Sobald Consuelo einen günstigen Augenblick fand, verließ sie den Saal und eilte in den Garten. Die Sonne war untergegangen, und matt blitzten die ersten Sterne freundlich an dem Himmel, der im Westen noch rosenrot aber im Osten schon schwarz war. Die junge Künstlerin suchte in der reinen, frischen Luft der ersten Herbstabende Ruhe zu trinken. Ihre Brust war von süßem Sehnen beklommen, und doch fühlte sie Gewissensbisse, und bot ihrem Willen zu Hilfe alle Kräfte ihrer Seele auf. Sie hätte zu sich sagen können: soll ich denn nie erfahren, ob ich liebe, ob ich hasse?
Sie zitterte als ob sie fühlte, dass ihr Mut in der schwersten Entscheidungsstunde ihres Lebens von ihr wiche, und zum ersten Male vermisste sie in sich jene Sicherheit des ersten Gefühles, jenes heilige Vertrauen auf ihren guten Willen, welches sie bisher in allen Prüfungen aufrecht erhalten hatte. Sie hatte den Saal verlassen, um sich dem Zauber zu entziehen, womit Anzoleto sie umstrickte, und doch hatte sie etwas wie einen Wunsch, dass er ihr folgen möchte, in sich gespürt. Das Laub fing an zu fallen. Wenn es hinter ihr am Saume ihres Kleides rasselte, glaubte sie Schritte hinter sich zu hören, und Willens zu fliehen, und ohne Mut sich umzuschauen, blieb sie wie durch Zauber an ihren Fleck gebannt.
Es folgte ihr wirklich jemand, der sich aber nicht zu zeigen wagte, noch sich zeigen wollte: es war Albert. Allen jenen kleinen Verstellungen fremd, die man Anstand nennt, und sich in der Größe seiner Liebe über jede falsche Scham erhaben fühlend, hatte er gleich nach ihr den Saal verlassen, um zu ihrem Schutze bereit zu sein und ihren Verführer von ihr fern zu halten.
Anzoleto hatte diesen naiven Eifer wohl bemerkt, aber ohne sich dadurch beunruhigen zu lassen. Consuelo’s Verwirrung war ihm nicht entgangen, und er glaubte seines Sieges gewiss zu sein. Er war durch seine Gewohnheit leicht zu siegen, ein vollendeter Fant geworden und wusste, dass man die Sachen nicht brüskieren darf: er nahm sich vor, seine Geliebte nicht mehr wild und die Familie nicht mehr scheu zu machen.
– Es ist nicht mehr nötig, mich so sehr zu beeilen, sagte er. Der Zorn könnte ihr neue Kräfte geben. Ich stelle mich traurig und niedergeschlagen, so wird der Rest ihres Unwillens gegen mich verschwinden. Sie hat einen stolzen Geist; man muss den Angriff auf ihre Sinne richten. Sie ist gewiss nicht mehr so spröde als in Venedig, sie hat sich hier zivilisiert. Was tut es, wenn mein Nebenbuhler noch einen Tag länger der Glückliche ist? Morgen ist sie mein, vielleicht schon heute Nacht. Es wird sich zeigen. Ich darf sie nur nicht durch Furcht zu einem verzweifelten Entschlusse treiben. Sie hat mich ihnen nicht verraten. Sei es Mitleid, oder Furcht, sie hat mich in meiner Bruderrolle nicht gestört, und die hohen Verwandten scheinen entschlossen, mich trotz aller meiner Dummheiten ihretwegen zu ertragen. Ich will doch den Kriegsplan ändern. Ich bin schneller vorwärts gekommen als ich dachte. Ich kann nun schon einmal Halt machen.
Der Graf Christian, das Stiftsfräulein und der Kaplan sahen ihn nun zu ihrem großen Erstaunen ganz höflich und gesittet, bescheiden und zuvorkommend werden. Er war so geschickt, sich gegen den Kaplan ganz leise über starkes Kopfweh zu beklagen, und dabei zu bemerken, dass er sonst immer sehr mäßig sei und dass daher der Ungarwein, dem er bei Tische nicht so viel zugetraut hätte, ihm zu Kopfe gestiegen wäre. Augenblicklich war dieses Geständnis ins Deutsche übersetzt dem Stiftsfräulein und dem Grafen mitgeteilt, welcher letztere diese Art Entschuldigung mit bereitwilliger Güte annahm.
