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»Grüezi«, lachte ihn in einem schrecklichen, nachgeäfften Schweizerenglischdeutsch John Carrington an, »welcome in our Club!«

Stehle fluchte innerlich. Wie konnte er so blauäugig schon wieder diesem Mann in die Fänge laufen.

»Es war eine Frage der Zeit, des korrekten Fahrplanes der Deutschen Reichsbahn und eures Dienstplans«, beantwortete Carrington Stehles unausgesprochene Frage, »wir mussten uns wiederbegegnen.«

Stehle blieb wie angewurzelt unter dem Türrahmen stehen. In dem Besprechungsraum saßen neben Carrington noch drei weitere, ihm unbekannte Männer, und Oswald Wohl. Über dem Besprechungstisch strahlte eine Leuchtröhre, da auch in diesem Raum die Fenster verhängt waren. Auf dem Tisch lag eine Unzahl von Papieren. Stehle erkannte, dass es sich um Kontoauszüge handeln musste, die Runde hatte ihn offensichtlich erwartet.

»Ja«, lachte Carrington, »alles Ihre Konten, gratuliere, was für ein erfolgreicher Schaffner Sie doch sind.«

Stehle wurde blass. Wie viele Ängste und bange Minuten hatte er durchgestanden, um dieses Kapital anzuhäufen. Selbst zum Mörder war er geworden und zum Verräter. Er dachte an Luise Levy und vor allem an Katharina. Und nun sollte alles umsonst gewesen sein? Er blickte Hilfe suchend zu Wohl.

»Mir sind die Hände gebunden, Joseph. Lass uns in Ruhe darüber reden«, flüsterte der.

»Woher wissen Sie, welches meine Konten sind«, fragte Stehle barsch, »und mit welchem Recht sitzen Sie hier?«

»Stalin«, begann Carrington einen längeren Monolog, »Sie haben die Chance, die Machtverhältnisse von morgen schon heute zu akzeptieren. Sie können mit uns zusammenarbeiten und uns nach dem Ende des Krieges mit Ihrem Geld helfen, eine sinnvolle Verteidigung gegen das kommunistische Bollwerk und die Rote Armee aufzubauen. Ihr Geld ist verloren, wenn Sie sich gegen uns stellen. Sie können unser Freund werden, wenn Sie mit uns nach vorne schauen. Wir, das sind die neuen Machthaber in Europa. Vergessen Sie Ihren Traum von einem Vierten Reich. Wir alle müssen gemeinsam gegen nur eine Gefahr kämpfen, gegen die Rote Armee. Stalin wird sich nicht mit Berlin zufriedengeben, er will bis zum Rhein, oder vielleicht sogar bis zum Atlantik. Deshalb sitzen hier am Tisch auch Freunde des britischen Geheimdienstes MI 5 und ein offizieller Vertreter der Schweizer Bankenaufsicht, der aber auch ein Mitglied des Schweizer Geheimdienstes P 26 ist. Glauben Sie mir, ohne uns ist Ihr Geld futsch. Mit uns können Sie nach dem Ende des Krieges noch gewinnen.«

Oswald Wohl nickte. Stehle war klar, dass er ohne seinen jungen Bankchef nie mehr an sein Geld gelangen konnte. Sollte es stimmen, dass der dünne, schmallippige Herr neben Wohl von der Bankenaufsicht war, dann verstand er, dass sie auch seinen Komplizen in der Zange hatten. Schließlich hatte dessen Bank in den vergangenen Jahren sehr viel namenloses ausländisches Kapital zunächst ein- und dann ausgeführt. Millionen Reichsmark und auch Gold und Silber ohne Nachweis einer Quelle. Daraus konnte man ihm jederzeit einen Strick drehen. Und auch ihm selbst, einem Schmuggler aus Deutschland, drohten in der Schweiz empfindliche Strafen, gleichgültig, woher das Geld stammte.

Joseph Stehle erkannte seine verfahrene Situation, es blieb ihm kein anderer Ausweg, als sich vorerst auf das Vorhaben der Herren einzulassen. »Sie diktieren die Bedingungen«, kapitulierte er, »sagen Sie mir aber, was mir bleibt.«

*

Wenige Wochen später hatten die Angriffe der Alliierten auf Singen zugenommen. Im Oktober 1944 kam es zu einem Tagesangriff mit zwölf Bombern der amerikanischen Luftwaffe. Am Weihnachtstag, im Jahre 1944, überflogen 18 Bomber Singen und warfen 90 Sprengbomben auf die Hohentwielstadt, mit Gewichten bis zu 500 Kilogramm. Dabei wurden auch Brücken und Gleisanlagen schwer beschädigt. Die Zugverbindung in die Schweiz war jetzt vollständig abgebrochen. Für Joseph Stehle gab es keine Möglichkeit mehr, sich um sein Kapital in der Schweiz zu kümmern. Er verfluchte jeden Tag John Carrington und hoffte auf das Schweizer Bankengesetz.

