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Die Legionärsaffäre

Auch in der Legionärsaffäre wurde es für Konsul Lüderitz zum Problem, dass seine Regierung in Berlin kein Interesse an einer Eskalation hatte. Nach dem Bombardement von Casablanca hatten die Franzosen größere Truppeneinheiten zur „Pazifizierung“ des Hinterlandes stationiert, darunter zwei Regimenter der Fremdenlegion. Diese sollen zu 45 % aus Elsass-Lothringern und 12 % aus Deutschen bestanden haben, zusammen 500 bis 600 Mann. Könnten diese zur Desertion verleitet werden, würde das die militärische Stärke der Franzosen empfindlich beeinträchtigen und ihrem Image schaden. Nach französischen Angaben wurden von August 1907 bis September 1908 217 Fälle von Desertion gezählt, darunter etwa die Hälfte von Deutschen. Es war eine der größten Massenfluchten in der Geschichte der Legion.

Erdacht und organisiert wurde das Ganze von dem Journalisten Heinrich Sievers, der Spanien-Korrespondent verschiedener Zeitungen und Nachrichtenagenturen war. Die Legionäre wurden in Bars und Cafés angesprochen, versteckt und in kleinen Gruppen nach Rabat geschleust, von wo sie mit deutschen Dampfern nach Deutschland gebracht wurden.

Die Deutsche Marokko-Zeitung berichtete fast wöchentlich triumphierend über die Zahl der Heimgeschafften und rief die Deutschen in Marokko auf, Geld und Kleidung zu spenden, was diese aus patriotischer Selbstverpflichtung auch taten. Die Franzosen konnten dieser Entwicklung nicht tatenlos zusehen und versuchten, vorübergehend mit Erfolg, den Weg nach Rabat zu versperren.

Im September 1908 versuchte Sievers, sechs weitere Deserteure in Casa­blanca unter den Augen der Franzosen auszuschleusen. Obwohl es letztlich seine Privataktion war, brauchte er die Hilfe des Konsulats.

Am 25. September führte er die Deserteure in Begleitung des Konsulatssekretärs Max Just von ihrem Versteck auf Umwegen zum Hafen. Dort wurden die Deserteure von Soldaten der Hafenwache erkannt und es kam zu handgreiflichen Auseinandersetzungen, wobei ein Revolver gezogen, der Spazierstock des Konsulatssekretärs zerbrochen und der marokkanische Konsulatssoldat verletzt wurde.

Kein Krieg wegen Lüderitz

Die politischen Aufwallungen waren enorm – in Casablanca wie in der Presse im Reich wie in Frankreich. Und Lüderitz saß, wie sich bald zeigen sollte, zwischen den Stühlen. Er hatte die eigenmächtige Privataktion von Sievers nicht nur gedeckt, sondern aktiv daran mitgewirkt. Zum politischen und völkerrechtlichen Problem für Lüderitz wurde, dass er einen Passierschein unterschrieben hatte, der den Franzosen in die Hände gefallen war. Dieser war für sechs Personen ausgestellt, obwohl sich nur drei Deutsche unter den Deserteuren befanden. Wider besseres Wissen ließ sich Lüderitz von dem politischen Anführer der Casablanca-Deutschen, Carl Ficke, der von der Aktion selbst wenig gehalten hatte, zu der Behauptung überreden, es habe sich unter den sechs „nicht ein einziger Nicht-Deutscher“ befunden.

Lüderitz, der zugeben musste, die Deserteure in ihrem Versteck besucht zu haben, wurde von seinem Konsulatssekretär so weit entlastet, als dieser eingestand, die ursprüngliche Zahl von drei auf sechs eigenmächtig erhöht und die Worte „deutscher Nationalität“ gestrichen zu haben, was Lüderitz bei der Unterschrift übersehen habe. Das mochte dem Eindruck der Briten und Franzosen entsprochen haben, die Lüderitz ein „relativ moderates“ und freundliches Verhalten attestierten, wohingegen sein Sekretär Just ein „sehr aktives Mitglied“ der anti-französischen Gruppierung in Casablanca gewesen sei.

Die Erregung der jeweiligen nationalen Presse war so enorm, dass in Frankreich wie in Großbritannien die Befürchtung geäußert wurde, es könne zum Krieg kommen. In der Tat hatte sich die Reichsregierung auf den „Ehrenstandpunkt“ gestellt, dass die „Gewalttätigkeit“ gegen einen Konsularbeamten nicht hingenommen werden könne. Die Öffentlichkeit werde diese Verletzung der „nationalen Ehre“ nicht akzeptieren. Diese Haltung änderte sich schlagartig, als der französische Untersuchungsbericht in Berlin vorlag. Der Kaiser hatte ohnehin ein Einlenken verlangt.

