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Kapitel 2

»Nichts wäre leichter, als mit dem Boot den ganzen Kladderadatsch von Kreuzlingen nach Meersburg zu schippern, warum nur müssen wir versteckt über diese kahlen Felder kutschieren?«

»Was machst du dir einen Kopf? Bisher ging immer alles glatt, Opa wird schon wissen, warum er uns mit der Karre nach Zürich geschickt hat!«

»Sind wir überhaupt noch in der Schweiz? Oder sind wir schon in Deutschland?«

»Was soll’s, wir sind mitten in Europa, mach dir nicht ins Hemd, du Scheißer.«

Sven steuerte den schweren, silbergrauen Mercedes mit leichter Hand über die schmalen Straßen am Südhang des Randen entlang. Das eingebaute Navigationsgerät verriet ihm die kleinsten Feldwege mit allen möglichen Grenzübergängen. Sven war wie immer gut gelaunt. Er hatte eine große, neumodische Sonnenbrille auf der Nase, freche Sommersprossen und lockige, blonde Haare, die ihm tollkühn ins Gesicht hingen. Er grinste verwegen und drehte das Radio lauter. Er hatte gerade eine CD der Böhsen Onkelz eingeschoben und grölte mit. »Nur die Besten sterben jung …«

Sven führte oft und gerne Aufträge für seinen Opa aus. Der kleine Gefallen, den er ihm heute tat, war eine Lappalie. Einmal Zürich und zurück, pah! Er würde die Karre noch einige Zeit behalten dürfen, und schon allein dieser Gedanke gefiel ihm. Heute Abend würde er damit eine Tour durch die Singener Innenstadt unternehmen. Zwar waren die Gartenwirtschaften jetzt im späten Herbst längst geschlossen, aber seine Kumpels hingen noch immer gerne vor dem ›Exil‹, einer seiner Stammkneipen, herum.

Sein nur um wenige Jahre älterer Bruder Bernd dagegen wirkte eher ängstlich. Er saß steif neben Sven. Er trug eine etwas biedere Kombination: braune Kordhose, blaues Hemd und ein schwarzes Sakko. Seine Haare waren kurz geschnitten, seine Brille hatte dicke Gläser mit Zylindern. Im Gegensatz zu seinem Bruder gefielen ihm die Aufträge seines Opas nie. Er hatte dabei immer das Gefühl, etwas zu tun, das er nicht ganz durchschaute.

Auf der anderen Seite war der Auftritt heute Morgen cool gewesen. Sie waren in Zürich in der Bahnhofstraße direkt beim Hauptsitz der Schweizer Bankgenossenschaft vorgefahren. Locker hatte Sven den Wagenschlüssel in die Hände eines Bediensteten geworfen, dann hatten sie die Papiere von Opa auf einen Tisch gelegt, und schon waren sie bedient worden wie Staatsgäste im Bundespräsidialamt. Es hatte Kaffee und feinste Sprüngli-Pralinen und anschließend eine Führung in die Katakomben des noblen Bankhauses gegeben. Dort hatte ihnen ein weiterer Bediensteter mehrere Schlüssel überreicht, und gemeinsam hatten sein Bruder Sven und er mehrere Fächer seines Opas in dem Saferaum geplündert. Sie hatten dabei konzentriert vorgehen, zum Teil nummerierte Goldbarren entnehmen und notieren sowie einen nicht unerheblichen Batzen Bargeld zusammenzählen müssen.

»Befehl von Opa«, hatte Sven gegrinst und einige Scheine, wie in einem schlechten Hollywoodstreifen, in die Luft geworfen.

»Woher der das alles nur hat?«, wollte Bernd im Auto wissen.

»Du fragst, wie immer, zu viel«, wies ihn Sven zurecht. »Du weißt doch: W-Fragen beantwortet nur der liebe Gott.«

»Scheiß drauf, das muss gerade der Alte sagen, der weiß ja nicht einmal, wie man Gott schreibt.« Bernd hasste die Ausflüchte seines Opas auf alle die Fragen, die darauf abzielten, ein bisschen Licht in das mysteriöse Leben des alten Herrn zu bringen.

