Читать книгу: «Ymirs Rolle», страница 3

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Björn war auf einen heftigen Sturm gefasst gewesen, aber eine solche Katastrophe, wie sie nun über sie hereinbrach, hatte er nicht erwartet und auch noch nie erlebt. Der Orkan zerstörte nicht nur alle Häuser und den Palisadenzaun einschließlich seinem Wachturm, die Unmassen an feinem, gelben Sand lagen nun in einer dicken Schicht über dem Land und über dem Dorf. In jede Ritze war er gedrungen, hatte ihr Saatgut, ihr Mehl, ihre ganze Ernte vernichtet, hatte die Ställe der Tiere zerschmettert, so dass viele von ihnen darunter begraben lagen. Aber das Schlimmste war, dass auch einige der Dorfbewohner, Männer, Frauen und Kinder, unter den Trümmern ihrer Häuser gefunden wurden, erstickt oder erdrückt, denn der Wind hatte mit unbarmherziger Gewalt Sand gegen sie gepeitscht und Lehmbrocken und Balken gegen sie geschleudert. In ihrer Not waren sie unter Felle und Decken gekrochen, die sie nicht schützen konnten.

So plötzlich, wie die Katastrophe über sie hereingebrochen war, so plötzlich endete sie. Ein unbeschreibliches Chaos herrschte und durch die gelbe Staubschicht auf den Gesichtern der Menschen zogen sich dunkle Rinnsale, als ihnen Tränen des Entsetzens über die Wangen liefen. Man fand Ymir, mehr tot als Lebendig, kaum bei Bewußtsein, und trug ihn ins Dorf. Sie schleppten mühsam Wasser vom Fluss herbei, gaben den Verletzten zu trinken und verbanden ihre Wunden - viel mehr konnten sie nicht tun in diesen ersten Stunden. Sie wussten, dass ihr Dorf verloren war und dass sie schnell zu einer Entscheidung kommen mussten über ihre Zukunft. Als ihnen klar wurde, dass die Boote das einzige waren, was ihnen erhalten geblieben war, beschlossen die meisten von ihnen, zurück nach Norwegen zu ziehen. Es gab keine Alternative: Der Winter stand bevor, das Land war mit Sand bedeckt, das Dorf zerstört, alle Lebensmittel verdorben. Eine kleine Gruppe junger Männer und Frauen entschied sich, mit den verbliebenen Pferden und Kühen im Land zu bleiben und solange umherzuziehen, bis sie eine Stelle finden würden, wohin der Sturm keinen Sand getragen hatte.

Allein Ymir haben wir es zu verdanken, dass wir überhaupt von hier fort können,“ sagte Björn. „Jeder darf im Übrigen nur das mitnehmen, was er auf dem Leib hat, nur so passen wir alle in die Schiffe. Machen wir uns an die Arbeit!“

Drei Tage lang dauerten die Vorbereitungen für die Abreise, dann war es soweit. Ernst und still standen die Dorfbewohner in den Booten, als sie langsam aus dem Hafen hinausglitten, dann verstellten ihnen Büsche und Bäume den Blick auf ihr verlorenes Land.

„Ja, so hat sich das damals abgespielt,“ dachte Ymir wehmütig, „als ich Emblas Hochzeitsgeschenk unter meinem Hemd versteckt mit an Bord genommen hatte, obwohl Björn alles verboten hatte, was nicht unbedingt lebensnotwendig war.“

„Was sitzt du da herum und starrst ins Dunkle? Das Essen steht auf dem Tisch, soll es kalt werden?“

Ymir, der tief versunken gewesen war in seine Erinnerungen, zuckte bei diesen unfreundlichen Worten zusammen. Heißer Zorn stieg in ihm hoch – er stand auf, ging entschlossen ins Haus, vorbei an dem Topf mit dem dampfenden Eintopf aus Lauch, zerstampftem Roggen und Kaninchenfleisch, sah sich suchend um bis er es gefunden hatte, nahm es an sich und verließ das Haus.

„Was soll das bedeuten?“ schrie sie ihm nach. „Gib mir sofort mein Holz zurück, du hast es mir geschenkt!“

Aber Ymir kümmerte sich nicht um ihr Gezeter. Er schwang sich auf sein Pferd, ritt zur Schlucht und durch sie hindurch. Ein halber Mond erschien und gab ein wenig Licht. Als er glaubte, tief genug im Wald zu sein, nahm er das Holz und schleuderte es weit von sich, machte auf dem Absatz kehrt, um nicht von Reue gepackt zu werden, und lenkte sein Pferd zurück ins Tal. Er ging nicht nachhause in dieser Nacht, sondern blieb bei Skadi und Grima. Keiner von ihnen machte ein Auge zu – bis der Morgen dämmerte saßen sie beieinander.

