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Der schwere Daimler stand mitten auf der Straße: das Heck Richtung Straßensperre, wo die Polizei in circa 50 Metern Entfernung wartete; die Schnauze des Mercedes rund 20 Meter vor Sibolds Omega.

Sibold selbst kauerte unterhalb der Leitplanke im Gras. Er spähte zu den beiden Burschen, wollte gerade näher an den Wagen kriechen, da zischten unvermittelt vier Schüsse durch das Dunkel.

Der Daimler senkte sich mit einem Knall.

Sibold war klar, dass seine Kollegen aus der Deckung der Kontrollstelle die Reifen zerschossen hatten. Bravo, dachte er, alle vier auf einen Streich!

Dann war es still.

Eine Ruhe wie kurz bevor ein Fisch anbeißt, dachte Sibold, verscheuchte diesen Gedanken aber schnell wieder.

Über ein Megafon hörte er jetzt die Stimme seines Chefs: »Werfen Sie die Waffen aus Ihrem Wagen und steigen Sie mit erhobenen Händen aus. Sie haben keine Chance, unsere Scharfschützen haben Sie im Visier!«

Sibold lächelte. Eine bevormundende Anweisung, typisch sein Boss. Gerade hatte er sie zur Weiterbildung ›Psychologische Ansprache während Extremsituationen‹ geschickt. Als erstes Gebot hatten sie gelernt: Treiben Sie nie den Täter in die Enge! Doch sein Chef liebte nun mal Fakten. Und Sibold war klar: Wenn die beiden Burschen nicht schnell der Aufforderung nachkommen würden, dann würde die Androhung zur definitiven Realität werden. Vermutlich hatten die beiden in dem Wagen den Kollegen angeschossen, da lagen die Nerven und auch die Revanchegelüste bei jedem Polizisten blank.

Ein weiterer Einzelschuss hallte durch die angespannte Stille.

Die Heckscheibe des Daimlers barst.

Sibold drückte sein Gesicht ins Gras, es roch widerlich. Vorsichtig hob er seinen Kopf.

Der Wagen stand noch immer unbeweglich da, es tat sich nichts.

Kaum war der Hall verklungen, klinkte sich das Megafon erneut ein, die Stimme des Chefs klang jetzt ungehalten: »Wir zählen bis drei, dann sollten Sie die Türen geöffnet haben!«

Doch bevor irgendjemand mit Zählen beginnen konnte, hallte schon ein weiterer Schuss durch das Dunkel. Dieser aber klang deutlich anders – wie ein dumpfer, lauter Silvesterkracher. Gleichzeitig war es kurz blitzhell in dem Mercedes geworden, dann schien es, als würde dieser brennen. In Sekundenschnelle umhüllten Rauchwolken den Wagen.

Flutlichter gingen fast gleichzeitig wie aus dem Nichts an und setzten den Mercedes in ein gleißendes Licht.

Sibold sah, wie die beiden Türen aufflogen und die beiden jungen Männer hustend und keuchend aus dem Wagen flüchteten. Sie hielten ihre Hände schützend vor ihre Augen und bewegten sich, als wüssten sie nicht, wohin sie liefen.

Sibold sprang über die Leitplanken aus seiner Deckung.

Doch bevor er bei dem Wagen angekommen war, standen auch schon Polizeibeamte mit schusssicheren Westen und mit Maschinenpistolen im Anschlag neben ihm. Sie warfen die jungen Männer zu Boden und fesselten sie mit Plastikbändern an Armen und Beinen.

Der Einsatzleiter kam hinzu, hob Sibolds Jägerhut von der Straße auf und setzte ihm diesen auf den Kopf: »Du hast dir die Krönung heute verdient.«

Svens Waffe sowie Goldbarren, einige Edelsteine und Bargeld im Kofferraum des Mercedes wurden sichergestellt. In der Bilanz des Polizeiberichts stand noch am selben Abend in korrektem Beamtendeutsch: Hoch steuerbare Waren: Gold-/Silbermünzen im Wert von circa drei Millionen Euro; Schmuck im Wert von circa 800.000 Euro; und unter der Rubrik Bargeldaufgriffe war ein Wert von rund zwei Millionen Euro angegeben, aufgeteilt in verschiedene Währungen.

