Читать книгу: «Ymirs Rolle», страница 4

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Anfang März standen auf der Werft 47 Schiffe. Alle undichten Fugen waren mit Kuhhaar und Pflanzenfasern zugestopft, die Außenseiten neu geteert und die Relinge mit Einkerbungen zum Einhängen von Schilden versehen. Die wiederum stapelten sich zuhauf in Gunnars Waffenkammern: Hartholz, verstärkt durch aufgenietete Lederschichten und getriebene Eisenbänder. Die Speere standen dicht wie ein Wald. Bespannte Bögen, Äxte und Pfeile mit glänzend scharf geschliffenen Spitzen füllten jeden Winkel aus. Gunnar war zufrieden. Sollten sie nur kommen die Späher und Kundschafter seiner Konkurrenten um den Thron. Sollten sie kommen und sehen, wie ernst Gunnar die dänische Bedrohung nahm und wie stark seine Streitmacht war – und dann sollten sie ihren Herren ausführlich Bericht erstatten. So machte er selber es doch auch. Woher sonst sollte er wohl über die Begebenheiten an den anderen Höfen so gut im Bilde sein. So empfing Gunnar die nun tatsächlich in ungewöhnlicher Zahl auftauchenden Händler, fremden Jäger und Fischer besonders freundlich, zeigte ihnen gern seine volle Werft, und wenn die Tore der Waffenkammern gerade zufällig offenstanden, was machte das schon, wenn sie einen Blick oder zwei hineinwarfen. Er nahm ihnen nichts übel.

Ende März begann er mit den Reisevorbereitungen. Als dann die Wagen mit Decken und Zelten, mit Proviant und Gastgeschenken vollgeladen waren, bestieg er sein Pferd und ritt an der Spitze von 20 Schwerbewaffneten auf die Drachenberge zu. Viele Bewohner des Tales kamen herbei, um dieses Schauspiel zu erleben und Gunnar hatte sich deshalb mit besonderer Sorgfalt gekleidet. Nur zu gut kannte er die Wirkung von deutlich sichtbarem Reichtum und Macht: Beinlinge und Wams aus weichgegerbtem Hirschleder, an den Füßen Stiefel aus Seehundfellen. Bis zu den Schenkeln reichte ihm sein blaugefärbtes Leinenhemd, und auf den Hüften saß ein mit feinziselierten Silberplatten beschlagener Gürtel. An den Fingern steckten goldene Ringe und der weite, capeartige Mantel aus schimmernd-braunem Biberpelz wurde vor der Brust zusammengehalten von einer prächtigen, runden Goldfibel, einem wahren Meisterwerk der Schmiedekunst: Die Midgardschlange wand sich in kunstvollen Drehungen und Verschlingungen schützend um Mitgard, dem Reich der Menschen. Ihre rotglühenden Augen wirkten durchdringend und fast hypnotisierend auf jeden Betrachter, so daß allein ein Blick auf sie ihre magischen Kräfte zu entfesseln schien. Mit der Rechten lenkte Gunnar sein Pferd, in der Linken hielt er den schweren Schild, der in seiner Mitte Gunnars Wappen zeigte: Zwei Berge im Hintergrund, davor eine Eiche, um deren Stamm sich ein Drachen wand. Wer je an Gunnars Glück, an seiner Bestimmung gezweifelt hatte nach dem Fluch des Schamanen, musste sich bei diesem Anblick seines Kleinmutes schämen. Hocherhobenen Hauptes, die Spuren des Alters wie weggewischt durch strahlende Zuversicht, nahm Gunnar die Huldigungen und bewundernden Blicke der Menschen entgegen.

Weit hinter ihm folgte Ingvar, kaum beachtet, mit düsterem Gesichtsausdruck. Sozusagen in letzter Minute hatte sein Vater entschieden, ihn mit auf die Reise zu nehmen; Ingvar wusste warum, und auch was von ihm erwartet wurde. Thormod war nicht gekommen, Leif war als Schmied im Tal unentbehrlich, blieb nur noch er, Ingvar, als zweite Wahl. Je länger sie unterwegs waren, desto verhasster wurde ihm diese Reise – es war äußerst anstrengend, das Tempo, das sein Vater vorlegte, mitzuhalten. Es gab nur wenige, kurze Pausen und die

Mahlzeiten waren auf das Nötigste beschränkt. Hinzu kam, dass die Nächte im Wald voller Gefahren und wegen der Jahreszeit noch bitter kalt waren. Der unangenehmste Teil stand ihm jedoch noch bevor, die Tage der Versammlung selber. Ingvars Aufgabe war es, Tag und Nacht über die Sicherheit seines Vaters zu wachen, Augen und Ohren überall zu haben, um nur ja jeden Hinweis auf eine Feindseligkeit, einen Verrat, rechtzeitig aufzuschnappen. Ingvars Miene wurde immer verdrießlicher, je länger dieser Alptraum von Reise anhielt und je näher sie dem vereinbarten Ort kamen.