„Glaub mir Ymir,“ sagte Grima müde, „alles, was Embla fehlt, und darum immer zänkischer macht, ist ein Kind. Niemand versteht besser als wir,“ sie sah Skadi an, der zustimmend nickte, „was es heißt, jahrelang vergeblich zu warten.“

„Ich weiß,“ entgegnete Ymir und ließ den Kopf tief hängen, „aber was soll ich tun? Sagt mir, was soll ich tun? Wenn Odin uns nicht hilft, wer dann?“

Seine Stimme klang so verzweifelt, dass es Grima ins Herz schnitt.

„Der Schamane!“ sagte Skadi in die entstandene Stille hinein. „Ich selber werde zu ihm gehen.“

„Aber niemand weiß, wo er wohnt,“ warf Ymir ein.

„Dann werde ich solange suchen, bis ich ihn gefunden habe,“ antwortete Skadi entschlossen.

Ymir blickte in ihre bekümmerten Gesichter und entdeckte in ihren Augen einen leisen Hoffnungsschimmer.

Als die ersten Vögel erwachten, machte sich Ymir auf den Weg zur Werft. Der frühe Morgen war die beste Zeit für eine gute Arbeit, und Arbeit war die beste Medizin um seine Sorgen zu vergessen.

Skadi ritt, wie er es angekündigt hatte, in den Wald hinein. Drei Tage lang irrte er umher, ohne auch nur das geringste Anzeichen eines Menschen zu finden. Er hatte längst die Trampelpfade hinter sich gelassen und stolperte, sein Pferd am Zügel hinter sich herziehend, immer tiefer hinein in den unwegsamen, unberührten Teil des Waldes. Er verlor die Orientierung in dem Dickicht, es war ihm egal. Er würde nicht wieder zurückkehren, bis er den Schamanen gefunden hatte. Am Morgen des vierten Tages - fahle, schräg einfallende Sonnenstrahlen gaben gerade soviel Licht, dass er das Nächstliegende sehen konnte - stand er plötzlich, nur wenige Meter von seinem Nachtlager entfernt, vor der Höhle des Schamanen. Die war unschwer als solche zu erkennen, denn in einem Halbkreis davor waren an in die Erde gesteckten Pfählen Amulette, Schädelknochen, Federn und allerlei andere geheimnisvolle Zeichen und Dinge angebracht, ganz offensichtlich als Abschreckung gedacht.

Skadi rief nach dem Schamanen, aber nichts rührte sich. Er wagte nicht, die Höhle zu betreten, deshalb setzte er sich davor und hoffte inständig, dass er bald zurückkäme. Nach einer Weile fing er an, laut zu Odin zu beten, immer ausführlicher erzählte er von seinem Kummer, von Ymir und Emblas Problemen, von Grimas Tränen.

„Oh Odin,“ hob er bittend die Hände zum Himmel, „hilf uns allen, schick den Schamanen ins Tal und gib ihm die Kraft, uns zu helfen.“

Skadi verbrachte einen Tag und eine Nacht vor der Höhle, aber der Schamane tauchte nicht auf. Er beschloss, ihm eine Botschaft zu hinterlassen, denn es war bekannt, dass der Schamane weite Reisen unternahm - mal tauchte er unverhofft hoch im Norden auf, dann wieder tief im Süden – es machte keinen Sinn, noch länger vor seiner Behausung auszuharren. Skadi schälte ein Stück Rinde von einem Baum und ritzte auf die Innenseite mit seinem Messer die Drachenberge. Dann die Bitte: „Komm bald, wir brauchen deine Hilfe“. Zum Schluss schnitt er den Umriss eines Schiffes hinein und seinen Namen. Er warf die Rinde vor den Eingang der Höhle und hoffte, dass der Schamane die Nachricht finden und verstehen würde. Dann machte er sich auf den Heimweg.