»Dafür muss er einen guten Draht zu ihm haben«, beschwichtigte Sven seinen Bruder, »der Nebel kommt doch wie vom lieben Gott selbst gemacht.«

Es war ein klarer Novembertag. Für die Jahreszeit war es bisher viel zu warm. Sonnenstrahlen schafften sich immer wieder einen Weg durch die wallenden Nebelbänke, die vom See aus dank dem leichten Ostwind sanft westwärts geschoben wurden. Jetzt in den späten Nachmittagsstunden drückten sich die Nebelbänke aus dem Tal unterhalb des Randen nach oben in die Hügelkette zwischen der Schweiz und Deutschland empor. Die Wälder liegen hier einsam, nur unterbrochen von einigen Wiesen und Feldern und wenigen einzelnen Bauernhöfen. Wanderer können sich nur schwer orientieren, wo und wann sie die Staatsgrenze überschreiten. Dabei kann es vorkommen, dass sie trotz Geradeausmarsch in nur eine Himmelsrichtung öfter die Grenzseite wechseln, als sie es selbst wahrnehmen. Hie und da stehen alte, längst vermooste Grenzsteine, manchmal ein neues Schild, das Grenzgänger ermahnt, nicht zu schmuggeln.

Die Autofahrer haben es leichter, sich zu orientieren. Sie sehen zumindest die obligatorischen Grenzschranken, sofern sie auf den ordentlichen Straßen fahren. Und an jedem offiziellen Grenzübergang entlang dieser kleinen Landstraßen wehen sichtbar deutsche und schweizerische Flaggen in gemeinsamer Eintracht.

Allerdings sind die Zollhäuser selbst oft unbesetzt. Eine Garantie dafür gibt es aber nicht, denn hin und wieder wird trotz Personalmangels auch an den kleinen Grenzübergängen kontrolliert. Doch das Besetzen dieser Posten lohnt sich kaum. Es gibt an den kleinen Grenzübergängen fast keinen Verkehr. Meist sind es nur wenige Traktoren, die dort über die Grenze fahren, denn die deutschen Landwirte verpachten ihre Äcker gerne an Schweizer Bauern. Diese bezahlen mehr als ihre deutschen Kollegen.

Die beiden Brüder hatten sich den kleinen Grenzübergang bei Wiechs am Randen, zwischen dem kleinen Flecken der schweizerischen Ortschaft Bibern und dem noch kleineren deutschen Klecks Beuren, ausgesucht. Langsam näherten sie sich dem kleinen Zollhäuschen von der Schweizer Seite kommend. Beide Staatsfahnen hingen vor der Zollstation schlaff im Wind. Die Amtsstube war in einem Gebäude untergebracht, das nicht viel mehr Raum bot als eine Garage. Trotzdem war das Häuschen ordentlich hergerichtet. Vor den Fenstern haderten rote Geranien mit einem bevorstehenden Winter, dem noch immer die Kraft fehlte, echte, für sie tödliche Fröste zu schicken.

Sven hatte circa 100 Meter vor dem Grenzübergang angehalten. Er griff zu einem Fernglas auf der Rückbank des Wagens. Er schob seine Sonnenbrille lässig nach oben und hob das Glas vor seine Augen. Dann schwenkte er, wie ein Jäger auf der Pirsch, die Straße vor sich ab. Er spähte nach einem Auto der Zollbeamten, sah aber keines. Beruhigt gab er langsam wieder Gas.

»Lass uns doch erst mal zu Fuß die Lage abchecken«, riet Bernd und minderte die Lautstärke der Böhsen Onkelz.

»Pah, die faulen Säcke sind doch alle zu Hause«, provozierte Sven und drückte das Gaspedal kräftiger durch. Der schwere Wagen schaltete automatisch vom zweiten in den dritten Gang und beschleunigte.

Bernd nahm das Fernglas von Sven und spähte nun ebenfalls. Er sah die geöffnete Schranke und die Tür des Zollhäuschens verschlossen. Erleichtert erwiderte er: »Du hast recht, der Schlagbaum ist oben.«

»Give me five«, forderte Sven seinen Bruder auf, und sie schlugen ihre jeweils rechten Handflächen aneinander.

Lachend überquerten sie die unbesetzte Grenzstation.

»Und jetzt nichts wie Gas«, freute sich Bernd und drückte mit seiner linken Hand auf das rechte Knie seines Bruders und damit dessen Fuß noch fester auf das Gaspedal.

Nach dem ungehinderten Grenzübertritt bogen die beiden in ein weiteres Nebensträßchen auf dem Weg von dem schweizerischen Örtchen Thayngen in Richtung des deutschen Kleinstädtchens Tengen.

