dazu nicht in der Lage und schaute mich hilfesuchend um, aber alle Gesichter, in die ich sah, zeigten eine feindselige Leere. Der Prüfer schaute mich voller Schadenfreude an, so wie es mein letzter Mathematiklehrer immer getan hatte. Er war sehr viel kleiner als ich, hatte ungebändigte, wirre Haare, nicht der Typ, der bei Frauen ankam.

Diesen Traum habe ich immer wieder. Ich erwache schweißgebadet und bin froh, in der jeweiligen Jetzt-Zeit zu sein.

Gelegentlich hörte ich das Geräusch von vorbeifahrenden Autos. Es wurde schon langsam hell. Ich erinnerte mich, dass ich vor dem Einschlafen einen Entschluss gefasst hatte. Ich überlegte, ob ich mich von Inga verabschieden oder wie ein Dieb in der Nacht verschwinden sollte. Ich wusste nicht, was ich ihr sagen sollte. Sie hatte mich bei sich aufgenommen, hatte mir zugehört, war lieb zu mir gewesen. Ich hatte mich eher unangenehm benommen, hatte mich bei ihr breit gemacht, hatte ihr Angebot mit mir zu schlafen abgelehnt. Stattdessen hatte ich ihr vorgejammert. Alles in allem hatte ich ein schwaches Bild abgegeben.

Ich schämte mich, ihr noch einmal unter die Augen zu treten. Ich stand auf, wechselte meine Unterwäsche, zog meine Klamotten an und packte meine Sachen zusammen. Mir fiel ein, dass ich ihr noch nichts für die Miete gegeben hatte und legte ihr 150 Mark aufs Bett. Ich warf noch einen Blick ins Zimmer, ob ich etwas vergessen hatte. Der Hut! Ich holte ihn von dem Haken hinter der Tür, wo ich ihn am Abend zuvor aufgehängt hatte. Dann schlich ich mich leise durch den Flur. Als ich die Wohnungstür leise hinter mir schloss, glaubte ich, freier atmen zu können. Ich trat vor das Haus, die ersten Vögel zwitscherten. Ich erinnerte mich an meine Studentenzeit in Mannheim, wenn ich frühmorgens nach einer durchzechten Nacht nach Hause ging. Die Luft hat um diese frühe Zeit eine ganz besondere Qualität. Alles scheint leichter zu sein. Es ist etwas dran, dass morgens um sieben – oder eher ein bisschen früher – die Welt noch in Ordnung ist.

Im Auto legte schob ich Beethovens Sechste in den CD-Player. Ich lehnte mich zurück und ließ mich von der Musik tragen. Bilder kamen und gingen. Ich sah einen ähnlichen Film, wie ich ihn aus den Beschreibungen von Menschen kannte, die Nah-Tod-Erlebnisse gehabt hatten. Mein Leben zog an mir vorüber. Ich sah unglaublich präzise Einzelheiten, Ereignisse, die ich vergessen zu haben glaubte. Es waren auch welche darunter, die ich lieber nicht mehr in meinen Erinnerungen gehabt hätte. Das eine oder andere Bild wollte ich nicht loslassen, doch es entzog sich mir.

Als ich aus dieser Zwischenwelt zurückkam, zeigte die Uhr auf dem Armaturenbrett halb neun. Ich hatte Hunger und Lust auf eine Tasse Kaffee. Für einen Moment dachte ich daran, zu Inga in die Wohnung zu gehen, mich zu entschuldigen und mit ihr zu frühstücken, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Alles hätte von vorne angefangen, die schlechten Gefühle, das schlechte Gewissen wäre wieder da gewesen. Ich wollte den Schlussstrich jetzt und hier ziehen.

Ich ließ den Wagen an und fuhr los. An einer Ampel musste ich anhalten und da sah ich sie wieder. Patrizia stand in weißer Bluse und schwarzer Jeans vor einem Schaufenster. Über die Schulter gehängt trug sie eine dunkelblaue Ledertasche. Hinter mir hupte jemand, weil ich die Grünphase verschlafen hatte. Ich bog rechts ab und suchte einen Parkplatz, natürlich um diese Zeit aussichtslos. Ich fuhr einfach weiter, bis ich einen großen Parkplatz sah, fuhr aber dann doch vorbei.

Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie ich auf sie zugehen, wie ich sie ansprechen sollte. Ich war immer noch nicht so weit. Ich fuhr ein gutes Stück aus der Stadt hinaus. Bei einem kleinen Landgasthof an der Straße hielt ich an. Vor dem Eingang standen mehrere Gartentische mit rot-weiß karierten Decken unter einem riesengroßen Laubbaum, von einem hinfälligen alten Holzzaun von der Straße abgesondert. Ich setzte mich an einen der Tische und wartete auf die Bedienung.

Eine ältere Frau kam, grüßte freundlich und fragte, ob ich noch frühstücken wollte. Ich bestellte Kaffee und Rühreier mit Schinken und fragte nach einer Zeitung. Während ich wartete, saß ich auf meinem Stuhl und dachte an nichts. Ich spürte einen warmen Luftzug auf meiner Haut, genoss die Wärme der Sonne, empfand eine Leichtigkeit, die ich lange nicht mehr gekannt hatte.

Als das Frühstück samt einer großen Kanne Kaffee kam, war es mir fast unangenehm, in meiner Ruhe gestört zu werden. Aber der Duft von Kaffee und Eiern holte mich zurück. Ich legte die Zeitung neben den Teller und vergaß die Zeit.

Irgendwann nach zwei Brötchen und einer fast leeren Kaffeekanne und dem Sporttteil der Zeitung nahm ich meine Umwelt wieder wahr. Der Tag war atemberaubend schön. Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück, schloss die Augen, spürte die Sonne auf meinen Lidern und sah das Rot, das ich immer sehe, wenn ich mit geschlossenen Augen in die Sonne schaue.

„Hat’s Ihnen geschmeckt?“ fragte die nette Bedienung, und begann, das Geschirr abzuräumen. „Sind Sie auf der Durchreise?“

„Eigentlich wollte ich ein wenig in dieser Gegend bleiben, aber ich habe noch nicht die passende Unterkunft gefunden. Vermieten Sie denn auch Zimmer?“

„Wir haben ein paar Zimmer, aber bei uns übernachtet außer ein paar Stammgästen selten jemand von außerhalb. Wollen Sie’s sich mal anschauen? Wir haben auch ein schönes Einzelzimmer nach hinten raus.“

„Ja, würde ich gerne tun. Mir gefällt’s hier.“

„Ja, dann kommen Sie mir nach, ich muss nur schnell das Geschirr in der Küche abstellen.“

Ich lief hinter ihr her in einen dunklen Flur, in dem es nach Äpfeln roch. „Warten Sie, ich komme gleich!“ Ich hörte sie in der Küche mit dem Geschirr klappern, und dann ging sie vor mir eine Treppe hoch, die ich in der Dunkelheit nicht wahrgenommen hatte. Es ging nicht sehr hoch hinauf zu einem langen Flur, der offensichtlich parallel zur Straße verlief. Auf beiden Seiten des Flures waren Türen zu den Zimmern, nahm ich an.

„Ich denke, Sie schlafen lieber nach hinten hinaus, da ist es ruhiger. Ich zeige ihn mal ein Zimmer.“

Sie öffnete eine der Türen und ließ mich eintreten. So hatte ich mir die Zimmer in Märchen immer vorgestellt. Ich sah ein Himmelbett mit blau-weiß karierten Kissen und Bettdecken. Am Fenster, das eine viergeteilte Scheibe hatte, stand ein kleiner Tisch mit rot-weiß karierter Tischdecke und einer Vase mit Schnittblumen, blaue Gerbera. Es gibt gar keine blauen dachte ich. Sie musste sie auf irgendeine Weise gefärbt haben. In der Ecke links neben dem Fenster stand ein kleiner Fernsehapparat auf einem Regal, in dem eine ganze Menge Bücher aneinandergereiht waren, deren Einbände sympathisch bunt aussahen. In der anderen Ecke stand eine Art Sekretär, an der freien Wand rechts ein riesiger Kleiderschrank aus altem Holz. Überall hing der Duft von Äpfeln in der Luft.