Wochen vergingen, ohne dass irgendetwas geschah. Grima sah darin eine endgültige Entscheidung der Götter und wagte kaum noch, Ymir in die Augen zu sehen. Der Sommer ging zu Ende und die Ernte wurde eingefahren, Scheunen und Vorratskammern füllten sich. Wie in jedem Jahr, ließ Gunnar Zweige und Äste aufschichten zu einem gewaltigen Erntedankfeuer. Das Fest begann am Mittag und als die Dämmerung alles in ein weiches, blaues Licht tauchte, loderten die Flammen hoch auf. Im Tal breitete sich ein Duft von gebratenen Äpfeln aus, von knusprigen, fetttriefenden Speckscheiben, von warmen Fladenbroten und frisch gebrautem Gerstenbier. Gunnar, inmitten seiner Familie, seiner Krieger, Handwerker und Bauern, ließ seinen Becher immer wieder auffüllen, hob ihn hoch in die Luft – und dann konnte er nicht anders, er mußte Ymir verhöhnen, genauso, wie er es vor Jahren mit Skadi, Ymirs Vater gemacht hatte.

„Seht euch diesen Schwiegersohn an … ja, seht ihn nur alle an,“ grölte er mit gerötetem Gesicht und vom Bier glasigen Augen. „Feiert ohne Scham das Erntedankfest. Wo ist denn deine Ernte? Auch in diesem Jahr hast du keine, wie in den Jahren zuvor. Meine Tochter sollte längst eine ganze Schar von Kindern ...“

Noch ehe er seinen Satz beenden konnte, sprang wie aus dem Nichts eine Gestalt mitten unter die Feiernden und pflanzte sich breitbeinig und mit weit ausladenden Armen vor Gunnar auf. Auf ihrem Kopf saß eine Lederhaube, die sich im Nacken fortsetzte, über den Rücken lief und schmaler werdend in einem Schweif endete. Von der Stirn an bis zum Boden starrten spitz zulaufende Panzerschuppen, und dick aufgetragene schwarze und grüne Farbe entstellte ihr Gesicht zu einer drachenähnlichen Grimasse. Über einem grünen Leinenkittel hingen Ketten aus Reißzähnen, Hauern und Krallen wilder Tiere. An den Handgelenken wippten Armbänder mit langen Vogelfedern und um die aus den Lederhosen herausschauenden Fußgelenke klapperten weißgebleichte Knochen hell und hohl gegeneinander.

Der Schreck über das plötzliche Auftauchen des Schamanen saß tief – es war totenstill geworden. Wie versteinert erwarteten sie seinen Spruch. Wen würde er verfluchen, wem brachte er Unglück, oder eine frohe Botschaft? Sollte gar Gunnar, der Häuptling, bestraft werden für sein loses Mundwerk, für seine Undankbarkeit gegen einen seiner besten Männer? Der Schamane schwang zwei Stäbe drohend gegen Gunnar.

„Schweige für immer, denn das Kind wird geboren werden,“ stieß er endlich heiser hervor, und sein einziges Auge blitzte und funkelte zornig, „und du, Gunnar von Dragensfjell, wirst es dereinst zu deinem Nachfolger erklären.“

„Niemals,“ schrie Gunnar, „niemals das Kind eines Schiffbauers, der in meinen Diensten steht!“

„Nicht du bestimmst das, sondern die Götter. Glaubst du nicht mehr an die Götter, Gunnar?“

„Ich glaube an meine Kraft, sonst nichts,“ schleuderte ihm Gunnar trotzig ins Gesicht.

„Für diesen Hochmut wirst du bestraft, denn du selber wirst nie dein großes Ziel erreichen.“

Gunnar erbleichte bei diesem Fluch des Schamanen und der Becher mit Bier, den er erhoben hatte, um Ymir vor allen zu demütigen, entglitt seiner zitternden Hand. Der Schamane wandte sich ab von ihm und stand nun vor Ymir und Embla. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, warf er ihnen in einer blitzschnellen Bewegung einen seiner Stäbe zu – und war im nächsten Moment in der Dunkelheit verschwunden. Embla und Ymir hatten gleichzeitig nach dem Stab gegriffen. Sein Holz war so sanft und glatt - atemlos tasteten sie weiter über seine Oberfläche und im flackernden Feuerschein lasen sie Ymirs eingebrannten Spruch. Embla drückte ihr Hochzeitsgeschenk fest an sich: „Unser Sohn wird geboren, und eines Tages wird Gunnar ihm die Nachfolge anbieten,“ flüsterte sie.

„Nicht dem Sohn eines Schiffbauers, du hast es gehört,“ antwortete Ymir.

„Er wird,“ sagte sie und der Ton ihrer Stimme duldete weder Widerspruch noch Zweifel.

Gunnar war die Lust am Feiern vergangen.

