Consuelo war lebhaft gerührt: die Herzensergießung des alten Grafen rechtfertigte sie in ihren eigenen Augen und beruhigte ihr Gewissen. Sie hatte bis dahin doch oft gefürchtet, dass es nicht klug gehandelt war, ihrer Kühnheit und ihrem Edelmute so rücksichtslos zu folgen; jetzt hatte sie eine feierliche Bestätigung ihrer Handlungsweise und ihren Lohn zugleich erlangt. Ihre Freudentränen mischten sich mit denen des Greises und lange waren sie beide zu bewegt, um die Unterredung fortzusetzen.
Consuelo begriff indessen den Vorschlag noch nicht, den der Graf ihr gemacht hatte, und dieser, der sich hinlänglich erklärt zu haben glaubte, sah ihr Schweigen und ihre Tränen als Zeichen der Einwilligung und der Erkenntlichkeit an.
– Ich gehe, sagte er endlich, meinen Sohn zu Ihren Füßen zu rufen, damit er Sie mit mir segne, wenn er die Größe seines Glückes erfährt.
– Halten Sie, gnädiger Herr! rief Consuelo, erschrocken über diese Eile, ich verstehe nicht, was Sie von mir fordern. Sie billigen die Zuneigung, die Graf Albert mir bezeigt hat, und die Hingebung, welche ich für ihn gehabt habe. Sie schenken mir Ihr Vertrauen, Sie wissen, dass ich es nicht verraten werde; aber wie kann ich mich anheischig machen, mein ganzes Leben einer Freundschaft von so zarter Natur zu widmen? Ich sehe wohl, dass Sie auf die Zeit und auf meine Besonnenheit rechnen, um die geistige Gesundheit Ihres Sohnes zu stärken und die Lebhaftigkeit seiner Anhänglichkeit für mich zu mäßigen. Allein ich weiß ja nicht, ob ich meinen Einfluss auf sein Gemüt lange behaupten werde. Und selbst wenn diese enge Vertraulichkeit nicht gefährlich wäre für einen so leidenschaftlichen Mann, so steht es mir doch nicht frei, mein Leben der rühmlichen Aufgabe, die Sie mir bestimmen, zu weihen. Denn ich gehöre nicht mir an.
– Mein Himmel! was sagen Sie, Consuelo! Sie haben mich also nicht begriffen? Oder täuschten Sie mich, als Sie mir sagten, dass Sie frei wären, dass Sie keine Herzensneigung und keine Familie hätten?
– Aber, gnädiger Herr, antwortete Consuelo ganz verschüchtert, ich bin Künstlerin, ich habe ein Lebensziel, einen Beruf, einen Stand. Ich gehöre der Kunst an, für welche ich von Kindheit an bestimmt war.
– Was sagen Sie? Großer Gott! Sie wollen wieder auf das Theater gehen?
– Das nun ich weiß ja nicht. Ich sprach die Wahrheit, als ich Ihnen sagte, dass mich meine Neigung nicht dahin zieht. Ich habe auf dieser stürmischen Laufbahn noch nichts gefunden als fürchterliche Leiden, aber ich fühle dennoch, dass es unverantwortlich wäre, wenn ich mich geradezu verpflichten wollte, ihr zu entsagen. Es ist nun einmal meine Bestimmung geworden, und vielleicht ist es nicht möglich, sich der Zukunft zu entziehen, welche man sich vorgezeichnet hat. Sei es nun, dass ich die Bühne wieder betrete, sei es, dass ich Stunden und Konzerte gebe, Sängerin bin ich nun schon und muss ich sein. Wozu sonst taugte ich wohl! Wo sonst würde ich mich unabhängig fühlen? Wie sollte ich meinen Geist beschäftigen, der an das Arbeiten gewöhnt ist und dieser Art von Aufregung bedarf?
– O, Consuelo, Consuelo! rief Graf Christian mit schmerzlichem Tone; was Sie da sagen, alles das ist wahr! Ich dachte aber, Sie liebten meinen Sohn, und ich sehe nun, Sie lieben Ihn nicht.
