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51 Vgl. dazu unten Abschn. 3.2.

52 Zu beachten ist, dass natürlich oft auch Mehrfachdiagnosen vorkommen.

53 Multi-methodischer Ansatz: Systematische Literaturdurchsicht, Neuanalyse bestehender Datensätze und nationaler Surveys, sowie Expertenbefragungen (vgl. Wittchen et al. 2011, S. 656).

54 Eingedenk der Mahnung von K. I. Pargament: „In fact, there is, perhaps, only one thing to avoid: simple conclusions. Stereotypic views of religion, be they positive or negative, do not stand up to empirical scrutiny.“ (Pargament 2002b, S. 178)

2 Anthropologische Aspekte: Inwiefern gehört eine religiöse bzw. spirituelle Dimension zum Menschen?

Gehört eine solche Dimension zum „Wesen“ des Menschen, ist sie konstitutiv für das Menschsein? Oder ist sie zumindest möglich – und gegebenenfalls auch eine relevante und ernst zu nehmende Dimension? Ein völliger Konsens der unterschiedlichen Menschenbilder und Anthropologien wird sich nicht herstellen lassen.55 Anthropologische Reflexion stößt angesichts der Komplexität ihres „Gegenstandes“ Mensch an Grenzen, die keine alles übergreifende Meta-Synthese erlauben.56

Anschaulich wird das z. B. in der langen Liste von „Wesensbestimmungen“ des Menschen, die der Philosoph Gerhard Arlt zusammengestellt hat, ebenso beeindruckend seine Aufzählung von Namen einzelner Anthropologien: Es gibt mehr davon, „als Wörter auf eine Druckseite gehen.“ (vgl. Arlt 2001, S. 5) f.) Berühmt ist das Diktum von Karl Rahner zur Frage „Was ist der Mensch?“: „Ich meine: der Mensch ist die Frage, auf die es keine Antwort gibt.“ (Aus: Wagnis des Christen; zit. nach Rahner 1979, S. 23)57 Und doch ist die Frage wichtig, was zum Mensch-sein gehört – oder gehören kann.

In ihrer Einleitung zum Handbuch Anthropologie betonen Eike Bohlken und Christian Thies, man könne nur bedingt von einem Wesen des Menschen sprechen:

Der Begriff eines „Wesens“ darf allerdings nicht mehr „essenzialistisch“ als Substanz aufgefasst werden, sondern ist lediglich im Sinne einer inhaltsoffenen Strukturformel zu denken; er muss als dynamisch konzipiert werden, denn seine inhaltliche Füllung bleibt notwendig geschichtlich unabgeschlossen und damit Gegenstand fortwährender Auseinandersetzungen zwischen den Angehörigen verschiedener Kulturen, Epochen und Disziplinen. (Bohlken u. Thies 2009, S. 4)58

Klaus Hock, Professor für Religionsgeschichte an der Universität Rostock, beobachtet in der Philosophie und Theologie bisweilen apologetische Bemühungen, „in der Religiosität eine in der menschlichen Natur mitgegebene Größe jenseits aller konkreten Ausdrucksformen von Religion zu finden.“ (vgl. Hock 2009, S. 399 f.) Auch religionssoziologische wie -psychologische Untersuchungen könnten keine abschließende Antwort auf die fundamentale Frage geben, ob wir es bei Religiosität mit einer „anthropologischen Grundkonstante“ zu tun haben, „die substanziell zum Wesen des Menschen gehört“, oder eher mit einem „Akzidens, dessen Vorhandensein (oder Fehlen) durch ein Ensemble unterschiedlichster Faktoren zustandekommt“, also nicht essenzialistisch in der Grundstruktur des Menschen angelegt sei (ebd., S. 402).

Eine für alle überzeugende Antwort, inwieweit eine religiöse bzw. spirituelle Dimension zum Menschen gehöre, wird sich auch hier nicht darstellen lassen. Versucht werden soll aber ein Mosaik namhafter Stimmen (v. a. des 20. und 21. Jh.s) aus unterschiedlichen Fächern, die dieses komplexe Phänomen aus verschiedenen Richtungen beleuchten und so seine Relevanz und Vielfalt aufscheinen lassen. Denn selbst „eine“ religiös-spirituelle Dimension wäre keine eindimensionale Erscheinung.