Wenceslawa war Anfangs weniger nachsichtig, aber die Mühe welche sich der Komödiant gab, sich ihr artig zu beweisen, die Ehrfurcht welche er für die Vorzüge des Adels geschickt an den Tag zu legen wusste, die Bewunderung welche er der im Schlosse herrschenden Ordnung zollte, entwaffneten alsbald diese menschenfreundliche und keines anhaltenden Grolles fähige Seele. Sie hörte ihm zuerst nur zu, weil sie eben nichts anderes zu tun hatte; bald aber vertiefte sie sich in das Gespräch mit ihm und kam zuletzt mit ihrem Bruder überein, dass es doch ein ganz prächtiger, allerliebster junger Mensch wäre.
Als Consuelo von ihrem Spaziergange zurückkam, war eine Stunde verflossen, die sich Anzoleto gut zu Nutze gemacht hatte. Er hatte die Familie so vollständig mit sich ausgesöhnt, dass er überzeugt war, so viele Tage im Schlosse bleiben zu können, als er zur Erreichung seines Zweckes nötig haben würde. Er verstand nicht was der alte Graf zu Consuelo auf Deutsch sagte, aber er erriet aus dessen Blicken die auf ihn gerichtet waren und aus der überraschten und verlegenen Miene des Mädchens, dass ihm Christian große Lobsprüche gezollt und sie ein wenig gescholten habe, dass sie einem so liebenswürdigen Bruder so wenig Aufmerksamkeit schenke.
– Nun, Signora, sagte das Stiftsfräulein, das bei aller Abneigung gegen die Porporina, doch nicht umhin konnte ihr wohl zu wollen und außerdem eine Christenpflicht zu erfüllen glaubte, Sie waren bei Tische böse auf Ihren Bruder und die Wahrheit zu sagen, er verdiente es da in der Tat. Aber er ist doch besser als er uns zuerst schien. Er hat Sie zärtlich lieb und sprach von Ihnen immerfort mit aller Liebe und sogar mit großer Achtung. Sie müssen nun nicht strenger sein als wir. Ich bin es überzeugt, er weiß es jetzt, dass er bei Tische zu viel getrunken hatte, er ist jetzt ganz trostlos darüber, besonders Ihretwegen. Reden Sie doch mit ihm und tun Sie nicht so kalt gegen einen, der Ihnen von Seiten des Blutes so nahe steht. Ich zum Beispiel, sehen Sie, mein Bruder Friedrich der in seiner Jugend ein gewaltiger Trotzkopf war, hat mich oft schwer geärgert, aber ich konnte doch keine Stunde mit ihm böse bleiben.
Consuelo, welche den Irrtum der guten Dame weder befestigen noch zerstören wollte, stand wie angewurzelt bei diesem neuen Angriff Anzoleto’s, denn sie begriff sogleich, wie geschickt er angelegt war und wie wirksam er sein musste.
– Sie verstehen nicht was meine Schwester sagte, belehrte Christian den jungen Mann, ich will es Ihnen in zwei Worten übersetzen. Sie macht der Consuelo Vorwürfe darüber, dass sie mit Ihnen zu sehr die kleine Mama spielt, und ich bin auch überzeugt, dass Consuelo vor Verlangen brennt, Frieden zu schließen: Nun umarmt euch, Kinder! Auf, junger Mann, an Ihnen ist es den ersten Schritt zu tun, und wenn Sie von früher her Manches bei ihr gut zu machen haben, wohlan, ein offenes Geständnis, damit sie es Ihnen verzeihe!