– Und wenn ich ihn liebte, wenn ich ihn mit aller der Leidenschaft liebte, deren es bedürfte, um auf mich selbst zu verzichten, was würden Sie dann sagen, gnädiger Herr? rief Consuelo nun auch ungeduldig. Sie glauben also, dass es für ein Weib unmöglich ist, sich wirklich zu verlieben in einen Mann wie den Grafen Albert, da Sie mir zumuten, immer an seiner Seite zu leben?
– Wie denn? Was denn? Habe ich mich undeutlich ausgedrückt oder halten Sie mich für toll, liebe Consuelo? Habe ich Sie denn nicht um Ihr Herz und Ihre Hand gebeten für meinen Sohn Albert? Habe ich Ihnen nicht den Antrag einer legitimen und sicherlich ehrenvollen Verbindung zu Füßen gelegt? Wenn Sie Albert liebten, so würden Sie ohne Zweifel in dem Glücke, das Leben mit ihm zu teilen, eine Entschädigung für die Einbuße Ihres Ruhmes und Ihrer glänzenden Erfolge finden! Aber Sie lieben ihn nicht, da es Ihnen unmöglich scheint, dem, was Sie Ihre Bestimmung nennen, zu entsagen.
Mit dieser Erklärung hatte der gute Christian zurückgehalten, ohne es selbst zu wissen. Nicht ohne Angst und tiefen innerlichen Widerwillen hatte der alte Herr die Notwendigkeit erkannt, alle seine Vorstellungen vom Leben, alle Vorurteile seines Standes dem Glücke seines Sohnes aufzuopfern, und als er nach langem Kampfe mit Albert und mit sich selbst das große Opfer endlich brachte, wand sich ihm die letzte Entscheidung, die Besieglung des furchtbaren Aktes mit einem klaren Worte nur mühsam und nicht ohne eine Gewalttat seines Herzens von den Lippen.
Consuelo ahnte oder merkte das; denn in jenem Augenblicke, als es Christian schien, dass er die Hoffnung, sie zu dieser Heirat zu bewegen, aufgeben müsste, war in dem Gesichte des Greises sicherlich ein Zug von unwillkürlicher Freude dem Ausdruck seiner Bestürzung sonderbar beigemischt.
In einem Augenblick begriff Consuelo ihre Lage, und ein vielleicht übertriebener persönlicher Stolz flößte ihr Abneigung gegen das Bündnis ein, welches ihr angetragen wurde.
– Sie wollen, dass ich Graf Albert’s Frau werde! sagte sie noch bestürzt über den merkwürdigen Antrag. Sie würden sich dazu verstehen, mich Ihre Tochter zu nennen, mich Ihren Namen führen zu lassen, mich Ihren Verwandten, Ihren Freunden vorzustellen? Ach, gnädiger Herr! wie lieben Sie Ihren Sohn, und wie muss Ihr Sohn Sie lieben!
– Wenn Sie hierin einen auffallenden Edelmut finden, Consuelo, so muss entweder Ihr Herz keines solchen fähig sein, oder Sie müssen den Gegenstand nicht desselben würdig finden.
– Gnädiger Herr! sagte Consuelo, nachdem sie, ihr Gesicht mit den Händen bedeckend, sich gesammelt hatte, ich glaube zu träumen. Mein Stolz regt sich wider meinen Willen, bei dem Gedanken an die Kränkungen, denen ich mein Leben preisgäbe, wenn ich das Opfer annehmen wollte, das Ihr Vaterherz Sie bringen heißt.
– Wer würde es wagen Sie zu kränken, Consuelo, wenn der Vater und der Sohn Sie mit dem Schilde der Ehre und der Familie deckten?
– Und die Tante, gnädiger Herr? Die Tante, die hier eine wahre Mutter ist, würde sie es ohne Scham mit ansehen?