Über einen Feldweg bog Sven in ein Seitental ab, als er plötzlich scharf abbremsen musste. Jäh standen sie in einer Nebelwand, und direkt vor ihnen waren, wie aus dem Nichts, mehrere eisern schillernde Pflugscharen aufgetaucht. Die Scharen standen drohend in die Luft, direkt vor der Frontscheibe. Sie gehörten zu einem Traktor, der, ohne auf den Verkehr zu achten, von dem Acker auf die kleine Straße gefahren war. Die Straßenverkehrsordnung schien den Fahrer nicht zu kümmern. Der saß geschützt hoch oben auf seiner Zugmaschine, Nebelscheinwerfer hatte er nicht eingeschaltet. Warum auch? Mag sein, dass er gedacht hatte, beim Pflügen würden sie ihm auch im Nebel nicht weiterhelfen. Und auch Nebelschlussleuchten hatte der Bauer bis zu diesem Tag auf dem Feld noch nie eingeschaltet.

Sven hatte die Pflugscharen in Höhe seiner Frontscheibe gerade noch vor sich gesehen, war heftig erschrocken und stand unvermittelt auf dem Bremspedal, während er laut und aggressiv hupte.

Der Bauer hörte das Warnsignal offensichtlich nicht, oder es interessierte ihn nicht. Er streifte den für ihn vermeintlichen Städter in seinem Mercedes mit keinem Blick, wendete geschickt seinen schweren Traktor auf dem schmalen Sträßchen und setzte die sechs Pflugscharen danach in aller Seelenruhe wieder in das Erdreich am Straßenrand.

Sven sah das Schaffhauser Nummernschild an dem Traktor, hupte erneut und zeigte dem Schweizer Bauer seinen gestreckten Mittelfinger. Doch dieser schien sich um die beiden Jungs in dem teuren Auto immer noch nicht zu scheren und zog gemächlich weiter seine Bahn.

Die beiden Brüder fuhren mit deutlich hörbarem Vollgas weiter. Sie sahen nicht mehr, wie der Bauer grob lächelte, ebenfalls sein Gaspedal bis zum Anschlag drückte und zu seinem Handy griff.

»Bauerntrottel«, quittierte Sven die Begegnung und reduzierte das Gas gerade rechtzeitig vor der nächsten scharfen Rechtskurve wieder.

»Für den sind wir die Schwobenärsche, die hier eh nichts verloren haben, der Chaibe, der weiß doch nicht einmal den Unterschied zwischen Baden und Schwaben«, pflichtete Bernd seinem Bruder bei. »Dabei nehmen die mit ihren teuren Fränkli den deutschen Bauern ihre Felder weg.«

»Deutsches Land in deutsche Hand!«, skandierte Sven und reckte seine rechte Hand, mit ausgestrecktem Arm und ausgestreckten Fingern, hoch nach vorn.

»Stimmt«, pflichtete ihm Bernd bei, »die haben jetzt schon einige Tausend Hektar bei uns gepachtet oder gar gekauft. Die deutschen Bauern können bei diesen Preisen, die die Schweizer Bauern bezahlen, längst nicht mehr mithalten. Das ist nicht in Ordnung.«

»Genau«, stachelte Sven seinen Bruder an, »und wenn dann ein deutscher Bauer irgendetwas in die Schweiz einführen will, dann zahlt er kräftig Zoll, der Schweizer Chaibe aber nicht.«

Dass bei diesem Deal die deutschen Landbesitzer den Reibach machten, so wie auch die Schweizer Grundstücksbesitzer, wenn reiche Deutsche sich ihr Häuschen in der Steueroase Schweiz kauften, so weit wollten die jungen Männer nicht denken. Konnten sie auch nicht, denn so unvermittelt, wie zuvor der Traktor aufgetaucht war, tauchte jetzt ein Zollwagen vor ihnen auf.

»Scheiße«, entfuhr es Bernd. »Was machen wir jetzt?«

»Ganz cool bleiben«, versuchte Sven ihn zu beruhigen und holte eine Pistole aus dem Handschuhfach.

»Bist du verrückt?«, entsetzte sich Bernd.

»Bleib cool, lass die doch erst mal rankommen, meist winken sie einen sowieso durch.«

Der Zollwagen fuhr an die Fahrbahnseite, zwei Zöllner stiegen aus, beide setzten sich ihre Dienstmützen auf den Kopf. Dann stellten sie sich mitten auf die Straße und nahmen den Mercedes mit festem Blick ins Visier.

Sven lenkte den Wagen langsam auf die Beamten zu.

Er wirkte unentschlossen, er überlegte: Wenn sie ihn nur durchwinken oder nur die Papiere kontrollieren wollten, dann hatte er keinen Grund, sich jetzt auffallend zu verhalten.

