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Bild 1-3: Wohnung und Praxis (Grundriss) am Mariannenplatz 8, Erdgeschoss aus dem Jahr 1864; (Abdruck mit freudlicher Genehmigung der Bauaktenkammer Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, Berlin vom 19.10.2020). Die Aufteilung der Räumlichkeiten in Praxis, Privat- und Personalbereich ist natürlich hypothetisch.

Das Haus gehörte zeitweilig zum Diakonissenhaus Bethanien, das gegenüber der Praxis ein Krankenhaus betrieb.

In den ersten zehn Jahren seiner Berliner Zeit finden wir Carl gelegentlich als Vortragenden und Zuhörer auf wissenschaftlichen Kongressen in Berlin. Immerhin wurde er auf einer Sitzung der „Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Classe von 1889“ – wobei es um Untersuchungen über die Zersetzung von Eiweiß durch anaerobe Spaltpilze ging – von Marcel Nencki (1847 – 1901) ausdrücklich erwähnt. Der polnische Chemiker und Arzt, der zu dieser Zeit im schweizerischen Bern forschte, dankte ihm für die Überlassung der Bakterienstämme, die Carl entdeckt hatte. Einige dieser zu den Clostridien zählenden Bakterienstämme (Bact.liquefaciens-parvus, B.radiatus, B.solidus, B.spinosus) waren seinerzeit mit der Namenserweiterung Lüderitzii versehen.

Nach 1892 endete Carls Engagement in der Wissenschaft abrupt, vollständig und endgültig. Wir können nur mutmaßen, dass er sich zehn Jahre Zeit gegeben hatte, um eine akademische Position zu erlangen. Vermutlich hat er deswegen „gratis“ an den universitären Instituten gearbeitet, sich möglicherweise auch Laborzugang und -zeit erkauft in der Hoffnung, mit solchen Vorleistungen eine Chance zu bekommen. Warum es am Ende nicht geklappt hat, kann auch nur vermutet werden.

Hier ein paar Ideen:

 Er hätte mit Nothnagel nach Wien gehen sollen, aber er wollte nach Berlin zu seiner Familie.

 Er hätte nach Wien gewollt, aber Nothnagel konnte ihn nicht mitnehmen.

 Er hätte mehr und früher experimentieren und schreiben müssen, um den Erwartungen gerecht zu werden, aber er musste seinen Lebensunterhalt verdienen.

 Er war am Ende doch mehr Arzt als Wissenschaftler, wollte Patienten sehen und nicht Labortiere.

 Er war seinem großen Vorbild Nothnagel nicht gewachsen und hat dies eingesehen.

 Es steckte am Ende gar eine Frau dahinter, dass er zurück nach Berlin gehen wollte.

 Es könnte sein, dass ihm schon zu der Zeit bewusst war, dass der ehrenvolle Titel eines „Sanitätsrathes“ Publikationen voraussetzte und seine Veröffentlichungen diesem Zwecke dienten.

Die Überraschung kam diesmal nicht beim systematischen Suchen, sondern beim Surfen im Netz. Irgendwann tauchte der Name „Carl Lüderitz“ nicht nur im Einwohner- und Straßenverzeichnis der Berliner Adressbücher auf, sondern auch auf den amtlichen Seiten. Dort fanden wir „Dr. med. Carl Lüderitz“ als amtlich bestellten Armenarzt, und das nicht nur in einem Jahr, sondern fast in seiner gesamten Berliner Zeit von 1883 bis 1903. Er war auch als Säuglingsarzt registriert und Vertreter der Ärzteschaft in der Armenkommission, die die Aufgaben der Armenärzte und deren Verteilung regelte. Die Armenärzte waren in einem Verein organisiert, der sich um ihre Belange kümmerte (7).