Anzoleto ließ es sich nicht zweimal sagen; er ergriff Consuelo’s zitternde Hand, die sie nicht zurückzuziehen wagte, und sprach:
– Jawohl, ich habe sehr viel gegen sie gut zu machen, und meine Reue ist so groß, dass alle meine Anstrengungen, mich darüber hinaus zu setzen, nichts fruchteten, als mir nur immer mehr das Herz zu brechen. Sie weiß es wohl, und wenn sie nicht von Stahl und Eisen wäre, stolz wie die Stärke selbst und unerbittlich wie die Tugend in Person, so würde sie einsehen, dass ich durch meine Gewissensbisse schon genug bestraft bin. Schwester, o vergib mir doch, und habe mich wieder lieb; oder ich will auf der Stelle abreisen und meine Verzweiflung, mein Alleinsein, meine Verödung über die ganze Erde schleppen. Überall fremd, ohne Stütze, ohne Rat, ohne Liebe, werde ich an keinen Gott mehr glauben und meine Verirrung wird auf dein Haupt zurückfallen.
Diese Homelie rührte den Grafen sehr und presste dem Stiftsfräulein Tränen aus.
– Sie hören es, Porporina! rief die letztere; was er Ihnen sagt ist sehr schön und sehr wahr. Herr Kaplan, Sie müssen der Signora im Namen der Religion befehlen, sich mit ihrem Bruder auszusöhnen.
Der Kaplan machte Miene zu gehorchen. Anzoleto wartete aber die Predigt nicht ab, sondern umfasste Consuelo ungeachtet ihres Schreckens und ihres Sträubens und küsste sie mit Leidenschaft und zu großer Erbauung der Versammlung ins Gesicht. Consuelo konnte in ihrer Entrüstung zu dem unverschämten Betruge nicht länger schweigen.
– Halt! rief sie. Hören Sie mich an, Herr Graf! …
Sie war im Begriff, alles zu entdecken, als Albert erschien. Im Augenblicke stieg ihr der Gedanke an Zdenko auf und ihr zum Überströmen volles Herz erstarrte vor Furcht. Ihr unerbittlicher Beschützer konnte den Gedanken fassen, sie geräuschlos, unbedenklich von dem Feinde zu befreien, gegen den sie im Begriff war seine Hilfe anzurufen. Sie erbleichte, sah Anzoleto mit einem schmerzlichen, vorwurfsvollen Blicke an und das Wort erstarb auf ihren Lippen.
Punkt sieben Uhr setzte man sich zum Abendtische. Wenn der Gedanke an diese häufigen Mahlzeiten dazu angetan ist, meinen zarten Leserinnen den Appetit zu verderben, so will ich ihnen nur sagen, dass die Mode nicht zu essen in jener Zeit und in jenem Lande nicht im Schwange war. Ich glaube schon gesagt zu haben, man aß auf Riesenburg langsam, reichlich und oft. Die Hälfte des Tages beinah wurde bei Tische zugebracht, und ich gestehe allerdings, dass Consuelo, die von Jugend auf, und aus Gründen, gewöhnt war, von etwas Reis in Wasser gekocht den ganzen Tag zu leben, diese homerischen Mahlzeiten tödlich lang fand.
Jetzt zum ersten Male wusste sie nicht, ob das Essen eine Stunde, einen Augenblick oder ein Jahrhundert währte. Sie hatte nicht mehr Leben in sich als Albert, wann er allein im Schoße seiner Grotte war. Sie glaubte trunken zu sein, so hatten Scham über sich selbst, Liebe und Angst ihr ganzes Wesen erschüttert. Sie aß nicht, hörte nicht und sah nicht was um sie her vorging. Entsetzt wie jemand der in einen Abgrund stürzen will, und die schwachen Halme nach welchen er noch greift, um sich zu retten, einen nach dem anderen zerreißen sieht, sah sie in den Abgrund hinunter und fühlte sausenden Schwindel in ihrem Kopfe.
Anzoleto saß neben ihr, er streifte ihr Kleid, er drückte krampfhaft seinen Elnbogen an den ihren, seinen Fuß gegen ihren Fuß. In seiner Beflissenheit, sie zu bedienen, begegnete er ihren Händen und hielt sie eine Sekunde in den seinigen fest, aber dieser rasche, heiße Druck fasste ein Jahrhundert von Wollust in sich. Er flüsterte ihr Worte zu von jenen, welche den Atem rauben, er schoss Blicke auf sie von jenen, die versengen. Er benutzte einen blitzschnellen Augenblick, um sein Glas mit dem ihrigen zu vertauschen und mit seinen Lippen den Kristallrand zu berühren, den die ihrigen berührt hatten. Und er verstand es ganz Feuer für sie, ganz Eis in den Augen der Übrigen zu sein.