*

In den letzten Kriegstagen bekam Joseph Stehle noch einmal Besuch. In der Hohentwielstadt herrschte das reinste Chaos. Die Bevölkerung flüchtete tagsüber aus der Stadt in die Wälder, aus Angst vor neuen Bombardierungen. Der stellvertretende Bürgermeister wollte die Stadt den heranrückenden Franzosen kampflos übergeben. Doch SS-Offiziere aus der nahe gelegenen Radolfzeller Kaserne zwangen den Volkssturm, die Stellung zu halten.

Joseph Stehle hatte den ganzen Tag über bei Räumungsarbeiten in der Innenstadt geholfen. Er war übermüdet und wollte sich ins Bett legen. Da hörte er ein leises Klopfen an der Haustür. In Socken, um seine Frau und Tochter nicht zu wecken, schlich er in den Flur. Er wollte gerade die Tür öffnen, da griff eine starke Hand von hinten um seinen Kopf und verschloss ihm den Mund. Der Griff war sehr stark, Widerstand erschien ihm zwecklos.

»Keine Angst«, flüsterte eine männliche Stimme, »ich muss mit Ihnen sprechen.«

Der Mann hatte seinen Griff gelöst und stand nun vor ihm. Er war groß, schlank und wirkte durchtrainiert. Trotz der Kälte hatte er nur einen Pullover übergestreift, der war allerdings aus einem warmen, feinen Gewebe. Seine Militärhose steckte in leichten, weichen Stiefeln, wie sie Stehle schon bei Carrington gesehen hatte. Unter dem Pullover, am Gürtel der Hose, ragte ein Messer hervor, das der Mann aber offensichtlich nicht ziehen wollte.

Dies beruhigte Stehle etwas, trotzdem war er verunsichert. Er schlurfte irritiert an dem Mann vorbei in die Küche. Der Fremde folgte ihm.

Leise, in einem süddeutsch-schweizerischen Dialekt, redete er auf Stehle ein: »Ich soll Sie grüßen von Freunden, wir machen uns große Sorgen um Ihre Stadt.«

Stehle wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er hatte den ganzen Tag mit dem Volkssturm und Bürgern versucht, die ärgsten Bomberschäden zu räumen. Er hatte Tote und Verwundete geborgen und in ausgebombten Häusern für Schlafplätze gesorgt. Noch immer hatte er den Gestank des Feuers der Brandbomben in seiner Nase.

»Wir wissen, dass Ihr Bürgermeisterstellvertreter ein einsichtiger Mann ist. Sprechen Sie ihn morgen an. Achten Sie darauf, dass Sie niemand hören kann, und dann kommen Sie morgen Abend mit ihm um 23 Uhr in das Gasthaus Frohsinn.«

Stehle sah den Mann fassungslos an.

»Meine Organisation und Sie haben die gleichen ­In­te­­r­essen. Ich soll Sie grüßen von John Carrington. Sie müssen ein reicher Mann sein, und Sie wollen doch sicher Ihr Geld wiederhaben?«

Stehle nickte, er verstand nun gar nichts mehr, war aber plötzlich hellwach, schließlich ging es hier um sein Geld, und das schien nun mal Carrington in der Hand zu halten.

»Passen Sie auf, dass Sie niemand belauscht, wenn Sie mit dem Bürgermeisterstellvertreter reden, und seien Sie pünktlich.«

Stehle nickte erneut, wollte etwas sagen, nach seinem Geld fragen, aber der Mann stand auf, sagte leise: »Uf wiederluege, bis Morgäobid«, und verschwand.

Joseph Stehle und der stellvertretende Bürgermeister waren keine Freunde. Doch in den vergangen Tagen, unter dem Druck der Fliegerbeschüsse, waren die Bürger Singens zusammengerückt. Die 4.000 Einwohner befürchteten wegen der Industrie inmitten ihrer Stadt die totale Verwüstung. Selbst Stehle verfluchte jetzt langsam das überdimensionale Hakenkreuz am Hohentwiel. Aber noch hatte niemand gewagt, es zu entfernen. Noch glaubten unbelehrbare Nazis an den Endsieg.