Wenn sie ihn stoppen würden, um den Wagen zu filzen, dann musste er sich etwas einfallen lassen.

»Scheiße, jetzt sitzen wir in der Falle, der Stinke-Schwizer-Bauerntrottel, der hat uns die auf den Hals gehetzt«, fluchte Bernd.

Sven grinste verächtlich. Er hielt noch immer die Pistole in der rechten Hand, entsicherte sie jetzt mit der linken und ließ dabei dem Mercedes freihändig den Lauf. Leise schnurrend bewegte sich der Wagen auf die beiden Männer zu.

Diese postierten sich links und rechts der schmalen Fahrbahn.

Sven ließ den Wagen zwischen sie rollen.

Der Zöllner auf der rechten Seite des Wagens hielt seine Hand hoch. Das Zeichen war unmissverständlich: Stopp!

Sven blickte in den Rückspiegel und entdeckte einen Dienstwagen des Schweizer Zolls hinter ihnen.

»Aha, so ist das, na denn gut«, kommentierte er die Zange, in die sie geraten waren, und klemmte die Pistole zwischen seine Schenkel.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Bernd ängstlich.

»Opa sein Geld bringen«, erwiderte Sven völlig gelassen und betätigte den automatischen Fensterheber. Das Glas senkte sich, der Wagen rollte zwischen die beiden Zöllner. Der eine blieb auf der einen Seite am Wagen stehen, der andere stand links auf der Höhe des Beifahrerfensters.

»Guten Tag, Ihre Papiere bitte«, forderte der Zöllner auf der Fahrerseite Sven auf.

Sven schaute dem Zöllner in die Augen, lächelte freundlich und griff zwischen seine Beine.

Dann ging alles sehr schnell: Sven hob die Waffe für den Polizisten kaum sichtbar mit der rechten Hand hoch und feuerte gleichzeitig los. Er gab einfach einen Schuss aus der Hüfte durch das geöffnete Fenster in Richtung des Zollbeamten ab. Gleichzeitig schlug er das Lenkrad scharf nach rechts ein, gab Vollgas, touchierte den rechts stehenden Zöllner und fegte ihn damit von der Straße. Der Wagen machte einen Satz und stob geradeaus davon.

Die beiden deutschen Zöllner blieben auf dem Boden liegend zurück. Die Schweizer Zollbeamten schalteten vorschriftsmäßig ihr Martinshorn ein und preschten zu ihren deutschen Kollegen. Über Funk schlug der eine Alarm, der andere kümmerte sich zunächst um die beiden Verletzten.

Sven blickte in den Rückspiegel und lachte: »Dem hab ich ein Ei abgeschossen«, prustete er.

Bernd saß kreidebleich neben ihm: »Du spinnst, du bist völlig verrückt, was jetzt?«

»Bleib cool«, beruhigte Sven seinen Bruder, »bis die sich von ihrem Schock erholt haben, sind wir über alle Berge.«

Der Alarm der Schweizer Zöllner rief zunächst nur die Schweizer Kollegen auf den Plan. Doch dank der internationalen Zusammenarbeit gab es eine Alarmstufe, die auch auf der jeweils anderen Seite der Grenze gehört wurde. Im Hauptzollamt Singen blinkten nur wenige Minuten später die roten Alarmlämpchen in der Einsatzzentrale auf. Von dort aus wurde bald eine Großfahndung auf der deutschen Seite gesteuert. Mordversuch an einem Kollegen! Aus allen Polizeistationen von Waldshut über Villingen-Schwenningen bis nach Singen und Konstanz rückten alle Mann aus.

Sven aber gab sich zuversichtlich. Er fuhr zunächst in Richtung Engen. Er wollte diesem Wirrwarr der kleinen Sträßchen entlang der Grenze entkommen. Auf der Autobahn konnte er mit seinem stark motorisierten Wagen schnell Kilometer wettmachen. Auf der anderen Seite war ihm klar, dass gerade dort die Straßensperren zuerst aufgebaut würden. Das sprach für die kleinen Nebenstraßen.

»Wir sollten möglichst schnell in Singen alles in meinen Golf umladen«, schlug Bernd vor.

»Bist du verrückt? Jetzt nach Singen hineinfahren?«, herrschte Sven ihn an.

»Klar, volle Kanne der Polizei entgegen, das glauben die doch nie«, verteidigte Bernd seine Idee. »Die sind jetzt auf alle Autos geeicht, die möglichst weit vom Tatort wegfahren. Wer dagegen in der Nähe bleibt, hat nichts zu verbergen.«

Sven bremste scharf ab und schoss in einen Waldweg. »Schnell, wechseln wir die Nummernschilder aus«, befahl er seinem Bruder und sprang aus dem Wagen, riss die hintere Tür auf, hob die Rückbank hoch und machte sich an der Innenverkleidung des Wagens zu schaffen.