2.1 Philosophische Gesichtspunkte

Vor der philosophischen Reflexion steht die Wahrnehmung, oft auch erst das Staunen, wie Aristoteles bemerkte. In der Vielfalt religiöser Phänomene versuchen die Religionswissenschaften, ordnende Kategorien zu finden. Eine sehr einflussreiche, auch religionspsychologisch brauchbare Definition von Religion hat 1966 der Ethnologe Clifford Geertz vorgelegt:

Eine Religion ist (1) ein Symbolsystem, das darauf zielt, (2) starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, (3) indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und (4) diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, daß (5) die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen. (Geertz 1983, S. 48)59

Ein Symbolsystem hat mit der Deutung von Wirklichkeit zu tun, was auch für den Religionsphänomenologen Jacques Waardenburg zentral ist. Er zählt als die drei wesentlichen Merkmale von Religion auf: „religiös gedeutete Wirklichkeiten“, „religiös gedeutete Erfahrungen“ und „religiös gedeutete Normen“ (vgl. Waardenburg 1986, S. 18–23). Das könnte tautologisch klingen oder wie eine bloße Explikation des Begriffs Religion, verdeutlicht aber den – philosophisch wie theologisch sinnvollen – Ansatz, dass Religion und ihr intendiertes Gegenüber (wie etwa Gott selbst) nicht direkt greifbar sind, sondern eine Deutung des Gegebenen verlangen.

Der Philosoph Bernhard Irrgang vermerkt beim Eintrag „Mensch“ im Lexikon philosophischer Grundbegriffe der Theologie: „Als grundlegende Wesenszüge des M.en gelten seine Vernunft und seine Freiheit, seine Sprachfähigkeit, seine Moralität, seine Sozialität, sein Selbst- und Todesbewusstsein, aber auch der aufrechte Gang, Kultur, Technik, seine Weltoffenheit und sein Transzendenzbezug bzw. seine Religiosität.“ (Irrgang 2007, S. 263)

Ähnlich hält Holger Zaborowski im Neuen Handbuch philosophischer Grundbegriffe fest, Religion sei ein

Grundvollzug oder -phänomen des Menschseins. Religion ist ein Phänomen, das sich empirisch seit den Anfängen der Menschheit nachweisen lässt […] Der Mensch verfügt nicht nur über Vernunft, Selbstbewusstsein oder Sprache; es ist für ihn auch charakteristisch, ein religiöses Wesen zu sein. In diesem Zusammenhang wird seit der Zeit der Kirchenväter von der anima naturaliter religiosa des Menschen gesprochen. (Zaborowski 2011, S. 1892)

Freilich ist dies eine offene, freie Möglichkeit für den einzelnen Menschen: „Religion (im Sinne von Religiosität) ist keine naturwüchsige Tatsache, sondern eine natürliche Möglichkeit des Menschseins, die es in Freiheit anzueignen und kulturell zu bestimmen gilt.“ (ebd., S. 1893)60

Eine schöne Beschreibung grundlegender religiöser Erfahrung gibt ein Beitrag von Rüdiger Safranski:

Ich habe also weniger eine bestimmte Religion als System oder gar als Institution meinen Überlegungen zugrunde gelegt, sondern eine religiöse Erfahrung zu skizzieren versucht, die ich zusammenfassend so charakterisieren kann: es handelt sich dabei um jene Erfahrung, die im Leben und im Sein insgesamt ein letztlich unauflösbares Geheimnis und einen unerschöpflichen Reichtum sieht – und die von diesem Umgreifenden angerührt ist. Diese Erfahrung gibt es in unterschiedlichen Graden von Intensität. (Safranski 2002, S. 19) f.)

Auch er sieht sie als eine Möglichkeit: „Religiöse Erfahrung in diesem Sinne ist nicht etwas, woran man glauben müßte. Es gibt sie mit aller nötigen Selbstevidenz. Nur – nicht jeder macht sie.“ (ebd., S. 20) Sie ist grundgelegt im menschlichen Bewusstsein und damit in der Fähigkeit zur Transzendenz:

Der Mensch ist ein Wesen, das transzendieren, das heißt: über sich hinausgehen kann; […] Für dieses transzendierende Vermögen gibt es unendlich viele Formulierungen; die vielleicht schönste haben Goethe und Schelling gefunden, als sie erklärten: Der Mensch ist Natur; aber im Menschen schlägt die Natur ihre Augen auf und bemerkt, daß sie da ist. Im Menschen ist die Natur gesteigert zur Selbstsichtbarkeit und damit zur Selbsttranszendenz. Daraus erwächst das große Staunen darüber, daß es das Sein gibt und nicht das Nichts. (ebd., S. 25)

