Читать книгу: «Ymirs Rolle», страница 2

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Die kleine Flotte aus drei Schiffen mit je 15 Mann an Bord segelte in südwestlicher Richtung an der Küste entlang, änderte den Kurs am Stirnbogen des Landes scharf nach Süden und fuhr dann in gerader Linie, außer Sichtweite der gefährlichen dänischen Küste und an den vorgelagerten Inseln vorbei, in eine der Flussmündungen des Sachsenlandes.

Um die Mittagszeit des sechsten Tages nach ihrer Abfahrt erreichten sie einen Nebenfluss und Erik, der das Kommando über die Flotte führte, ließ die Flagge von Dragensfjell aufziehen und gab das Zeichen zum Abbiegen. Die Einfahrt war eng und dichtes Buschwerk zu beiden Seiten des Ufers versperrte jede Sicht auf das Land dahinter. Erik sah, wie Ymir die Stirn runzelte und sagte deshalb zu ihm: „Diesen Nebenfluss hat Gunnars Vater vor Jahren entdeckt und auch den Stützpunkt gegründet. Wart’s nur ab!“

Eine ganze Weile fuhren sie weiter, bis der Fluss in einen See mündete, umgeben von dichtem Strauchwerk und Binsen. Hinter einer Landzunge, den Blicken zunächst verborgen, glitten sie in eine Bucht und auf einen Holzsteg zu, an dessen Pfählen zwei Drachenboote befestigt waren. Zwei weitere lagen auf dem kiesigen Uferstreifen.

Ein langgezogenes Signal ertönte und kurz darauf erschien ein Mann, der ihnen heftig gestikulierend ihre Anlegestellen zuwies. Kaum hatten sie den Landesteg hinter sich gelassen, lichtete sich das Dickicht und gab den Blick frei auf eine weite, flache Landschaft und die durch einen Palisadenzaun und davorliegendem Graben geschützte Siedlung.

Als sie am Abend an der Feuerstelle des Gemeinschaftshauses saßen und alle Grüße aus der Heimat überbracht und alle Nachrichten ausgetauscht waren, sagte Björn, der Dorfvorsteher: „Übermorgen werden wir aufbrechen mit zwei von unseren Schiffen und zwei von euren. Mit viel Glück finden wir ein Gehöft, das noch nicht aufgegeben wurde. Diejenigen, die im Herbst zurück nach Norwegen fahren, müssen Gunnar die Nachricht bringen, dass das Land hier weit und breit leer und verlassen ist. Er wird nicht gerade erfreut sein, aber hier ist nichts mehr zu rauben. Sagt ihm, dass wir die Siedlung halten wollen, aber als Viehzüchter und Ackerbauern.“

Björn machte eine kleine Pause, nahm einen kräftigen Schluck Bier und fuhr dann fort: „Vor vier Tagen hatten wir einen gewaltigen Sturm, einige Häuser und zwei Boote sind stark beschädigt worden. Ich brauche ein paar Männer, die zum Schutz der Frauen und Kinder hier bleiben und gleichzeitig die Schäden beheben. Es ist nicht zufällig einer unter euch, der was von Holzarbeiten versteht? Seit Hakon, unser Schiffbauer, gestorben ist, tun wir uns schwer.“

Ymir kratzte sich das Kinn und meldete sich zögerlich, wusste er doch nicht, ob er sich freuen sollte oder nicht. Auf der einen Seite war er ganz froh, nicht am Raubzug teilnehmen zu müssen, er verabscheute die Greueltaten, die oft damit verbunden waren. Auf der anderen Seite erwarteten Embla und Gunnar ganz sicher wenigstens eine kleine Heldentat von ihm. Um Häuser und Schiffe zu reparieren hätte er diese lange Fahrt wirklich nicht unternehmen müssen, das konnte er auch zuhause.

Ich bin Schiffbauer,“ sagte er.

Das ist das beste, was uns passieren konnte,“ Björn war hocherfreut „dann übernimmst du die Verantwortung für alle Reparaturen, und fang beim Zaun an, den hat’s ordentlich erwischt. Wenn du mit allem fertig bist, kannst du uns ein zusätzliches Schiff bauen, wer weiß, wann wir wieder einen Schiffbauer unter uns haben.“

Dann bestimmte er einige weitere Männer, die sich nur murrend und widerwillig seinem Befehl fügten, bei Frauen und Kindern daheim zu bleiben, während die anderen in den Kampf zogen.