– Auch sie wird kommen und ihre Bitten mit den unsrigen vereinen, wenn Sie versprechen, sich erweichen zu lassen. Verlangen Sie aber nicht mehr, als die menschliche Natur zu leisten vermag. Ein Liebender und ein Vater können die Demütigung und den Schmerz einer abschläglichen Antwort hinnehmen. Meine Schwester würde sich dem nicht aussetzen. Wenn wir aber des Erfolges gewiss sein können, so wollen wir sie in Ihre Arme führen, meine Tochter!
– Gnädiger Herr! sagte Consuelo zitternd, Graf Albert hat Ihnen also wohl gesagt, dass ich ihn liebte?
– Nein! antwortete der Graf, dem es jetzt erst wieder einfiel, betroffen. Albert sagte mir im Gegenteil, er glaube, dass das Hindernis in Ihrem Herzen liegen würde. Er hat es mir hundertmal wiederholt. In der Tat aber, ich vermochte es nicht zu glauben. Ihre Zurückhaltung konnte ich mir aus Ihrer Rechtschaffenheit und Ihrem Zartgefühl zur Genüge erklären. Ich dachte aber, wenn ich Ihre Bedenken höbe, so würde ich von Ihnen das Geständnis erhalten, welches Sie ihm verweigert hatten.
– Und was sagte er Ihnen von unserem heutigen Spaziergang?
– Nur ein Wort. Versuchen Sie es Vater, sagte er, es ist das einzige Mittel, um zu erfahren, ob bloß Stolz oder ob Abneigung mir ihr Herz verschließt.
– Ach, gnädiger Herr! was werden Sie von mir denken, wenn ich Ihnen sage, dass ich es selbst nicht weiß?
– Dann müsste ich denken, liebe Consuelo, dass es Abneigung ist. O, mein Sohn, du mein armer Sohn! Wie schrecklich ist dein Loos. Nicht geliebt zu werden von der einzigen Frau, die du liebst, vielleicht jemals lieben wirst. Nur dieses Letzte fehlte noch zu unserem Unglück.
– O, mein Gott! Wie müssen Sie mich hassen, gnädiger Herr! Sie können es nicht begreifen, wie mein Stolz noch widerstehen kann, da Sie doch den Ihrigen opfern. Der Stolz eines Mädchens wie ich, scheint Ihnen weniger begründet, und dennoch glauben Sie mir, der Kampf in meinem Herzen ist nicht minder heftig in dieser Stunde, als jener, den Sie selbst bestanden haben.
– Ich begreife es wohl. Glauben Sie nicht, Signora, dass ich zu wenig Achtung vor Scham, Rechtschaffenheit und Uneigennützigkeit habe, um den Stolz, der sich auf solche Schätze gründet, nicht würdigen zu können. Aber was Vaterliebe überwinden konnte (Sie sehen, ich spreche mit unbedingter Offenheit), das, denke ich, wird auch Frauenliebe können. Nun wohl! Gesetzt, Albert’s, Ihr und mein Leben würden in einem beständigen Kampfe hingehen gegen die Vorurteile der Welt, gesetzt, wir müssten alle Dreie viel und lange leiden, und auch meine Schwester mit uns, würden wir nicht an unserer gegenseitigen Zärtlichkeit, an dem Zeugnisse unseres Gewissens und an den lohnenden Früchten unserer Aufopferung genug haben, um stärker zu sein, als die ganze Welt zusammen? Wahrer Liebe erscheinen diese Übel klein, die Ihnen zu schwer dünken für Sie und für uns. Aber solche wahre Liebe werden Sie schüchtern und ängstlich in der Tiefe Ihrer Seele vergebens suchen; Sie werden sie nicht finden, Consuelo, weil sie nicht da ist.
– Nun ja, ja! da liegt die Frage, da liegt sie ganz, sagte Consuelo, indem sie ihre Hände fest gegen ihr Herz drückte, alles Übrige ist nichts. Ich hatte auch meine Vorurteile, ja! Ihr Beispiel zeigt mir, dass es meine Pflicht ist, sie mit Füßen zu treten, und so stark, so heldenmütig wie Sie zu sein. Sei keine Rede weiter von meinen Einwürfen, von meiner falschen Scham! Keine Rede, setzte sie hinzu mit einem tiefen Seufzer, keine Rede, selbst von meiner Zukunft weiter, selbst von meiner Kunst! Dem allen werde ich entsagen können, wenn … wenn ich Albert liebe. Das ist es, was ich wissen muss.