Das bleibt kein nur individuelles Phänomen, sondern bekommt gemeinschaftliche Gestalt: „Aus diesem Spielraum des Transzendierens sind auch die Religionen erwachsen. Sie sind Versuche, der Transzendenz, auf die hin wir transzendieren können, ein bestimmtes Gesicht zu geben.“ (ebd., S. 26)

Der Freiburger Religionsphilosoph Bernhard Welte hat auf seine ganz eigene phänomenologische Art menschliche Bedingtheit, Freiheit und Transzendenz aufgewiesen. Zu allem Gegebenen könne der Mensch sich verhalten und Stellung nehmen, da sei ein „ich selbst“, ein innerster Punkt, der nie Objekt werden könne (vgl. Welte 1969, S. 50–56). Alles menschliche Sich-Verhalten habe ein „Worumwillen“, ein im weitesten Sinne sinngebendes Element, das alles umfassend und auch alles überschreitend sei: Für den Menschen gebe es – anders als für Tiere – keine begrenzte Welt als einen „begrenzten Spielraum seines Verhaltens“, sondern für „ihn ist die alles umfassende und alles übersteigende Transzendenz eröffnet.“ (vgl. ebd., S. 61) f.) Daraus folgert er: Ist der Mensch

einerseits ein einzelnes und begrenztes Naturwesen, so ist er andererseits alle Natur umfassend und übergreifend und darum auch aller Natur gegenüber. Verlängern wir an diesem Punkte unsere Betrachtungen um ein Weniges, dann können wir es wagen zu sagen: Der Mensch ist in der Transzendenz seines Umwillen immer schon ausgerichtet auf das Allumfassende, Unbegrenzte und Unbedingte und von diesem beansprucht. Im Hinblick auf diesen Zusammenhang kamen ältere Denker nicht ohne Grund auf den Gedanken, das Allumfassende, Unbegrenzte und Unbedingte, das den Menschen in seiner Freiheit immer schon beansprucht, sei das, was in der Sprache der Religion Gott genannt wird, und der Mensch sei also im Grunde oder in der Spitze seines Wesens von Gott beansprucht oder von Gott angerührt oder Gott berührend. (ebd., S. 87)

Der Mensch habe im Ganzen eine Stellung des „Zwischen“: „zwischen Natur und dem, was mehr ist als Natur“ – in der neuplatonischen Tradition wurde deshalb das Menschenwesen auch „Wesen der Grenze“ genannt (vgl. ebd., S. 88) f.).61

Für Welte grundlegend ist auch die elementare Verbindung von Hoffnung und Sinn im menschlichen Dasein:

Tatsächlich tun wir alles, was wir tun, und wir können es nur tun, insofern wir dabei von dem – zumeist unausdrücklichen – Gedanken geleitet sind: Es wird schon Sinn haben, oder es wird schon für etwas gut sein, oder es wird mich schon zu einem erstrebten Ziel hinführen, d. h. aber, wir tun alles aus Hoffnung. Damit hängt auch die Sinnfrage zusammen, die neuerdings so viel und mit Recht erörtert wird. Hoffend fragen wir nach dem Sinn. Diese Frage ist uns niemals gleichgültig. (Welte 1982, S. 230)

Die fundamentale Hoffnung und Voraussetzung von Sinn zu erhalten oder zu stärken sei lebenswichtig:

Man kann es immer und immer wieder beobachten, daß die Kraft und der Mut überhaupt zu leben in sich zusammenfallen, wenn die Hoffnung auf ein sinnvolles Leben erlischt. Daher kann man sagen, die Hoffnung und die mit ihr verbundene Sinnvoraussetzung ist die Bedingung der Möglichkeit lebendigen menschlichen Daseins. Und als Bedingung der Möglichkeit ist sie dann auch die Triebfeder, die alle Formen unseres Daseins in Gang setzt. (ebd.)