Kapitel 3

Der freie Journalist Leon Dold las die Polizeimeldung an seinem Bildschirm in seinem Büro in Überlingen. Er hatte für Eilmeldungen ein akustisches Signal auf seinem PC installiert. ›Zwei Zöllner nach Schießerei verletzt, einer schwebt in Lebensgefahr‹. Kurz überlegte Leon Dold, ob er mit seiner Kamera losziehen sollte. Doch am Tatort war für ihn, das war klar, nichts mehr zu sehen. Die Polizei lud am Ende der Pressemitteilung zu einer Pressekonferenz ein. Aber was sollte er dort?, fragte er sich. Für die Kollegen der lokalen Medien wie dem Südkurier würde es morgen der aktuelle Aufmacher sein. Zwei verletzte Zöllner, einer in Lebensgefahr, ein Kofferraum voller geschmuggelter Schätze. Das war der Stoff, von dem die Tageszeitungen tagelang leben würden. Aber für ihn, als freier Journalist, brachten solche Storys nicht viel ein. Diese Geschichten übernahmen die festangestellten Mitarbeiter der Medien. Journalisten, die im Tagesablauf der aktuellen Redaktionen integriert und jederzeit einsatzbereit waren. Das war er nicht. Er produzierte meist längere Storys, Features genannt. Er recherchierte intensiv, investigativ und gründlich. Deshalb notierte er sich die Polizeimeldung zunächst nur im Kopf – als Anregung für den eventuellen Einstieg in eine Reportage über den letzten Grenzzaun im Herzen Europas. Die Geschichte hatte er gerade jüngst wieder verschiedenen Sendern vorgeschlagen. Eine Reise entlang des Zauns sollte der rote Faden für eine halbstündige Fernsehreportage sein. Er hatte das Exposé dem Regionalprogramm angeboten sowie dem ZDF. Schließlich sei diese Staatsgrenze zwischen der Schweiz und Deutschland heutzutage, in Zeiten der weltweiten Globalisierung, irgendwie ein Anachronismus, hatte er argumentiert. Die Schweiz, sie war in sämtlichen Gremien der EU vertreten, trotzdem aber nicht ordentliches Mitglied der EU.

Wer von Singen nach Schaffhausen fährt, benötigt noch immer einen Pass, als Deutscher zumindest einen Personalausweis. Ausländer aber brauchen einen Reisepass, schließlich verlassen sie die EU. Dagegen kann längst jeder ungehindert von Singen bis nach Lissabon fahren, ohne sich auch nur einmal auszuweisen. Vor allem amerikanische Touristen staunen über die deutsch-schweizerische Grenze. Sie fragen sich, wo sie denn nun gelandet sind? Von wegen good old Europe.

Die grenzfreie Fahrt von Singen nach Schaffhausen war seit 1548 vorbei. Damals verabschiedeten sich die Eidgenossen aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, und seither sind Singen und Schaffhausen Grenzstädte. Endgültig festgezurrt hat Napoleon diese Grenze, nicht etwa Wilhelm Tell. Dieses Märchen, von dem Schwaben Friedrich Schiller geschrieben, glauben nur die Schweizer selbst. Tatsache ist, dass Napoleon nach französischem Vorbild den Zentralstaat Helvetische Republik schuf und die Grenzen dafür endgültig festlegte, wie sie heute noch gelten. Aus seinen französischen Departements wurden schweizerische Kantone, Schaffhausen war einer von ihnen.

Leon überlegte, wie er den Themenvorschlag aktualisieren könnte. Keine Redaktion, der er die Geschichte bisher angeboten hatte, schien sich dafür zu interessieren. Mit einer lässigen Handbewegung verscheuchte er die miesen Gedanken und schloss das aktuelle Nachrichtenfenster auf dem Bildschirm seines PCs.