Joseph Stehle war klug. Er hatte die Gespräche mit Carrington nicht vergessen, und fast täglich hörte er heimlich einen Schweizer Sender. Er hatte die Frontlinien verfolgt. Colmar war wieder in der Hand der Franzosen, die Amis standen in der Pfalz und die Rote Armee bald vor Berlin.

Gleich nachdem der fremde Mann seine Wohnung verlassen hatte, befiel Joseph Stehle eine innere Unruhe. Langsam stand er auf. Er ging zum Küchenschrank, öffnete eine Schublade und zog sein rotes Parteibuch hervor. Er blätterte das Büchlein langsam durch. Er war 1932 Mitglied der NSDAP geworden. Fast wäre er der Fünfhunderttausendste gewesen. Wie war er stolz gewesen, als Schweizer jetzt ein Deutscher zu sein. Die NSDAP-Mitgliedschaft hatte für ihn mehr bedeutet als eine zufällige Geburt in den Grenzen des damaligen Deutschen Reiches. Vor allem hatte er damals noch geglaubt, dass selbst die Schweiz bald zum Großdeutschen Reich zählen würde.

Jetzt, wo er sich anschickte, sich aus der Partei zu verabschieden, hatte die NSDAP fast acht Millionen Mitglieder. Er starrte auf den goldenen Parteiadler mit dem Lorbeerkranz in den Fängen, darunter prangte das Hakenkreuz.

Stehle drehte sich vom Küchenschrank zum Tisch, legte das Parteibuch ab, kontrollierte die Vorhänge vor den Fenstern, schlurfte zum Küchenherd und stocherte in der Glut. Er holte noch zwei Holzscheite, wartete, bis sie Feuer fingen, dann legte er sein Parteibuch obenauf.

Stehles Augen wurden feucht. Er wartete, bis die Flammen nicht mehr züngelten, dann schürte er nach.

*

Am nächsten Abend fuhren zwei dunkle Gestalten auf ihren Fahrrädern aus der Südstadt Singens in Richtung Gottmadingen. Sie benutzen Feldwege und achteten darauf, dass sie nicht gesehen wurden.

»Ein Auto!«, schrie Joseph Stehle und sprang vom Rad, der stellvertretende Bürgermeister hinter ihm fluchte und fuhr direkt in den Acker. Die Erdschollen waren umgepflügt und tief gefroren. Die beiden Männer beeilten sich, ein gutes Stück von dem Weg, auf dem das Auto fuhr, wegzukommen, dann verschanzten sie sich, flach liegend, neben ihren Rädern, in den Furchen.

Eine kleine Militärkolonne fuhr Patrouille. Nur der erste Wagen hatte spärliches Licht. »Vermutlich SS«, flüsterte Stehle. Es waren die letzten, unverbesserlichen Kämpfer, die die Grenze zur Schweiz vor Flüchtlingen sichern wollten. In unregelmäßigen Abständen bewegten sie sich entlang der Grenzstraße. Kaum war die Kolonne vorbei, sprangen Stehle und sein Bürgermeisterstellvertreter wieder auf ihre Räder und traten in die Pedale. »Jetzt dürfte die Luft rein sein«, spornte Stehle den Bürgermeister an und fuhr über die Hauptstraße von Singen Richtung Gottmadingen weiter.

Das Gasthaus Frohsinn lag auf halber Strecke, zwischen den beiden Orten. Das Wirtshaus war an die Grenzstraße gebaut. Direkt hinter dem Gasthaus verlief die Staatsgrenze.

Die beiden Radler fuhren im Dunkeln sogleich in den Hof, schlichen vorsichtig hinter das Gasthaus, um ihre Räder dort abzustellen. Stehle war vorausgegangen, er wollte gerade um die Hausecke biegen, da bekam er einen solchen Schlag ins Gesicht, dass er fast zu Boden fiel. Bevor er sich wehren konnte, drehte eine dunkle Gestalt ihm beide Arme auf den Rücken und eine weitere hatte ihm einen Knebel in den Mund geschoben.

»Joseph?«, rief der zweite Radfahrer, eine dritte Stimme sagte: »Godfridstutz, des sind si.«

»Läck mi«, sagte der Mann hinter Stehle, ließ dessen Arme los und schob bedauernd ein »Äxgüssi!« nach.

Joseph Stehle würgte sich den Knebel aus dem Mund, während die beiden dunklen Gestalten schnell vor dem stellvertretenden Bürgermeister salutierten: »Herr Bürgermeister, Hauptmann Keller erwartet Sie!«

Die beiden Singener wurden auf deutschem Boden von den beiden Schweizer Soldaten in das deutsche Gasthaus Frohsinn geführt. Eine kleine Schweizer Abordnung saß um den verwaisten Stammtisch.