„Der fette Speck liegt mir schwer im Magen,“ brummte er finster und verließ das Fest. Er warf sich auf sein Lager und starrte lange in die Flamme der Öllampe. Er war nun 44 Jahre alt, und die meiste Zeit seines Lebens hatte er gekämpft und gearbeitet, er fühlte die ersten Spuren davon in seinen Knochen. Wie oft hatte er sich und seine Leute, das Tal mit den Drachenbergen und den Wäldern, seine Handels- und Kriegsschiffe gegen Feinde verteidigen müssen. Wie hart hatte er um Macht und Reichtum ringen müssen. An seine Mutter konnte er sich gar nicht erinnern, sie war viel zu früh gestorben. Sein Vater kehrte von einem Raubzug nicht mehr heim, als Gunnar 14 Jahre alt war. Seit dieser Zeit war er auf sich selber gestellt gewesen. Und all diese harten Jahre sollten umsonst gewesen sein, sein Ziel, die Krone Norwegens, nicht erreicht werden? Und das alles wegen eines kleinen, wenn auch derben Spaßes auf Kosten seines Schwiegersohnes, den er zwar als Schiffbaumeister hoch schätzte, der aber offensichtlich nicht zum Ehemann taugte? In Gunnar wuchs die Gewissheit, dass er schnell handeln musste, sonst war vielleicht alles verloren. Seine Gedanken rasten ihm durch den Kopf. Er musste für das nächste Frühjahr eine Versammlung der Fürsten einberufen und sie endlich dazu bringen, ihm die Krone aufzusetzen. Bis jetzt hatten sie sich stets geweigert, wenn er die Sprache darauf gebracht hatte. Er würde es diesmal mit List erzwingen. Er würde Boten an ihre Höfe senden, gleich morgen, und sie für das nächste Frühjahr an einen neutralen Ort bestellen. Und was das Kind von Embla und Ymir anging – was kümmerte es ihn, es war ja noch nicht einmal geboren. Gunnar wollte die Krone für sich, nie war er so entschlossen gewesen wie in diesem Augenblick. Und eines Tages würde er sie an seinen Ältesten, an Thormod, weitergeben, an niemanden sonst.

Thormod war das Ebenbild seines Vaters, äußerlich und innerlich: wildverwegen, mutig bis zur Tollkühnheit und mit einem scharfen Verstand versehen. Nichts hatte ihn bisher für längere Zeit an einem Ort halten können, ständig wurde er getrieben von Unrast. Gunnar liebte ihn vor allen anderen und nahm sich vor, Thormod in Zukunft enger an seinen Hof zu binden, um ihn auf seine zukünftige Rolle vorzubereiten. Dem Zufall würde er nichts überlassen – und auch nicht dem Schamanen. Er, Gunnar, würde planen und lenken – nicht dieser albern bemalte Möchtegern-Drache.

Gunnar fühlte die Anspannung allmählich weichen, er hatte die Fäden wieder in der Hand. Er schloss die Augen und versank in einen Zustand zwischen Schlafen und Wachen. Jäh schreckte er auf, mit dem deutlichen Unbehagen, beobachtet zu werden. Die Öllampe flackerte unruhig, als hätte ein Luftzug sie gestreift. Gunnar sah niemanden, nur hinter seinen Augenlidern haftete noch für einen Moment das Abbild eines schwarz-grünen Musters.

„Der Schamane,“ fuhr es ihm durch den Kopf, „“er verfolgt mich bis in meine Träume.“

Sein Herz pochte wild und er dachte wieder an Thormod. Was, wenn dem besten seiner Söhne etwas zustoßen würde? Zornig versuchte Gunnar, diese verzagten Gedanken wegzuscheuchen. Aber sie quälten ihn weiter. Und endlich musste er sich das eingestehen, wovor er so große Angst hatte: Es war nur Thormod, auf den er baute – und bauen konnte!

Ingvar, sein Zweitältester, war faul und feige.

„Er wird wie eine Kuh im Stall sterben, niemals wie ein Krieger,“ dachte Gunnar, „nicht mal ein Handwerk kann er ausüben,“ und es krampfte ihm die Brust zusammen, als er sich nun zum ersten Mal diese bittere Wahrheit eingestand.

Olav war der geborene Kaufmann. Mit einer Bootsladung Schaffelle hatte er vor vier Jahren begonnen. Inzwischen befehligte er eine Flotte von sechs Schiffen und trieb Handel an allen Küsten Europas.

Hugi und Frodi, die Zwillinge, waren vor zwei Jahren ausgezogen, das letzte, was er von ihnen gehört hatte, war, dass sie sich als Begleitschutz für einen reichen byzantinischen Händler verdingten.