Gunnar hatte mit Vorbedacht einen Platz gewählt, den er von seinen Jagdausflügen gut kannte. Erst als er ganz sicher war, dass alle anderen bereits eingetroffen waren, zog er mit seinem Troß ins Lager. Die Wirkung war ähnlich der seiner Abreise und von Gunnar voll beabsichtigt. Langsam ritt er an den Zelten entlang und hielt dort, wo ein fürstliches Wappen am Eingang aufgepflanzt war, um seinen Gruß zu entrichten.

Als erster war da Gisle, der Jarl von Flamesund. Ein Fabelwesen mit drei Köpfen, halb Adler, halb Schlange, zierte seinen Schild.

Daneben standen die Quartiere von Ragnar ohne Haar, Fürst von Storfjell. Auf seinem Wappen war ein Reiter auf einem Schlachtroß dargestellt, das Schwert zum Angriff gezückt.

Im Halbkreis schlossen sich an:

Grudrik von Svarland, im Wappen einen hochaufgerichteten Bären, umgeben von Wäldern.

Njal von Storumokk, auf dessen Schild eine Kampfszene zu sehen war.

Thorleif Scharfohr, Fürst von Trollstad. Sein Wappen war mit einem Schiff voller Krieger auf hoher See geschmückt.

Damit waren die mächtigsten Männer des Landes an diesem Ort versammelt. Gunnar war überrascht über die fast heiter entspannte Atmosphäre, die ihn empfing. Je länger er jedoch im Lager weilte, desto rätselhafter und merkwürdiger wurde ihm ihr Verhalten: Ein belustigter Blick hier, ein spöttisches Grinsen dort. Irgendwas stimmte nicht, Gunnar fühlte es bis in die Haarwurzeln.

Am Tag nach seiner Ankunft begannen die Unterredungen, nicht jedoch bevor man Odin einen Widder geopfert hatte, das heißt, die besten Teile davon, während das übrige an Spießen über dem Feuer gedreht wurde. Fässer mit Bier wurden geöffnet und die vollen Becher in einem Zug geleert auf das gute Gelingen.

Ragnar, der Älteste unter ihnen, ergriff als erster das Wort.

„Gunnar von Dragensfjell,“ begann er, „wir alle haben deine Nachricht im letzten Herbst erhalten, und wie du siehst, haben wir deine Sorgen ernst genommen und sind vollzählig erschienen. Auch wir wollen unser Land gegen Feinde schützen. Und deshalb bitten wir dich, uns noch einmal selber alles mitzuteilen, was du über die Absichten der Dänen weißt. Vielleicht haben deine Boten deine Worte verdreht, und es sollen doch zwischen uns keine Missverständnisse entstehen.“

Gunnars Bauchmuskeln zogen sich zusammen. Was hatte das zu bedeuten? Verdrehte Worte, Mißverständnisse ...? Er sah sich im Kreis um, konnte aber aus ihren Mienen nichts weiter entnehmen als erwartungsvolles Interesse. Wahrscheinlich war er zu misstrauisch, beruhigte er sich selber.

„Meine Freunde,“ begann er, „ich kann nur hoffen, dass sich meine Boten ihrer Aufgabe würdig erwiesen haben und meine Botschaft gewissenhaft und wortwörtlich an euch weitergegeben haben. Sollte das nicht der Fall gewesen sein, so wird es sich gleich herausstellen und sie würden dann für ihre Unzuverlässigkeit hart bestraft werden.“

„Würdest du sie töten für eine falsche Nachricht?“ fragte Njal lauernd.

Gunnar zuckte zusammen und sagte gedehnt: „Bei einer solch lebenswichtigen Nachricht … ja, ich denke schon.“

Dann tischte er ihnen sein Märchen von dem bevorstehenden dänischen Großangriff auf. Das tat er umso unbekümmerter, als seine Kundschafter an den Höfen ihm versichert hatten, dass seit Monaten keiner der hier anwesenden Häuptlinge einen Fuß auf dänischen Boden gesetzt hatte und auch sonst keinerlei nennenswerte Verbindungen bestanden, so dass sie nicht wissen konnten, was sich dort tat. War er erst einmal der gewählte König, so rechnete sich Gunnar aus, würde er schon Gründe finden dafür, dass kein Krieg stattfindet - zum Beispiel wegen der Angst der Dänen vor dem mächtigen König Gunnar.