Ich fragte nicht nach dem Preis. „Kann ich ein, zwei Wochen hier bleiben?“

„Sie können bleiben so lange Sie wollen, wir haben keine Vorbestellungen. Wir haben regelmäßig ein paar Gäste, die für eine Firma in der Nähe arbeiten. Die werden Sie aber nicht stören. Die gehen früh ins Bett und sind auch früh aus dem Haus. Wir bieten auch Halbpension an, wenn sie das wollen. Sie können auch wählen, ob Sie mittags oder abends essen wollen.“

„Ich glaube, Frühstück reicht mir erst mal. Ich weiß nicht, ob ich immer da sein werde. Kann ich gleich hier bleiben?“

„Ja, natürlich, die Betten sind frisch gemacht. Die Matratze ist übrigens aus Latex, nicht, dass Sie glauben, Sie müssten auf einem Strohsack schlafen.“ Sie lachte, als Sie das sagte.

Sie zog einen Schlüssel mit einem runden Metallanhänger aus der Tasche ihrer Schürze. „Hier, der passt auch für die Haustür. Wir schließen nach 21 Uhr ab. Und jetzt richten Sie sich erst mal ein. Hier ist übrigens das Bad.“

Sie öffnete eine Tür in der Holztäfelung der Wand unmittelbar neben der Zimmertür. Die Tür war so geschickt in die Wand integriert, dass ich sie übersehen hatte. Das Licht war automatisch angegangen und beleuchtete ein gelbes Waschbecken, eine gelbe Toilette und eine raffinierte Verspiegelung auf dem Hintergrund von sagenhaft blauen Fliesen.

„Grandios“, sagte ich überwältigt. „Hätte ich nicht erwartet, aber umso besser.“

Sie verließ das Zimmer und sagte noch: „Wenn Sie etwas brauchen, ich bin unten in der Küche.“

Ich öffnete das kleine Fenster. Der Blick ging auf einen kleinen Garten hinter dem Haus. Es gab einen Rasen, auf dem ein Tisch stand mit drei Stühlen. Es gab wieder diese rot-weiß karierte Tischdecke, einen zusammengeklappten Sonnenschirm, eine Handpumpe mit einem ausgehöhlten Baumstamm davor, der als Wasserspeicher diente.

Ich hatte das Gefühl, dass ich der einzige Gast war. Es war sehr still im Haus. Von der Vorderseite her war kein Verkehrslärm zu hören. Ich schlug die Decke meines Himmelbetts zurück, zog die Schuhe aus und legte mich mit den Kleidern hinein. Zwischen dem vorderen linken Bettpfosten und dem Baldachin hatte eine kleine Spinne ihr Netz gebaut. Sie verharrte reglos am Rande. Ich erinnerte mich an eine Situation kurz vor der Geburt meines Sohnes. Da meine damalige Frau mit dem Gebären nicht voran kam, hatte die Hebamme vorgeschlagen, ein Bad zu nehmen. Wie saßen beide auf dem Rand der Badewanne. In der Badewanne saß eine große Hausspinne. Wir draußen, sie drinnen, die Zeit schien still zu stehen. Es war ein Moment vollkommener Ruhe, wie ich ihn selten erlebt und nie vergessen habe. Eine Art Eins-Sein mit der Natur, dem Kosmos. Es gibt viele Worte dafür.

Ich beschloss, mit der Spinne in friedlicher Koexistenz zu leben. Ich musste an Inga denken. Mein schlechtes Gewissen quälte mich. Ich hätte nicht so einfach abhauen sollen. Ich überlegte, ob ich ihr einen Brief schreiben sollte, aber ich hatte nicht einmal ihre Adresse. Ich wusste, wo sie arbeitete, zur Not würde ich auch ihre Straße wieder finden, aber ich hatte auch nicht auf ihren Nachnamen geachtet.

Ich schlief über diesen Gedanken ein, träumte wie immer in letzter Zeit wirres Zeug, erwachte irgendwann und stellte nach einem Blick auf meine Uhr fest, dass es später Nachmittag war. Es war angenehm, nichts tun zu müssen, zu wissen, dass niemand auf mich wartete. Gleichzeitig kamen aber die verstohlenen Gedanken, wie lange das wohl so gehen könnte. Ich spürte körperlich das Unbehagen der Ungewissheit. Ich wusste nicht wie lange meine Geldmittel reichen würden, wie lange ich das so durchhalten würde. Mir war klar, dass ich bald eine Entscheidung über meine Zukunft treffen musste. Es grauste mir davor, diesen leichten Zustand, in dem ich mich befand, aufgeben zu müssen. Ich konnte mir gut vorstellen, für immer so einfach in den Tag hinein zu leben.