Er hatte anderes zu tun, er musste sich jetzt konzen­trieren: ›Es werden festgesetzt, Sonderausgabenpauschbeträge, abziehbare Sonderausgaben …‹ Leon stöhnte. Doch einmal im Jahr musste er in diesen sauren Apfel beißen. Er saß in seinem Büro, in einer Überlinger Altstadtvilla, über der Einkommensteuer: Tankquittungen, Übernachtungsbelege, Parkhausquittungen galt es zu sortieren. Es war schon November, und das seit elf Monaten vergangene Vorjahr war von ihm noch immer nicht steuerrechtlich aufgearbeitet worden.

Er tippte in seine Fahrtentabelle: Überlingen–Zürich, 108 Kilometer. Er schrieb dazu: Recherche wegen Titelhandels, das war für eine Dokumentation der ARD, die er im vergangenen Jahr abgedreht hatte. Dabei fiel ihm ein, dass er damals in einer stinkvornehmen Zürcher Bank einen alten südafrikanischen Krügerrand verkauft hatte. Den Krügerrand hatte er von seinem Opa geerbt. Doch Leon brauchte immer eher Geld als Geldwertereserven. In Zürich hatte er den Krügerrand in einer Bank umgetauscht, weil er dort für ihn mehr Geld bekommen hatte als in Deutschland.

Gold hatte in der Schweiz einen höheren Kurs. Jeder Schweizer sollte Gold als Geldanlage besitzen, rieten die Schweizer Banken ihren Kunden. 20 Prozent der Ersparnisse sollten in Gold angelegt sein, empfahl eine Bankenstatistik der Schweizer Kredithäuser.

Leon erinnerte sich an das Geld, das ihm der Krügerrand eingebracht hatte. Es waren rund 300 Euro. Die Frage, ob er dieses Geld als Einnahme des vergangenen Jahres in seiner Steuererklärung nun angeben müsste, stellte er sich lieber nicht. Dafür fragte er sich jetzt, ob er damals geschmuggelt hatte. Er hatte das Gold aus Deutschland in die Schweiz ausgeführt. Plötzlich wurde er unruhig. Nicht wegen der 300 Euro, die waren längst wieder im Umlauf. Aber er hatte Gold ausgeführt in die Schweiz, weil er wusste, dass dessen Wert in der Schweiz höher notiert war. Und in der Pressemeldung der Polizei war von zwei jungen Männern berichtet worden, die Gold aus der Schweiz nach Deutschland hatten schmuggeln wollen. Und das im Wert von drei Millionen Euro. Eine Summe, die sich in der Schweiz umzutauschen proportional um ein Vielfaches mehr lohnen würde als sein läppischer Krügerrand!

Plötzlich erkannte er das Rätsel: Warum wollten die beiden jungen Männer so viel Gold aus der Schweiz schmuggeln, wo doch der Wert für Gold in der Schweiz höher lag?

Leon schob die Steuerunterlagen von seinem Tisch, griff nach einem Telefonbuch und rief einen Freund bei der Überlinger Volksbank an. Dieser bestätigte ihm, dass der Kurs von Gold an der Zürcher Börse immer höher notiert sei als in Frankfurt bzw. in der EU. »Nur ihr Fränkli haben wir geschlagen«, lachte er hämisch, »für unseren Euro müssen die Chaibe jetzt das Eineinhalbfache hinblättern.«

»Dafür bekommen sie die bessere Schokolade«, brummte Leon und legte schnell wieder auf, bevor sein Bankkumpel ihn noch an seinen, bis auf den letzten Cent ausgenutzten, Überziehungskredit erinnern konnte.

Aber damit war Leon wieder bei seinem eigentlichen Thema gelandet: die Steuererklärung des längst vergangenen Jahres. Wenn er endlich die zwölf Monate aufgearbeitet hätte, würde er sicherlich Geld vom Finanzamt zurückerstattet bekommen. Trotzdem wählte er die Telefonnummer des Zolls in Singen und ließ sich mit der dortigen Pressestelle verbinden.