Er hielt sich trefflich, sprach mit Anstand, war voll aufmerksamer Rücksichten für das Stiftsfräulein, behandelte den Kaplan mit Ehrerbietung, bot ihm die besten Stücke Fleisch an, die er sich befliß mit aller Gewandtheit und Zierlichkeit eines an großen Tafeln heimischen Gastes abzuschneiden. Er hatte bemerkt, dass der heilige Mann ein Schmecker war, dass aber seine Schüchternheit ihm in dieser Hinsicht viel Entbehrung auflegte: derselbe stand sich nun so gut bei Anzoleto’s Dienstfertigkeit, dass er im Stillen wünschte, der neue Vorschneider möchte seine Lebenstage auf Riesenburg zubringen.
Man bemerkte, dass Anzoleto nur Wasser trank, und als ihm der Kaplan zur Vergütung seiner Zuvorkommenheiten Wein einschenken wollte, antwortete er laut genug, um gehört zu werden:
– Nein, danke tausendmal! dazu bekommt man mich nicht wieder. Ihr trefflicher Wein, mit dem ich mir einmal die Sorgen vertreiben wollte, ist ein Verräter. Jetzt, da ich keinen Kummer mehr habe, halte ich mich wieder an’s Wasser, mein gewöhnliches Getränk und meinen ehrlichen Freund.
Der Abend wurde ein wenig länger ausgedehnt als gewöhnlich. Anzoleto sang noch, und er sang diesmal für Consuelo. Er wählte ihre Lieblingsarien von alten Meistern, Sachen, die sie ihm selbst eingeübt hatte, und er sang sie mit allem Fleiße, in aller Reinheit des Geschmacks und mit aller Zartheit der Auffassung, wie sie es von ihm zu fordern gewohnt war. Er wollte ihr die teuersten, die reinsten Erinnerungen ihrer Liebe und ihrer Kunst vor die Seele bringen.
Als man im Begriff war, sich zu trennen, nahm er einen günstigen Augenblick wahr, und sagte leise zu ihr:
– Ich weiß deine Stube, die meinige liegt auf demselben Gange. Um Mitternacht werde ich an deiner Tür knien, und werde da liegen bleiben bis es Tag wird. Versage mir nicht einen Augenblick Gehör. Ich will nicht deine Liebe wieder gewinnen, ich verdiene sie nicht. Ich weiß, dass du mich nicht mehr lieben kannst, dass ein anderer glücklich ist, und dass ich scheiden muss. Ich werde scheiden mit dem Tod im Herzen und mein übriges Leben wird den Furien geweiht sein. Aber jage mich nicht fort ohne ein Wort des Mitleids, ohne ein Abschiedswort. Wenn du nicht einwilligst, so werde ich mit anbrechendem Tage abreisen und es ist aus mit mir auf ewig.
– Sagen Sie das nicht, Anzoleto. Wir müssen uns hier trennen, und uns auf ewig Lebewohl sagen. Ich verzeihe Ihnen und ich wünsche Ihnen …
– Glückliche Reise, antwortete er bitter spottend.
Dann fiel er sogleich wieder in seinen heuchlerischen Ton.
– Du bist erbarmungslos, Consuelo! sagte er. Du willst, ich soll verloren sein, es soll kein gutes Gefühl, kein gutes Andenken in mir übrig bleiben. Was fürchtest du? Habe ich dir nicht tausendmal meine rücksichtsvolle, meine reine Liebe bewiesen? Wenn man so in den Tod liebt wie ich, ist man nicht Sklav? Weißt du nicht, dass ein Wort von dir mich zähmt, mich kettet? Um Gottes willen, wenn du nicht die Maitresse dieses Mannes bist, den du heiraten willst, wenn er nicht Herr deines Zimmers und der unvermeidliche Gefährte deiner Nächte ist …
– Das ist er nicht und war er nie, sagte Consuelo im Stolze ihrer Unschuld.