Hören Sie mich an, gnädiger Herr! Ich habe mir selbst wohl hundertmal diese Frage vorgelegt, aber nie mit der Sicherheit, welche Ihre Zustimmung allein mir geben konnte. Wie hätte ich mich ernstlich fragen sollen, wenn die Frage selbst in meinen Augen eine Torheit, ja ein Verbrechen war? Jetzt, scheint mir, wird es mir möglich sein, mich zu prüfen und mich zu entschließen.
Ich bitte, lassen Sie mir einige Tage Zeit, um mich zu sammeln, und um mir klar zu machen, ob die unendliche Hingebung, die ich ihm zollen muss, die unbegrenzte Achtung und Verehrung, die seine Tugenden mir einflößen, der mächtige Seeleneinfluss, die eigene Herrschaft, welche er über mich durch seine Rede übt, ob alles das Bewunderung oder ob es Liebe ist.
Denn ich fühle das alles wirklich, gnädiger Herr! und doch wieder fühle ich im Streite damit eine unbeschreibliche Furcht, eine tiefe Traurigkeit, und … ich will Ihnen alles gestehen, o mein edler Freund! das Andenken einer früheren Liebe, welche weniger heftig, aber süßer, zarter war, und dieser in der Tat in keinem Stücke ähnlich.
– Sonderbares, edles Mädchens entgegnete Christian gerührt; wie viel Verstand und wie viel Wunderlichkeit zugleich in Ihren Worten und in Ihren Ansichten! Sie gleichen in vieler Hinsicht meinem armen Albert, und die Ungewissheit über Ihr Gefühl erinnert mich an meine Frau, meine edle, schöne, traurige Wanda!
O Consuelo, das ist gar ein süßes, bitteres Angedenken, das Sie in mir wecken. Ich wollte zu Ihnen sagen: überwinden Sie diese Unschlüssigkeit, besiegen Sie diesen inneren Widerstand; lieben Sie, aus Tugend, aus Seelengröße, aus Mitgefühl, aus Menschlichkeit und frommer Hingebung den armen Mann, der sich um Sie verzehrt und der, wenn er Sie vielleicht unglücklich macht, Ihnen doch seine Rettung verdanken und Ihnen den Lohn des Himmels verdienen wird.
Aber da haben Sie mich an seine Mutter gemahnt, an seine Mutter, die sich auch aus Pflicht, aus Freundschaft mir hingab. Sie konnte für mich schlichten, gutmütigen, ängstlichen Mann nicht die enthusiastische Liebe hegen, nach der ihre Fantasie lechzte. Sie war aber treu und edelmütig bis an ihr Ende. Ach! und wie hat sie gelitten! Ach! Ihre Hingebung war meine Wonne und meine Qual; ihre Beständigkeit mein Stolz und mein Jammer. Sie starb vor Herzeleid hin und mir hat es das Herz gebrochen auf alle Zeit. Wundern Sie sich nicht, wenn ich jetzt ein Nichts bin, ein zerknicktes Rohr, ein toter Mann bevor ich ins Grab gestiegen bin, wundern Sie sich nicht darüber, Consuelo! Ich litt, was niemand weiß, was ich keinem Menschen sagte und was ich Ihnen mit Zittern bekenne.
Nein! ehe ich Sie aufmuntere, ein solches Opfer zu bringen, und Albert es anzunehmen, lieber will ich mit Schmerz in die Grube fahren und meinen Sohn seinem Geschick erliegen lassen. Ich habe nur zu sehr erfahren, was es heißt, die Natur zwingen und den nicht zu stillenden Durst der Seele besiegen zu wollen. Nein! Nehmen Sie sich Zeit, um sich zu bedenken, meine Tochter! fügte der Greis hinzu, indem er Consuelo schluchzend an seine Brust drückte und ihre edle Stirn mit väterlicher Liebe küsste. Es wird immer so besser sein. Müssen Sie Nein sagen, so wird Albert, durch die Ungewissheit darauf vorbereitet, nicht so unerwartet und zerschmetternd von dem Schlage getroffen werden, wie es heut der Fall sein müsste.