„Deshalb,“ schloß er seinen Vortrag, „bin ich in größter Sorge um unser aller Sicherheit und schlage vor, einen unter uns zu wählen, der die schwere Bürde auf sich nimmt, diese Sicherheit zu garantieren … jetzt und für alle Zukunft.“

Es herrschte Stille, Spannung lag in der Luft, auch die Umstehenden spürten es deutlich, insbesondere Ingvar, der schon immer ein Gespür für Ärger hatte. Scheinbar von den anderen verdrängt, ließ er sich aus dem Gewühl herausgleiten und schlenderte unauffällig zu den Pferden. Nach einer fast unerträglich langen Pause sagte Gudrik, und er strich sich dabei nachdenklich über den Kopf:

„Gunnar hat recht, wir sollten versuchen, einen unter uns zu finden, der alle notwendigen Tugenden besitzt: Verstand, Tapferkeit, Stärke – und der den Beistand der Götter hat. Ich schlage deshalb Thorleif aus Trollstad vor.“

„Thorleifs Land liegt viel zu weit im Norden,“ entfuhr es Gunnar, „es sollte jemand weiter südlich sein, der den Feind abfängt noch bevor er weiter ins Land eindringen kann.“

„Das hat was für sich,“ meldete sich nun zum ersten Mal Gisle, „was haltet ihr von Njal, dessen Ländereien liegen nahe der schwedischen Grenze, das sollte südlich genug sein, oder Gunnar?“

„Ich würde dir voll zustimmen, Gisle,“ antwortete Gunnar geschmeidig, „wenn man es nur von der Lage her betrachtet, wäre Njal sicher der Geeigneteste. Aber wir wollen ja auch andere Gründe gelten lassen bei unserer Entscheidung. Njal hat, soviel ich weiß, bei weitem zu wenig eigene Schiffe und Krieger. Wie ihr alle wißt, sind wir aber in Eile, er wird bis zum Sommer unmöglich eine ausreichende eigene Streitmacht aufstellen können.“

„Ragnar, warum schlägst du dich nicht selber vor, du bist der Älteste unter uns, du hättest ein Recht darauf,“ warf Thorleif ein.

Noch ehe Ragnar antworten konnte, stieß Gunnar hervor: „Das ist es ja gerade, dass Ragnar der Älteste ist, sonst wäre ich der erste gewesen, der für ihn gestimmt hätte. Verzeih mir Ragnar, wenn ich ein ehrliches, offenes Wort spreche. Du bist in einem Alter, in dem du längst auf deinem Hof in der Sonne sitzen und mit deinen Enkelkindern spielen solltest. Es sei dir von Herzen gegönnt. Zu deiner Zeit warst du ein starker Mann, aber heute fehlt dir nicht nur dein Haar auf dem Kopf, sondern auch die Kraft in den Armen.“

„Ehrliche, offene Worte schätzen wir alle,“ sagte Ragnar bedächtig und sah Gunnar dabei durchdringend an. „Die Kraft meiner Arme sind nun meine Söhne, sieh sie dir nur an, Gunnar. Und die fehlenden Haare auf meinem Kopf bedeuten nicht gleichzeitig das Fehlen von Verstand … das scheinst du missverstanden zu haben. Aber lassen wir mich erst mal beiseite. Was würdest du zu Gisle sagen?“

„Das geht auf keinen Fall,“ erwiderte Gunnar energisch. „Gisle hat, wie jeder von euch weiß, eine Dänenprinzessin zur Frau. Die Sippe ist heilig, auch bei diesem Dänenpack. Wer garantiert uns, dass sie nicht heimlich Boten in ihr Land schickt und den Plan verrät?“

Und nach einer bedeutungsvollen Pause: „Im übrigen pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass Gisle unter dem Pantoffel seiner Frau steht.“

Der so Beleidigte wurde rot vor Zorn und wäre Gunnar sicher an die Kehle gesprungen, hätte ihn nicht ein strenger Blick Ragnars zurückgehalten und dessen feste Hand auf seinem Arm.

„Gudrik?“ fragte Ragnar.