Sie hätte besser getan, die Regung eines gerechten, aber in diesem Falle zu offenherzigen Stolzes zu unterdrücken. Anzoleto war nicht furchtsam, aber er hatte das Leben lieb, und hätte er fürchten müssen, in Consuelo’s Zimmer einen entschlossenen Hüter zu finden, so wäre er in dem seinigen geblieben. Der Ausdruck von Wahrheit, welcher in der Antwort des jungen Mädchens lag, machte ihn vollkommen kühn.
– In diesem Falle, sagte er, bringe ich dadurch deine Zukunft nicht in Gefahr. Ich werde so behutsam, so geschickt sein, werde so leise gehen, so leise sprechen, dass dein Ruf nicht gefährdet werden soll. Und bin ich übrigens nicht dein Bruder? Was wird daran auffallen, wenn ich dir Lebewohl sage, ehe ich vor Tagesanbruch abreise?
– Nein, nein, kommen Sie nicht, sagte Consuelo erschreckt. Das Zimmer des Grafen Albert ist nicht weit; er hat vielleicht schon alles geahnt … Anzoleto, wenn Sie sich in Gefahr setzen … ich stehe Ihnen nicht für Ihr Leben. Ich spreche im vollen Ernste, mein Blut erstarrt in meinen Adern.
– Anzoleto fühlte wirklich, dass ihre Hand, die er in der seinigen hielt, kalt wie Marmor wurde.
– Wenn du Schwierigkeiten machst, wenn du an deiner Tür unterhandelst, so bringst du mein Leben in Gefahr, sagte er lächelnd; aber wenn deine Tür offen ist, wenn wir uns stumm küssen, so ist nichts zu fürchten. Erinnere dich, dass wir Nächte miteinander zugebracht haben, ohne einen Einzigen von den vielen Bewohnern der Corte-Minelli aufzuwecken. Was mich betrifft, so sage ich dir, wenn weiter kein Hindernis ist als die Eifersucht des Grafen, und sonst keine Gefahr als der Tod …
Consuelo sah in diesem Augenblick, dass des Grafen sonst so unstätes Auge sich auf Anzoleto heftend klar und tief wurde. Er konnte ihr Gespräch nicht hören, aber er schien mit den Augen zu hören. Sie zog ihre Hand zurück und sagte mit erstickter Stimme:
– Ha! wenn du mich liebst, so trotze diesem furchtbaren Manne nicht!
– Fürchtest du für dich? fragte Anzoleto hastig.
– Nein, aber für jeden, der mir naht und mich bedroht.
– Und dich anbetet doch wohl? Immerhin! Es sei! Sterben vor deinen Augen; sterben zu deinen Füßen, o ich wünsche mir nichts als das. Ich werde um Mitternacht da sein. Zögere, und du wirst nur meinen Tod beschleunigen.
– Sie reisen Morgen vor Tage ab, und nehmen von Niemanden Abschied? sagte Consuelo, als sie sah, dass er sich dem Grafen und dem Stiftsfräulein empfahl, ohne seiner Abreise zu erwähnen.
– Nein, antwortete er, sie würden mich zurückhalten wollen, und wenn sich alles verschwört, meine Todesqual zu verlängern, so würde ich wider Willen nachgeben. Du wirst mich bei ihnen entschuldigen und ihnen mein Lebewohl ausrichten. Ich habe meinem Führer aufgetragen, die Pferde um 4 Uhr bereit zu halten.
Die letztere Versicherung war mehr als gegründet. Albert’s seltsame Blicke seit einigen Stunden waren dem Anzoleto nicht entgangen. Er war entschlossen alles zu wagen, aber er hielt sich für den Fall der Not zur Flucht bereit. Seine Pferde standen schon gesattelt im Stalle und sein Führer war angewiesen, sich nicht niederzulegen.
Als Consuelo sich in ihrem Zimmer befand, überfiel sie eine wahre Angst. Sie wollte Anzoleto nicht annehmen und zugleich beschlich sie eine Furcht, dass er abgehalten werden möchte, sie aufzusuchen. Immerfort quälte sie in ihrem Innern dieses doppelte, falsche, unüberwindliche Gefühl und brachte ihr Herz mit ihrem Gewissen in Streit. Sie hatte sich noch nie so unglücklich, so verlassen, so einsam auf Erden gefühlt.