Am übernächsten Tag fuhren sie mit vier Schiffen stromaufwärts. Ymir sah sich etwas gründlicher im Dorf um: 38 Häuser standen zu beiden Seiten einer Straße, die mitten durch die Ansiedlung führte. Jedes Haus hatte seinen eigenen Gemüse- und Kräutergarten auf der Rückseite, und auch ein Stück Wiese für Hühner und Enten. Es gab ein Langhaus für die Männer, die sich nur zeitweise bei ihnen aufhielten oder noch keine Familie gegründet hatten, das Gemeinschaftshaus für Versammlungen, Ställe für Pferde, Schweine, Schafe und Ziegen, ein Backhaus aus Natursteinen erbaut, einen rund gemauerten Brunnen und außerhalb des Dorfes die Begräbnisstätte, die mit großen Steinbrocken markiert war, deren Anordnung den Umriss eines Schiffes erkennen ließ.

Nachdem Ymir alle Schäden festgestellt hatte, ritt er mit zwei Helfern in den nahegelegenen Wald, wo sie das notwendige Holz schlugen, entfernten die Äste und ließen die Stämme von den Pferden ins Dorf und zum Fluss an Ymirs zukünftigen Schiffsbauplatz ziehen. Als sie an einem Steinbruch vorbeikamen, entdeckte Ymir an dessen Rand eine kräftig gewachsene Baumart, die er nie zuvor gesehen hatte.

Auf keinen Fall,“ warnten die Männer erschrocken, als sie sahen, dass er Anstalten machte, den Baum zu fällen, „Björn würde das nie erlauben, er trägt Früchte, die im Herbst reif werden. Lass dir von seiner Frau Inga welche vom letzten Jahr geben, falls du sie nicht kennst..“

Früchte vom letzten Jahr? Wie schafft sie es, sie so lange frisch zu halten?“ fragte Ymir erstaunt.

Die Männer lachten lauthals: „Nicht nötig, mit ihnen irgendwas zu machen … aber wenn du sie essen willst, mußt du starke Zähne haben.“

Natürlich war Ymir jetzt richtig neugierig geworden und ging gleich zu Inga. Sie holte eine Schüssel hervor, die angefüllt war mit kleinen, verschrumpelt aussehenden Kugeln.

Probier sie!“ forderte sie ihn auf.

Als er sie unschlüssig in der Hand drehte, sagte sie: „Wenn dir deine Zähne lieb sind, versuch nicht , sie damit zu knacken. Leg sie auf den Tisch und hau mit der Faust drauf. Nur was drin steckt, kann man essen. Die Einheimischen nennen sie Walnüsse. Leider gibt es hier in der Umgebung nur diesen einen Baum am Steinbruch. Vor Jahren stand ein zweiter daneben, aber der ist irgendwann abgestorben. Sieh dir die Schüssel an,“ Inga kippte die Nüsse in einen Eimer, „und diese Löffel hier, das ist alles aus dem Wurzelholz des Walnussbaumes. Mein Vater Hakon war Schiffbauer und Schnitzer. Was sagst du dazu?“

Es war das schönste an Wurzelholz, was Ymir je gesehen hatte. Diese schwungvollen Maserungen, diese wolkigen Muster und Linien, die feinen Grau- und Brauntöne. Er strich bewundernd über die weiche, glattgeschmirgelte Oberfläche.

Wenn du irgendwo einen abgestorbenen oder kranken Walnussbaum entdecken solltest, was ich nicht glaube, denn wir haben schon alle danach gesucht, dann grab die Wurzel aus. Du bekommst wertvolle Geschenke für alles, was du daraus schnitzt. Alle Frauen im Dorf möchten Schüsseln aus Walnussholz, sie beneiden mich um meine.“

Ymir steckte die beiden mit einem feinen Häutchen umgebenen Hälften der Nuss in den Mund.

Hast du schonmal sowas köstliches gegessen?“ fragte Inga. „Dabei sind sie auch noch sehr nahrhaft, denn sie sind voller Fett. Und wie du siehst, kann man sie monatelang aufbewahren. Ich weiß nicht, warum der Walnussbaum so selten ist, vielleicht ist es ihm nicht warm genug in unserem Land. Jedenfalls haben wir mehrmals vergeblich versucht, Schößlinge anzupflanzen, sie sind alle eingegangen.“

Vier Wochen waren vergangen, als Björn mit seiner Flotte wieder zurückkehrte. Einen einzigen Gutshof hatten sie gefunden und ihn abgebrannt bis auf die Grundmauern. Ein armseliges Dorf hatten sie links liegengelassen, mehr aus Hochmut denn aus Mitleid mit den entsetzten Bewohnern.