»Oberlüfzgi, die Abordnung aus Singen«, meldete einer der Soldaten.

Stehle tat noch immer der Unterkiefer weh, der Schweizer Soldat hatte ihm den Mund mit Gewalt aufgerissen. Auch die Wange schmerzte von dem Schlag ins Gesicht. Trotzdem spürte er davon nur wenig. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. In der Runde im Gasthaus Frohsinn saßen mit den Militärs zwei alte Bekannte: John Carrington und der Mann, der sich bei dem letzten Treffen in Schaffhausen, im Bankhaus Wohl & Brüder, als ein Vertreter der Bankenaufsicht ausgegeben hatte. Stehle stand vor Staunen der Mund offen.

»Welcome, Mr. Stehle, ich sehe, wir haben uns in Ihnen nicht geirrt.« John Carrington schien gut gelaunt. »Sie haben schnell begriffen«, schmunzelte er.

Der ranghöchste Schweizer Militär der Runde, vorgestellt hatte er sich als Hauptmann Keller, legte seine Hand auf Carringtons Unterarm. »Nöd jetzt«, unterbrach er ihn besänftigend. Er sah besorgt aus. Dann begrüßte er förmlich den Bürgermeister, aber auch Joseph Stehle.

Danach wurde den beiden Deutschen ein Platz in der Runde angeboten. Einer der Soldaten, die abseits standen, stellte einen Picknickkorb auf den Tisch. Schweizer Schüblinge, Schaffhauser Falken-Bier und Bierli, Schweizer Brötchen, bot der Hauptmann der Runde an. »Schämpis hämmer nöt, aber nömmäd«, lud er die Singener Abordnung ein zuzugreifen.

Der Bürgermeisterstellvertreter ließ sich nicht zweimal bitten, er hatte Hunger und langte zu. Stehle dagegen griff an seinen Unterkiefer und schob ihn mit seiner Hand sanft hin und her.

Währenddessen kam der Hauptmann ohne Umschweife zu seinem Anliegen. In erster Linie wandte er sich an den Bürgermeisterstellvertreter: »Wir sind eine kleine Abordnung und sprechen hier mit Ihnen im Auftrag höhergestellter Herren. Sie, in Ihrer Position, und wir, die Schweiz, haben die gleichen Interessen. Wir haben gehört, dass Sie sich über den Ausgang des Krieges keine Illusionen mehr machen. Im Interesse Ihrer Stadt sollten Sie deshalb für ein möglichst baldiges Ende der Kampfhandlungen einstehen. Wir wissen von neuen geplanten Bombardements vonseiten der Alliierten auf Ihre Stadt. Geben Sie auf! Verzichten Sie auf eine weitere Verteidigung Ihrer Stadt. Nur so können Sie den Verlust weiterer Menschenleben und Leid verhindern.«

Der stellvertretende Bürgermeister schluckte das Stück Wurst, das er gerade abgebissen hatte, Stehle dagegen schluckte trocken. Ihm war klar, dass die höhergestellten Herren in der Schweiz Angst um ihr Kapital in Singen hatten, so wie er Angst hatte um sein Kapital in der Schweiz. Die großen Betriebe, wie die Aluminiumwerke, die Georg-Fischer AG oder auch Maggi gehörten noch immer Schweizer Familien. Gerade die Maggiwerke hatten schon empfindlich unter dem Bombenhagel gelitten. Dabei produzierte Maggi schon seit 1887 unbehelligt im deutschen Singen. Der Frauenfelder Michael Johannes Julius Maggi hatte sein Werk in Singen gegründet, da die Stadt an das Eisenbahnnetz angeschlossen war. Allein dieser Verkehrsanschluss hatte auch weitere Schweizer Unternehmen lange vor dem Krieg in die Hohentwielstadt gelockt.

Joseph Stehle schielte zu seinem Bürgermeisterstellvertreter. Er war gespannt, wie sich dieser verhalten würde. Die Schweizer hatten gut reden. In Deutschland galt noch immer der unbedingte Glauben an den Endsieg. Wer sich dagegen aussprach, lebte gefährlich. Jedes Gericht verurteilte Zweifler wegen Wehrkraftzersetzung.