– O, mein Meister Porpora! wo bist du? rief sie aus. Du allein könntest mich retten, du allein kennst mein Übel und die Gefahren, denen ich ausgesetzt bin. Du allein bist hart, strenge, misstrauisch, wie es ein Freund, ein Vater sein muss, um mich dem Abgrund zu entreißen, welcher sich vor mir auftut! Aber bin ich denn nicht von Freunden umgeben? Habe ich nicht an dem Grafen Christian einen Vater? Würde mir nicht das Stiftsfräulein eine Mutter sein, wenn ich den Mut hätte, ihren Vorurteilen offen entgegenzutreten und ihr mein Herz zu öffnen? Und ist nicht Albert mein Schutz, mein Bruder, mein Gatte, wenn ich ein Wort zu sagen mich entschließen kann? Ach! er sollte mein Retter sein; und ihn fürchte ich, ihn stoße ich zurück!
Ich muss zu ihnen, zu allen dreien, setzte sie hinzu und ging mit raschen Schritten in ihrem Zimmer auf und nieder. Ich muss mich ihnen anvertrauen, mich an ihre rettenden Arme hängen, mich unter die Flügel dieser Schutzengel flüchten. Ruhe, Würde, Ehre herrschen bei ihnen; bei Anzoleto erwartet mich Schande und Verzweiflung. Ja, ich muss es ihnen offen bekennen, welch ein abscheulicher Tag dies war, ich muss ihnen sagen was in mir vorgeht, damit sie mich behüten und mich vor mir selbst beschützen. Ich muss mich durch ein Gelöbnis an sie ketten, ich muss dieses furchtbare Ja aussprechen, welches eine unübersteigliche Schranke zwischen mir und meiner Pest aufrichtet. Ja, ich gehe …
Und anstatt zu gehen sank sie erschöpft auf ihren Stuhl und weinte mit blutendem Herzen über ihre verlorene Ruhe, und ihre zerbrochene Kraft.
– Wie aber! sagte sie, werde ich nicht gehen und sie wieder belügen? ich werde ihnen ein verirrtes Mädchen, eine ehebrecherische Gattin anbieten. Denn im Herzen bin ich das. Und der Mund, welcher dem aufrichtigsten der Menschen unerschütterliche Treue geloben will, brennt noch von dem Kusse eines anderen, und bei dem bloßen Gedanken an ihn, klopft mein Herz von unlauterer Lust.
Ach! auch meine Liebe zu diesem unwürdigen Anzoleto ist so verwandelt wie er selbst. Es ist nicht diese ruhige, heilige Liebe, mit welcher ich glücklich einschlief unter den Fittigen, die meine Mutter vom Himmel herab über mich breitete. Es ist ein ungestümes Verlangen so niedrig und sündhaft wie das Wesen, welches es mir einflößt. In meiner Seele ist nichts Großes, nichts Wahres mehr. Ich lüge mir selbst seit diesem Morgen, wie ich die anderen belüge. Wie sollte ich sie nicht künftig in allen Stunden meines Lebens belügen? Gegenwärtig oder abwesend wird mir Anzoleto stets vor Augen stehen; nur der Gedanke, mich morgen von ihm zu trennen, erfüllt mich mit Schmerz und an der Brust eines anderen würde ich immer nur an ihn denken. Was soll ich tun, was soll aus mir werden?
Die Stunden rückten fort, schrecklich schnell, schrecklich langsam.
– Ich will ihn sehen, sagte sie. Ich werde ihm sagen, dass ich ihn hasse, dass ich ihn verachte, dass ich ihn nie wieder sehen will … Nein, nein! ich belüge mich wieder; ich werde ihm das nicht sagen, oder wenn ich den Mut dazu hätte, so werde ich es einen Augenblick darauf wieder zurücknehmen. Ich kann mich selbst auf meine Keuschheit nicht mehr verlassen, er glaubt nicht mehr daran, er wird mich nicht mehr schonen.
Und ich, ach, ich glaube selbst nicht mehr an mich, an nichts mehr glaube ich. Ich werde erliegen, noch mehr aus Furcht als aus Schwäche. O! lieber sterben als so in meiner Selbstachtung sinken und der Verschlagenheit, der Frechheit eines anderen diesen Sieg lassen über den heiligen Willen und die edlen Vorsätze, die mir Gott ins Herz gelegt hat.