Ein freundlicher, aber wortkarger Herr wollte ihn zunächst abwimmeln: »Wir haben zu diesem Fall in einer Stunde eine Pressekonferenz angesetzt. Da wird Sie unser Chef persönlich informieren.«

»Kann er uns auch schon etwas zu dem Motiv sagen?«, fragte Leon schnell, noch bevor der Pressesprecher wieder auflegen konnte.

Der Mann lachte: »Geld, was denn sonst? Immer das Gleiche, wir haben es hier nur mit Kapitalverbrechen im wahrsten Sinne des Wortes zu tun.«

»Und warum wollten die beiden Gold und Geld aus der Schweiz nach Deutschland schmuggeln?«

»Geldwäsche, was denn sonst?«, lag für den Polizeibeamten der Fall klar auf der Hand.

»Geldwäsche, verstehe ich schon«, blieb Leon unerbittlich, »aber geht da die Richtung nicht immer von Deutschland aus in die Schweiz? Warum also nun umgekehrt?«

Der Pressesprecher schwieg. Er schien zu überlegen. Dann gab er zu: »Eine gute Frage. Kommen Sie doch zur Pressekonferenz, dann können Sie ja unseren Chef direkt ansprechen.«

Entmutigt legte er auf und widmete sich wieder seinem ursprünglichen Vorsatz. Er musste diese verdammte Steuererklärung zu Ende bringen. Er suchte den Übernachtungsbeleg für sich und sein Kamerateam in Zürich. Er hatte, wie immer, alles in einer Schublade abgelegt. Und wie jedes Jahr musste er nun für die Steuer alle Belege, Rechnungen und Quittungen wieder zu einer Einheit zusammenfügen, um sie danach wieder getrennt nach Ausgabearten in einem Ordner abzuheften.

›Nächstes Jahr wird alles besser organisiert‹, schwor er sich jedes Jahr zornig. Frustriert fuhr er den Computer herunter, löschte das Bürolicht, schnappte sich entschlossen seinen grünen Parka vom Kleiderhaken im Flur und stieg in seinen alten 911er-Porsche.

*

Leon Dold fuhr von Überlingen in Richtung Ludwigshafen, er bediente, während der Porschemotor betulich schnurrte, sein Autoradio. Er suchte den Seefunk. Vielleicht wussten sie schon mehr zu der Schießerei am Zoll und der anschließenden spektakulären Festnahme. Doch der Sender nudelte, wie jeden Tag, Oldies der 70er ab.

Leon wurde nervös. Die ängstlichen Nebelkriecher vor ihm nervten. Bei den miesen Sichtverhältnissen konnte er aber auch nicht überholen. Deshalb fuhr er bei Stockach auf die Autobahn. Er fädelte sich schnell auf die linke Fahrbahn ein und konnte endlich Gas geben. Zwar hatte er noch Zeit bis zum Beginn der Pressekonferenz in Singen, trotzdem wollte er früher vor Ort sein. Die wirklichen Infos gab es immer vor und nach den Pressekonferenzen in kleinen Zirkeln. Was öffentlich vorgetragen wurde, das stand in der Regel nicht nur in den Pressemappen, sondern meist auch schon in den verschiedenen Meldungen der Kollegen.

*

Vor dem Hauptzollamt Singen, in der Bahnhofstraße, war großer Bahnhof angesagt. Der Eingang war mit Flutlichtern verschiedener Fernsehstationen hell erleuchtet. Aus Stuttgart waren Kollegen des SWR, der aktuellen Landesschau, angereist, verschiedene Privatsender hatten ihre Übertragungswagen direkt vor den Eingang gestellt. Fernsehkabel führten aus den kleinen Transportfahrzeugen der TV-Sender direkt in das große Besprechungszimmer des Zollamtes.

Drinnen rüsteten Zoll- und Polizeibeamte zur großen Pressekonferenz. Auch einige Beamte aus der Schweiz waren anwesend.

Die Kameras der Fernsehsender waren positioniert. Einige Kollegen sendeten sogar live, weil ihre Nachrichtensendungen bereits begonnen hatten. Sie wussten allerdings nicht viel mehr zu sagen, als den ganzen Abend über schon in jeder Meldung zu hören gewesen war, trotzdem redeten sie unablässig.