Nach dieser Übereinkunft trennten sie sich. Consuelo schlüpfte durch die Corridore, voller Furcht, Anzoleto zu begegnen, und schloss sich von der Aufregung erschöpft und abgespannt in ihrem Zimmer ein.
Sie versuchte ein wenig körperlich zu ruhen, indem sie hoffte, auch ihr Geist werde dann die nötige Ruhe wieder finden. Sie fühlte sich zerschlagen, und als sie sich auf ihr Bett geworfen hatte, versank sie in eine Art Betäubung, die mehr peinlich als erquickend war. An Albert denkend wollte sie einschlummern, und den Gedanken reifen lassen unter den geheimnisvollen Bildern des Schlafes, worin wir manchmal eine Vorbedeutung suchen für die Dinge, welche uns in der Wirklichkeit beschäftigen.
Allein die unterbrochenen Träume, welche ihr während einiger Stunden ausstiegen, führten ihr immer nur Anzoleto’s und nicht Albert’s Bild vor. Immer war es Venedig, immer die Corte-Minelli, immer ihre erste, stille, klare, selige Liebe. Und so oft sie erwachte, verband sich der Gedanke an Albert mit der Vorstellung der schauerlichen Höhle, wo der Ton seiner Geige, von dem Wiederhall verzehnfacht, die Toten erweckte und über Zdenko’s kaum geschlossenem Grabe klagte.
Bei diesem letzteren Gedanken verschloss Furcht und Traurigkeit ihr Herz der Liebe. Von kalten Nebeln und blutigen Schreckbildern verhüllt erschien ihr die ihr angebotene Zukunft, während sich die Vergangenheit ihr so golden und so herrlich malte, dass im Anschauen sich ihr Busen hob und ihr Herz vor Freude klopfte.
Indem sie die vergangenen Zeiten träumte, schien es ihr als schallte ihre eigene Stimme weit in das All hinaus, erfüllte die Welt und schwebte in den schrankenlosen Himmelsräumen, während, wann die Zaubertöne und die wilden Melodien der Geige sie umrauschten, diese Stimme dumpf und ächzend wurde und wie Todesröcheln sich in den Abgrund der Erde verlor.
Die schwankenden Träume ängstigten sie so, dass sie aufsprang um sich von ihnen zu befreien, und da ihr der erste Schlag der Glocke verkündigte, dass man in einer halben Stunde das Mittagessen auftragen würde, begann sie ihre Toilette zu machen, noch immerfort von denselben Gedanken verfolgt.
Aber sonderbar! zum ersten Male in ihrem Leben schenkte sie ihrem Spiegel größere Aufmerksamkeit und dachte angelegentlicher an ihren Kopfputz und an ihren Anzug als an die ernsten Fragen, deren Lösung sie suchte. Wider Willen machte sie sich schön und wünschte es zu sein. Kein Gelüst, ihre beiden Liebhaber zur Begierde und zur Eifersucht zu reizen, lag in dieser unwiderstehlichen Regung von Koketterie: sie dachte nur an einen, konnte nur an einen denken.