Zumindest kurz anzureißen wäre hier die transzendentalphilosophische Anthropologie von Karl Rahner (hier mit Albert Raffelt), die – ähnlich wie B. Welte – den Menschen als „Wesen der Transzendenz“ wahrnimmt.62 Er geht von der Subjekterfahrung aus:

Personsein bedeutet so Selbstbesitz eines Subjekts als solchen in einem wissenden und freien Bezogensein auf das Ganze. […] Selbst dort noch, wo der Mensch sich restlos als das Fremdbedingte von sich abwälzen und so sich wegerklären würde, ist er es, der dies tut und weiß und will, umgreift er die Summe möglicher Elemente einer solchen Erklärung und erweist er sich so als derjenige, der ein anderes ist als das nachträgliche Produkt solcher Einzelmomente. (Rahner u. Raffelt 1981, S. 16)

Und eben in dieser „Selbsterfahrung des Menschen als Person und Subjekt geht auf, daß er das Wesen der Transzendenz ist“ (ebd., S. 17). In aller Regel ist diese Erfahrung „unthematisch“ mitgegeben:

Es ist zu betonen, daß die hier gemeinte Transzendenz nicht den thematisch vorgestellten „Begriff“ der Transzendenz, in dem diese gegenständlich reflektiert wird, meint, sondern jene apriorische Eröffnetheit des Subjekts auf das Sein überhaupt, die gerade dann gegeben ist, wenn der Mensch sich als sorgend und besorgend, fürchtend und hoffend der Vielfalt seiner Alltagswelt ausgesetzt erfährt. (ebd., S. 19)

Als transzendentaler Horizont ist das Ganze der Wirklichkeit anwesend und darum kann Rahner sagen: „der Mensch ist und bleibt das Wesen der Transzendenz, dem sich die unverfügbare und schweigende Unendlichkeit der Wirklichkeit als Geheimnis dauernd zuschickt. Dadurch wird er zur reinen Offenheit für dieses Geheimnis gemacht und gerade so als Person und Subjekt vor sich selbst gebracht.“ (ebd.)63 Dem „Wovonher und Woraufhin unserer Transzendenz“ einen „Namen“ zu geben sei schwierig. Rahner schlägt vor, es – nicht vergegenständlichend! – als „heiliges Geheimnis“ zu bezeichnen (vgl. ebd., S. 22–24).64

Der Philosoph Karl Baier hat sich mehrfach und eingehend zur anthropologischen Dimension Spiritualität geäußert. Zur generellen Begriffsklärung schlägt er zunächst eine hilfreiche Unterscheidung vor. Es seien „drei Konzepte zu unterscheiden: Spiritualität 1: Spiritualität als soziokultureller Bereich in der heutigen Gesellschaft – Spiritualität 2: die konkrete Ausprägung von Spiritualität in diversen Wegkulturen – Spiritualität 3: Spiritualität als menschliche Grundmöglichkeit“ (Baier 2012, S. 25). Im Sinne von Spiritualität 3

zeichnen sich Umrisse eines anthropologischen Begriffs von Spiritualität ab, der dem Sinn dieses Terminus im Sprachgebrauch der gegenwärtigen Weltgesellschaft in etwa entsprechen dürfte und ihn auf seine Gründe hin durchleuchtet. Spiritualität lässt sich demnach noch einmal zusammenfassend bestimmen als (mitunter krisenhaft zugespitztes) Suchen und Erfahren eines unbedingt Angehenden sowie die persönliche Transformation, das Existenzgefühl und die Lebensgestaltung im Raum dieses letzten Worumwillens, der für die personale Identität konstitutiv ist. (Baier 2006, S. 41)65

Diese „letzten Gründe“ sind nicht ohne weiteres fassbar, „das Nennen-Können letzter Gründe und das tatsächliche In-Anspruch-Genommen-Sein durch sie sind zwei Paar Stiefel. Die das Leben leitenden, aus dem Verständnis der Grundsituation hervorgehenden Letztorientierungen liegen meist zu einem großen Teil im Dunkel und können deshalb nicht einfach genannt werden.“ (Baier 2012, S. 28)

Der Religionsphilosoph und Theologe Ingolf U. Dalferth nimmt ernst, dass nicht alle Menschen religiös sind: „Menschen sind nicht wesentlich religiös, also in allen Situationen, in denen sie leben und leben können, sondern gelegentlich leben sie unter Bedingungen, die sie religiös zu sein nötigen oder ihnen religiös zu leben erlauben.“ (Dalferth 1997, S. 197) Die Freiheit bleibt: „Wir sind […] nicht von Natur aus zur Religion genötigt, sondern können sie sehr wohl vermeiden, und wir sind von Natur aus auch nicht zur Verehrung Gottes genötigt“ (ebd., S. 199). Er stellt zwar auch das „anthropologische Argument“ vor, Religiosität sei nicht vermeidbar:

Religion, nicht aber Religiosität ist vermeidbar. Gegenüber allen Versuchen, Religion für eine durchaus vermeidbare oder nur unter bestimmten historischen Bedingungen realisierbare Möglichkeit des Menschen zu halten, wird immer wieder bestritten, dass es menschliches Leben ohne religiöse Bindung bzw. ethisch-religiöse Grundorientierungen geben könne. Für Menschen gibt es stets etwas, an das sie ihr Herz hängen, von dem sie sich alles Gute erhoffen, auf das sie im Letzten setzen (ebd., S. 203).

Allerdings werde so in der Moderne „der Begriff der Religiosität auf die Gesamtheit ethischer Grund- und Wirklichkeitsüberzeugungen ausgedehnt (ohne die niemand leben und handeln kann). […] Anders als Religion wird Religiosität damit zwar unvermeidbar, aber auch nicht mehr als religiöses, sondern nur noch als ethisch-weltanschauliches Phänomen identifizierbar.“ (ebd., S. 204 f.) Dieser sehr weite Begriff von Religiosität hat offenbar Parallelen mit dem oben angeführten weiten Begriff von Spiritualität.

2.2 Theologische Stimmen

Mit dem 2018 verstorbenen Kardinal Karl Lehmann (2008) soll als erstes eine besonders prominente und fundierte Stimme zu Wort kommen. Er sieht – aus mehreren Gründen – überraschenderweise nicht ein christliches Menschenbild, beschreibt aber eine gemeinsame Struktur und Grundlinien. Zentral ist ihm die Geschichtlichkeit des Verständnisses:

Jedes theologische Menschenbild ist bis in seine innersten Aussagen hinein geschichtlich bestimmt, weil es in Rezeption und Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Selbstverständnis des Menschen entsteht und stehen muss. Durch den Wandel und die geschichtliche Ausprägung des „Wesens“ gibt es immer auch Randunschärfen, wenn man nach einer gleich bleibenden „Natur“ sucht. (ebd., S. 123)66

Im Christentum werde kein Menschenbild absolut gesetzt, es lasse verschiedene konkrete Humanismen in sich zu:

Die Treue zum Evangelium Jesu Christi und zur Lehre der Kirche verlangt nicht das ungeschichtliche Festhalten an abstrakten Menschenbildern. Die Nachfolge Christi und die Sendung in eine bestimmte Situation hinein zerbrechen alle jene Menschenbilder (auch theologischer Art), die nur einen vorausfabrizierten „idealen Menschen“ als typische Norm gelten lassen. (ebd., S. 124)

Und darum ausdrücklich, in der menschlichen Freiheit begründet: „ Gerade weil der Glaube auch die Freiheit des Menschen zu ihrer eigenen Dynamik entbindet, gibt es kein – zahlenmäßig – einziges konkretes theologisches Menschenbild. Es gibt deren unendlich viele, was nicht heißt, es gäbe keine gemeinsame Struktur.“ (ebd., S. 125) Lehmann beschreibt dann drei Grundlinien einer christlichen Auffassung vom Menschen und seiner Würde: Transzendenz, Ganzheit und Universalität.

Man kann und darf nicht leugnen, dass der Mensch – wegen des Überschreitenkönnens der Faktizität – sinnvoll über sich und das empirisch Vorfindliche hinausfragt. Der Christ ist überzeugt, dass der Mensch dabei nicht nur auf sich selbst zurückfallen wird. Er ist ein Wesen der Transzendenz. Damit ist auch begründet, warum der Mensch ein Wesen der Freiheit ist, dem deswegen Personwürde, Eigenwert und Menschenrechte zukommen. (ebd.)

Der Mensch ist zwar ein vielschichtiges und plurales Wesen, dennoch ist er substantiell einer, also nicht bloß ein Bündel verschiedener Aggregate. Wo er in dieser Pluralität (zum Beispiel Leib – Seele, Sinnlichkeit – Geistigkeit, Tradition – Innovation) falsch vereinfacht und reduziert wird, nimmt man ihm seine wesentliche Ganzheit. (ebd., S. 125) f.)