Bild 1-4: Die zu den Armenarzt-Bezirken Nr. 84, 93-97 in der Luisenstadt („jenseits des Kanals“) des Dr. Carl Lüderitz im Jahr 1890 gehörenden Straßenzüge (rechts) zwischen Mariannenplatz (Praxis: blauer Punkt) und Görlitzer Bahnhof, projiziert auf einen Stadtplan von 1893 (Quelle: Beilage zum Berliner Adressbuch, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv:109-1-2482696)

Berlin hatte 1885 etwa 1,3 Millionen Einwohner. Die Stadt war unterteilt in 326 Armenarzt-Bezirke in den verschiedenen Stadtteilen, die von insgesamt 63 Armenärzten betreut wurden. Hinzu kam eine Reihe von Spezialärzten (Augenärzte, Kinderärzte), die nur gelegentlich konsultiert wurden. Diese Armenarzt-Bezirke hatten unterschiedliche Einwohnerzahlen, je nach Dichte der armen Bevölkerung. Im Norden war diese größer als im Süden der Stadt. In Moabit und Wedding beispielsweise war ein Armenarzt für etwa 10.000 Einwohner zuständig. In der Luisenstadt, dem heutigen Kreuzberg, oder im Bezirk Friedrichstadt, der heutigen „Mitte“, entfielen bis zu 50.000 Einwohner auf einen Armenarzt. Im Mittel waren es, wie bei Carl, etwa 20.000 Menschen. Insgesamt gab es – ausweislich der Sozialstatistik jener Jahre – etwa 45.000 „Hausarme“ (3,8 % der Bevölkerung; 1878 waren es noch 35.000 gewesen), die von den Armenärzten betreut wurden. Nicht mitgerechnet waren die in Armenhäusern lebenden Personen. Damit entfielen auf jeden Armenarzt im Mittel etwa 700 Patienten. Carls Revier waren 1885 und in den nachfolgenden Jahren die Bezirke 84 und 93–97 mit insgesamt 19.800 Einwohnern (–> Bild 1-4).

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Ein Armenarzt behandelte üblicherweise Prostituierte, von denen es in Berlin um 1900 ca. 20.000 gab, an Sommerdiarrhöe leidende Kinder infolge verdorbener Milch, Waisenhaus-Pfleglinge, Leiden aufgrund schlechter Luft oder Schimmelpilzbildung in überhitzten Mietskasernen, Schwindsüchtige und Geschlechtskranke. Zu seinen Patienten zählten aber auch Obdachlose, Arbeitslose und generell Menschen ohne Krankenversicherung (Anfang 1900 noch 85 % der Bevölkerung). Er war zuständig für deren Medikamentenverordnungen, Krankschreibungen und Krankenhauseinweisungen. Dazu mussten Armenärzte eine morgendliche Sprechstunde, üblich von 8.00 bis 9.00 Uhr, einrichten und für Patienten ansprechbar sein. Darüber hinaus hatte der Armenarzt Ratgeberfunktion in Sachen Hygiene und Krankmeldungen; damit verbunden war eine Überwachungsaufgabe mit entsprechender Meldepflicht. Ein Armenarzt wurde – laut Ausschreibung der Stelle im Gemeindeblatt und Bewerbung durch den Arzt – von der Armenverwaltung des jeweiligen Bezirks eingestellt und erhielt ein Einkommen. Die Amtszeit eines Armenarztes betrug in der Regel drei Jahre mit der Möglichkeit der Wiederwahl. Manche waren wie Carl 20 Jahre und länger als Armenarzt tätig, andere sind nach nur einem Jahr ausgestiegen. Die Ausgaben für Gehälter aller Armenärzte betrugen in Berlin für das Jahr 1888 insgesamt 82.290 RM (8). Sowohl das Budget als auch die Anzahl der Armenärzte war zwei Jahre zuvor (1886) erhöht worden. Aus diesem Budget wurden 1885 bis 1888 die 63 Armenärzte bezahlt, d. h. deren Jahresgehalt betrug um die 1300 RM. Dies entsprach dem Durchschnittsgehalt eines technischen Angestellten in der Industrie und war dem eines angestellten Arztes durchaus gleichwertig. Die mehr als 100 Ärzte des Gewerkschaftskrankenvereins erhielten als Durchschnittsgehalt 1400 Mark, Berufsanfänger aber deutlich weniger. Nach anderen Quellen lag das Anfangsgehalt eines Assistenzarztes mit 1200 Mark deutlich unter dem des Armenarztes (9). Davon konnte ein Mensch zu jener Zeit offenbar leben, wahrscheinlich sogar eine Familie gründen und ernähren.