Leon grinste, als er im Vorübergehen belauschte, wie ein Kollege eines deutschen Privatsenders einem Schweizer Zöllner eine Sprachlektion verpassen wollte: »Bitte verstehen Sie, wir senden nicht nur in Süddeutschland, man muss Sie auch in Hamburg und Berlin verstehen.« – »Säg nüüt. I verschtand di scho«, antwortete der Schweizer entrüstet und grinste entschlossen in die Kamera.

Leon suchte nach ihm bekannten Gesichtern. Er hatte bisher wenig mit der Polizei in Singen zu tun gehabt. Er selbst war erst vor einem halben Jahr an den See gezogen. Der Liebe wegen, wie er jedem versicherte. Für ihn war es auch die Liebe zum See, für seine Freundin Lena Rößler in erster Linie die Liebe zu ihr.

Leonhart Dold lachte verunsichert, wenn der Widerspruch zur Sprache kam. Er hatte sich gerade auf seine Gradlinigkeit immer etwas eingebildet. Als gebürtiger Schwarzwälder, und dann noch Leonhart mit einem harten t, damit war er doch dazu geboren, deutlich und kompromisslos seine Meinung zu sagen. Aber in Sachen Liebe, musste er zugeben, eierte er schon sein ganzes Leben lang weich herum. Trotzdem hielt er sich zugute: Er war von Stuttgart weg zu Lena an den Bodensee gezogen, das war doch eindeutig!

Und Lena? Lena Rößler studierte an der Uni in Konstanz. Er hatte sie kennengelernt und sich Knall auf Fall in sie verliebt, als er am Bodensee für eine Fernsehdokumentation drehte. Daraufhin wollte er nicht mehr weg von ihr, oder eben vom See? Getrennt hatte er sich diese Frage noch nie beantwortet. Er hätte jedenfalls nach dieser heftigen Liebesattacke in Stuttgart nicht mehr einfach so weitermachen können wie bisher. Er war nun mal verknallt über beide Ohren. Lena war klug und äußerst attraktiv. Eine Kombination, die es in Leons Augen bei Frauen nicht allzu oft gab. Sie hatte von Anfang an immer klar und deutlich gesagt, was sie wollte bzw. was nicht. Das hatte ihm imponiert. Und als seine Dreharbeiten am See beendet waren, machte sie ihn mit ihrer Tante Helma bekannt. Sie hatte eine kleine Wohnung in ihrer alten Villa mit Seeblick leer stehen. Da konnte er nicht widerstehen.

Doch an Terminen wie heute verfluchte er diese Liebe, gleichgültig, ob sie nun in erster Linie Lena oder dem See galt. Denn in Stuttgart hatte er ein enges Netzwerk aufgebaut. Dort hätte er längst einen Polizisten intern anzapfen können. Öffentliche Pressekonferenzen taugten für Insidernews wenig. Jetzt stand er hier in einem großen Pressepulk und doch irgendwie allein.

Er schlenderte an aufgebauten Mikrofonen vorbei bis zur Stirnseite des Saals. Dort stand eine kleine Gruppe deutscher Polizeibeamter zusammen. Wie zufällig gesellte er sich zu ihnen. Dabei hatte er seine Ohren aufgestellt wie ein Luchs auf der Jagd. »Alles Gold und Geld war bisher ordentlich in einer Schweizer Bank deponiert«, hörte er gerade noch einen Polizisten sagen, als dieser zu ihm aufschaute. Sofort unterbrach der Mann seine Ausführungen und schaute Leon auffordernd an: »Was wollen Sie, kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Guten Abend«, Leon Dold stellte sich ordentlich vor, erzählte, dass er freier Journalist sei und neu am Bodensee arbeite, dann fragte er wie nebenbei: »Warum nur haben die Burschen das Gold nicht in Zürich umgetauscht, wo doch dort ein deutlich höherer Kurswert notiert ist?«

»Die Pressekonferenz beginnt in zehn Minuten, so lange müssen Sie sich schon noch gedulden«, fertigte ihn der Polizist ab, ohne auf den Inhalt der Frage einzugehen.