Der Bürgermeisterstellvertreter räusperte sich. Er wirkte auf Stehle äußerst unsicher und sprach entgegen seiner sonstigen Gewohnheit sehr langsam. »Wir sind nicht alle verblendet, meine Herren. Ich weiß um meine besondere Verantwortung. Ich werde morgen den Volkssturm auflösen. In der Stadt gibt es auch schon die ersten Bemühungen von KPD-Mitgliedern, die auf ein Ende des Widerstands hinarbeiten. Ich habe mich auch mit den Betriebsleitern bei Maggi und der Alu unterhalten. Wir werden bereit sein, sodass ein Einmarsch der Franzosen ohne Gegenwehr so schnell wie möglich erfolgen kann.« Gegen Ende seiner Ausführungen versagte dem Bürgermeisterstellvertreter die Stimme. Niedergeschlagen griff er zu der Flasche Bier vor sich.

»Wir wissen, dass wir auf Sie zählen können«, antwortete der Hauptmann laut, »veranlassen Sie alles Notwendige und achten Sie auf sich selbst.« Die Stimme des Hauptmanns senkte sich bedrohlich. »Wir haben Informationen, dass SS-Offiziere Sie auf einer Liste stehen haben.«

*

Der Bürgermeisterstellvertreter löste am nächsten Tag den Singener Volkssturm auf.

Ferdinand Alber hisste mit einigen Genossen der KPD in der Nacht eine große weiße Fahne auf dem Hohentwiel.

Am nächsten Morgen fanden Arbeiter den toten Bürgermeisterstellvertreter, aufgehängt an einem Baum neben der Alu. ›So geht es Verrätern‹, hatten die SS-Mörder auf einen Zettel geschrieben und an den Leichnam geheftet.

Joseph Stehle verbrannte am selben Abend alle weiteren Hinweise, die ihn als NSDAP-Mitglied ausgewiesen hätten. Er schaute in die Flammen, diesmal mit Trotz und ohne Tränen, aber mit einer ungefähren Ahnung davon, wie mächtig seine neuen Freunde waren. Sie hatten von den weiteren Bombardements der Alliierten gewusst und auch von den Todeslisten der SS und sogar, dass der Bürgermeisterstellvertreter darauf stand.

Sie hatten auch die Macht, ihm sein Geld wegzunehmen, davor fürchtete er sich am meisten.

Kapitel 5

»Wo haben Sie den Mercedes her?«

»Woher stammt das Geld, das Sie in der Schweizer Bankgenossenschaft abgehoben haben?«

»Wer hat Sie als Kurier eingesetzt?«

»Wollen Sie uns weismachen, das alles sei Ihr Geld?«

»Wollen Sie für Hintermänner einsitzen, die sich auf Ihre Kosten bereichern?«

Horst Sibold war nach dem versuchten Mord an seinem Zollkollegen in die sofort gegründete Soko ›Goldmillionen‹ beordert worden. Die ganze Nacht hatten sie Sven und Bernd Vierneisel vernommen. Der silbergraue Mercedes, mit dem die beiden Brüder ihre Schmuggelaktion hatten durchführen wollen, war in keinem amtlichen Kfz-Register gemeldet. Die amtlichen Kennzeichen waren alle gefälscht, wie auch sämtliche Papiere. Am nächsten Tag aber hatte sich herausgestellt, dass die Seriennummer des Wagens echt war. Er war in Sindelfingen produziert, jedoch nach den Unterlagen des Daimlerwerkes mit einer bestellten Sammelflotte direkt nach Kroatien ausgeliefert worden. Nur die beiden Personalausweise der zwei Burschen schienen echt zu sein.

Horst Sibold passte die rasche Vorgehensweise während den Ermittlungen der Kollegen nicht. Es herrschte ein für ihn unnötiger Zeitdruck. »Wir brauchen schnell ein Geständnis«, war jedoch der unmissverständliche Auftrag des Chefs. Ein Staatssekretär des Innenministeriums aus Stuttgart war schon am Morgen nach der Festnahme im Haus. Er hatte sofort am Vormittag dem angeschossenen Zollkollegen in der Hegau-Klinik einen Blumenstrauß überreicht. Natürlich waren die lokalen Pressefotografen alle geladen worden. Es gab Sekt und Butterbrezeln und die Mitteilung des Staatssekretärs: ›Der Beamte wird den Durchschuss überleben.‹ Die Kugel der beschlagnahmten Walther 6,5 hatte sich glatt durch seinen Bauch gebohrt. Glücklicherweise waren keine Organe und auch nicht die Wirbelsäule verletzt worden. Die Pistole trug nur die Fingerabdrücke von Sven Vierneisel, dem jüngeren Bruder der festgenommenen Schmuggler.