Jetzt verständigten sich beide Regierungen, das Schiedsgericht in Den Haag anzurufen. Das fällte am 22. Mai 1909 sein Urteil: Lüderitz hätte den Passierschein nicht für sechs Deserteure ausstellen dürfen; er habe aber einen „unbeabsichtigten Fehler“ gemacht, als er ihn unterschrieb, „ohne ihn zu lesen“, wie er in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hatte. Im Übrigen lautete das salomonische Urteil, die Deserteure hätten dem Konsulatssekretär nicht gewaltsam entrissen werden dürfen, Frankreich müsse diese aber nicht zurückgeben.

Der Gesandte von Wangenheim, der während der Legionärsaffäre in Tanger war, sagte in dem Zusammenhang, Hermann sei ein „außerordentlich tüchtiger und zuverlässiger Beamter“, habe aber den Fehler gemacht, den Passierschein zu unterschreiben. Wangenheim war der Überzeugung, „daß aus Marokko schließlich doch der Krieg kommen [müsse]“. Aber der Casa­blanca-Zwischenfall sei dafür nicht geeignet. „Wir haben darin nicht ganz reine Papiere durch die Dummheit des Konsuls, der aus lauter Vorsicht alles verdorben hat“ (10). Also: kein Weltkrieg wegen Lüderitz. Durch seine Dummheit.

Die Affäre endete, ohne dass die Öffentlichkeit davon Notiz genommen hätte. Die „Zweite Marokkokrise“ fand erst einmal nicht statt. Da die Konflikte zwischen den Großmächten jedoch fortbestanden, kam es letztendlich 1911 doch zur Zweiten Marokkokrise (1), allerdings ohne Beteiligung von Konsul Lüderitz.

Krankheit und Rückkehr nach Deutschland

Hermann Lüderitz war zur Zeit der Legionärsaffäre bereits schwer krank. Am 11. Dezember 1908 erhielt er auf Antrag acht Tage Urlaub wegen Krankheit. In dieser Zeit wurde er offenbar von Dr. Dobbert in Casablanca untersucht, der bei ihm eine „schwere Gallenblasenentzündung mit wiederholten Anfällen akuter Herzschwäche“ diagnostizierte. Gustav Adolph Dobbert (1853 – 1914) war von 1880 bis 1889 praktizierender Arzt in Casablanca und kehrte nach einem Aufenthalt in Hamburg 1902 nach Marokko zurück. Er war medizinischer Berater für Versicherungen, hatte aber gleichzeitig größeren Grundbesitz in Marokko (1).

In einem Telegramm an das Auswärtige Amt schlug der Gesandte in Tanger, Friedrich Rosen, am 21. Dezember 1908 vor, Lüderitz durch Dragoman Maenss vertreten zu lassen. Eine Woche später empfahl Rosen in einem weiteren Telegramm, Lüderitz nach Deutschland reisen zu lassen, da er sich vermutlich einer Operation unterziehen müsse (8).

Am 11. Januar 1909 notierte der Friedenauer Lokal-Anzeiger, dass sich Konsul Lüderitz an Bord eines Schiffes begeben habe. Die Deutsche Marokko-Zeitung Nr. 126 vom 12. Januar berichtete, dass dies am Montag, dem 11. Januar, erfolgt sei und er in Begleitung seiner Frau Victoria reise. Hermann Lüderitz hatte als Heimatadresse Coburg angegeben, den Heimatort seiner Frau. Die war zu diesem Zeitpunkt im siebten Monat schwanger.

Eine Fahrt von Tanger per Schiff nach Hamburg mit Zugfahrt nach Berlin oder Coburg hätte vermutlich 14 Tage gedauert. Schneller fuhr man zu jener Zeit entweder mit der Eisenbahn von Algeciras über Madrid und Paris oder, noch schneller, von Tanger nach Genua per Schiff und dann weiter mit der Eisenbahn. Das soll gut zweieinhalb Tage gedauert haben.