Die vom Gutshof haben uns frühzeitig kommen sehen und sind in die Wälder geflüchtet,“ Björn zuckte mit den Schultern, „es wäre sinnlos gewesen, sie zu verfolgen. Wir haben alles mitgenommen, was wir brauchen können.“

Ymir starrte auf den Jungen, der gefesselt in einem der Boote lag. Etwa 12 Jahre alt mochte er sein, verdreckt, zerlumpt und spindeldürr. Björn folgte seinem Blick: „Eine von unseren Eroberungen,“ sagte er leichthin.

Obwohl sein Gesicht vor Schmerz verzerrt war, gab der Junge keinen Laut von sich.

Ist auf der Flucht gestürzt und hat sich wohl den Fuß verstaucht. In ein paar Tagen wird er wieder arbeiten können, sonst hätten wir ihn nicht mitgeschleppt.“

Ich könnte einen Gehilfen brauchen zum Nägelschnitzen für dein neues Schiff,“ sagte Ymir schnell, „dabei braucht er seine Füße nicht.“

Meinetwegen,“ brummte Björn.

Ich habe mir unten am Fluss eine Hütte gebaut, gleich neben meinem Arbeitsplatz. Er kann dort mit mir wohnen.“

Meinetwegen,“ rief ihm Björn mit abgewandtem Gesicht zu, denn er war schon auf dem Weg nachhause.

Ymir hob den Jungen auf die Schulter, trug ihn zu seinem neuen Holzhaus und legte ihn auf das Lager aus Stroh und Decken. Der Raum war groß genug für zwei, er würde sich ein anderes herrichten. Vorsichtig tastete er den Fuß ab und der Junge stöhnte.

Hab’ ich mir’s doch gedacht … dein Knöchel ist gebrochen, aber sag das besser niemandem. Ich muss den Knochen richten, sonst wirst du nie mehr richtig laufen können. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.“

Der Junge verstand kein Wort, aber er ahnte, was Ymir ihm sagen wollte und nickte. Ymir steckte ihm ein Stück Leder in den Mund: „Beiss feste drauf, es wird weh tun!“

Dem Jungen trat der Schweiß auf die Stirn und er schloss die Augen. Ymir packte den Fuß und es gab ein schrecklich knirschendes Geräusch, der Junge verlor das Bewußtsein. Als er wieder aufwachte, war sein Fuß geschient und mit Lappen fest umwickelt. Neben seinem Lager stand ein Krug mit Wasser, auf einem Stück Holz lagen Brot und Käse. Der Junge aß gierig, dann schlief er erschöpft ein.

Als er am nächsten Morgen erwachte, setzte sich Ymir vor ihn, tippte sich mit dem Finger auf die Brust und sagte: „Ymir!“ Dann zeigte er auf den Jungen und fragte: „Wie heißt du?“

Der Junge begriff und antwortete: „Widukind.“

Widukind,“ wiederholte Ymir, „das wäre schonmal geklärt.“ Dann rümpfte er die Nase und fügte hinzu: „Du brauchst dringend ein Bad, und auch was anderes zum Anziehen, diese Fetzen halten keinen Tag länger.“

Er überlegte eine Weile, dann ging er zu Inga ins Dorf.

Wenn ich dir zwei Löffel mache aus Wurzelholz, gibst du mir dann einen Kittel und einen Gürtel für den Jungen?“

Wann?“ fragte Inga.

Den Kittel brauche ich sofort, die Löffel bekommst du später. Ich muss erst für deinen Mann ein Schiff bauen, danach mache ich mich auf die Suche nach einer Wurzel.“

Was soll das für ein Geschäft sein?“ lachte sie und gab Ymir das Kleidungsstück und einen geflochtenen Strick, um es in der Mitte zusammenzuhalten.