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Ob sich Carls Situation verbesserte, als er am 18. Dezember 1899 zum Sanitätsrat ernannt wurde, wissen wir nicht. Sicher half es ihm, Privatliquidationen zu erzielen. Der nichtakademische Titel wurde vom preußischen Gesundheitsministerium (korrekt: Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten) für mindestens 20-jährige Verdienste im öffentlichen Gesundheitswesen verliehen.

Die Akte des Ministeriums für die Jahre 1898 bis 1899 10 gibt Auskunft. Von den ca. 2500 Ärzten im Berlin des Jahres 1898 trugen 25 den Titel „Sanitätsrath“, davon wiederum ein geringer Teil den des „Geheimen Sanitätsrathes“. Vorschlagsrecht hatten Ministerialbeamte, aber auch Gemeindevorsteher und andere Amtspersonen konnten Vorschläge einreichen.

Die Vorschlagsliste des Ministeriums ging dann zwecks sozialer Überprüfung als Erstes an den Polizeipräsidenten in Berlin. Dabei wollte man vor allem ermitteln, ob der Arzt bereit war, die damit verbundenen 300 Mark „Stempelgeld“ zu bezahlen. Bereits die preußische Bürokratie ließ sich diese als privat angesehenen Privilegien offenbar gern bezahlen und erhob deftige Gebühren. Zum Vergleich: Das war in jenen Jahren ein Viertel des Jahresgehaltes eines Armenarztes und 5 % seines Jahreseinkommens.

Dazu war nicht jeder Arzt bereit oder in der Lage. In einem Schreiben des Polizeipräsidenten an den Minister schilderte dieser, dass die Erkundungen manchmal von der örtlichen Schutzpolizei durchgeführt worden seien, was den einen oder anderen „Auserwählten“ erbost habe.

Das Einschalten des Polizeipräsidenten hatte aber sicherlich noch einen anderen Hintergrund: Im Falle von Dr. Lüderitz schrieb der Polizeipräsident am 15. Februar 1898:

„Dr. Lüderitz ist nicht verheiratet, lebt in geordneten Verhältnissen (hat ein Jahreseinkommen von 5500 bis 6000 Mark und ein Vermögen von 24000 bis 28000 Mark). Politisch gehört er zur deutsch­freisinnigen Vereinigung. In moralischer Beziehung hat er zu Ausstellungen keine Veranlassung gegeben. Als Arzt erfreut er sich einer ganz guten Praxis, besonders in weniger bemittelten Kreisen der Bevölkerung, er ist auch langjähriger städtischer Armenarzt und hat sich durch sein gründliches Wissen das Vertrauen seiner Kranken erworben. Am ärztlichen Vereinswesen nimmt er als Mitglied des Luisenstädtischen Ärztevereins sowie wissenschaftlicher Vereinigungen theil. Bei seinen Kollegen steht er im Ansehen.

In wissenschaftlicher Beziehung ist er eifrig und mit Erfolg thätig gewesen. Seine ersten Veröffentlichungen stammen aus einer Zeit, in welcher er in Jena als Assistent Nothnagels angestellt war, aber auch später, als er in das eigentliche, praktische Leben eingetreten war, bestätigte er fortgesetzt eine Vorliebe für wissenschaftliche Forschung. Er hat auch nachher wiederholt in staatlichen Laboratorien gearbeitet und seine Ergebnisse in Pflügers Archiv, in Virchows Archiv, in der Zeitschrift für klinische Medizin, in der Zeitschrift für Hygiene veröffentlicht, auch befand er sich auf den ärztlichen Kongressen zu Berlin unter den Vortragenden. Seine Arbeiten sind meist physiologischer Natur, sie betreffen besonders die Darmperistaltik, behandeln aber auch praktische Fragen. Eine derselben ist anatomischer Natur und bezieht sich auf das Rückenmarksegment, eine andere Veröffentlichung betrifft bakterielle Forschungen und ist im Hygienischen Institute vorhanden“.(10)

In einem weiteren Vorgang in der gleichen Akte schlägt der Polizeipräsident am 18. April 1899 vor, einen an sich sehr verdienten Arzt aus der Auswahl für zwei weitere Jahre herauszunehmen. Er sei noch sehr jung und eine so frühe Auszeichnung könne insbesondere unter den älteren Kollegen, die noch nicht ausgezeichnet worden seien, Unruhe erzeugen. In einem Obrigkeitsstaat regelte die oberste Ordnungsbehörde, die Polizei, offenbar auch Eifersüchteleien unter Privatleuten.