So war Hermann Lüderitz vermutlich Mitte Januar zu Hause in Coburg. Noch im gleichen Monat stellte er sich bei Universitätsprofessor Albert Albu in Berlin vor, der am 22. Januar 1909 dem Auswärtigen Amt mitteilte, Hermann Lüderitz sei in einem „schlechten Ernährungszustand infolge von Abmagerung, Zeichen allgemeiner Nervenschwäche, Vergrößerung der linken Herzkammer u. eine Vergrößerung der Leber, welche auf die vorangegangene Gallenerkrankung zurückzuführen ist. Ausserdem klagt Herr Consul Lüderitz seit Jahren über dramatische Schmerzen in den Gliedmassen, welche sich in letzter Zeit noch erheblich verstärkt haben. Zur Wiederherstellung der Gesundheit und Dienstfähigkeit bedarf Hr. Consul Lüderitz für längere Zeit der körperlichen und geistigen Schonung sowie einer Trink- bez. Badekur in Karlsbad und in Wiesbaden“, so Albu in seinem Schreiben, gefunden in der Personalakte Lüderitz im Auswärtigen Amt in Berlin (8).

Bild 3-4: Ärztliche Atteste von Prof. Krause und Prof. Albu, Berlin (Quelle: Personalakte von Hermann Lüderitz im Archiv des AA, P 1/9234, 9235. 9236)

Daraufhin bewilligte ihm das Auswärtige Amt am 10. Februar 1909 einen dreimonatigen Urlaub „unter Ausschluß der Reisezeit“, und sein Vertreter Maenss bekam eine monatliche Gehaltszulage von 120 Mark.

Wir fanden Hermann in der Karlsbader Kurliste vom 20. März 1909; er wohnte – allein – im Hotel Rotes Herz in Karlsbad.

In dieser Zeit meldete sich Hermann Lüderitz mit einem Schreiben an Reichskanzler Fürst von Bülow, in dem er schrieb (8):

„Seiner Durchlaucht beehre ich mich, im Anschluß an meinen gehorsamsten Briefe de dato Wiesbaden den 21. v. Mts. zu melden, daß mein Gesundheitszustand sich ganz neuerdings wieder verschlechtert hat und ich zu meinem großen Bedauern nicht in der Lage bin, schon jetzt mit Ablauf des mit Erlaß vom 19. n. Mts. - Nr. I e.6667 - bewilligten Nachurlaubes auf meinen Posten zurückzukehren.

Nach ärztlichem Urteil, wie er in der hier gehorsamst beigefügten Bescheinigung zum Ausdruck gelangt, ist es nunmehr erforderlich, daß ich vor meiner Rückkehr nach Casablanca noch mehrere Wochen zwecks weiterer ärztlicher Behandlung in Deutschland verweile. Gleichzeitig ist mir eine weitere Trinkkur verordnet worden. Eurer Durchlaucht darf ich daher die ehrerbietige Bitte vortragen, mir eine nochmalige Verlängerung meines Urlaubs und zwar auf die Dauer von sechs Wochen hochgeneigtest gewähren zu wollen. Lüderitz.“

Der Urlaub wurde im April um weitere fünf Monate verlängert. Ende Mai / Anfang Juni stellte sich Hermann Lüderitz erneut bei Prof. Albu vor, der laut Attest vom 3. Juni 1909 „seinen Zustand gebessert, aber nicht geheilt“ befand. „Insbesondere ist noch eine beträchtliche Vergrößerung der Leber nachweisbar, und da Herr Consul Lüderitz noch neuerdings wiederum über Schmerzen in der Lebergegend klagt, so erscheint es uns wünschenswert, dass er vor der Rückkehr in das für solche Kranke oft schädliche subtropische Klima Marocco´s noch mehrere Wochen unter ärztlicher Beobachtung in Deutschland bleibt. Dr. med. Albert Albu, Universitätsprofessor“.

Albert Albu (1867 – 1921), ein prominenter Vertreter der Theorie der Autointoxikation (11) als Ursache vieler chronischer Erkrankungen, hat hier möglicherweise eine bösartige Erkrankung der Gallenwege als chronische Leber-Erkrankung fehldiagnostiziert. Irgendwann in dieser Zeit zwischen Anfang Juni und Anfang August 1909 muss Hermann Lüderitz auf Prof. Fedor Krause (1857 –1937) getroffen sein, der die bereits im Dezember 1908 von Dr. Dobbert konstatierte Notwendigkeit einer Operation in einem Attest am 11. August dem Auswärtigen Amt bestätigte. Krause war Chefarzt der chirurgischen Abteilung des Augusta-Hospitals Berlin und hatte sich in Hamburg als Experte der Tumorchirurgie profiliert. Gemäß den Aufzeichnungen seines Neffen Georg Lüderitz unterzog sich Hermann Lüderitz dieser Operation, verstarb aber 24 Stunden später am 15. August 1909.