„Ha, dass ich nicht lache!“ Gunnar wurde wieder übermütig. Vor Eifer hatte er für kurze Zeit sein mulmiges Gefühl im Magen vergessen und auch kein Auge und Ohr für die vielen kleinen Anzeichen von Gefahr.

„Gudrik,“ höhnte er, „soll ich die Geschichte vom großen Nebel erzählen? Wie du dich mit deinem Schiff so verfahren hattest, dass du beinahe in Eisland gelandet wärst statt im eigenen Fjord. Ja, soll ich das erzählen? Oder dass du so einen schlechten Schiffbaumeister hast, dass dir die Ruder reihenweise brechen, die undichten Fugen dich beinahe versenkt hätten, und dass deine Boote wie Spielzeuge auf den Wogen tanzen, weil sie keinen Tiefgang haben, denn deine Kiele sind falsch geschnitten. Wie der Herr, so’s Gescherr, sagt man.“

„Mäßige dich, Gunnar!“ zischte Gudrik. „Oder du wirst auf der Stelle büßen für deine giftige Zunge.“

Aus den Reihen der Umstehenden war aufgeregtes Raunen und Waffengeklirr zu hören.

Ragnar schien unbeeindruckt: „Wer bleibt da noch übrig, wen haben wir noch nicht genannt?“ fragte er und blickte suchend in die Runde. Sein Blick blieb auf Gunnar hängen: „Dich, Gunnar, hat noch niemand vorgeschlagen. Warum hat noch niemand Gunnar vorgeschlagen?“ fragte er erstaunt, ja geradezu überrascht. „Sein Land liegt nicht zu weit im Norden, er hat hervorragende Schiffe, neu geteert und unter Segel, volle Waffenkammern, ein Mann in bestem Alter und … schlau ist Gunnar. Wie ein Fuchs so schlau. Gunnar Fuchsnase … wie gefällt euch das?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Vielleicht bist du aber ein bißchen zu schlau, Gunnar Fuchsnase!“ Seine Stimme hatte nun einen drohenden Unterton angenommen.

„Der letzte Reisende aus Dänemark ist bei mir gelandet. Er war auf dem Wege zu dir, aber der große Herbststurm vor Wintereinbruch hat ihn an meine Küste verschlagen, nicht lange nachdem ich deine Nachricht erhalten hatte. Und kannst du dir denken, was er mir berichtet hat?“

Gunnar wich das Blut aus dem Kopf und deutlich spürte er wieder das flaue Gefühl im Magen. Er riss sich mühsam zusammen und presste hervor: „Natürlich kann ich das. Er wird dir von der gewaltigen Aufrüstung der Dänen berichtet haben, es sei denn, es war ein armseliger Fischer, der nicht weiter als bis zur nächsten Hütte gelangt ist und deswegen keine Ahnung hat.“

„Kein armseliger Fischer, Gunnar. Ein geachteter Kaufmann, der am Fürstenhof war, der Verstand hat, der gute Kontakte im ganzen Dänenland hat. Er hat mir versichert, dass dort auch nicht die geringste Absicht für irgendeinen gemeinsamen großen Krieg zu erkennen war. Wie erklärst du dir das?“

„Damit, dass er dich belogen hat. Odin weiß, warum, ich nicht.“

„Ich habe ihn foltern lassen, er hat nicht gelogen!“ Ragnars Stimme wurde lauter.

„Was soll das überhaupt für ein Reisender gewesen sein?“ fragte Gunnar, mehr um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.

„Dein Sohn Olav!“ donnerte Ragnar und Gunnar fuhr es eiskalt über den Rücken.

Olav – gefoltert – ein Verräter, nein, kein Verräter, er wusste ja nichts von Gunnars Plänen – gestrandet ...

In seinem Kopf jagten sich die Gedanken.

„Wo ist Olav jetzt?“

„Bei mir, er hat nichts als das nackte Leben retten können, alle seine Schiffe sind untergegangen. Er hatte gute Geschäfte mit den Dänen gemacht, war hoch beladen bis zum Rand. Du kannst ihn auslösen oder ihn so lange bei mir lassen, bis er sich ein kleines Schiff erarbeitet hat für die Heimfahrt. Nun ja, die Götter waren nicht auf seiner Seite, Odin weiß, warum, ich nicht! Ich könnte mir allerdings denken, dass Odin den Sohn straft, weil er dem Vater zürnt, denn der Vater hat ein böses Spiel getrieben mit seinen Freunden, weil er unbedingt die Krone wollte. Mit List und Tücke wollte er sie erpressen. Aber da es keine Bedrohung gibt, brauchen wir uns auch heute nicht auf einen König einigen. Wir kommen auch noch lange ohne aus, denn neben deinen vielen Lügen, Gunnar, hast du auch einiges Wahres gesagt. Keiner von uns wäre der ideale König, der muss noch heranwachsen oder sogar erst geboren werden. Doch nun zu deinen Intrigen und Ränken, Gunnar Fuchsnase von Dragensfjell. Wenn ich mich recht erinnere, wolltest du den Boten, der eine falsche Nachricht überbringt, hart bestrafen. Was soll nun deiner Meinung nach mit dem Erfinder falscher Nachrichten geschehen?“

Ein allgemeines Stimmengewirr erhob sich.