Die beiden Burschen saßen in Haft, die Schmuggelware war sichergestellt, also bilanzierte der Staatssekretär, mit einem Glas Sekt in der Hand, vor der Presse: »Ein voller Erfolg der Sicherheitsorgane im Land.«

Horst Sibold musste mit einigen Kollegen bei der Pressekonferenz im Krankenhaus anwesend sein. »Staffage für den Herrn Staatssekretär«, hatte er unlustig gemurmelt. Zu der Rede des Politikers verbiss er sich jeglichen Kommentar. Ein Kollege neben ihm sah ihm ins Gesicht. Auch er guckte sauertöpfisch. Sibold lächelte aufmunternd. »Du musst bei der Polizei schlucken lernen«, riet er ihm und griff statt zu einem Sektglas zu einem Glas Randegger Ottilienquelle. »Kein Alkohol, sondern Mineralwasser und deine Meinung, Prost.«

»Der Innenminister will morgen persönlich kommen und während einer Pressekonferenz dem Chef zu seinem schnellen Erfolg gratulieren«, klärte ihn der Kollege auf.

»Dann haben wir ja bis morgen noch etwas zu tun.« Horst Sibold stellte sein Wasserglas neben leere Sektgläser, legte dem Kollegen eine Hand auf die Schulter und schob ihn aus dem Raum. »Ich habe eine Idee«, drängte er ihn zum Gehen.

Sibold fuhr mit seinem Kollegen von der Hegau-Klinik, am Rande der Singener Weststadt, direkt in die Erzbergstraße in der Innenstadt. Dort saßen die beiden Untersuchungshäftlinge in der Justizvollzugsanstalt jeweils in einer Einzelzelle.

*

Sven und Bernd waren bis zu jenem Morgen abwechselnd verhört worden. Immer wieder wurden sie gebetsmühlenartig das Gleiche gefragt. Dann wurden die Aussagen abgeglichen und immer wieder mit neuen möglichen Variationen der vermeintliche Tathergang im Einzelnen durchexerziert. Schließlich waren sie alle erschöpft. An Dienstzeiten und vor allem Vorschriften zur Länge der Verhörzeiten hatten sie sich nicht gehalten.

Dass Sven abgebrühter war, stellte sich bald heraus. Ihn konnten sie nur dann aus der Reserve locken, wenn sie ihn mit neuen Teilgeständnissen seines Bruders Bernd konfrontierten.

Horst Sibold fuhr nach den Verhören in den frühen Morgenstunden gegen 4 Uhr nach Hause. In der Küche seiner Junggesellenwohnung dachte er noch einmal kurz an seinen verpassten Saibling, der nun noch immer in der Biber schwamm. Früher hätte er jetzt ein Bier oder gar eine Flasche Wein geköpft. Jetzt aber legte er sich mit einem flauen Gefühl im Magen ins Bett.

Um 8 Uhr klingelte das Telefon. Sein Abteilungsleiter bestätigte ihm die Berufung in die Soko. Er solle sofort seinen Dienst antreten. Hätte Sibold gewusst, dass zum Dienst antreten strammstehen vor dem Staatssekretär hieß, hätte er sich Zeit gelassen. So aber hatte er sich schnell einen Kaffee aufgebrüht, ein Käsebrot verschlungen und war losgefahren.

Dafür hatte er während der Rede des Landespolitikers im Krankenhaus fieberhaft überlegt, wie sie der Aussagebereitschaft der beiden Jungs nachhelfen konnten. Sven gegen Bernd, Bernd gegen Sven – das schien ihm der einzige Erfolg versprechende Weg zu sein.

Von der Burgstraße bog Sibold direkt über die Wider­holdstraße in die Erzbergstraße. Hier stand das einzige, während des Zweiten Weltkriegs in den Jahren 1939 bis 1942 erbaute deutsche Gefängnis. Es hatte seine abschreckende äußere Fassade verloren und stand heute leicht zu übersehen hell und freundlich hergerichtet inmitten einer Wohnsiedlung. Es diente nun in erster Linie Männern über 62 Jahren als Haftanstalt. ›Seniorenresidenz‹ nannten die Singener das Gefängnis liebevoll – ein einmaliges Versuchsmodell, bei dem die Insassen ihren Vollzugsalltag weitgehend selbstständig gestalten sollten.

Der Vollzugsbeamte erkannte den neutralen Dienstwagen der Kripo mit Freiburger Kennzeichen und öffnete das schwere Metalltor. Sibold fuhr in die Schleuse, nachdem sich das Tor hinter ihm geschlossen hatte, durch ein zweites Tor, direkt in den Innenhof.