Hermann Lüderitz hatte noch erlebt, dass am 24. Februar 1909 in Coburg seine Tochter Erika Beatrice geboren wurde. Er hatte am 3. November 1902 Victoria Ribbeck geheiratet, deren Eltern in Coburg lebten. Victoria war am 21. Juli 1870 in Stettin als Tochter des Großkaufmanns Rudolph Ribbeck und seiner Ehefrau Alma Ottilie (–> Bild 9-3) geboren worden.

Die Witwe Victoria lebte bis September 1948 in Coburg und verzog dann nach Düsseldorf zu ihrer Tochter Erika, die dort ab 1955 als kaufmännische Angestellte tätig war. Die Mutter starb 1953 in Düsseldorf, die Tochter blieb unverheiratet und ohne Kinder. Sie zog im November 1981 in ein Seniorenheim in Hilden, wo sie am 16. Dezember 2001 verstarb.

Zwei Aspekte seien hier noch abschließend kurz erwähnt, die uns wichtig erscheinen: Zum einen bedachte Hermann Lüderitz in seinem 1908 kurz vor seiner Abreise nach Berlin verfassten Testament, in dem er seine Frau als Alleinerbin einsetzte, sein Patenkind und Sohn seines 1902 in Berlin verstorbenen Musiklehrers Otto Frank mit einem kleinen Legat. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass Hermann Lüderitz wie auch sein älterer Bruder Carl der Musik verbunden gewesen war.

Bedacht wurden im Testament auch sein Patenkind Charlotte, Tochter seines Bruders Albert, und ein weiteres uns bis dato unbekanntes Patenkind, Wolfgang Rottenburg. Dabei handelte es sich um den jüngsten und in Tanger geborenen Sohn (* 28. September 1890) des Zivilingenieurs Walter Rottenburg, der seit 1888 im marokkanischen Rabat im Auftrag des Sultans das Fort mit Krupp-Geschützen ausgebaut hatte und der im Mai 1890 mit seiner gesamten Familie nach Tanger übergesiedelt war. Die Rottenburgs waren der gesellschaftliche Mittelpunkt (nicht nur) der deutschen Kolonie; auch Hermann Lüderitz verkehrte in ihrem Haus und hatte Kontakt mit der Familie bis zu seinem Tod.

Auch seine Frau Victoria setzte Legate für drei uns bis dato völlig unbekannte Personen aus; diese Spur führte uns am Ende zu den Lüderitz am Niederrhein.

Zum anderen: Der Mädchenname der Mutter von Victoria Ribbeck war Alma Ottilie Dorothee Lüderitz (1841 – 1928), ein Umstand, der zunächst erheblich für Verwirrung bei uns sorgte: Sie war die Tochter des Stettiner Kaufmanns Theobald Carl Albert Lüderitz und seiner Frau Alma Marie Veronica Brandenburg genannt Tarnovius. Alma Ottilie war also Hermanns Cousine väterlicherseits, deren Tochter Victoria somit seine Nichte zweiten Grades. Rechtlich handelte es sich um eine Verwandtschaft im fünften Grad – legitim, aber reichlich verwirrend für Hobby-Genealogen wie wir.

4 Vom Kaiserlichen Buchhalter zum armen Rentner: Albert Lüderitz

Über Albert Carl Siegfried Lüderitz, den ältesten der vier Lüderitz-Geschwister, wissen wir von allen Familienmitgliedern am wenigsten. Dafür haben wir aber von ihm und seiner Frau Martha geb. Lützow und den Kindern eine Reihe von Fotos und zumindest ein Bild von Albert im Kreis seiner Herkunftsfamilie. Dieses wurde von seiner Schwester Elisabeth 1888 noch vor seiner eigenen Familiengründung (–> Titelbild) angefertigt.

Die Bilder stammen aus dem Nachlass von Georg Lüderitz, ihrem jüngsten Sohn, und fanden sich, wie die meisten unserer Schätze, bei Renate Ehrlich geb. Lüderitz, adoptierte Beymel, dem letzten Mitglied der Lüderitz-Familie in Berlin. Warum wir von Albert so wenig wissen, ist vermutlich einfach zu erklären: Malerinnen malen und stellen aus, Wissenschaftler publizieren und Konsuln stehen in der politischen Öffentlichkeit und Verantwortung. Das hinterlässt auch im vordigitalen Zeitalter Spuren, die man in Archiven, Bibliotheken und Zeitungen finden kann. Bankbuchhalter dagegen arbeiten eher im Stillen.