Zufrieden lief Ymir zurück zu Widukind, nahm ihn auf den Arm und setzte ihn kurzerhand an einer seichten Stelle des Sees ins Wasser, den neuen Kittel legte er ins trockene Gras. Jeden Tag versorgte er seinen Fuß, indem er einen frischen Kräuterbrei auftrug, wie er es von Grima gelernt hatte. Geduldig zeigte er ihm, wie man Holznägel schnitzt und fütterte ihn so gut, dass Widukind schon bald nicht mehr ganz so dürr und armselig aussah. Nach vier Wochen nahm er ihm die Schienen ab und der Junge machte seine ersten unsicheren Gehversuche.

Bald läufst du wieder wie ein Hase. Du kannst von Glück sagen, dass du nicht für den Rest deines Lebens humpeln musst,“ sagte Ymir und benutzte Hände und Füße, um sich einigermaßen verständlich zu machen. Widukind schnitzte nicht nur hervorragende Nägel, er lernte auch in kürzester Zeit viele Worte von Ymirs Sprache, so dass sie sich von Tag zu Tag besser verständigen konnten.

Die Reparaturarbeiten im Dorf und am Palisadenzaun waren längst beendet und auch Björns neues Schiff fast fertig. Während all der Wochen war Ymir regelmäßig auf die Jagd gegangen, um für sich und den Jungen Fleisch zu beschaffen, wobei er ständig nach Walnussbäumen Ausschau hielt. Aber vergeblich – weder einen gesunden, noch einen kranken oder abgestorbenen konnte er entdecken. Widukinds Wortschatz erweiterte sich indes schnell, so dass Ymir ihm von diesem innigsten Wunsch erzählen konnte, und auch von dem Hochzeitsgeschenk, das er für Embla daraus schnitzen wollte. Widukind wiederum beschrieb den einst so stolzen, großen Gutshof seines Vaters mit den vielen Menschen, die dort lebten und arbeiteten. Je länger sie beieinander waren, desto freundschaftlicher und vertrauensvoller wurde ihr Verhältnis, ein bißchen wie zwei Brüder, fand Ymir und dachte mit Schrecken daran, Widukind zurücklassen zu müssen, wenn er im Herbst wieder nach Norwegen fahren würde. Wie konnte er es verhindern, dass der Junge zum Sklaven würde? Björn wartete nur darauf, den inzwischen wieder gesunden, kräftigen und geschickten Jungen für sich arbeiten zu lassen.

Während Ymir sich darüber den Kopf zerbrach, beschloss Björn, mit einigen seiner Männer einen längeren Jagdausflug zu unternehmen zu einem entfernt liegenden Wald, wo es Wildschweine und Hirsche in Hülle und Fülle gab, damit allmählich ein Wintervorrat an Wild eingelagert werden konnte. Je nach Jagdglück rechnete man mit etwa zwei Wochen bis zur Rückkehr. Das brachte Ymir auf die rettende Idee. Zwei Tage lang erwog er sehr sorgfältig sein Vorhaben, dann war der Plan fertig und Ymir entschlossen, ihn durchzuführen - die Abwesenheit von Björn kam wie gerufen, es war unwahrscheinlich, dass eine weitere günstige Gelegenheit auftauchen würde.

Inga,“ sagte er zu Björns Frau, „was hältst du davon, wenn ich mich ernsthaft auf die Suche begebe nach einer Wurzel, ich meine, in einem viel weiteren Umkreis als bisher. Du weißt selber, dass hier nichts zu finden ist. Außerdem stehe ich in deiner Schuld und möchte gern mein Wort halten. Aber dazu bräuchte ich ein Pferd mit Wagen.“

Inga sah ihn nachdenklich an, ein Pferdefuhrwerk war ein wertvoller Besitz.

Ach lass nur, wenn du es nicht entscheiden kannst, warte ich eben, bis Björn wieder da ist. Es hätte nur gerade ganz gut gepasst … das Schiff muß ein paar Tage trocknen, ehe ich weiterarbeiten kann … war nur so eine Idee von mir... „ Ymir tat so, als wolle er gleich wieder gehen. Wie vermutet, hatte er jedoch genau ins Schwarze getroffen.

Inga stemmte empört die Hände in die Hüften: „Ich kann alleine entscheiden, und ich will meine zwei Löffel, das heißt, für das Ausleihen eines Pferdes verlange ich außerdem eine Schale.“

In Ordnung,“ seufzte Ymir, es würde nicht viel übrig bleiben für Emblas Geschenk.

Wie lange wirst du wegbleiben?“

Ich weiß noch nicht, vielleicht eine Woche, vielleicht zwei … ich nehme Widukind mit,“ fügte er leichthin hinzu.