Sie setzte sich an das Fenster, sie dachte ernstlich daran, sich hinabzustürzen, um durch den Tod der Schande zu entgehen, mit welcher sie sich schon befleckt glaubte. Im Ringen gegen diese schwarze Versuchung, sann sie den Rettungsmitteln nach, die für sie noch übrig sein könnten. Eigentlich fehlte es ihr daran nicht, aber alle schienen andere Gefahren nach sich zu ziehen. Sie hatte vor der Hand die Tür verriegelt, durch welche Anzoleto kommen konnte.
Aber sie kannte diesen kalten, selbstsüchtigen Menschen nur halb, und da sie Proben gehabt hatte von seinem äußeren Mut, so wusste sie nicht, dass es ihm an dem moralischen Mute, welcher zur Befriedigung der Leidenschaften dem Tode trotzt, durchaus gebrach. Sie dachte sich, er würde gewiss bis an die Tür kommen, würde darauf bestehen gehört zu werden, würde Geräusch machen, und sie wusste wohl, dass es nur eines Hauchs bedürfte, um Albert herbeizuziehen.
Neben ihrem Zimmer war ein Kabinet mit einer heimlichen Treppe, wie fast in allen Gemächern des Schlosses, aber diese Treppe führte in den untern Stock, dicht an das Zimmer des Stiftsfräuleins. Es war die einzige Zuflucht, welche sie gegen Anzoleto’s unverschämte Keckheit nehmen konnte, und um sich öffnen zu lassen, hätte sie alles bekennen müssen, sogar schon zum Voraus, um nicht zu einem Skandal Anlass zu geben, den die gute Wenceslawa in ihrem Schrecken leicht verlängern konnte.
Dann war noch der Garten, aber wenn Anzoleto, der das Schloss sorgfältig ausgekundschaftet zu haben schien, ebenfalls dorthin kam, so rannte sie recht eigentlich in ihr Verderben.
Mit diesen Gedanken beschäftigt, sah sie aus dem Fenster ihres Kabinets, welches auf einen hinteren Hof ging, Licht bei den Ställen. Sie bemerkte einen Mann, welcher aus und einging ohne die anderen Diener zu wecken und welcher Anstalten zur Abreise zu treffen schien. An seiner Kleidung erkannte sie Anzoleto’s Führer, der seiner Weisung gemäß die Pferde in Stand setzte. Sie sah auch Licht bei dem Hüter der Zugbrücke und schloss daraus mit Recht, dass dieser von dem Führer benachrichtigt war, dass zu einer noch unbestimmten Stunde der Nacht abgereist werden sollte.
Während Consuelo diese Beobachtungen machte und sich tausend Mutmaßungen und Entwürfen hingab, fasste sie plötzlich einen seltsamen und höchst verwegenen Entschluss. Allein da dieser ihr einen Mittelweg zeigte zwischen den beiden äußersten, die sie fürchtete, und ihr zugleich die Aussicht auf eine neue Wendung ihres Schicksals eröffnete, so schien er ihr eine wahre Eingebung des Himmels. Sie hatte nicht Zeit, die Mittel der Aufführung und die Folgen reiflich zu bedenken; die ersteren schienen sich ihr durch eine besondere Fügung darzubieten, die anderen, meinte sie, würden sich ja abwenden lassen.
Sie setzte sich nieder und schrieb das folgende, wie man denken kann in großer Hast, denn die Schlossuhr hatte so eben Eilf geschlagen.
»Albert! Ich bin gezwungen abzureisen. Ich habe Sie von ganzem Herzen lieb, das wissen Sie. Aber es gibt in meinem Wesen Widersprüche, innere Qualen, widerstrebende Gefühle, die ich weder Ihnen noch mir selbst erklären kann. Wenn ich Sie in diesem Augenblicke sähe, so würde ich Ihnen sagen, dass ich mich Ihnen anvertraue, dass ich Ihnen die Sorge für meine Zukunft übergebe, dass ich einwillige, Ihre Frau zu werden. Ich würde Ihnen vielleicht sagen, dass es mein Wunsch ist. Und dennoch würde ich Sie betrügen, oder ich würde ein leichtsinniges Gelübde ablegen, denn mein Herz ist von seiner alten Liebe noch nicht genug gereinigt, um Ihnen von Stund an ohne Scheu anzugehören und um Ihre Liebe ohne Vorwurf zu verdienen.