„Werft ihn die Klippen hinunter,“ schrie jemand.

Und ein anderer: „Vierteilt ihn!“

„Hängt ihn auf!“

Ein Tumult entstand. Ein Reiter sprengte rücksichtslos durch die Reihen der Umstehenden und zog dabei ein zweites Pferd hinter sich her.

„Vater!“ schrie Ingvar. „Spring auf!“

Er warf Gunnar die Zügel zu und galoppierte davon. Gunnar fühlte sich wie in einem Traum, er schnellte hoch, warf sich in den Sattel und sprengte Ingvar nach. Hinter sich hörte er Pferdegetrappel von vielen Hufen – er trieb seinen Hengst zu noch größerer Eile an. Hätte er sich auch nur einmal umgedreht, dann hätte er bemerkt, dass es seine eigenen Leute waren, die Hals über Kopf hinter ihnen herjagten, Wagen und Zelte auf ihrer panischen Flucht zurücklassend. Die Versammlung verwandelte sich in ein lärmendes Chaos, alles schrie und lief durcheinander, bis Ragnars dunkle, volltönende Stimme endlich für Ruhe sorgte: „Lasst ihn laufen, er ist genug bestraft. Was würde uns ein Blutvergießen bringen? Nichts! Gunnar wird für lange Zeit still sein und sich nicht rühren.“

Gunnar jagte durch den Wald. Ingvar musste irgendwo vor ihm sein. Als es Abend wurde, war ihm klar, dass er weit vom Weg abgekommen war, weder Ingvar noch sonst irgendjemand von seiner Begleitung war in der Nähe. Hungrig und frierend legte er sich unter ein kahles Gestrüpp, schabte das alte, welke Laub vom letzten Jahr nahe an sich heran und hoffte, dass weder Wölfe noch Bären in der Nähe sein würden und seine Witterung aufnähmen. Er hatte nichts weiter als ein Jagdmesser behalten. An einigen Stellen wuchs schon frisches Grün und sein Pferd biß gierig die Schößlinge ab. Als sie am nächsten Tag an einen Fluss kamen, gelang es Gunnar, eine Forelle zu fangen und er verschlang ihr Fleisch roh. Die Ereignisse der letzten Tage nagten unaufhörlich an ihm, auf nichts anderes konnte er sich konzentrieren. Wie stolz und zuversichtlich war er losgezogen, was würde man nun im Tal über ihn flüstern? Wahrscheinlich, dass er vom Glück verlassen war. Ein Häuptling konnte abgesetzt oder sogar vertrieben werden, wenn seine Untertanen ihn von den Göttern verlassen glaubten. Er würde Schuld haben an Mißernten, an Dürrezeiten und Sturmfluten, an Krankheiten und Fehlgeburten....

Embla, fuhr es ihm durch den Kopf. Was hatte der Schamane gesagt? Das Kind wird geboren werden und er, Gunnar, würde es eines Tages zu seinem Nachfolger erklären. Was aber geschah dann mit Thormod? Hatte das Schicksal seinen Ältesten vielleicht schon geschlagen wie Olav? Lebte er überhaupt noch?

Gunnars Pferd schnaubte erregt und bäumte sich auf. Aus seinen Gedanken gerissen und todmüde brauchte er eine Weile, bis er den Schamanen erkannte. Er saß vor seiner Höhle und war in ein Bärenfell gehüllt. Ohne Kopfputz, ohne Bemalung sieht er fast wie ein ganz gewöhnlicher Mann aus, dachte Gunnar. Nur die Ketten um seinen Hals waren die gleichen wie an dem Abend, als er so unversehens in das Erntedankfest geplatzt war. Gunnar starrte ihm ins Gesicht. Da, wo das rechte Auge hätte sein müssen, war nur eine runde, tiefliegende Höhle. Gunnar schauderte, Odin war auch einäugig.