Harald und Ottar waren mit ihren Familien und einigen Freunden vor einem Jahr an die Südwestküste von England gesegelt, um sich dort Land zu erobern. Gunnar wußte nicht, ob ihr Unternehmen erfolgreich verlaufen war oder sie noch weiter auf der Suche waren, oder sogar umgekommen waren.

Ingjöld war immer ein Einzelgänger gewesen, schon als Kind. Viel nachdenklicher und stiller als seine Brüder, fast verschlossen. Er verabscheute lärmende Feste und suchte lieber die Einsamkeit des Waldes. Mit Gunnar kam es zum Bruch, weil Ingjöld nicht einsehen konnte, warum es freie und unfreie Menschen gab.

„Jeder Mensch ist gleich viel wert,“ hatte er trotzig zu Gunnar gesagt.

„Nicht bei mir,“ war Gunnars harsche Antwort gewesen.

„Dann muss ich gehen.“

Gunnar erinnerte sich genau an dieses Gespräch vor wenigen Monaten und Ingjölds zornige Augen. Er konnte niemanden am Hof brauchen, der seine Leute auf falsche Ideen brachte, auch wenn es sein eigener Sohn war, seine Autorität würde dadurch gefährdet. Außerdem war Gunnar fest davon überzeugt, dass die meisten Menschen eine starke Führung brauchten, ja sich sogar danach sehnten. Aus diesem Grunde hatte er nichts dagegen unternommen, als der Rebell Ingjöld allein mit einem einzigen, kleinen Boot seine Heimat verließ, auch wenn der Verlust eines Sohnes schmerzhaft für ihn war.

Leif war 17 und lebte wie Ingvar im Tal. Ein wahrer Hüne, mit Muskeln, die wie dicke Stränge hervorquollen, wenn er sie anspannte. Vor zwei Jahren war er bei Gunnars Schmied in die Lehre gegangen und inzwischen ein Meister seines Faches. Niemand schmiedete so scharfe Schwerter wie er, niemand so leichte und trotzdem stabile Helme und Schilde, niemand so ausgewogene Pflüge und runde Kessel. Nichts und niemand würde ihn je von seiner Leidenschaft, Metall zu verarbeiten, abbringen.

Nie zuvor war es Gunnar so klar gewesen, dass er trotz seiner neun Söhne eigentlich keine Wahl hatte. Neun Söhne? Wie lange war es her, dass er nicht mehr an seinen zehnten Sohn gedacht hatte? Eine Ewigkeit, musste er sich nun gestehen. Gunnar rechnete: seit 10 Jahren war Halvdan verschwunden, er wäre jetzt 16 Jahre alt. Ob er das Zeug zu einem Führer gehabt hätte? Was nutzte es, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, Halvdan war tot, das war sicher. Wer mit sechs Jahren in den Wald läuft, nicht wiederkehrt und auch nicht wiedergefunden wird, der konnte nichts anderes als tot sein. Gunnar fragte sich, warum er so lange nicht mehr an ihn gedacht hatte und wusste sofort, dass er über all die Jahre den gleichen Groll empfunden hatte wie in Halvdans ersten sechs Lebensjahren, als er noch mit ihm unter einem Dach lebte. Er war es, der Freydis Leben ausgelöscht hatte – und Gunnar hatte es ihn jeden Tag spüren lassen. Er hatte ihn so streng wie keines seiner anderen Kinder erzogen, bestraft, beschimpft, gedemütigt, ja, er hatte ihn gehasst. Und Halvdan war ein stilles, einsames, verzweifeltes Kind geworden – es muss furchtbar für ihn gewesen sein, dachte Gunnar und war über seine neuen Gefühle überrascht. War Halvdans Weglaufen etwa eine Flucht gewesen vor der Lieblosigkeit seines Vaters, vor dessen ständig anklagenden Augen? Was sonst? Gunnar spürte, wie zum ersten Mal keinerlei Wut, keine Bitterkeit beim Gedanken an Halvdan in ihm aufstieg.