Carl zahlte und erhielt mit Datum vom 18. Dezember 1899 sein Patent als Sanitätsrat. Wie wir vom Polizeipräsidenten wissen, hatte er zusätzlich zu seinem Gehalt als Armenarzt einige Einnahmen (4000 bis 4500 Mark / Jahr). Zumindest nachdem er seine wissenschaftlichen Forschungen um 1892 eingestellt hatte, dürfte ihm dazu die Zeit geblieben sein. Andererseits waren seine Armenbezirke in der Berliner Luisenstadt mit 20 Ärzten für 20.000 Einwohner (1890) damals eher überversorgt. Reich wird er dort nicht geworden sein, vergleicht man sein Einkommen mit dem der anderen Ärzte aus den Sanitätsrats-Akten jener Jahre. Und dann verschwand Carl 1907 von einem Tag auf den anderen aus Berlin. Es sollte Wochen dauern, bis wir ihn wieder ausfindig gemacht hatten.

Lebensabend in Waldsieversdorf

Wir haben Carl auf zwei verschiedenen Wegen und nahezu gleichzeitig wiedergefunden. Beide Wege sind typisch für die Art und Weise, wie Recherchen manchmal verlaufen: lange Zeit langweiliges Durchforsten von Akten und Dokumenten und dann Überraschungsfunde an Stellen, an denen man sie nicht erwartet hätte.

 Weg 1 (der systematische): Auf der Suche nach weiteren Veröffentlichungen von Carl hatten wir auch das Zentrale Verzeichnis antiquarischer Bücher (ZVAB) durchforstet und waren dort auf eine uns bislang unbekannte Publikation gestoßen: „Carl Lüderitz: Gedanken zur allgemeinen Energetik der Organismen. Berlin, Hirschwald Verlag 1910“. Diese späte Publikation war auch in anderen Medien besprochen worden – allerdings nicht immer positiv (11). In seinem Vorwort gab Carl preis, dass er ca. 50 km östlich von Berlin in Waldsieversdorf im Märkischen Oderkreis wohnte.

 Weg 2 (der zufällige): Bei einer Google-Recherche, diesmal nach „Sanitätsrat Lüderitz“, tauchte weiter hinten in der Listung der Suchergebnisse eine Quelle auf, auf die wir nie im Leben gekommen wären. In einem Buch von Ute Lissa und Rosemarie Brüning, in dem sie über die Lebenserinnerungen ihres Vaters Paul Brüning (12) berichten, erwähnt dieser, dass er 1922 seine zukünftige Frau in der Kindermannstraße 28 in Waldsieversdorf im Haus des Sanitätsrates Dr. Lüderitz kennengelernt habe. Der hatte im Obergeschoss einen Raum an Lehrerinnen des Pädagogiums in Waldsie­versdorf vermietet. Paul Brüning erwähnt auch, dass die Dame des Hauses den Kaffee serviert habe.

Bild 1-5: Lageplan der Villensiedlung Waldsieversdorf Ferdinand Kindermanns von 1910. Markiert (roter Punkt) ist das Haus in der Kindermannstraße 28, das Carl Lüderitz gekauft hatte (Quelle: (13), Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung der Witwe von Ottfried Schröck)

Sollte Carl Lüderitz doch eine Familie gegründet haben?

Wenn man heute nach eher mühsamer Anfahrt aus Berlin über die B 1 Richtung Frankfurt (Oder) nach Waldsieversdorf kommt, trifft man auf ein langweilig anmutendes Örtchen von vielleicht 800 Einwohnern. Dieses ist allerdings idyllisch an einem See gelegen und mit ein paar recht eindrucksvollen Häusern ausgestattet, wie sie typisch sind für die Landschaft des Märkischen Oderlands. Wer es nicht kennt, fährt leicht daran vorbei. Für Berliner war dieser Teil der Umgebung immer auch Naherholungsgebiet.