„Setz dich und iß, was ich für dich zubereitet habe,“ sagte der Schamane freundlich. Gunnar stieg vom Pferd und band es an einen Baum.

„Du wusstest, dass ich komme? Ich wusste es nicht einmal selber,“ murmelte er und setzte sich. Ohne dass einer von ihnen ein Wort sprach, schlang Gunnar heißhungrig gebratenes Fleisch und Brot in sich hinein und spülte es mit Wasser hinunter.

Ein lauter Rülpser entfuhr ihm und der Schamane sah ihn belustigt an.

„Willst du sprechen oder bist du zu müde?“ fragte er.

Gunnar war viel zu neugierig, als dass er seine Erschöpfung noch gespürt hätte. Deshalb sprudelte er alle Fragen, die ihn quälten, auf einmal heraus: „ Wo ist Thormod? Ist das Kind von Embla und Ymir geboren? Werde ich Olav wiedersehen? Warum ist Ingvar geflohen statt zu kämpfen? Warum bin ich gescheitert? Warum ist Odin nicht mehr mit mir?“

„Thormod ist in Walhall eingezogen … und wenn es dich tröstet, so versichere ich dir, dass er gekämpft hat wie ein Mann. Gegen vier Feinde gleichzeitig. Dann traf eine Lanze ihn mitten ins Herz. Er war auf der Stelle tot, er hat nicht lange leiden müssen.“

Gunnar vergrub sein Gesicht in den Händen. Wieviel Schicksalsschläge musste er noch ertragen?

„Woher weißt du das alles?“ flüsterte er heiser.

„Das ist meine Sache,“ antwortete der Schamane bestimmt. Dann fuhr er fort: „Das Kind wird geboren werden, wenn auch du neu geboren wirst.“

„Was heißt das, ich verstehe kein Wort,“ Gunnars verzerrtes Gesicht blickte zu ihm auf.

„Du wirst sehen, warte ab. Was deinen Sohn Olav betrifft, so hat er sich entschieden, nicht eher in deinen Fjord einzulaufen, bis er wieder zu Wohlstand gekommen ist. Olav ist ein stolzer Mann, respektiere seine Entscheidung. Dein Sohn Ingvar ist geflohen, weil ihr euch Feinde geschaffen habt und sie in der Überzahl waren. Ihr hättet alle euer Leben verloren, wenn es zu einem Kampf gekommen wäre. Aber,“ fügte er nach einer Pause hinzu, „Ingvar wäre auch geflohen, wenn nicht so viele Männer gegen euch gestanden hätten, denn Ingvar ist feige und faul. Du weißt es, also bau niemals auf Ingvar, hörst du!“

Gunnar starrte verbittert in die knisternden Flammen.

„Und nun kommt deine schwierigste Frage, warum du gescheitert bist und ob die Götter dich verlassen haben.“

Der Schamane schaute eine Weile hoch hinauf zum Himmel, der erste Stern funkelte und blinkte direkt über ihnen, so als wollte er ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken.

„Du bist gescheitert an dir selber, Gunnar von Drachenbergen, und nicht die Götter haben dich verlassen, sondern du hast sie verlassen, das ist ein Unterschied. Ich werde dir erklären, was ich meine, aber morgen und übermorgen. Du wirst solange bei mir bleiben, bis du begriffen hast. Geh jetzt schlafen!“

Gunnar hatte nicht mehr die Kraft zu widersprechen. Er legte sich auf das mit trockenem Moos und Fellen hergerichtete Lager und fiel augenblicklich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Als er am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich wunderbar erholt und beschloss, den Schamanen zu verlassen, ganz gleich, was dieser gefaselt hatte von einem längeren Aufenthalt bei ihm. Nein, er hatte keine Lust, hier länger als unbedingt notwendig zu verbringen. Sein Kopf war wieder klar, er würde den Heimweg nun finden. Der Schamane war nirgends zu sehen und Gunnar sattelte sein Pferd. Aber je weiter der Tag fortschritt, desto unbekannter erschien ihm der Wald, es war ihm, als wenn er sich im Kreise drehte. Gerade, als er sich sein Nachtlager herrichten wollte, stand er wieder vor der Höhle des Schamanen.

„Du kannst mir schon glauben,“ sagte der und in seinem Auge blitzte es auf, „es ist besser für dich, wenn du eine Weile bei mir bleibst.“

Sieben Tage blieb Gunnar, und in dieser Zeit erfuhr er mehr über die Menschen, über die Götter, das Leben und vor allem über sich selber als in all den Jahren seines Lebens zuvor. Jeden Morgen schwamm er im nahen, eiskalten Fluß, angelte für’s Frühstück und jagte für’s Abendessen. Es war eine wunderbare Zeit, so fand er und fast tat es ihm leid, als er sich am Ende des siebten Tages von dem Schamanen verabschiedete.