Bernd rannte in der Zwischenzeit um das Auto herum, löste die Kennzeichen vorne und hinten und reichte sie seinem Bruder in den Fond des Wagens. Der gab ihm zwei neue Schilder, die er unter der Innenverkleidung des Fußbodens hervorgeholt hatte, und schob die alten unter die Verkleidung. Dann zog er sein Portemonnaie aus der rechten Hosentasche, nahm den Fahrzeugschein heraus und tauschte ihn mit dem anderen, der zu den neuen Schildern gehörte. Den alten Schein legte er zu den gebrauchten Schildern in den Hohlraum hinter der Verkleidung.

Bernd hatte die neuen Schilder schnell angebracht und setzte sich wieder auf den Beifahrersitz, Sven klemmte sich hinter das Steuer, stieß auf die Straße zurück und fuhr lässig und gemächlich Richtung Singen.

»Give me five«, lachte Sven, und Bernd schlug ein.

Sven drehte die CD wieder auf: »Es regnet Wut, hier gibt es keine Arche, wir ertrinken in Blut«, grölten die Böhsen Onkelz.

*

Kriminalhauptkommissar Horst Sibold hatte endlich dienstfrei. Er hatte einen routinemäßigen Arbeitstag hinter sich mit öden Verwaltungsarbeiten. Der Vorteil: Er kam pünktlich um 16.30 Uhr aus der Amtsstube, wie er das Kommissariat verächtlich nannte.

Horst Sibold war ein gutmütiger Mensch, Karriereleiter und Hierarchiedenken waren seine Sache nicht. Er hatte sich freiwillig aus Stuttgart an den Hohentwiel versetzen lassen, als man zur Verstärkung der südlichen Grenzstadt Polizeibeamte suchte. Zwar nahm er damals die Beförderung zum Hauptkommissar mit, doch wegen der Beförderung war er nicht umgezogen. Es war die Nähe zum Bodensee, die ihn zu dem Umzug ermuntert hatte, und, wenn er ehrlich war, in erster Linie die Scheidung von seiner Frau sowie ernsthafte Alkoholprobleme, die sich in der Dienststelle in Stuttgart herumgesprochen hatten. Singen sollte ein Neuanfang für ihn werden.

Horst Sibold war ein leidenschaftlicher Angler. Ein Argument mehr, das für den Umzug an den Bodensee sprach. In Stuttgart fand er kaum geeignete Gewässer, die ihm gefielen. Den Neckar überließ er lieber Daimler und anderen Industriebetrieben als Abwasserkanal. Die Fische daraus wollte er nie verspeisen. Doch Sibold gehörte schon immer zu den Petrijüngern, die ihren Fang auch selbst konsumierten. Man sah es ihm an, dass er gut und viel aß.

Gleich nach seinem Umzug nach Singen suchte er direkt am See einen Angelverein, in den er eintreten konnte. Doch schon bald fand er im Umland von Singen, im Hegau, sein Jagdrevier, sodass er meist auf das Angeln im Bodensee selbst verzichtete. Ein Kollege war Mitglied der Anglergemeinschaft ›Östliches Hegau‹. Dieser hatte bald Horst Sibold am Haken und zog ihn mit in seinen Verein. In der Aach, im Riederbach oder in der Biber gab es zwar keine Felchen oder Kretzer, aber wunderschöne Forellen und vor allem Saiblinge. Ein frischer Bachsaibling, das war für Horst Sibold wie ein Gedicht. Das leicht rötliche Fleisch des Fisches dünstete er meist nur sanft in Butter, dazu Salz und Pfeffer, einen kleinen Spritzer Olivenöl mit Zitrone, das war’s.

Auch für heute Abend hatte er es sich so vorgestellt. Noch galt für den Saibling, Anfang November, keine Schonzeit, und es war noch hell, als er den Innenhof des Kommissariats mit seinem grünen Opel Omega verließ. Im Kofferraum hatte er die Angelausrüstung immer griffbereit liegen. Er entschloss sich, nicht nach Hause zu fahren, sondern bog an der Bahnhofskreuzung links ab und fuhr südlich aus der Maggi-Stadt in Richtung Gottmadingen.