Der Ort selbst wirkt geplant, und das ist er auch: Es handelt sich um die 1895 von Ferdinand Kindermann gegründete Villensiedlung. Im Jahr 1910 hatte Waldsieversdorf 378 Einwohner, einer davon war Carl Lüderitz.

Unsere erste Informationsquelle für Waldsieversdorf, das vor 1907 Wüste Sieversdorf hieß, waren der rührige, leider 2019 verstorbene Heimatforscher Dr. Ottfried Schröck (13) und sein Freund Richard Bosdorf. Letzterer ist der heute 80-jährige Sohn des ehemaligen Bürgermeisters von Waldsie­versdorf. Beide hatten Carl nicht mehr erlebt, wussten aber zu berichten, dass nach dem Zweiten Weltkrieg im Nachbarhaus Kindermannstraße 28 „Tante Ida“, die Haushälterin des Armenarztes wohnte (–> Kapitel 15). Sie war 24 Jahre jünger als Carl, was uns zu Spekulationen und Fantasien Anlass gab. Hier nur so viel: Sie starb 88-jährig im Jahre 1966 in der Alterspsychiatrie in Eberswalde. Sie war es auch, die den Tod von Carl Lüderitz meldete: Carl Lüderitz starb am 16. November 1930 in seinem Haus in Waldsieversdorf. Er wurde laut Sterbeurkunde des Standesamtes Buckow, zu dem der Ort gehört, 76 Jahre alt. Sein Neffe Georg gab später als Todesursache „Nierenschwund“ an, was auf eine chronische Nierenerkrankung hinweisen könnte. Allerdings ist diese Diagnose vorsichtig zu interpretieren. Da Carl Lüderitz der einzige Arzt in dieser Familie war, ist die mündliche Überlieferung der Diagnose „Nierenschwund“ vermutlich verzerrt, und es könnte sich auch um ein „hepatorenales Syndrom“ bei Leberzirrhose gehandelt haben (14).

Aber was hat der Sanitätsrat zwischen 1907 und 1930 in Waldsieversdorf gemacht? Warum ist er überhaupt dorthin gegangen? Die erste Idee war, es könnte ihn wegen des dort zwischen 1906 und 1908 von Ferdinand Kindermann gegründeten Sanatoriums dorthin gezogen haben. Aber das erwies sich schnell als falsche Spur: Sanatoriumsarzt war ein Dr. Otto Friederich aus Müncheberg, der 1899 die Tochter von Kindermann geheiratet hatte. Auch in der Umgebung fand sich keine Spur von Carl als Land-, Dorf- oder Stadtarzt. Erst das liebe Geld brachte uns auf die richtige Fährte: Er hat sich zur Ruhe gesetzt, wurde Privatier. Und das kam so:

Als Carls Mutter Lucie Lüderitz geb. Neider 1875 das Haus in der Markgrafenstraße 74 verkaufte, hat sie dafür wahrscheinlich erheblich mehr bekommen als das, was die Familie Lüderitz-Doussin viele Jahre zuvor hineingesteckt hatte. Benötigt wurde dieses Geld sicherlich für die Ausbildung, speziell für das Studium von Carl und Hermann und für die Mal-Ambitionen von Elisabeth. Albert war zu jenem Zeitpunkt noch nicht Angestellter der Reichsbank, sondern Kaufmann. In der Folgezeit zogen Lucie Lüderitz und ihre Familie, nach und nach kleiner werdend, von Mietwohnung zu Mietwohnung. Zunächst lebte man in der Friedrichstadt (heute: Mitte), dann in der Luisenstadt (heute: Kreuzberg), später ging es nach Friedenau. Zuletzt wohnte Lucie Lüderitz allein in Friedenau in der Fregestraße 62, wo sie am 8. September 1900 starb.