„Morgen früh werde ich aufbrechen, es ist Zeit, ich muss zurück in mein Tal,“ sagte er, „ich habe so viel von dir gelernt, dass ich das Gefühl habe, dass mein Verstand gewachsen ist. Du warst wie ein Freund zu mir … warum?“

„Wenn du wirklich wachsen willst,“ antwortete der Schamane, „musst du eine Idee haben und ihr folgen, sonst folgst du nur eitlen Wünschen. Denk darüber nach auf deinem Weg. Aber zerbrich dir nicht den Kopf darüber, warum ich dir geholfen habe. Und noch was, Ragnar hat Olav nicht gefoltert, er hat ihn vielmehr gastfreundlich aufgenommen. Ich sage dir das, damit nicht unnötiges Blutvergießen entsteht zwischen euch.“

„Sehen wir uns wieder?“ fragte Gunnar.

Der Schamane lächelte: „Vielleicht!“

Als Gunnar am nächsten Morgen erwachte, war der Schamane schon fort. Er bestieg sein Pferd und ritt in den Frühlingsmorgen hinein. Er lauschte dem Gesang der Vögel, bemerkte das zarte Grün der Knospen und tauchte in die Lichtkegel, die sich bildeten, da, wo die Sonne eine Lücke fand zwischen den dichtstehenden Bäumen. Der Wald schien ihm so verändert, oder war er es selber? Tief zog er die würzige, nach Erde riechende Luft ein. Eine wunderbare, nie gekannte Freude und Wärme durchflutete ihn und er dachte an sein Tal, seine Familie und all die anderen Menschen, die dort lebten. Ganz leicht fand er den Weg zur Schlucht, und je näher er kam, desto froher wurde er. „Wie neugeboren!“ jubelte es in ihm – Gunnar riß sein Pferd am Halfter und blieb abrupt stehen. „Was war das? Neugeboren … waren das nicht die Worte des Schamanen gewesen?“

Gunnar preschte los, es war fast dunkel, aber sein Pferd kannte nun den Weg. Schon von weitem schrie er der Wache auf dem Felsen zu: „Ich bin’s, Gunnar von Dragensfjell!“

Der Wächter erkannte die Stimme sofort, sah aber nichts weiter als eine vorbeigaloppierende, schemenhafte Gestalt. Er setzte das Horn an die Lippen und blies sein Signal hinunter ins Tal.

Gunnar hielt direkt auf Ymirs Haus zu, sprang vom Pferd und stieß die Tür auf. Erschreckte Gesichter starrten ihn an. Embla lag auf dem Bett mit schmerzverzerrtem Gesicht, während Grima ihre Hand hielt. Ymir und Skadi standen hilflos in einer Ecke. Da stieß Embla einen durchdringenden Schrei aus und gebar ihren Sohn. Grima durchtrennte die Nabelschnur und hielt das Kind an den Füßen hoch, was diesem ganz und gar nicht gefiel, denn sofort fing es an, aus Leibeskräften zu schreien, bis sein runzliges Gesichtchen krebsrot vor Anstrengung war – und vielleicht auch vor Zorn wegen der rüden Behandlung gleich zu Beginn seines Erdenlebens.

Gunnar hatte mehr Geburten erlebt als alle anderen Anwesenden und so nahm er geschickt das in Tücher gewickelte Kind aus Grimas Händen, ging mit ihm hinaus vor die Tür und streckte es hoch empor, denn die Götter sollten es sehen.

„Odin,“ schrie er, „das ist Logi, mein Enkel! Segne ihn, wie ich es auch tun werde!“

Die Nachricht von Gunnars Rückkehr verbreitete sich wie ein Lauffeuer und eine Menge Volk versammelte sich vor Ymir’s Haus. Ein gewaltiger Jubel brach los. Nicht nur die Freude über das Neugeborene, sondern auch die Erleichterung darüber, dass ihr Fürst wohlbehalten zurückgekehrt war, machte sich Luft. Alle hatten sie sehnlichst darauf gewartet, denn der längst heimgekehrte Ingvar hatte seiner Schar Schweigen über die Ereignisse bei der Versammlung und die anschließende Flucht befohlen. Rechenschaft darüber, warum Gunnar nicht bei ihnen war, war er niemandem schuldig. Vage hatte er von Geschäften, die Gunnar noch alleine erledigen wollte, gesprochen. Aber je mehr Zeit verstrich, ohne dass Gunnar heimkehrte, desto unruhiger war man im Tal geworden, zumal durchsickerte, dass Thormod tot war und die Aussicht auf einen Anführer Ingvar alle geängstigt hatte.