Kindheit und Jugend

Albert wurde am 18. September 1850 in Berlin-Friedrichstadt geboren. Seine Taufe fand am 30. Oktober 1850 in der Jerusalemkirche statt. Seine Taufpaten waren (unter anderem) die Großmutter väterlicherseits, Dorothea Lüderitz, die Großmutter mütterlicherseits, Catharina Neider, sowie der Bruder des Vaters, Kaufmann Theobald Lüderitz aus Stettin, und ein Albert Doussin, Rendant (Rechnungsführer).

Die Familie wohnte in dem Haus, das der Familie Lüderitz seit etwa 1820 gehörte – das Eckhaus Markgrafenstraße 74 / Zimmerstraße 31. Wenn man diese Adresse im heutigen Berlin sucht, findet man dort nur neuerbaute Geschäftshäuser, weil dieser Teil von Berlin am Ende des Zweiten Weltkrieges durch Bombardierung weitgehend zerstört wurde. Einige der verbliebenen Häuser wurden dann von der DDR geräumt und gesprengt, um Platz für den Mauerbau 1961 und den Grenzstreifen zwischen Ost und West zu schaffen: Die Mauer verlief entlang der Zimmerstraße.

Von den vier Ecken der Kreuzung Markgrafenstraße / Zimmerstraße war es die südwestliche Ecke, an der das Haus stand. Es stammte aus der barocken Erstbebauung der Friedrichstadt um 1776, der großen Erweiterung der alten Doppelstadt Berlin-Cölln (1).

Albert ging zur Realschule in der Friedrichstadt, Teil des Schulkomplexes Kochstraße / Ecke Friedrichstraße. Die Realschule wurde 1859 zur Realschule 1. Ordnung und blieb, wie auch die Mädchenschule, die später Elisabeth-Schule genannt wurde, unter gemeinsamer Leitung im gleichen Gebäudekomplex wie das 1811 gegründete Friedrich-Wilhelms-Gymnasium, an dem seine beiden Brüder einige Jahre später das Abitur ablegten. 1882 wurde die Realschule in Realgymnasium umbenannt und trug seitdem den Namen „Kaiser-Wilhelm-Realgymnasium“. Aber zu diesem Zeitpunkt war Albert bereits berufstätig.

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In der Veröffentlichung „Vollständiges Archiv aller Verordnungen, Verfügungen, Polizei-Gesetze und Bestimmungen, welche auf die bürgerlichen Verhältnisse und das Geschäftsleben der Einwohner des Preußischen Staats Bezug haben“ (2) aus dem Jahre 1839 wird das Gewerbe der Materialisten und Drogisten näher erläutert. Danach durfte der Materialist und Drogist manche Arzneimittel in beliebigem Umfang verkaufen, andere wiederum nur in größeren Quantitäten („en gros et en detail“) und nur an Apotheker. Bei den auch in kleinen Mengen verkäuflichen Waren handelte es sich um Gegenstände des täglichen Lebens, aber auch um Dinge, die man heute noch in einer Drogerie findet. Nur „en gros“ durften Produkte verkauft werden, die für die Herstellung von Arzneimitteln in der Apotheke notwendig waren oder gefährlich oder einer besonderen Steuer unterlagen.

Um 1810, als Alberts Großvater Carl Friedrich Ferdinand das Geschäft aufbaute, gab es in Berlin etwa 450 „Materialhändler“, zehn Jahre später waren es 530, neben 420 Tuch- und Seidenhändlern und 51 weiteren Kaufleuten, die 1820 die Korporation der Kaufleute zu Berlin bildeten. Im Jahr 1846, als Alberts Vater starb, waren es schon etwa 1200 Kaufleute, zehn Jahre später über 2000.

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Seit 1832 galten Abschlüsse der Realschule als Zugangsberechtigung für die mittlere Verwaltungslaufbahn. Diese sogenannte „Mittlere Reife“ hieß auch „das Einjährige“, weil junge Männer mit diesem Bildungsabschluss statt des normalen dreijährigen Wehrdienstes nur ein Jahr auf freiwilliger Basis dienen mussten. Wir wissen aber, dass er 1868 am Ende der Untersekunda, also vermutlich mit der Mittleren Reife, von der Realschule abging und „in den Kaufmannsstand“ trat. Wo er dann seine Kaufmannslehre absolvierte und in welchem Bereich, wissen wir leider nicht. Sein Vater und sein Großvater waren Kaufleute (Materialisten) und der Vater hatte ein Geschäft im eigenen Haus – C. A. Lüderitz Cp, Materialwaren –, in dem vermutlich vor allem Drogeriewaren verkauft wurden. 1865 firmierte Carl Adolph Lüderitz am Wohnsitz als Rentier, was bedeuten könnte, dass er das Geschäft vorzeitig aufgegeben hat. Er starb ein Jahr später im Alter von nur 50 Jahren.