Ich fliehe, ich gehe nach Wien, um dort den Porpora zu finden oder zu erwarten, denn höchstens in einigen Tagen muss er ankommen, wie Sie aus seinem Brief an Ihren Vater wissen. Ich schwöre Ihnen, dass ich bei ihm die Kraft suchen will, meine Vergangenheit zu vergessen und zu hassen, und die Hoffnung einer Zukunft, deren Eckstein Sie mir sind.
Folgen Sie mir nicht, ich verbiete es Ihnen, Namens dieser Zukunft, welche Ihre Ungeduld gefährden, vielleicht zerstören würde. Erwarten Sie mich, und halten Sie Ihr Versprechen, nicht ohne mich in … zurückzukehren. Sie verstehen mich. Zählen Sie auf mich, ich fordere es von Ihnen, denn ich scheide in der frommen Hoffnung, bald wieder zu kommen oder Sie zu rufen. In diesem Augenblick bin ich wie von einem schrecklichen Traum gefangen. Ich glaube, wenn ich mit mir allein sein werde, so werde ich Ihrer wert erwachen.
Ich will nicht, dass mein Bruder mir folge. Ich werde ihn hintergehen, ihn auf einen dem meinigen entgegengesetzten Weg weisen. Bei allem was Ihnen das liebste auf der Welt ist, arbeiten Sie meinem Plane nicht entgegen und glauben Sie, dass ich aufrichtig bin. Daran will ich erkennen, ob Sie mich wahrhaft lieben, und ob ich ohne Erröten meine Armut Ihrem Reichtum, meine Dunkelheit Ihrem Range, meine Unwissenheit Ihrer Geistesbildung opfern kann.
Leben Sie wohl! Doch nein – auf Wiedersehen, Albert! Um Ihnen zu beweisen, dass ich nicht unwiderruflich scheide, trage ich Ihnen auf, Ihre würdige und teure Tante unserer Verbindung günstig zu stimmen und mir die Gewogenheit Ihres Vaters, des besten, ehrwürdigsten der Menschen zu erhalten. Sagen Sie ihm über diese Sache die volle Wahrheit. Von Wien aus werde ich Ihnen schreiben.«
Die Hoffnung, einen so von Liebe glühenden Mann wie Albert durch einen solchen Brief zu überzeugen und zu beruhigen, war ohne Zweifel kühn, aber nicht unvernünftig. Consuelo fühlte, dass ihr im Schreiben die Stärke ihres Willens und die Geradheit ihres Charakters wiederkehrte. Alles was sie schrieb, dachte sie wirklich. Alles was sie ankündigte, war sie im Begriffe zu tun. Sie glaubte an Albert’s durchdringenden Blick, fast an das zweite Gesicht, das Amalie ihm beigelegt hatte; sie hätte nicht hoffen dürfen, ihn zu täuschen; sie war gewiss, dass er an sie glauben, und, wie nun sein Charakter war, ihr pünktlich gehorchen würde. Sie beurteilte in diesem Augenblick die Dinge und Albert selbst von seiner Höhe.
Nachdem sie ihren Brief geschlossen hatte, ohne ihn zu versiegeln, warf sie ihren Reisemantel über, hüllte ihren Kopf in einen sehr dichten schwarzen Schleier, zog starke Schuhe an, steckte das wenige Geld ein, welches sie besaß, machte ein kleines Packet Wäsche und schlich auf den Zehen mit unglaublicher Vorsicht hinunter. Sie ging durch das untere Geschoss, erreichte das Zimmer des alten Grafen, schlüpfte in dessen Kapelle, die er, wie sie wusste, jeden Morgen um sechs Uhr besuchte. Sie ließ ihren Brief auf dem Kissen zurück, auf welchem er sein Gebetbuch abzulegen pflegte, ehe er niederkniete. Hierauf gelangte sie auf den Hof, ohne Jemanden zu erwecken, und ging gerades Weges zu den Ställen.
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