Auch Embla und Ymir waren über alle Maßen glücklich, und der Name, den Gunnar ihrem Sohn so eigenmächtig gegeben hatte, gefiel ihnen. Ymir nahm sich vor, aus Logi den besten Bootsbauer zu machen, besser noch als Skadi und er selber. Wenn er nur erst laufen könnte, und sprechen, damit er mit seiner Ausbildung beginnen könnte.

Embla dagegen vergaß nicht einen einzigen Tag, was der Schamane prophezeit hatte und nahm sich vor, aus Logi den zukünftigen Fürsten von Drachenbergen zu machen. Wenn er nur erst laufen könnte, und sprechen, damit sie mit seiner Ausbildung beginnen könnte. Nie wieder missbrauchte sie das Holz für andere Zwecke als es dankbar zu berühren und dabei an ihre geheimen Wünsche zu denken. Sie glaubte fest daran, dass es ihnen allen Glück gebracht hatte und auch weiterhin bringen würde. Selbst als ihnen kein weiteres Kind geboren wurde und somit Logi ihr einziges blieb, zweifelte sie nicht daran.

Gunnar unterteilte seine Schiffe wieder in eine Handels- und eine Kriegsflotte, denn, wie zu erwarten war, ließ sich kein dänisches Heer blicken. Hier und da gab es kleinere Scharmützel wie jedes Jahr, mal raubte der eine, mal plünderte der andere, nichts Außergewöhnliches. Im Sommer schickte er eines seiner Schiffe mit Geschenken beladen zu Ragnar, weil er Olav gut behandelt hatte und um seinen Sohn endlich zur Heimkehr zu bewegen. Aber Olav war nicht mehr da, denn Ragnar hatte ihn als seinen Unterhändler auf Reisen geschickt. Wenn die Geschäfte gut laufen würden und der Gewinn zufriedenstellend wäre, sollte der Lohn für Olav eins der kleineren Schiffe Ragnars sein, mit dem er wieder sein eigener Herr wäre und seinen eigenen Gewinn erwirtschaften könnte. Ragnar nahm indes die Geschenke Gunnars an, was Gunnar so deutete, dass sie nun quitt waren und sein Übertölpelungsversuch vergeben und vergessen war. Was den Zusammenschluss zu einem vereinigten Königreich betraf, so wurden keine neuen Gespräche darüber geführt. Die Fürsten wollten in ihrer Macht nicht eingeschränkt werden, und so behaupteten sie, dass keiner von ihnen alle erforderlichen Qualifikationen besäße. Gegen Gunnars listige Pläne hatten sie sich gemeinsam zur Wehr gesetzt – gegen ihn vorzugehen, ihn anzugreifen, ihn zu strafen, darüber konnten sie sich nicht einigen. Und alleine wagte es niemand, denn Gunnar war stark und sein Gebiet fast uneinnehmbar.

Logi wuchs indes heran und war mit seinen strahlend blauen Augen und seinen wilden, rotblonden Locken jedermanns Liebling. Als er etwa vier Jahre alt war, sagte Embla zu ihm: „Ab jetzt werde ich dich unterweisen in den Schriftzeichen, bis du ihre Bedeutung kennst und sie selber anwenden kannst. Sechzehn Zeichen gibt es,“ erklärte sie, nahm einen Stock und ritzte Runen in den feuchten, weichen Lehmboden vor ihrem Haus. „Das sind die ersten sechs … nun versuch du es.“

Logi war ein aufmerksamer Schüler. Nie war ihm etwas langweilig, oder zuviel, oder lästig. Nein, Logi war das neugierigste Kind, das Embla sich nur wünschen konnte, und darum lernte er leicht und schnell.

„Logi,“ sagte Ymir, „du bist nun kräftig genug, du wirst ab sofort mein Lehrling. Als erstes genügt es, wenn du dich immer so stellst, dass man dich sieht. Am Abend sammelst du herumliegendes Werkzeug auf und ich sage dir, was es ist und wozu man es braucht. Wenn du in einen Nagel trittst, tut es nicht nur weh, du musst auch mehrere Tage lang im Bett bleiben.“

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9783847669975
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