„Wie dem auch sei,“ dachte er, „und was immer aus ihm hätte werden können, Halvdan ist nicht mehr! Es bleibt dabei, es ist nur Thormod, auf den ich bauen kann, kein anderer.“

Gunnars Plan

Am nächsten Tag schickte Gunnar seine Boten aus an die fünf mächtigsten Fürsten des Landes. Jeder hatte eine mündliche Nachricht von ihm zu überbringen. Den Inhalt hatte sich Gunnar wohl überlegt und er lautete dahingehend, dass er, Gunnar, aus zuverlässiger Quelle erfahren habe, dass die Dänen einen Überfall auf Norwegen im Sommer des kommenden Jahres planten und deshalb mit vereinten Kräften eine gewaltige Flotte erstellten – er habe von über 100 Schiffen gehört, die bis dahin ausgerüstet und bemannt sein sollten. Wegen dieser Bedrohung schlage er ein Treffen im April des nächsten Jahres vor mit der Absicht, sich zu verbünden. Außerdem bitte er um genaue Auskunft darüber, wieviele Schiffe und Krieger jeder von ihnen hätte, damit er einen Vorschlag unterbreiten könne für die Verteidigung mit einer vereinten Streitmacht. Er selber würde alle seine Handelsschiffe umrüsten in Kriegsschiffe, so dass er wahrscheinlich wesentlich mehr an Material und Menschen zur Verfügung hätte als jeder andere seiner Nachbarn.

Die Wahrheit war, dass es solche Pläne der Dänen gar nicht gab, aber es klang glaubwürdig, da sie seit Jahren immer wieder einzelne Überfälle in die Fjorde gewagt hatten. Aber die vermeintliche Bedrohung des ganzen Landes sollte ausreichen, so kalkulierte Gunnar, sie endlich zu einer Einheit zusammenzuschweißen, und diese Einheit verlangte notwendig nach einem Führer. Er würde zudem erfahren, wie stark jeder Einzelne von ihnen war, und die deutlich formulierte eigene Stärke sollte von vornherein klarmachen, dass Gunnar die Führung zustand. Gunnar war so überzeugt von seiner Strategie, dass er das kommende Frühjahr

kaum erwarten konnte. Der Schamane war vergessen, und auch Emblas und Ymirs angeblicher Nachwuchs. Endlich kamen die Dinge in Schwung, die seit Jahren keine befriedigenden Fortschritte gemacht hatten.

Ohne die geringsten Hemmungen wegen seines rüpelhaften Benehmens am Tag zuvor, ging Gunnar, kaum dass sich die Boten auf den Weg gemacht hatten, hinunter zur Werft und winkte seinem Schwiegersohn schon von weitem zu:

„He, Ymir,“ und als Ymir kam, legte er ihm vertraulich seine Hand auf die Schulter. „Ich habe was mit dir zu besprechen, setzen wir uns auf den Bretterstapel hier.“

Ymir war noch nie nachtragend gewesen, und bei Gunnar wußte sowieso jeder, dass er mal so und mal so war.

„Wie schnell kannst du die Lastensegler umbauen, ich meine so, dass sie nach außen hin und von weitem wie Kriegsschiffe aussehen?“

„Welche?“ fragte Ymir.

„Alle,“ antwortete Gunnar, „die beiden, die bereits zurückgekehrt sind und die 12 anderen, die in den nächsten Wochen einlaufen werden.“

„Ich versteh nicht,“ antwortete Ymir verblüfft, „was hast du vor, wozu brauchst du Attrappen von Kriegsschiffen?“

„Das lass nur meine Sorge sein, also wie schnell?“

„Tja,“ Ymir kratzte sich hinterm Ohr, „lass mich mal nachdenken. Vielleicht genügt es, wenn wir einfach mehr Schilde an die Reling hängen.“

„Das wäre zu unglaubwürdig, wenn wir nicht ausfahren, hängen nie Schilde an der Reling. Es muss so aussehen, als wenn wir jederzeit Schilde anhängen könnten.“

„Weißt du,“ gab Ymir zu bedenken, „es sind eine Menge anderer Dinge zu tun: Segel müssen geflickt werden, alle Boote brauchen einen neuen Teeranstrich und wer weiß, was sonst noch alles zu reparieren ist. Manchmal kommen sie in einem Zustand zurück ...“

„Wie lange?“

„Na ja, den Winter über, wenn das Wetter es zulässt, das Frühjahr ...“

„Bis März, keinen Tag länger!“

„Ich will’s versuchen,“ versprach Ymir, obwohl er ein skeptisches Gesicht machte.

„Hoffentlich kommt nichts dazwischen,“ schob er hinterher.