Ein paar ältere Männer standen zwanglos im Hof zusammen und hielten sich an hölzernen Besenstielen fest. Sie hatten wohl die Aufgabe, einzelnen, wenigen Herbstblättern nachzustellen, die der Wind über die Mauer geweht hatte. Doch jetzt war eine heftige Diskussion zur Trainerfrage des SC Freiburg unter ihnen ausgebrochen. Einer von ihnen forderte energisch die Reaktivierung von Volker Finke, alle anderen aber bekundeten Solidarität mit dem neuen Trainer Robin Dutt, der zurzeit nicht so glücklich agierte. Finke dagegen war der alleinige Rekordhalter im deutschen Profifußball, der über 15 Jahre den badischen Klub trainierte und mit dem Verein in dieser Zeit dreimal in die Bundesliga auf- und wieder abgestiegen war. »Der Dutt packt des scho no«, verteidigte ein Senior der Haftanstalt den neuen Trainer, »die stiege uf.«

Auch die beiden Polizisten bewegten sich völlig frei auf dem Gefängnisgelände. Sie gingen an der diskutierenden Häftlingsgruppe vorbei. Sibold grüßte sie mit einem freundlichen: »Guten Morgen, meine Herren«, und konnte sich als Schwabe einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen, »der Finke ist in Rente, der Trainer des Landes heißt Armin Veh!«

»Wenn schon Ralf Rangnick,« konterte der Wortführer der Gruppe, »iser badisches Hoffenheim ist noch immer weit vor eurem Schwoben-VfB.«

Hinter der Eingangstür des Gefängnistrakts erwartete die Polizisten ein Vollzugsbeamter. »Sie wollen zu unsern beiden Youngsters?«

Sibold bejahte. »Zuerst zu Bernd Vierneisel, dann zu Sven.«

Das Altherrengefängnis in Singen diente auch zur Unterbringung der Untersuchungshäftlinge der Polizeibezirke Singen und Radolfzell. Auch die beiden Brüder wurden hier eingewiesen. Sie wurden jeweils in einem anderen Auto gefahren und mussten auch in verschiedenen Zellen, auf unterschiedlichen Ebenen, verwahrt werden; so lautete die Anordnung. Dass dies auch ausgeführt wurde, war nicht selbstverständlich, doch für Sibolds Plan wichtig. Deshalb ließ er sich zuerst zu Bernd führen.

Der Vollzugsbeamte spähte durch den Spion der Zellentür. Dann lächelte er milde, öffnete das Schloss und zog die dicke, schwere Tür zu sich hin auf. Bernd Vierneisel lag zusammengekauert auf seinem Bett. Neben dem Bett stand ein Eimer, in den er sich erbrochen hatte.

Die Zelle war karg eingerichtet. In der Ecke zum Fenster stand ein Bett. Am Fußende des Bettes war ein Waschbecken angebracht, daneben war die Toilettenschüssel montiert. Der Deckel stand offen, Erbrochenes befand sich auch hier. An der Wand gegenüber standen ein Tischchen und zwei Stühle. Mehr gab es nicht. Das Licht fiel durch ein kleines, vergittertes Fenster. Es roch streng, doch das Fenster war nicht zu öffnen. Der Fenstergriff war abmontiert.

Der Justizvollzugsbeamte griff zu seinem Schlüsselbund, nahm einen Stuhl, ging zu dem Fenster, stellte sich auf den Stuhl und öffnete mit einem Vierkantschlüssel die Luke.

Bernd sah zu ihm auf, seine Augen waren verquollen.

Sibold sah, dass der Junge geweint hatte. Er schaute zu seinem Kollegen, gab ihm mit seinem Ellenbogen einen leichten Schubs, und die beiden begannen mit ihrem Verhörspiel.

»Bernd«, sagte Sibold sanft, »wir müssen jetzt nach vorne schauen. Ihr habt euch die Scheiße eingebrockt, jetzt müssen wir darauf achten, dass wir zusammen ohne großen Schaden für euch die Suppe wieder auslöffeln. Du bist noch jung, versau dir dein Leben nicht wegen einiger Typen, die euch nur ausnutzen. Mach reinen Tisch, und ich helfe dir aus der Scheiße.«

Bernd schluchzte.