Der Kriminalkommissar hatte als Petrijünger den Hegau schnell wie seine Westentasche kennengelernt. Er fuhr auf der Landstraße vor Gottmadingen links weg, in Richtung des kleinen Orts Randegg.

Randegg selbst kannte Sibold als Mineralwassertrinker. Die Ottilienquelle in Randegg ist das bekannte Mineralwasser der Region. Den Anglern ist der Ort dank der Biber bekannt, einem durch und durch sauberen Bach mit – für Horst Sibold – den besten Saiblingen.

Ein gutes Stück vor der Schweizer Grenze bog Sibold in einen schmalen Waldweg ab, der offensichtlich nicht weiterführte. Doch er ließ seinen Omega über den Waldboden rollen und lenkte den Wagen geschickt an einigen Bäumen vorbei in ein Gestrüpp. Von hier aus hatte er nur wenige Meter bis zu seinem Angelstand an der Biber.

Sibold öffnete die Fahrertür, stieg aus, schaute sich um, dann knöpfte er seinen Hosenladen auf. Er blickte nochmals in alle Himmelsrichtungen, ließ die Hose ganz runter fallen, setzte sich stöhnend auf den Fahrersitz zurück und zog die weiten Hosenbeine über seine Schuhe. Vom Vordersitz aus griff er rücklings auf die Hinterbank und fischte eine alte Militärhose, die er bei der Bereitschaftspolizei erhalten hatte, nach vorn. Sein dicker Bauch war ihm im Weg, trotzdem schaffte er es, auch diese Hosenbeine über seine Schuhe zu ziehen. Danach wuchtete er sich wieder aus dem Wagen und zog die Hose jetzt ganz hoch. Den oberen Knopf konnte er zwar beim besten Willen nicht mehr durch das dafür vorgesehene Knopfloch schieben, doch wo einst der Knopf hielt, erfüllte heute sein Hüftfett diese Aufgabe.

Dann stopfte er Taschentuch, Messer und Handy von seiner Diensthose in die Anglerhose und ging um den Wagen herum zum Kofferraum. Dort zog er sein Sakko aus, legte es in den Wagen, zog einen dicken Pullover an und darüber eine ärmellose Outdoorweste mit unzähligen Taschen.

Schließlich tauschte er noch seine Schuhe gegen Gummistiefel aus, setzte sich einen Jägerhut auf sein nur noch spärlich mit Haaren bewachsenes Haupt und war endlich bereit, die Angelrute in die Hand zu nehmen.

Gerade wollte er, ausstaffiert wie ein echter Petrijünger aus dem Fachmagazin ›Rute und Rolle‹, losziehen, da bog ein weiteres Auto in den Waldweg ein. Er befürchtete, dass es Abendspaziergänger waren, die ihr Auto parken wollten, sodass sie ihn später eventuell blockierten, wenn er mit seiner Jagdbeute auf die Straße zurückstoßen wollte. Also schaute er sicherheitshalber nach und ging, geschützt durch das Blattwerk der Sträucher, bis zum Rand des Buschs, hinter dem sein Auto stand.

Durch das Gebüsch sah er einen silbergrauen Mercedes und zwei junge Männer. Der eine verkroch sich im Fond, der andere rannte an die Front des Wagens zur Motorhaube und schraubte an der Stoßstange herum. Bald war Sibold klar: Der Mann entfernte das Kennzeichen.

»Heiliger Strohsack!«, fluchte Horst Sibold und fragte sich: »Muss ich diese Lausbuben eigentlich sehen?« Unwillig schüttelte er seinen Kopf. Er hatte Feierabend. Er schnupperte mit seiner Nase schon den Duft von Saiblingen. Er sah ihr zartrosa Fischfleisch vor sich. Er sah aber auch, wie der eine Bursche um das Auto sprang und nun ein neues Kennzeichen an dem Wagen befestigte.

Der Kriminalhauptkommissar fluchte. Er griff in seine Hosentasche und tippte eine Nummer in sein Handy. Auf dem Display erschien: ›Anrufe werden umgeleitet‹.

Horst Sibold wurde ungeduldig. Unwillig schaute er dem Schauspiel, das die beiden Burschen boten, weiter zu.

Mit der Wiederholungstaste versuchte er erneut, eine Verbindung in das Kommissariat herzustellen. Immer noch war besetzt. Jetzt wählte Sibold die Nummer der Zentrale. Es dauerte verhältnismäßig lange, bis abgenommen wurde. Sibold hätte am liebsten losgepoltert, doch er musste leise sein. Also nannte er nur kurz seinen Namen und gab an, was er gerade sah.