Albert hatte ihr nie ein Wort über ihr Äußeres gesagt. In der Schwärmerei seiner Leidenschaft hielt er sie vielleicht für schöner als sie war, aber seine Gedanken nahmen stets so hohen Flug und seine Liebe war so groß, dass es ihm wie Entweihung scheinen musste, hätte er die Geliebte mit den trunkenen Augen eines Anbeters oder dem zufriedenen Kennerblicke eines Künstlers betrachten wollen. Sie schwebte ihm immer wie in einem Wolkenschleier vor, durch den sein Auge nicht zu dringen wagte, den seine Fantasie mit einem leuchtenden Himmelsschein umgab. Mochte sie mehr oder weniger schön sein, sie blieb doch stets für ihn dieselbe. Er hatte sie leichenfarben, abgezehrt, welk, mit dem Tode ringend, einem Gespenst ähnlicher als einem Weib gesehen. Da hatte er aufmerksam und ängstlich nur nach den mehr oder minder drohenden Symptomen der Krankheit in ihren Zügen gesucht, aber er hatte nie gesehen, ob Augenblicke waren, die sie hässlich, die sie zu einem Gegenstande des Schreckens und des Abscheus machten. Und als sie die Frische der Jugend und den Ausdruck des Lebens wieder gewann, hatte er nicht darauf geachtet, ob sie an Schönheit gegen früher verloren oder gewonnen hatte. Sie war für ihn im Leben wie im Tode, das Ideal der höchsten Jugend, der erhabensten Vollkommenheit und aller ewigen, unvergleichlichen Schönheit. Auch hatte Consuelo nie an sich gedacht und vor dem Spiegel ihr Äußeres geordnet.
Wie anders war es mit Anzoleto! Mit welcher ängstlichen, ins Kleinste gehenden Sorgfalt hatte dieser sie betrachtet, ihre Formen geprüft, ihr Äußeres stückweis untersucht an jenem Tage, wo er sich gefragt hatte, ob sie nicht etwa hässlich wäre. Wie er ihr Rechenschaft gegeben hatte über alles was an ihr irgend anmutig war, über jeden Versuch, den sie gemacht hatte, zu gefallen! Wie kannte er ihr Haar, ihren Arm, ihren Fuß, ihren Gang, die Farben die ihr gut standen, jede Falte, welche ihre Kleidung warf. Und mit welcher Wärme hatte er sie gelobt! Mit welchem sehnlichen Verlangen sie betrachtet!
Das keusche Mädchen hatte damals nicht begriffen, warum das eigene Herz heftiger schlug. Sie wollte es auch jetzt nicht begreifen, und doch fühlte sie beinah dieselbe Heftigkeit der Schläge bei dem Gedanken, wieder vor seinen Augen zu erscheinen. Sie wurde ungeduldig über sich selbst, errötete vor Scham und Zorn, und suchte sich einzubilden, dass sie sich nur Albert’s wegen schmücke; und doch wählte sie Haarputz, Band, ja den Blick sogar, alles wie es Anzoleto gern hatte.
Weh! weh! sagte sie bei sich, von ihrem Spiegel aufstehend, da ihre Toilette beendigt war. Also ist es doch so, dass ich nur an ihn denken kann, und dass das vergangene Glück mit hinreißenderer Gewalt auf mich wirkt als die gegenwärtige Verhöhnung und als die Aussichten einer neuen Liebe. Ach, es hilft nicht, dass ich in die Zukunft blicke; ohne ihn sehe ich in ihr nur Angst und Verzweiflung …
Aber was wäre sie denn mit ihm? Weiß ich denn nicht, dass die schönen Tage von Venedig niemals wiederkehren können, dass die Unschuld nicht bei uns Wohnung machen würde, dass Anzoleto’s Seele für immer verderbt ist, dass mich seine Liebkosungen erniedrigen, und dass Scham, Eifersucht, Kummer mir mein Leben fort und fort vergällen würden!
Als sie sich in dieser Hinsicht mit allem Ernste befragte, sah sie deutlich ein, dass sie sich nicht darüber täuschen könnte, und dass sich nicht das Leiseste in ihr zu Anzoleto’s Gunsten regte. Sie liebte ihn in der Gegenwart nicht mehr, und dachte sie sich eine Zukunft, die nur seine Verkehrtheiten steigern konnte, so fürchtete sie ihn und hasste ihn beinah; aber in der Vergangenheit liebte sie ihn so, dass sich ihre Seele und ihr Leben nicht davon losreißen konnten.
Er war von nun an ihren Augen wie ein Bildnis, welches ihr ein geliebtes Wesen und Tage der Seligkeit zurückrief; und gleich einer Witwe, welche sich vor ihrem neuen Gatten versteckt um das Bild des ersten zu betrachten, fühlte sie, dass der Tote lebendiger als der lebende in ihrem Herzen sei.