Die Leitung der Konferenz unterstand dem Leiter des Zolls und dem Leiter der Polizei, jeweils zwei gewichtige Regierungsdirektoren. Doch viel Neues wussten auch sie nicht zu berichten. Dafür gab es ein dickes Lob für die schnelle Ergreifung der Täter.

Alle Fragen über etwaige Hintermänner, woher das Geld stammte, wohin es gebracht werden sollte, beschieden die Herren mit der Formel: ›Laufende Ermittlungen‹.

Leon hatte während der gesamten Konferenz die Polizisten im Hintergrund beobachtet. Er hatte genau registriert, wie sie alle auf einen Mann schielten, als der Einsatzleiter für die schnelle Ergreifung der Täter dankte. Der vermeintliche Polizist war auffallend gekleidet. Er sah wie ein Jägersmann, nicht wie ein Polizist aus. Auch sein ansehnlicher Bauchumfang lies eher vermuten, dass der Mann Rehrücken schmorte, als dass er Verbrecher jagte. Er wirkte nach außen sehr gelassen und abgebrüht, trotz der lobenden Worte seiner Vorgesetzten. Aus seinen Augen blitzte kein bisschen Stolz, eher Schalk, als der Einsatzleiter ihm ausdrücklich für die schnelle Ergreifung der Täter dankte. Die Lobesworte schienen diesem Mann eher peinlich zu sein. Ungeschickt steckte er die Hände seiner kurzen Arme in die weit ausgebeulten Taschen seiner alten, etwas vergammelten Kampfhose, die offensichtlich schon mehrere Schlachten erlebt hatte und wohl auch nie richtig gereinigt worden war.

Leon Dold ging nach dem Ende der Konferenz schnurstracks auf ihn zu. Neben diesem Beamten konnte auch er in seinem Outfit bestehen. Leon zählte in seinem Gewerbe nicht zu der Dressman-Fraktion. Da waren die Kollegen Moderatoren und Reporter im On immer besser gekleidet. Sie hatten in den Wintertagen immer einen schicken Trenchcoat oder gelackte Lederjacken für ihre Aufsager dabei. Die ganz Seriösen seiner Zunft banden sich sogar vor jedem Sätzchen vor der Kamera eine Krawatte um. Leon dagegen war zwar nur in Jeans erschienen und mit einem Pulli, doch neben dem Kommissar sah er nun doch außerordentlich gut gekleidet aus. »Gratuliere, Sie also haben die beiden Burschen gefasst.«

Horst Sibold lächelte. »Die Fragezeit ist, glaube ich, beendet«, wich er aus.

»Offiziell ja«, schmunzelte Leon, »aber ich habe auch keine Frage gehört, Ihr Chef hat Sie doch schon als den erfolgreichen Jagdführer vorgestellt, und Ihr Outfit lässt ja auch darauf schließen, dass Sie die Verfolgung der Täter selbst übernommen hatten.«

»Kommen Sie von C&A oder was wollen Sie von mir?«, reagierte Sibold kühl, »es ist doch alles gesagt.«

»Vielleicht für Sie, heute! Aber irgendwann werden auch Sie auf die Frage stoßen, die mir bisher noch niemand beantworten konnte.«

»Und die wäre?« Horst Sibold wurde nun doch zugänglicher, und Leon hatte das Gefühl, dass dieser untypische Beamte vielleicht sein richtiger Ansprechpartner sein könnte: »Warum schmuggelt jemand Gold aus der Schweiz nach Deutschland, wo der Kurs in der Schweiz deutlich höher notiert ist als hier?«

»Eine interessante Frage«, brummte der Kommissar plötzlich hellhörig und bat Leon: »Geben Sie mir Ihre Karte.«

Schnell griff Leon in seine Tasche, kramte ein selbst gebasteltes Visitenkärtchen hervor und setzte nach: »Verraten Sie mir Ihren Namen?«

»Der ist kein Staatsgeheimnis«, lachte Horst Sibold jetzt offensichtlich kollegialer gestimmt und gab Leon ebenfalls eine Visitenkarte, auf die er seine Handynummer notierte. »Die gebe ich nicht jedem, schließlich will man auch als Polizist manchmal seine Ruhe.«