Wenige Jahre danach (laut Adressbuch vor 1903) kauften die beiden Brüder Albert und Carl Lüderitz in Friedenau (damals ein Teil von Schöneberg) zwei Wohnhäuser: Cranachstraße 51 und 52. Während Albert mit seiner Familie 1903 in die Nr. 51 zog und dadurch endlich bis 1918 ein dauerhafteres Zuhause hatte (–> Kapitel 4), verkaufte Carl seinen Teil vor seinem Umzug nach Waldsieversdorf im Oktober 1906.

Einmal auf die Spur des Geldes gesetzt, recherchierten wir weiter. Nachdem wir von der Villenkolonie Waldsieversdorf erfahren hatten, war es naheliegend anzunehmen, dass sich Carl hier eingekauft hatte. Kindermann hatte seine Villen wie warme Semmeln zu Preisen zwischen 7500 und 20.000 RM angeboten, für Grund und Boden, für ein komplett erstelltes Haus und Anschluss an die lokale Wasserversorgung (15). Er hatte seine Pläne in ein politisches Gewand gehüllt, einschließlich Anzeigenschaltungen im sozialdemokratischen „Vorwärts“, und kämpfte auf politischem und gerichtlichem Wege für seine Kolonie. Er wohnte 1894 in Berlin-Charlottenburg (Kantstraße 63). Gut möglich, dass er den Sanitätsrat Lüderitz persönlich kannte und überzeugte, bei ihm einzusteigen.

Das zuständige Katasteramt Strausberg gab bereitwillig Auskunft: Den nur teilweise erhaltenen Grundbüchern zufolge kaufte Carl direkt von Kindermann in Waldsieversdorf drei Grundstücke, die bereits vor 1900 auf seinen Namen im Grundbuch eingetragen wurden: Kindermannstraße 28 (damals Hausnummer 27; auf diesem Grundstück stand ein Haus) sowie in der Seestraße die Grundstücke 6 und 64, beides reine Wohnbauflächen. Das Grundstück Seestraße 64, das die Verlängerung des Grundstückes Kindermannstraße 28 bis hinunter zur Seestraße am Ufer des Großen Däbernsees war, verkaufte er kurze Zeit später an einen Justizrat aus Berlin. Die beiden anderen blieben bis zu seinem Tode in seinem Besitz.

Bild 1-6: Muster des Hauses, das Carl Lüderitz in Waldsieversdorf gekauft hatte / Quelle: (14)

Mit diesem Polster dürfte er die mehr als 25 Jahre bis zu seinem Tod 1930 gut gelebt und wahrscheinlich auch die Zeit des Ersten Weltkriegs, die darauffolgende Versorgungskrise und die Weltwirtschaftskrise der späten 1920er Jahre gut überstanden haben.

Die Auskunft des Katasteramtes barg aber eine weitere Überraschung: Für die beiden verbliebenen Grundstücke war als Erbin Carls Haushälterin Ida Kreutzfeld eingetragen. Carl hatte also seine Haushälterin, wenn sie es denn war und nicht seine Geliebte, großzügig abgesichert. Dies gab Raum für viele Spekulationen (–> Kapitel 15).

Eines der Grundstücke wurde 1966, kurz vor Idas Tod, verkauft. Das andere wurde 1970 an eine Marie Lüderitz geb. Beymel übertragen und von dieser an eine Renate Ehrlich geb. Beymel weitergegeben. Es sollte lange dauern, bis wir die Verbindungen dieser beiden Frauen zu „unserer“ Familie Lüderitz aufgeschlüsselt hatten.

Wir wissen nicht, was Carl in den 24 Jahren, die er in Waldsieversdorf lebte, tagtäglich getan hat. Er hat gelegentlich als Arzt praktiziert, aber wohl mehr im Rahmen der Nachbarschaftshilfe. Es gibt nur zwei Dokumente, beide von 1910, denen man entnehmen kann, dass er die naturwissenschaftlich-philosophischen Debatten seiner Zeit verfolgte. Das heißt, er hat gelesen, er hat über das Gelesene nachgedacht und seine Gedanken schriftlich in dem Büchlein „Gedanken zur allgemeinen Energetik der Organismen“ (11) festgehalten.