»Ein möglicher Autoschieber juckt uns gerade wenig, Herr Hauptkommissar«, urteilte der diensthabende Telefonist in der Einsatzzentrale am anderen Ende der Leitung, »hier ist die Hölle los, ein Kollege des Zolls wurde gerade angeschossen.«

»Wo?«, fragte Sibold.

»Beim Grenzübergang Bibern.«

»Wie ging das vor sich?«

»Ich habe jetzt keine Zeit, Herr Hauptkommissar«, entschuldigte sich der Telefonist und wollte das Gespräch beenden.

»Glauben Sie, ich?«, stöhnte Sibold. »Glauben Sie, ich habe Zeit? Ich habe dienstfrei! Schicken Sie eine Streife, aber hopp!«

»Kollege! Es gibt hier keine Streife, die ich schicken könnte. Alle Mann sind im Einsatz, wir haben im Moment Wichtigeres zu tun, als einem Autodiebstahl nachzugehen.«

Horst Sibold hörte nur noch ein Klicken. Er schluckte trocken und zwang sich zu innerer Ruhe. Er spähte zu den beiden Burschen hinüber und sah, wie sie jetzt wieder im Wagen saßen und rückwärts auf die Straße stießen.

Schnell schlug er sich die Saiblinge aus dem Kopf und den Kofferraumdeckel zu. Klar, stimmte er der Einsatzentscheidung zu: Versuchter Mord an einem Kollegen, da hatte alles andere hintenanzustehen. Aber er konnte deshalb doch nicht diese zwei Trübspitze einfach laufenlassen. Dazu war er viel zu sehr Polizist, als dass er nicht zumindest erfahren wollte, was da vor sich ging.

Kaum hatte der silberne Daimler sich auf der Landstraße Richtung Singen eingefädelt, setzte sich auch Sibold mit seinem grünen Omega auf die Fährte der beiden. Nur zwei Autos waren zwischen dem Daimler und ihm. Langsam wurde es dunkel, er musste nahe dranbleiben.

*

Sven und Bernd fuhren über Gottmadingen nach Singen. Bernd fummelte an einem Weltempfänger und suchte auf dem UKW-Bereich den Polizeisender.

»Das kannst du lassen, die wissen doch eh nichts«, versuchte Sven seinen Bruder zu beruhigen.

»In der Karre sind wir mit den neuen Nummernschildern vorerst sicher, das sehe ich auch so«, überlegte Bernd laut, »aber wenn der Zollbeamte überlebt, wird er dich identifizieren, das ist dann wohl ein Leichtes für ihn.«

»Blöd, ich weiß, aber ich hatte keine Zeit für einen weiteren Schuss, hinter uns standen schon die Schweizer Bullen. Jetzt lass uns erst mal unseren Schatz in deinem Golf verstauen.«

»Dann fahren wir aber sofort damit zu Opa, du musst erst mal für eine Zeit verschwinden!«, riet Bernd seinem Bruder.

*

Auch Horst Sibold hatte den Polizeifunk eingeschaltet. Allerdings genügte ihm ein Knopfdruck, und er war auf Empfang. Er hörte die Ringfahndungsanweisungen seiner Kollegen und konnte sich schnell ein genaues Bild über den Umfang der Straßensperren machen, die im gesamten Hegau errichtet worden waren. Es mussten auch Kollegen aus Villingen-Schwenningen und Rottweil vor Ort im Einsatz sein, dachte Sibold, denn sie hatten schon fast alle wichtigen Kreuzungsstraßen gesperrt.

Er überlegte kurz, ob er den Daimler vor sich nicht fahren lassen und sich sofort im Kommissariat melden musste, um sich ebenfalls dem großen Fahndungsring anzuschließen. Dann aber verwarf er den Gedanken schnell wieder. Seine Neugier siegte: Welches Geheimnis hatten die zwei Jungs zu verbergen?

*

Sven und Bernd nutzten die Südtangente in Richtung Innenstadt.

Der Kommissar lächelte zufrieden. Wenn sie nicht bald wieder die Tangente verließen, würden sie genau auf eine Sperre seiner Kollegen zurasen, das war ihm nach Sachlage klar. Gerade hatte er noch gegrübelt, wie er die beiden Burschen allein stellen könnte, da schien sich das Problem schon zu lösen.