Schon am nächsten Morgen zogen sie los, Ymir hatte die Zügel in der Hand und Widukind saß neben ihm. Natürlich wusste er, was Ymir suchte, aber was sein Freund sonst noch im Sinn hatte, das ahnte er ganz und gar nicht.

Nachdem sie acht Tage umhergezogen waren über Wiesen und durch Wälder, was mit dem Pferdewagen nicht immer einfach war, gab Ymir enttäuscht auf. Am Abend, als sie am Feuer saßen und auf den letzten Resten einer Hasenkeule kauten, beschloss er, zurück zum Dorf zu ziehen, und das bedeutete, dass die Zeit gekommen war, seinen Plan, das zweite Ziel dieser Reise, auszuführen. Mit Vorbedacht hatte er eine nordöstliche Route gewählt.

Wenn wir morgen einen scharfen Bogen nach Westen machen, müssten wir doch an den Fluss kommen oder nicht?“ fragte er und leckte sich die Finger. Noch ehe Widukind antworten konnte, fuhr er fort: „Nach dem, was du erzählt hast, lag der Gutshof deines Vaters nicht allzu weit vom Fluss entfernt. Ich schätze, man braucht zwei bis drei Tagesmärsche bis dorthin. Meinst du, das kannst du alleine schaffen?“

Widukind schaute ihn verständnislos an und Ymir fuhr fort:

Ich kann dich nicht begleiten, das wäre zu gefährlich für mich. Du nimmst deinen Trinkwasserbeutel mit und morgen, auf dem Weg zum Fluss, werde ich versuchen, noch einen Hasen zu erwischen. Den braten wir und wickeln ihn in Blätter, dann hast du genug für deinen Weg. Außerdem kannst du im Wald Beeren sammeln und, wenn nötig, Fische fangen. Wie man Feuer macht, weißt du und ich glaube nicht, dass hier Tiere sind, die dir gefährlich werden könnten. Du brauchst also keine allzu große Angst zu haben.“

Widukind hatte inzwischen begriffen, was Ymir mit ihm vorhatte und dicke Tränen rollten ihm über die Wangen. Schluchzend würgte er hervor:

Ich habe keine Angst.“

Ymir starrte ins Feuer: er hatte keine Wurzel gefunden, Widukind, den er ins Herz geschlossen hatte, war nur noch wenige Stunden bei ihm, Björn würde ihm eine Menge Vorwürfe machen - er drehte den Kopf etwas zur Seite, hatte es nicht gerade direkt hinter ihm geknackt?

Mehrere Hände packten ihn, warfen ihn zu Boden, ein Knie bohrte sich in seinen Rücken, seine Arme wurden nach hinten gerissen und seine Handgelenke zusammengebunden. Alles das geschah in Sekundenschnelle. Gleichzeitig brach ein Freudengeschrei los und Ymir sah, wie Widukind von einem Mann umarmt und herumgewirbelt wurde, während die anderen Männer ihm auf die Schulter klopften oder ihn freundschaftlich in die Seite stupsten. Dann setzten sie sich um das Feuer. Da sie alle auf einmal zu sprechen schienen, war es schwierig für Ymir, etwas zu verstehen, aber soviel bekam er mit, dass es Widukinds Vater mit einigen Dorfbewohnern war, von denen er überwältigt worden war. Offenbar auf der Jagd, hatten sie den Feuerschein gesehen und sich herangeschlichen.

Nach einer Weile verstummte das Stimmengewirr, nur Widukinds Stimme war noch zu vernehmen. Eindringlich und bittend sprach er auf die Männer ein und Ymir war klar, dass es um ihn, um sein Leben oder seinen Tod ging. Er sah, wie Widukind auf seinen Knöchel zeigte und allmählich wich der Groll aus den Gesichtern der Männer. Auch Widukinds Vater schien seinen Widerstand aufzugeben, obwohl Ymir sich vorstellen konnte, wie groß seine Rachegelüste wegen des ihm angetanen Unrechts waren. Er nickte und gleich darauf kam Widukind zu Ymir und setzte sich neben ihn:

Hab keine Angst mehr,“ sagte er zu ihm. „Ich habe ihnen alles erzählt, auch, dass du mich morgen freilassen wolltest. Aber du bist der einzige, den sie verschonen wollen, sollte ihnen je ein anderer von euch in die Hände geraten, werden sie keine Gnade kennen, sag das den Männern in deinem Dorf. Sie werden dir auch dein Pferd, deinen Wagen und deine Axt lassen. Mit diesem Messer hier darf ich dir die Fesseln lösen, denn wir werden jetzt sofort aufbrechen, folge uns auf keinen Fall. Ich danke dir, auch im Namen meines Vaters, dass du mich gesund gepflegt hast. Eine Bitte habe ich noch: Sag den Leuten im Dorf nicht, dass du uns gesehen hast. Jetzt muss ich gehen, leb wohl mein Freund.“

Widukind lächelte schwach und Ymir meinte, Tränen in seinen Augen zu sehen. Es war ihm genauso schwer ums Herz.

Leb wohl, mein kleiner Bruder,“ sagte Ymir.

Widukind nahm das Messer und begann, Ymirs Fesseln zu durchschneiden. Dabei beugte er sich tief zu ihm hinunter und kniete sich so dabei hin, dass er den Männern am Feuer den Rücken zukehrte.

Geh nicht nach Westen, sondern geradewegs nach Osten auf die Hügelkette zu, die wir gesehen haben,“ raunte er Ymir ins Ohr, „am Fuße der Hügel, direkt vor dem tiefsten Einschnitt, wirst du etwas finden. Geh unbedingt dorthin,“ flüsterte er hastig.

Dann erhob er sich und ging, ohne sich nochmal umzublicken, mit den Männern in den Wald hinein. Ymir war allein. Er setzte sich auf und rieb sich die schmerzenden Handgelenke, bis sie wieder gut durchblutet waren. Er stützte den Kopf in beide Hände und hatte eine Weile damit zu tun, das Geschehen nochmal im Geiste an sich vorüberziehen zu lassen. Dann beschloss er, Björn und den anderen genau die Geschichte zu erzählen, die er sich gleich zu Beginn seines Unternehmens ausgedacht hatte, dass nämlich Widukind ihm entlaufen sei. Kein Wort von dem Überfall, womit Widukinds letzte Bitte erfüllt wäre.

Am nächsten Morgen, nach einer Nacht, in der er kaum Schlaf gefunden hatte, machte sich Ymir auf den Weg, den Widukind ihm so nahegelegt hatte. Die Hügelkette schien zum Greifen nah, aber dem war nicht so, Ymir zog den ganzen Tag in die angegebene Richtung, erreichte jedoch erst in der Dämmerung den Fuß der Berge. Er versorgte sein Pferd, aß etwas gedörrtes Fleisch mit getrocknetem Brot, und legte sich dann unter einen Baum. Erschöpft schlief er sofort ein und wachte erst auf, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Er reckte und streckte sich, blinzelte ins Licht, stand auf und sah zu den Hügeln hinüber. Der tiefste Taleinschnitt lag direkt vor ihm, er war ganz deutlich zu erkennen, lediglich ein offenbar vor nicht allzu langer Zeit vom Blitz getroffener Baum stand im Wege. Der Stamm war in der Mitte tief gespalten und die beiden Hälften hingen rechts und links bis zum Boden, so dass es aussah, als wenn er durch diese Gewichte an seinen Seiten jeden Augenblick völlig auseinandergerissen würde.

Ymir war auf einmal hellwach – er rannte hinüber, sah die welken, aber immer noch grünen Blätter und dann die runzeligen hellbraunen Kugeln darunter. Vor Überraschung und Freude stieß er einen Schrei aus.

Widukind, mein kluger Junge, ich danke dir von ganzem Herzen,“ brüllte er und blickte in die Richtung, in der er ihn jetzt vermutete.

Er würde sehr vorsichtig zu Werke gehen müssen, das Holz stand unter starker Spannung, ein falscher Axthieb, eine falsche Stellung und es konnte mit ungeheurer Wucht gegen ihn schnellen. Vom Stamm würde er nichts transportieren können, aber von der Wurzel soviel wie möglich. Ymir mühte sich einen ganzen und einen halben Tag lang von morgens bis abends ab, dann lag sie frei und er umwickelte sie mit einer Schnur, baute eine Rampe und zog sie auf den Karren. Er sammelte alle Früchte, obwohl sie ihm unreif erschienen, als er sie probierte - Inga würde schon was damit anfangen können.