„Und noch was,“ sagte Gunnar, ohne darauf einzugehen, „ich will die schrecklichsten, grausigsten und widerwärtigsten Drachenköpfe, die je ein Feind gesehen hat – aber mach sie selber und lass um Odins Willen Skadi an kein Schnitzmesser ran.“

Eilig ging er ein paar Schritte, stoppte und rief höhnisch grinsend: „Nimm dir doch den Schamanen als Muster!“

Ymir sah ihm nach und schüttelte den Kopf. „Gunnar spielt mit dem Feuer, hoffentlich verbrennt er sich nicht,“ dachte er und machte sich wieder an die Arbeit.

Gunnar ging mit großen, federnden Schritten zurück zum Hof und direkt in die Schmiede zu Leif. Der betätigte gerade den Blasebalg, um die Glut der Holzkohle neu zu entfachen.

„Du kommst wie gerufen,“ empfing er seinen Vater, „jetzt kannst du was erleben!“

Und damit zog er ein rotglühendes Schwert aus dem Feuer und legte es auf den Amboß aus purem Eisen, den er gerade erst von einem der heimgekehrten Schiffe eingetauscht hatte gegen Grillzangen, Töpfe, Pfannen und Waffen. Als er nun mit dem Hammer auf die Schwertschneide hieb, stoben die Funken nach allen Seiten und ein Höllenlärm erfüllte die Schmiede. Nach einigen Schlägen war das Metall wieder soweit abgekühlt, dass er es erneut erhitzen musste. Mit einem rußgeschwärzten Arm wischte er sich den Schweiß von der Stirn und lächelte glücklich: „Na, was sagst du dazu? Dieser neue Amboß ist mehr wert als alle die anderen zusammen,“ und damit zeigte er auf die bis jetzt benutzten aus hartem Holz mit einer dünnen Eisenauflage.

„Hiermit mache ich dir Schwerter so gerade und scharf, dass du damit eine Vogelfeder spalten kannst,“ sagte er stolz.

„Dann sollte sich der Schamane mit seinen albernen Büschel an den Armen lieber nicht mehr sehen lassen,“ erwiderte Gunnar. „Dein neuer Amboß kommt mir sehr gelegen, ich brauche nämlich soviele Schwerter wie du nur herstellen kannst, dazu Helme, Lanzen und Schilde. Nimm dir zur Unterstützung ein paar von meinen Knechten, die haben den Winter über sowieso zu wenig zu tun. Lass sie arbeiten Tag und Nacht, bis zum nächsten März.“

„An wieviel Stück hast du denn gedacht?“ fragte Leif halbwegs belustigt, weil er dachte, sein Vater übertreibe mal wieder wie so oft.

„Ich will beide Waffenkammern voll haben, bis unter die Decke … kümmer dich also nicht um Stückzahlen,“ antwortete Gunnar schroff.

Leif verzog sein Gesicht, es war Gunnar also vollkommen ernst.

„Ich will’s versuchen,“ murmelte er und war in Gedanken schon dabei, seine Vorräte an Roheisen und Hartholz zu überschlagen.

„Fehlen mir nur noch Thormod und Olav,“ brummte Gunnar, als er die Schmiede verließ.

„Hoffentlich kommen sie diesen Winter beide zurück.“

Er hatte sich entschlossen, Olav als Begleitung zur Versammlung im nächsten April mitzunehmen. Auch die anderen Häuptlinge würden außer mit einer Schar Kriegern mit ihren Söhnen erscheinen, so war es Brauch, aber schon so manches anfangs friedliche Treffen war umgeschlagen in handgreifliche Feindseligkeiten, wobei es meistens die Söhne waren, die dabei als erste ihr Leben verloren hatten.

„Ich werde Olav sagen, dass er dort gute Geschäfte machen kann, dann kommt er mit und Thormod wird keiner unnötigen Gefahr ausgesetzt,“ dachte Gunnar und sein Gesicht heiterte sich auf bei dem Gedanken daran, wie schlau er alles in die Wege geleitet und wie gründlich er alles bedacht hatte.

Aber weder Thormod noch Olav kehrten in diesem Herbst an den väterlichen Hof zurück. Gunnar war verärgert und nervös zugleich. Schwere Stürme waren ihm gemeldet worden aus den Gewässern um Dänemark. Ungeduldig und mißmutig drängte er Ymir und Leif ständig zu noch mehr Eile.

Auch Grima hatte in diesem Winter mehr als genug zu tun. Es waren viele Segel auszubessern und einige ganz zu ersetzen. Embla war besorgt um sie, denn durch das lange Sitzen am Webstuhl wurde Grima von Rückenschmerzen geplagt und ihre Augen brannten von den langen Nächten im Halbdunkel der Öllampe. Sie half ihr, wann immer sie konnte, obwohl sie die langweilige, monotone Arbeit an den großen Segeltüchern nicht mochte. Grima indes wunderte sich darüber, dass Embla seit einiger Zeit so liebenswürdig war, so sanft – dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Eine Weile beobachtete sie ihre Schwiegertochter noch, dann war sie ganz sicher: Embla erwartete ein Kind. Ob sie es schon selber wusste? Oder Ymir?