Wegen der Gemeinsamkeit der menschlichen Natur […] ist die Universalität des Menschseins unbedingt zu respektieren. Es gibt keine Minderung des Menschseins durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse, Klasse, Nation, Partei oder Religion. Implizit ist damit auch ein Minimum menschlicher Solidarität und Geschwisterlichkeit/Brüderlichkeit gegeben. (ebd., S. 126)

In unserem Kontext darf man ausdrücklich sagen: Diese Grundlinien gelten auch für (psychisch) kranke Menschen.

Der ev. Theologe Wolfhart Pannenberg hat sich umfangreich zur Anthropologie geäußert. Er betrachtet Religion als konstitutiv für das Menschsein des Menschen (vgl. Pannenberg 1988, S. 170) f.) und versucht, das aus anthropologischen Beobachtungen aufzuweisen:

Als Indiz dafür, daß Religion in der einen oder anderen Form konstitutiv für das Menschsein des Menschen ist, darf ihre allgemeine Verbreitung von den frühesten Anfängen der Menschheit gelten […] Die faktisch allgemeine Verbreitung korrespondiert der als Weltoffenheit, Exzentrizität oder Selbsttranszendenz beschriebene Eigenart der Struktur menschlichen Verhaltens. Diese findet ihre lebensgeschichtliche Konkretion im Leben der Individuen in der Relevanz des sog. Urvertrauens für den Prozeß der Persönlichkeitsbildung, für die Konstitution der Ichidentität. Im Hinblick darauf kann von einer „Anlage“ des Menschen zur Religion gesprochen werden, die unabtrennbar ist von seiner Humanität. (ebd., S. 171) f.)

Thomas Pröpper schlägt vor, Pannenbergs Überlegungen als Relevanzaufweis des christlichen Glaubens zu sehen, und weniger als zwingenden Beweis (vgl. Pröpper 2011, S. 435).67 Wolfgang Schoberth meint ebenfalls skeptisch, Pannenbergs Anspruch, die wissenschaftliche Anthropologie theologisch zu integrieren und damit zu überbieten, werde nicht eingelöst und sei angesichts der Heterogenität wohl auch nicht möglich (vgl. Schoberth 2006, S. 102).

Aus den biblischen Aussagen zum Menschen als „Ebenbild Gottes“ ergibt sich für Pannenberg die Grundaussage: „Grundlegend für die Personalität jedes einzelnen Menschen ist seine Bestimmung zur Gemeinschaft mit Gott. Daß dies die Bestimmung jedes Menschen schon als Geschöpf Gottes ist, ergibt sich allerdings mit letzter Klarheit erst aus der Christusbotschaft des Neuen Testaments“ (Pannenberg 1991, S. 232) Hier kann Pröpper in ökumenischer Einmütigkeit zustimmen, dass der theologische Kern der Gottebenbildlichkeitsaussage die Bestimmung des Menschen zur Gottesgemeinschaft sei (vgl. Pröpper 2011, S. 320). Und er findet die schöne Formulierung: „insofern ist er primär nicht Fragender, sondern selber Gefragter: Gottes Zuwendung qualifiziert ihn unausweichlich zu einem antwortenden Wesen. Der Mensch existiert vor Gott (coram Deo) und als Antwort auf Gottes anrufendes Wort. Das ist die Grundauskunft biblischer Anthropologie.“ (ebd., S. 61)68 Philosophisch bzw. fundamentaltheologisch möchte er „die wesentliche Ansprechbarkeit des Menschen für Gott“ so denken, dass sie die Freiheit von menschlicher wie göttlicher Seite achtet (vgl. ebd., S. 321), 492). Er schlägt philosophisch ein „transzendentales Verfahren“ vor, „das auf der Basis der freien Vernunft die dem Menschen wesentliche Frage nach Gott eruiert“, was im Ergebnis zwar bescheidener als Pannenbergs Anliegen wäre, „in seinem philosophischen Status jedoch kaum anfechtbar und im übrigen für die philosophischen Interessen der Theologie auch durchaus genügend.“ (vgl. ebd., S. 436)

Der ökumenische Theologe Otto Hermann Pesch fand die prägnante Kurzformel: „Der Mensch ist Schwester und Bruder Jesu Christi.“ (Pesch 2008, S. 3)69 Auch er betont die Freiheit des Menschen sowie die Möglichkeit, sich religiös zu öffnen:

Die Erschaffung des Menschen – der Menschheit – ist identisch mit der Erschaffung der menschlichen Freiheit und ihrer Fähigkeit, die religiöse Frage zu stellen. Man könnte es auch so ausdrücken: Die Erschaffung des Menschen ist identisch mit der Erschaffung der Fähigkeit zu glauben – nicht weniger! Im buchstäblichen Sinn des Wortes: Gott ist die Freiheit des Menschen. (ebd., S. 235)70

Jürgen Werbick (2005) fragt unter der Leitmetapher „Würdigung“ fundamentaltheologisch nach der Glaubwürdigkeit christlichen Glaubens. Er unterstreicht zunächst im Blick auf Religion allgemein, dass diese nicht nur funktional (für Friede, Freude, Trost, Kontingenzbewältigung etc.) nützlich sein wolle: „Religion – und christlicher Glaube – wehren sich gegen diese Relativierung zum bloß Bedingten, weil in ihnen das um seiner selbst willen Bedeutsame wahrgenommen und gewürdigt wird, weil sie in diesem Sinn erlebt und vollzogen werden als »das Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht«.“ (ebd., S. 68) f.) Mehr als „nützlich“, und doch dem Mensch entsprechend:

Das »unbedingt Angehende« will nicht nur gewürdigt werden im Blick auf seine Nützlichkeit, so sehr es unendlich bedeutsam sein wird für das Menschlichwerden des Menschen. Wenn das Ergriffensein von ihm sich als für die Menschlichkeit des Menschen nützlich herausstellen sollte, so ließe sich fundamentaltheologisch zumindest der religionskritischen Invektive begegnen, es sabotierte wahres Menschsein. (ebd., S. 69)71

Dafür konstruiert der Mensch nicht einfach etwas, sondern steht vor einem Anspruch, der ihn um Würdigung bittet: „Wahrheit ist nicht wählbar; sie ist nicht bloßes Angebot, sondern der Anspruch, ihr gerecht zu werden.“ (ebd., S. 647) Dafür braucht es einen kritischen Geist, sogar eine angemessene und selbstkritische „Hermeneutik des Verdachts“:

Die Hermeneutik des Sinnes – der Zeugnisse – ist auf den Verdacht geradezu angewiesen. Ohne auf ihn zu hören bliebe sie in der fundamentalistischen Naivität gefangen, die nicht mehr unterscheiden will, was in den Zeugnistexten und Zeugnisfiguren Gottes Botschaft bezeugt und was die menschlich-allzumenschliche Befangenheit in Zwängen und Abhängigkeiten verrät. (ebd., S. 652)

Ein weiter Begriff von Spiritualität (wie etwa bei Baier „Spiritualität 3“, vgl. S. 36) wird auch von Theologen beschrieben. Josef Weismayer gesteht zu, dass eine allgemeine Definition schwierig sei: „Letztlich liegt wohl die Schwierigkeit, Spiritualität zu umschreiben oder zu definieren, gerade darin, dass damit eine das ganze Menschsein umfassende, die Tiefe der Existenz berührende Dimension angesprochen ist, die nicht in einen Satz zusammengefasst werden kann.“ (Weismayer 2004, S. 189) Mit dem Symbol der „Mitte“ schlägt er einen anschaulichen Versuch vor:

Könnte man »Spiritualität« in einem sehr allgemeinen Sinn nicht als Suche des Menschen nach seiner Mitte verstehen – und damit auch als das Bemühen um das Leben aus der Mitte der Existenz? Die Suche der Mitte und der Versuch des Lebens aus der Mitte artikuliert und verleiblicht sich notwendig in konkreten Vollzügen, die man als »spirituell« bezeichnen kann, die aber für sich allein nicht die Spiritualität ausmachen. (ebd.)

Rationalität und Kritikoffenheit sind für ihn wesentlich: „Christliche Spiritualität rechnet mit der Möglichkeit einer Fehleinschätzung. Nicht alles, was »spirituell« und fromm erscheint, verdient dieses Prädikat. Christliche Spiritualität muss bereit sein, sich mit einer kritischen Sonde untersuchen zu lassen, kritische Rationalität ist kein Gegensatz zu Spiritualität.“ (ebd., S. 192)

Für Leo Karrer ist Spiritualität Umgang mit der und Beziehung zur Wirklichkeit:

Anthropologisch ist mit Spiritualität jene Gesinnung oder die prozesshaft zu erwerbende Haltung gemeint, mit der sich Menschen der Wirklichkeit stellen, sie erleiden, ertragen oder gestalten. Es geht darum, den eigenen Lebensprozess als Beziehung zu gestalten, die das Verhalten zu sich selber, zur Mitwelt (Mit-Menschen) und zur gesellschaftlichen und kosmischen Umwelt trägt und prägt. (Karrer 2006, S. 385)