Sibold schob nach: »Warum willst du uns nicht sagen, von wem das Gold und Geld ist? Was hast du zu verlieren? Du sitzt hier im Knast, und die schicken die nächsten Kuriere los. Du könntest mit der Wahrheit auch deinem Bruder helfen. Dumm, dass er durchgedreht ist. Er baut einen Mist nach dem anderen. Hilf ihm. Du kannst ihn vor weiterem Unsinn bewahren.«

Bernd schaute den Kommissar unsicher aus seinen verweinten Augen an.

Sibold schnappte sich einen Stuhl, schob den übel riechenden Eimer mit einem Fuß von sich und setzte sich neben Bernd. »Schau mal, du warst in dem Wagen, mit dem ihr versucht habt, Geld und Wertsachen zu schmuggeln. Ein Vergehen gegen das Zollverwaltungsgesetz; Punkt, das ist das eine. Mein Gott, dafür gibt es Geldstrafen. Das andere ist die Frage: Woher stammen das Geld und das Gold? Dahinter verbergen sich die Fragen, die wir aufklären werden. Und dahinter stecken vermutlich Verbrechen, für die du deinen Kopf nicht hinhalten solltest. Da würde ich an deiner Stelle lieber aussagen.«

Der junge Mann schwieg. Er schaute von Sibold zu dessen Kollegen, dann zu dem Justizvollzugsbeamten.

Sibold gab dem Schließer ein Zeichen, daraufhin verließ dieser die Zelle. Sein Kollege übernahm jetzt in einem strengeren Ton den weiteren Part des Verhörs: »Der Mordversuch an einem Zollbeamten wiegt schwer. Es kann sein, dass Sie die Waffe nicht in den Händen hatten. Gut, wir haben keine Fingerabdrücke von Ihnen auf der Pistole gefunden. Aber es gibt ja auch Handschuhe.«

Bernd drehte sich auf seinem Bett um. An die Wand nuschelte er: »Ich will meinen Anwalt sprechen, das ist mein Recht.«

»Das ist dein Recht, aber nicht immer der beste Rat. Denk daran, du kannst mich immer sprechen, und ich meine es gut mit dir«, versicherte Sibold, stand auf und verließ die Zelle.

Sein Kollege folgte ihm. In dem kahlen Gang warteten sie, bis der Schließer das Fenster wieder verriegelt hatte, dann folgte auch er ihnen, drehte den Schlüssel dreimal um, und sie gingen gemeinsam ein Stockwerk höher vor die Zelle von Sven.

Sibold spähte durch den Spion.

Sven saß auf einem Stuhl. Er stierte stur vor sich hin.

Sibold beobachtete ihn eine kurze Zeit. Dann ließ er die Zelle öffnen und trat mit seinem Kollegen ein.

Sven Vierneisel war aufgestanden, stellte sich vor die beiden Be­amten und starrte ihnen herausfordernd ins Gesicht.

Eine knappe, unfreundliche Begrüßung von beiden Seiten eröffnete das Verhör. Sibold gab seinem Kollegen ein Zeichen, das heißen sollte, dieser habe mit seiner Art der Befragung zu beginnen.

»Mordversuch an einem Kollegen! Da würde ich mir das gestohlene Gold und Geld nicht auch noch in die Schuhe schieben lassen, Herr Vierneisel. Wir haben die Pistole untersucht. Die Fingerabdrücke auf der Pistole sind mit den Ihren identisch. Dazu ein Kollege, der bezeugt, dass Sie geschossen haben. Da würde ich jetzt doch mal versuchen, einige Dinge zu klären, oder?«

»Herr Kommissar«, lachte Sven frech, »das ist doch Ihr Job. Klären Sie mal auf, was Sie meinen klären zu können. Mein Anwalt wird Ihnen dann schon sagen, was wir davon halten.«

»Interessanter ist für uns, was Ihr Bruder sagt.« Horst Sibold hatte keine Lust auf diesen coolen Typen und mischte sich voreilig ein. Er hatte sich am Morgen schon vorgenommen, die beiden Brüder gegeneinander auszuspielen. Das Gespräch mit diesem hartgesottenen Sven konnten sie sich sparen, da war er sich sicher. Also log er: »Ihr Bruder hält Ihr Spiel nicht aus. Er will aussagen. Er hat uns gebeten, zuvor nochmals mit Ihnen zu sprechen. Ihm wäre es lieber, wenn Sie mit Ihrer Aussage Ihre eigene Situation verbessern würden. Wenn Sie uns helfen, Ihre Hintermänner zu überführen, dann, das wissen Sie genau, können Sie mit Strafmilderung rechnen. Und das haben Sie verdammt nötig.«

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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443 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839233986
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