Natürlich hatte Embla Veränderungen an sich wahrgenommen, wagte aber nicht, an ihr Glück zu glauben, denn sie war zu oft enttäuscht worden. Allmählich jedoch wölbte sich ihr Bauch deutlich und es gab keinen Grund mehr, länger zu zweifeln. Sie konnte es kaum erwarten, Ymir die wunderbare Neuigkeit mitzuteilen. Sie schämte sich nun sehr, dass sie so kratzbürstig gewesen war und ihn so schlecht behandelt hatte. Sie wollte ihm sagen, wie leid ihr das alles tut und ihn um Verzeihung bitten, daher suchte sie nach einer passenden Gelegenheit, aber Ymir war vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf der Werft. Er arbeitete in einer großen Werkhalle, die er erst kürzlich errichtet hatte, weil es bei Schnee und Eis ohne Schutz nicht möglich gewesen wäre. Fackeln und Holzkohlefeuer erleuchteten und erwärmten die Halle gerade soweit, dass man es darin aushalten konnte. Dennoch kam er jeden Abend durchgefroren und hundemüde nachhause, nahm sich kaum Zeit für sein Abendessen, sondern setzte sich so schnell wie

möglich ans Herdfeuer und schnitzte für Gunnar schreckliche, grausige Drachenköpfe. Dabei war ihm kürzlich die Idee gekommen, die Köpfe nicht fest an die Vordersteven zu nageln, sondern sie frei aufsetzbar bzw. abnehmbar zu machen. Wenn man die Köpfe im Schiffsrumpf versteckt, so dachte sich Ymir, könnte man den Anschein eines Kaufmannsschiff erwecken und den Feind, dessen Küste man anläuft, bis zum letzten Moment in dem Glauben lassen, man käme in friedlicher Absicht. Erst kurz vor der Landung und viel zu spät für eine geordnete Gegenwehr würden die Köpfe aufgesetzt und die wahren Absichten erkennbar werden: Überfall, Krieg. Gunnar war von dieser Idee hellauf begeistert, er konnte sich nur zu gut die Panik unter den so Überraschten vorstellen.

Ymir war schon seit einiger Zeit aufgefallen, dass Embla jeden Abend, sobald er anfing zu schnitzen, sein Hochzeitsgeschenk auf den Tisch legte, und er hatte sich gefragt, ob etwa ihre Stimmung, die in letzter Zeit so heiter und sanft gewesen war, wieder ins Gegenteil umschlagen würde.

„Warum tust zu das?“ Er deutete auf das Holz und war entschlossen, ihr keine Launen mehr durchgehen zu lassen.

„Weil es uns soviel Glück gebracht hat wie du es darauf beschworen hast,“ antwortete sie.

„Na ja ...,“ murmelte Ymir, denn er wusste nicht, was er von dieser Antwort halten sollte. „Und weil es Unheil von uns fernhalten soll,“ fügte sie hinzu.

Etwas in ihrer Stimme ließ ihn aufhorchen. „Welches Unheil meinst du?“ fragte er.

Embla schlug die Augen nieder. „Deine Drachen … sie machen mir Angst … und vielleicht ängstigt sich dein Sohn dann auch.“

Embla nahm Ymirs Hand und legte sie auf die Rundung ihres Bauches. Es dauerte eine Weile, bis er begriff.

„Mein Sohn fürchet sich nicht vor Drachen!“ sprudelte es aus ihm heraus. „Oh Odin, wie dumm ich war, da lebe ich nun Tag für Tag neben meiner Frau und sehe sie trotzdem nicht richtig an.“

Dann nahm er Embla fest in seine Arme und alle Streitigkeiten, aller Zorn und alle Rückenschmerzen waren vergessen und vergeben, ganz ohne große Worte.

So verging dieser Winter für viele Menschen im Tal in erwartungsvoller Spannung. Alle Vorbereitungen deuteten auf Krieg. Nur Embla und Ymir hatten aus all den vielen kleinen Bemerkungen und Anordnungen Gunnars den richtigen Schluss gezogen, dass er zwar irgendwas im Schilde führte, aber das war auf keinen Fall ein Krieg.

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9783847669975
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