Ich konnte mich auch mit dem Gedanken anfreunden, allein zu leben, dachte aber auch daran, was im Alter sein würde, wenn ich vielleicht Pflege brauchte. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie es sein würde. Ich war nicht in der Lage, diesem Teil meiner Zukunft ein Gesicht zu geben.

Wieder lief ein Film in meinem Kopf ab, Erinnerungen aus meiner Studentenzeit in Mannheim, Bundeswehr, Schulzeit, alles in hellem Licht, eine Menge Gerüche, die mich überfluteten. Gesichter, die ich lange vergessen hatte oder die ich hatte vergessen wollen, geisterten an mir vorbei, Freunde im Studentenwohnheim, Genossen in der Partei, Kollegen aus meinen verschiedenen Jobs, die ich angenommen hatte, um mir etwas leisten zu können, Menschen, mit denen ich Fußball oder Tennis gespielt hatte. Zu den allermeisten hatte ich keinen Kontakt mehr. Meist hatte es sich totgelaufen, hatte sich durch Umzug erledigt, oder ich hatte mich bewusst getrennt, weil ich sie irgendwann unerträglich fand.

Ein paar wenige begleiten oder verfolgten mich immer noch, je nachdem wie ich die Sache besah. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass die Lücken, die bestimmte Personen hinterließen, sich entweder schlossen oder dass andere die Positionen besetzten.

Ich spürte auch den Schmerz, wenn eine Lücke wie eine offene Wunde blieb. Davon gab es wenige, doch diese schmerzten heftig und lange. Die Zeit ist ein langsamer Heiler.

Seventy-nine fiel mir ein. Wir nannten sie so, weil sie im Studentenwohnheim in Zimmer 79 wohnte. Sie hieß Hilde, war aus Hannover und machte einen Sommerkurs an der Mannheimer Universität. Ich kam eines Abends relativ früh aus der Kneipe, fuhr mit dem Fahrstuhl in den Keller, um mir noch ein Bier aus dem Automaten zu holen. Sie wollte gerade einsteigen, als ich im Keller ankam. Wir grüßten uns, hatten uns wohl vorher im Haus schon einmal gesehen. Sie hielt die Fahrstuhltür offen, während ich mein Bier aus dem Automaten zog. Auf der Fahrt nach oben fragte ich sie, ob sie ihr Bier nicht bei mir trinken wollte. Sie stimmte fast zu schnell zu. Sie schien einsam, machte den Eindruck als wollte sie reden, fing schon im Fahrstuhl an, von sich zu erzählen.

Ich konnte schon immer gut zuhören, was mir oft hinderlich war, weil ich mich besonders gern von Frauen benutzen ließ, die bei mir ihre seelischen Beschwerden abladen wollten. Durch das Reden über die intimsten Dinge entstand meist eine Distanz, die nicht mehr aufzulösen war. Bei Hilde hatte ich Glück, dass sie so viel trank.

Nachdem wir uns auf meinem Bett in meiner kleinen Studentenbude, wo es weder Tisch noch Stuhl gab, niedergelassen hatten, erzählte sie mir endlose Details aus ihrem reichlich verkorksten Leben. Manchmal konnte ich den Faden nicht verfolgen, den sie vor mir abrollte. Zwischendurch fuhr ich mehrmals nach unten, um mehr Bier zu holen. Ihre Erzählungen wurden mit jedem Bier ein wenig wirrer. Ich spürte den Alkohol auch, ohne richtig betrunken zu werden. Ich hörte, wie sie umständlich eine verwirrende Missbrauchsgeschichte darstellte. Ihr Großvater hatte sie anscheinend an einer intimen Stelle berührt. Es hörte sich aber auch teilweise so an, als sei sie selbst gar nicht beteiligt gewesen, als habe sie das nur beobachtet.

721,02 ₽
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9783844253122
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