Entschlossen griff Kommissar Sibold erneut zum Handy. Er telefonierte, während er seinen Wagen steuerte. Diesmal ließ er sich von dem jungen Schnösel in der Leitstelle nicht abweisen. Ruhig und sachlich stellte er klar: »Wir bewegen uns auf die Sperre der Südtangente Richtung Innenstadt zu. Vor mir fährt ein silbergrauer Mercedes mit folgendem Kennzeichen …«

Weiter kam er in seinen Ausführungen nicht. Der Telefonist unterbrach lebhaft: »Silbergrauer Mercedes, sagen Sie? Ist das der Wagen, den Sie bei Randegg sahen, bei dem zwei junge Männer die Kennzeichen tauschten?«

»Ja doch, aber nun lassen Sie mich doch …«

»Vorsicht, Kollege Sibold, es sieht so aus, als würden Sie dem gesuchten Tatfahrzeug folgen. Die beiden Burschen fuhren ebenfalls einen silbergrauen Mercedes.«

Horst Sibold stöhnte. Er dachte an seine Saiblinge und hätte am liebsten auf der Stelle umgedreht. Doch jetzt steckte er mitten im Schlamassel. Er war noch nie während seiner Laufbahn auf Verfolgungsjagden scharf gewesen. Er hatte Angst vor hilflosen Verbrechern, die eine Pistole in der Hand hielten, und noch mehr vor schießwütigen Kollegen.

Doch vor ihm zuckte schon das kalte Blau der Warnlichter der Einsatzfahrzeuge der Polizei durch die Nacht. Sibold wusste, dass die Einfahrtsschleuse zur Straßensperre immer 1.000 Meter vor der Kontrollstelle begann. Die Kollegen mussten sie schon im Auge haben.

*

Sven hatte ebenfalls die Sperre erkannt. »Du Volltrottel!«, zischte er seinem Bruder zu. »Die Bullen suchen uns am Tatort. Versteck dein Volksradio und schnall dich an!« Gleichzeitig holte er wieder seine Pistole aus dem Handschuhfach.

*

Im Wagen hinter den beiden Flüchtenden entsicherte Kommissar Horst Sibold seine Waffe. Er war mit dem Einsatzführer der Straßensperre Südtangente über eine Ringleitung mit der Zentrale verbunden. Der Einsatzleiter hatte schnell entschieden. Alle Autos vor dem Mercedes wurden hektisch ohne Kontrolle durchgewunken. Dann rannten vor dem herannahenden Mercedes schnell einige Beamte über die Fahrbahn. Im Schlepptau zogen sie Kunststoffhürden, ein Nagelbrett und zwei Straßensperren aus Kunststoff, wie sie Bauarbeiter auf Autobahnen verwenden, mit sich. Wie im Schulbuch beschrieben, ordneten sie die Barrieren hintereinander an. Selbst für einen Lastwagen war ein Durchkommen nicht mehr möglich. Daraufhin rannten die Polizisten in Deckung.

Sven hatte die ausweglose Sackgasse schnell erkannt. Es waren vielleicht noch 100 Meter bis zur Kontrollstelle. Er fluchte, trat entschlossen das Gaspedal ganz durch, drückte mit dem linken Fuß die berühmte Daimler-Handbremse bis zum Anschlag und riss gleichzeitig das Lenkrad so herum, dass der schwere Mercedes ausbrach und sich um 180 Grad drehte. In neuer Fahrtrichtung, so dachte Sven, könne er vielleicht ausbrechen.

Doch Horst Sibold stand mit seinem grünen Omega quer hinter ihm. Er hatte ebenfalls schnell reagiert und seinen Wagen so auf die Fahrbahn gestellt, dass es fast aussichtslos war, zwischen den Leitplanken und ihm durchzukommen.

Sibold saß noch im Wagen, er schwitzte. Er sah die Xenonleuchten des Mercedes wie eine Drohung auf sich gerichtet. Reflexartig öffnete er die Fahrertür und ließ sich seitlich aus dem Auto fallen. Zunächst musste der Wagen ihm Schutz bieten, dann robbte er mit seinem Revolver in der Hand von dem Fahrzeug weg, sprang, als er außerhalb des Lichtkegels des Mercedes war, ins Dunkel und verkroch sich hinter der nächsten Leitplanke. Sein Jägerhut blieb auf der Fahrbahn zurück.

Die Autos hinter ihm waren stehen geblieben. Einige Fahrer suchten hektisch einen Fluchtweg und legten die Rückwärtsgänge ein. Sibold grinste. Zwar war die Lage für die unbeteiligten Autofahrer prekär, aber ihre Sperre für den Mercedes war perfekt. Der Weg zurück, an ihm vorbei, wurde durch das Chaos versperrt.

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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443 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839233986
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