Leon las die Visitenkarte und pfiff durch die Zähne. »Oho, Kriminalhauptkommissar. Ihre Dienstkleidung hätte Sie eher der reitenden Jägergruppe zugeordnet.«

»Tarnen und Täuschen ist unser Job«, lachte Horst Sibold jetzt doch noch zum Scherzen aufgelegt. Leon wurde aus dem schmuddelig wirkenden Kommissar nicht schlau. Doch eine Recherche in unbekannten Teichen war mühevolle Kleinarbeit. Leon war froh, einen ersten Fisch am Haken zu haben, wenn er auch noch nicht wusste, wie er diesen waidmännisch verkleideten Beamten einzuschätzen hatte.

Vielleicht konnte er über ihn doch noch etwas aus der Geschichte herausholen.

*

Leon trat vor das Hauptzollamt und sah, wie die Nachrichtenredakteure ihre Neuigkeiten von der Pressekonferenz hektisch absetzten. Fernsehkollegen schnitten in ihren Übertragungswagen Reporterbeiträge für die Spätnachrichten, andere versuchten weiter, Fachleute und Pressesprecher der Polizei vor ihre Mikrofone zu zerren.

Die Hörfunkkollegen saßen in ihren Reportagewagen und gaben den verschiedensten Nachrichtensendungen ihrer Anstalten Interviews.

Schneller ihre Arbeit erledigt hatten die Kollegen der Tageszeitungen. Sie hatten schon während der Pressekonferenz ihre Meldungen und Reportagen in ihre Laptops getippt und sie dann, per Knopfdruck via Handyleitungen, direkt in die Redaktionen verschickt.

Eine kleine Gruppe der schreibenden Zunft stand jetzt zusammen. Leon gesellte sich zu ihr. Er erhoffte sich einige Hintergrundinformationen, die die Lokalredakteure vor Ort meist besaßen.

Als er bei der Gruppe ankam, schauten ihn die Kollegen nur kurz an, dann redete ihr offensichtlicher Wortführer engagiert weiter: »Das lohnt sich alles nicht mehr. Ich bin jetzt dann den ganzen Tag unterwegs, von heute Morgen um 10 Uhr Pressekonferenz beim OB bis jetzt, spät am Abend. Denkste, ich bekomme deshalb einen höheren Tagessatz?«

»Sei froh, dass du noch mit einem festen Tagessatz rechnen kannst. Unser Verleger hat die Tagessätze gestrichen. Er bezahlt jetzt nur noch nach Zeilen und Artikel. Gleichzeitig hat er aber auch perfide festgelegt, dass kein Artikel länger als 50 Zeilen lang sein darf, da dem Leser mehr nicht zuzumuten ist.«

»Deshalb warst du heute mit deinem Text so schnell fertig«, frotzelte der Wortführer.

»Ja«, grämte sich der Kollege, »aber ich stehe jetzt auch noch hier, das ändert doch am Zeitaufwand gar nichts.«

Leon drehte ab. Er wollte sich den Abend nicht verderben lassen. Natürlich hatten sie alle recht. Der eine bekam zu wenig, der andere noch weniger, aber er konnte diesen Einsatz bisher gar nicht abrechnen, wer sollte ihm ein Honorar dafür anweisen? Er musste zuerst die Story verkaufen, wenn er überhaupt jemanden dafür interessieren konnte. Denn dafür musste er erst mal seinen eigenen journalistischen Zugang finden. Die Nachricht selbst verkauften die Platzhirsche, die ihm jetzt das Ohr volljammern wollten.

*

Leon fuhr von Singen nach Überlingen über Radolfzell. Ein Ortsschild lockte ihn nach Moos. Die Höri-Gemeinde neben Radolfzell war für ihn als Feinschmecker immer einen Abstecher wert. Zwei gute Restaurants hatte er dort auf seiner Liste stehen. Das Restaurant Gottfried oder, direkt daneben, der Grüne Baum. Eines der beiden Lokale war immer geöffnet, gleichgültig also, welches heute Ruhetag hatte. In den beiden Restaurants kochten zwei Brüder um die Wette. Beide waren angetan von der französischen Küche. Und Leon hatte Lust auf eine Bodensee-Bouillabaisse.