Am Morgen des nächsten Tages machte er sich auf den Heimweg, den Wagen so schwer beladen, dass er nebenher ging, weil selbst der von Inga ausgeliehene starke Ackergaul Mühe hatte, die schwere Last zu ziehen. Aber ohne Widukind neben sich wollten die Stunden nicht vergehen. Als er nach acht endlos lang scheinenden Tagen endlich das Dorf erreichte, war Björn mit seinen Männern noch nicht zurückgekehrt. Es fiel ihm leicht, Inga und den anderen seine Geschichte vom entlaufenen Widukind aufzutischen. Inga war mit dem Verstauen der Walnüsse und den Gedanken an ihre zukünftigen neuen Schätze so beschäftigt, dass sie Ymir gar nicht richtig zuhörte. Er bemühte sich trotzdem, so glaubwürdig wie möglich zu klingen:

Er wird nicht weit kommen, so allein im Wald,“ sagte er, „geschieht ihm ganz recht, dem Undankbaren.“

Dann ging er an den Fluss zu seiner Hütte, baute wehmütig Widukinds Bett ab und setzte seine Arbeiten am Schiff fort. Als Björn mit reicher Jagdbeute beladen heimkehrte, war es fertig, das weitaus größte in seiner Flotte. Er bewunderte Ymirs Arbeit so sehr, dass er nicht viel Worte verlor über dessen Alleingang und den Verlust von Widukind, im Gegenteil, aus Freude über das prächtige Schiff schenkte er Ymir ein dunkelbraunes, langzotteliges Bärenfell, das Ymir sich als Decke für sein zukünftiges Ehebett gut vorstellen konnte. Dann begann er endlich mit dem

Schnitzen. Zuerst die versprochene Schale und die beiden Löffel für Inga. Aus dem Rest der Wurzel gelangen noch zwei kleinere Schüsseln und übrig blieb ein längliches Stück mit einer ganz ungewöhnlich schönen Maserung, die sich in weichen Schwüngen und Bändern um ein helles, makelloses Oval wand. Ymir folgte der Maserung und heraus kam ein Rundholz, etwa armdick und unterarmlang, mit einem Griff an einem Ende. Ymir schmirgelte und polierte es so lange, bis seine Oberfläche ganz glatt war. Er mischte Bienenwachs mit Pflanzensäften, strich es über das Holz um es vor dem Austrocken zu schützen, und brachte gleichzeitig damit die feine Maserung in all ihrer Schönheit zur Geltung.

Sieht aus wie ein Schamanenstab,“ dachte er, „wenn ich Embla einen Spruch hineinbrenne, ist es ein Glücksbringer.“

Also zerbrach er sich Tag und Nacht den Kopf darüber, einen Reim zu finden, nicht zu lang, aber doch schon aussagekräftig. Schöne Worte machen war nicht gerade seine Stärke und so war das Beste, was ihm einfiel:

Wurzel des Baumes aus fremdem Land,

Schätze turmhoch – all Unheil verbannt

Was er mit Schätzen meinte, würde Embla schon wissen: Viele Kinder, Gesundheit, Arbeit – denn das war Ymirs Vorstellung von Glück und er war sicher, dass sie die gleichen Träume hatte. Und weil er von seiner Dichtkunst ganz begeistert war, brannte er in das helle Oval von Ingas Schale einen ähnlichen Spruch:

Wurzel des Baumes aus fremdem Land,

von Inga und Björn all Unheil verbannt.

Der Sommer war längst zu Ende und Aufbruchstimmung machte sich breit unter Gunnars Abgesandten. Auch Ymir wurde zusehends unruhiger, die letzten Monate waren zwar schnell vergangen durch all die vielen Arbeiten und Erlebnisse, aber auch er spürte, dass es an der Zeit war, zurückzukehren in den Fjord von Dragensfjell. Alle nötigen Vorbereitungen wurden getroffen und am letzten Abend vor ihrer Heimfahrt sollte das traditionelle Abschiedsfest stattfinden. Da Ymir seine Arbeiten am See beendet hatte, schlief er seit einigen Tagen wieder bei seinen Gefährten im Langhaus. Am Tag vor ihrer Abreise war es bereits morgens ungewöhnlich warm und der Himmel gelblich verfärbt. Björn schaute besorgt zum Himmel:

Gefällt mir gar nicht, sieht nach einem Unwetter aus, warten wir mal, wie es sich bis Mittag entwickelt hat.“

Zu dieser Zeit hing es bereits ockergelb über ihnen, es schien zum Greifen nahe zu sein. Unter den Tieren brach eine nervöse Unruhe aus und Björn war klar, dass irgendwas im Anzug war. Er erteilte kurz und knapp seine Befehle, ließ alle Weidetiere in die Ställe bringen, und als am frühen Nachmittag heftige Windböen über sie fegten und eine braune Wand sich bedrohlich näherte, wusste er, dass es schlimm würde. Alle Türen wurden fest verschlossen, Felle vor die Fensteröffnungen gehängt, niemand hielt sich mehr im Freien auf.