Da Albert erst 16 Jahre alt war, als sein Vater starb, könnte man spekulieren, ob es überhaupt geplant gewesen war, dass er das Geschäft weiterführt. Aber nach dem Tod seines Vaters 1866 wurde seine Mutter Lucie im Adressbuch als Eigentümerin des Hauses und Rentiere eingetragen, was heißt, dass sie ein Teil der Räume vermietet hat, darunter wohl auch den Laden: Von 1870 bis 1877 betrieb der Kaufmann O. Klaunick in der Markgrafenstraße 74 ein Kolonial-, Butter- und Weingeschäft. Albert war 25 Jahre alt, als das Haus 1875 an den Bäcker Schnell verkauft wurde, der in der Kochstraße 48, also um die Ecke wohnte.

Über die Gründe für den Hausverkauf haben wir bereits spekuliert, kommen aber darauf noch einmal zurück: Finanzierung der Ausbildung der drei jüngeren Kinder Carl, Elisabeth und Hermann, die es offensichtlich einmal besser haben sollten als die Eltern, Studium der beiden Jungen und Kunstausbildung für das Mädchen. In der Konsequenz zog die Familie 1876 um, blieb aber in der Nähe – in der Markgrafenstraße 62 – wohnen.

Albert verschwand für einige Zeit aus unserem Blickfeld. Mit Sicherheit musste er nach der Schule zum Militär (vermutlich ein Jahr) und hat anschließend eine Kaufmannslehre (drei Jahre oder auch fünf wie sein Vater) absolviert. Erst 1878 (jetzt 28 Jahre alt) tauchte er als fertiger Kaufmann wieder auf. Wir haben allerdings nicht ermitteln können, wo er gearbeitet hat, und wir haben auch kein Geschäft unter seinem Namen gefunden, möglicherweise war er angestellt.

Was dann passierte, hat uns erstaunt. In rascher Folge fand sich die Familie Lüderitz an unterschiedlichen Adressen wieder: Lucie Lüderitz wohnte 1877 in der Alten Jakobstraße 120, ab 1878 in der Alten Jakobstraße 125, 1881 bis 1885 in der Trebbinerstraße 14, 1886 bis 1888 in der Hornstraße 22, 1889 bis 1892 in der Großbeerenstraße 83, 1893 in der Kleinbeerenstraße 20, 1894 und 1895 wieder in der Trebbinerstraße 11. Dann zog sie in die Nähe von Albert nach Berlin-Friedenau und war 1896 in der Wielandstraße 32, 1897 und 1898 in der Ringstraße 56 und 1899 und 1900 in der Fregestraße 62 gemeldet. Dort verstarb sie am 8. September 1900.

Eine Erklärung für die zahlreichen Umzüge ist die Zusammensetzung der Familie: Carl Lüderitz ging 1874 nach Jena zum Medizinstudium, kam aber 1882 wieder nach Berlin und wohnte in diesem Jahr bei der Familie in der Trebbinerstraße 14. Hermann Lüderitz ging nach dem Abitur 1884 zum Studium nach Heidelberg, kam 1888 zurück und wohnte bei der Familie in der Hornstraße 22, bevor er ein Jahr später nach Marokko ging. Elisabeth, die Malerin, scheint die meiste Zeit in der Familienwohnung ihr Atelier gehabt zu haben, malte aber 1885 in einem Gemeinschaftsatelier in der Schönebergerstraße 25; sie heiratete 1891 den Rechtsanwalt Rudolf Poppe und zog in einen anderen Berliner Bezirk. Und der Kaufmann Albert Lüderitz verschwand erneut für einige Zeit (1887 – 1889) aus dem Adressbuch, um 1890 als Kaiserlicher Bankbuchhalter und seit 1888 bei der Reichsbank beschäftigt wiederaufzutauchen. Er heiratete 1892 und zog nach Berlin-Friedenau.

1 439,60 ₽
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Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
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440 стр. 85 иллюстраций
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9783873222984
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