Christliche Spiritualität ist ein gläubiger Umgang mit der Wirklichkeit:

Im christlichen Sinn kann man Spiritualität als religiöse Gesinnung aus der Inspiration des jüdisch-christlichen Glaubens verstehen, in der sich Menschen zur Wirklichkeit verhalten. […] Christliche Spiritualität bedeutet, ein gestaltendes Verhältnis zu sich selber, zu den Mitmenschen und zur Umwelt zu suchen und zu wagen sowie in alledem zum Gott Jesu. (ebd.)

Spiritualität ist nicht abgehoben oder weltfern, sondern sie „zeigt vielmehr im ganz gewöhnlichen Humus des Alltags, wovon sich die Seele nährt. […] Spiritualität ist so nicht einfach mit Weltanschauung zu verwechseln.“ (ebd.)

Der geistliche Autor Willi Lambert gibt eine prägnante Umschreibung von Spiritualität im weiten Sinne:

Jeder Mensch ist spirituell. Das Wort »Spiritualität« kommt aus dem Lateinischen und bedeutet Atem – Wind – Geist. Spiritualität ist die Lebendigkeit des Menschen. Spiritualität ist die Antwort auf die Fragen: Wozu, wodurch und wie lebt ein Mensch? Spiritualität ist, wie jemand lebt; sie ist die Weise, wie das Lebensziel sich im Lebensstil ausdrückt. (Lambert 2004, S. 19) f.)

2.3 Religionspsychologische Aspekte

Der Religionspsychologe und Philosoph William James lieferte bereits 1902 klassische psychologische Beschreibungen von Religiosität, die z. T. ähnlich weit wie ein weiter Spiritualitätsbegriff sind:

Was also in diesem primären, umfassendsten und tiefsten Sinne wahr ist, könnte man als gottähnlich betrachten, und die Haltung eines Menschen gegenüber dem, was er als die höchste Wahrheit empfindet, könnte man entsprechend als seine Religion identifizieren. Eine solche Definition ließe sich durchaus verteidigen. Religion ist, was immer sie noch sein mag, die Gesamtreaktion eines Menschen auf das Leben. Warum sollte man daher nicht sagen, daß jede Gesamtreaktion auf das Leben eine Religion ist? (James 1902, S. 67)

Er hielte jedoch einen derart weit gefassten Begriff für unzweckmäßig und den alltäglichen Sprachgebrauch überstrapazierend (vgl. ebd., S. 68). An anderer Stelle meint er, religiöses Leben sei in weitesten Begriffen zu charakterisieren als die „Überzeugung, daß es eine unsichtbare Ordnung gibt und daß unser höchstes Gut in einer harmonischen Anpassung an diese liegt.“ (ebd., S. 85)72

Der Religionspsychologe und Theologe Herman Westerink sieht Spiritualität als ein breites Konzept des säkularen Zeitalters: „The secular age is the age of the religious after religion, of the sacred after tradition, of belief without belonging“ (Westerink 2012, S. 4). „Spiritualität“ beschreibe die Situation des Religiösen nach der Religion, bezeichne ein Feld (oder vielleicht mehrere Felder), die sowohl traditionelle Formen der Religiosität wie säkular-existentielle Weltanschauungen und Überzeugungen beinhalteten – kein Wunder, dass das Konzept diffus, breit und vage sei (vgl. ebd.). Er schlägt vor, als Grundtypen theistische und nicht-theistische Spiritualität zu unterscheiden und damit eine Reduktion der verschiedenen Dimensionen von Spiritualität auf einen einzigen Prozess (wie z. B. Selbsttranszendenz oder Sinnfindung) zu vermeiden (vgl. ebd., S. 13).

Das Spektrum Lexikon der Psychologie erklärt die Begriffe folgendermaßen:

Religion, ein symbolisches System von Glaubensaussagen, Einstellungen, Praktiken und Riten, das sinnstiftend die Fragen menschlichen Daseins zu begründen versucht und mit dessen Hilfe die Menschen zu einer transzendenten Welt und zueinander in Beziehung treten. Aus dieser Beziehung lassen sich normative Verhaltensweisen ableiten. (Spektrum Lexikon 2001a, S. 17)

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9783429064037
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