Großer Odin, steh uns bei!“ stöhnte jemand neben Ymir, als der Sturm sie erreicht hatte und mit einem merkwürdig prasselnden Geräusch das Langhaus schüttelte.

Ymir hockte zusammengekauert zwischen seinen Gefährten.

Die Schiffe!“ durchfuhr es ihn. „Wenn der Sturm wirklich so heftig wird, müssen sie besser gesichert werden.“

Er dachte keinen Augenblick daran, jemanden um Hilfe zu bitten oder sein Vorhaben mitzuteilen. Kurzentschlossen zog er sich eine Decke über den Kopf, wickelte einen Strick um seinen Leib und ging hinaus. Das letzte, was er hörte, war ein Schrei: „Ymir, nein!“

Dann riss es ihm die Tür aus der Hand, sie schlug hinter ihm zu und Ymir wäre fast gestürzt. Einen kurzen Moment flaute der Wind ab und er fing sich wieder. Die Luft um ihn herum war gelb und braun und es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass er von Sand umgeben war. Es war kaum möglich zu atmen und er zog den Stoff seiner Decke über Nase und Mund.

Die nächste Windböe kam und er musste die Augen schließen und sich abwenden. Hin und her wurde er geworfen, stolperte hilflos mit weit vornüber gebeugtem Oberkörper durchs Dorf, über die Felder in Richtung Fluss. Der Sand wurde mit solcher Wucht gegen ihn geschleudert, dass er wie die rauhe Zunge eines Rindes über jedes Stückchen freiliegende Haut schürfte und sie wund rieb. Ymir versuchte, sich so gut es ging davor zu schützen, aber schon nach wenigen Sekunden hatte er Sand in den Augen, im Mund, in den Ohren, einfach überall, jeder Atemzug war ein Ringen gegen das Ersticken. Aber er kämpfte sich Schritt für Schritt weiter vor, bis er den Fluss erreichte, der etwas tiefer lag als das umliegende Land und das Dorf. Die Schiffe tanzten wie Korken auf dem Wasser und Ymir sah, dass die Stricke, mit denen sie befestigt waren, nicht mehr lange halten würden, weil sie an mehreren Stellen fast durchgescheuert waren.

Ich muss sie in die Binsen ziehen, damit sie sich im Schlick festsetzen, sonst zerschlagen sie sich gegenseitig oder werden weggetrieben,“ dachte er und holte aus seiner Hütte, die nun als Lagerraum diente, einige neue Seile, nutzte die kurzen Pausen zwischen den Böen, stieg ins aufgewühlte Wasser, befestigte sie nacheinander an den Booten, suchte sich passende Bäume am Uferrand aus, wickelte die Stricke darum und zog mit aller Kraft die Schiffe in das Schilf, bis sie feststeckten. Als seine Handflächen aufgerissen waren und bluteten, schnitt er mit dem Messer Streifen von seiner Decke ab und wickelte sie darum.

Odin, mach, dass die Bäume halten, mach, dass die Stricke halten, mach, dass der Sturm aufhört,“ betete er mehr als einmal, während er das letzte Seil knirschend um einen Stamm zog. Aber der Sturm tobte immer grausamer.

Ymir, der Bärenstarke, ließ sich zu Tode erschöpft an einem der Bäume auf die Erde sinken, er hatte alle Schiffe gesichert, aber nun verließen ihn die Kräfte, die Knie gaben nach unter ihm und Tränen liefen aus seinen entzündeten Augen. Den Rückweg ins Dorf würde er auf keinen Fall schaffen, mit einer letzten Willensanstrengung kroch und schob er sich zum nächstgelegenen Schiff, rollte sich über die Bordwand und unter die Ruderbänke, zog das Segeltuch über sich und verlor das Bewußtsein.

399
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480 стр. 1 иллюстрация
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9783847669975
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