Carl war Abonnent der Zeitschrift „Neue Weltanschauung. Monatsschrift für Kulturfortschritt auf naturwissenschaftlicher Grundlage“. Ein Brief an den Herausgeber, Dr. Wilhelm Breitenbach (1856/57 – 1937), offenbart Carls politisch-philosophische Grundgedanken (16), die er auch in seinem 1910 erschienenen Büchlein ausführte (11). Er war offensichtlich kein Anhänger von Ernst Haeckel (1834 – 1919) und dessen „Monismus“. Der rastlose und charismatische Philosoph wurde zunächst bekannt als Verbreiter der Theorien Darwins in Deutschland, die er zu einer eigenen Theorie der Einheit von Materie und Geist (Monismus) entwickelte. Zu deren Verbreitung gründete er 1906 in Jena den Monistenbund.

Lüderitz distanzierte sich von Haeckel, den er aus seiner Jenaer Zeit gekannt haben mag. Er war zwar von der Bedeutung der Naturwissenschaften überzeugt, wies aber auch den Geisteswissenschaften eine wichtige Rolle bei der Erklärung von Leib und Seele zu. Carl war offensichtlich nicht der Meinung, dass alle Vorgänge naturwissenschaftlich zu erklären seien. Sonst hätte er in dem Brief an Breitenbach nicht vehement der Vorstellung widersprochen, dass Bewusstsein durch Hirnaktivitäten zu erklären sei. Das wäre heute unter Neurophysiologen Konsens, auch wenn die exakten Hirnströme noch undefiniert sind.

Allerdings wird aus seinen Ausführungen nicht klar, ob er auch der Religion eine Rolle zusprach. Dagegen spricht seine Abneigung gegen das Metaphysische und Übersinnliche. In seinem Brief an Breitenbach (16) bezog er sich auf die Philosophen Richard Avenarius (1843 – 1896) und Ernst Mach (1838 – 1916), beide Anhänger des Empiriokritizismus. Deren Erkenntnistheorie basiert auf reiner Erfahrung im Sinne von Messwerterfassung und nachweisbaren Prozessen. Dies mag seine in den Publikationen 1889 und 1890 zum Ausdruck kommende Hingabe zur Detailbeschreibung erklären. In keiner Veröffentlichung wurde die Darmaktivität jemals in solcher Genauigkeit und Gründlichkeit wie auch mit der ehrlichen Betonung der biologischen Varianz beschrieben. Der österreichische Physiker Mach war ein überzeugter Liberaler und später bekennender Sozialdemokrat – eine damals unübliche Einstellung für einen Universitätsprofessor.

Die erkennbare Zuwendung zu Machs politisch-philosophischen Ansichten spiegelt sich in Carls Zugehörigkeit zu den Deutsch-Freisinnigen wider, wie der Polizeipräsident von Berlin anlässlich seiner Ernennung zum Sanitätsrat berichtete. Die Deutsch-Freisinnige Partei, der auch Rudolf Virchow angehörte, war eine kurzlebige (1884 – 1893), nach damaligem Verständnis linksliberale Partei, die auf den Kronprinzen Friedrich setzte. Von diesem erhoffte sie sich eine Parlamentarisierung der Monarchie. Friedrich starb jedoch nach nur 99 Tagen, so dass ihm in diesem Drei-Kaiser-Jahr 1888 sein Sohn Wilhelm II. nachfolgte. Die Partei zerfiel, vereinigte sich 1910 erneut und ging im Wesentlichen 1918 in der Deutschen Demokratischen Partei auf.

Nach diesen Ausflügen in die Welt der Philosophie zog Carl vor, bei seinem Gelernten zu bleiben. Davon zeugt ein Halbsatz in den bereits 1972 niedergeschriebenen Erinnerungen des Enkels des Villenkolonie-Gründers Kindermann, Eberhard Friedrich. Darin schildert der Sohn des Sanatoriumsarztes Otto Friedrich, wonach die ortsansässige Schwester des Sanatoriums bei klinischen Notfällen „auch von meinem Vater und dem dort als Ruheständler noch etwas praktizierenden Dr. Lüderitz zugezogen wurde“ (17). So ganz konnte Carl die „Doktorspiele“ offenbar nicht sein lassen.

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26 мая 2021
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9783873222984
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