Er fuhr auf den Parkplatz, den die beiden Gourmets brüderlich teilten, und sah, dass im Grünen Baum Licht brannte. Also war es entschieden; Hubert, der jüngere Bruder, würde Leon heute verwöhnen. Hubert war ein Unikat, sein Mooser Fischtopf eine Köstlichkeit. Leon hatte ihn erst einmal gegessen. Der Mann machte eine Rouille, da konnten die Franzosen noch etwas lernen. Wobei Hubert Neidhart solche überschwänglichen Komplimente eher kleinredete. Denn sein Vorbild für sein Gasthaus auf der Höri war nach wie vor die typische französische Dorfgaststätte. In solchen Gasthäusern hatte er seine Lehr- und Wanderjahre verbracht, und diese Küche hatte ihn geprägt.

Leon parkte und stieg aus. Plötzlich wurde er unschlüssig. Er sah in sein Portemonnaie und zählte 25 Euro. Das musste genügen, für die Bodensee-Bouillabaisse und ein Glas Wein. Trotzdem überkam ihn ein schlechtes Gewissen. Nicht wegen des Geldes. Er dachte an Lena. Das letzte Mal war er mit ihr hier, sie hatte ihn mit den beiden kochenden Brüdern bekannt gemacht. Ihr hatte er den Tipp zu verdanken. Kurz hielt er inne, blieb stehen, im gleichen Moment klingelte sein Handy. Unschlüssig griff Leon in die Tasche, zog das kleine Ding heraus und sah auf das Display.

Verdammt! Er fühlte sich ertappt. Lena versuchte ihn gerade in diesem Augenblick, als er mit sich kämpfte, zu erreichen. Was sollte er jetzt tun?

Beherzt nahm er das Gespräch an: »Ich fahre gerade zu einer Pressekonferenz«, log er schnell. Er hatte einfach geredet, er wusste nichts anderes zu sagen. Während er sich aber reden hörte, schämte er sich auch schon für seine Lüge. Doch er konnte Lena nicht einfach die Wahrheit sagen, er hatte nun mal keine Lust, sie zu sehen, er musste heute Abend schließlich noch seine Steuer auf die Reihe bringen, beschwichtigte er sich selbst.

Auf der anderen Seite wusste er, dass es gerade heute Lena beschissen ging. Denn kurz nachdem er seine Wohnung am See bezogen hatte, attestierten die Ärzte bei ihr Krebs. Zuerst hatte sie nur Schmerzen im Unterleib. Dann ging alles plötzlich sehr schnell. Diagnose: Tumor am Gebärmutterhals.

Er und Lena wurden gemeinsam in einen Strudel von Angst und Schrecken geschleudert. Leon hatte sofort im Internet recherchiert: Die zweithäufigste Krebsart bei Frauen; 230.000 Tote jährlich weltweit; Überlebenschance immerhin 70 Prozent, dank des heutigen medizinischen Wissensstands.

Lena wurde operiert, der Tumor entfernt. Zurzeit musste sie eine dreimonatige Chemotherapie über sich ergehen lassen. Er selbst konnte nichts tun, das war sein Problem. Er konnte ihr nicht helfen. Er war machtlos, konnte nur danebenstehen, sah ihr zu, sah ihr Leiden, ihre Schmerzen, ihre Übelkeiten und das ganze Elend. Es war zum Verzweifeln, auch für ihn.

Am Anfang stand er liebevoll zu ihr. Er war in fast jeder freien Minute mit ihr zusammen. Doch mit der Zeit wurde dieses Aushalten zum Höllentrip.

Vor acht Wochen hatte Lena mit ihrer Chemotherapie begonnen. Seither war alles von Grund auf anders. Besonders in den Tagen nach der Infusion. Da war sie niedergeschlagen und sah völlig mitgenommen aus. Und heute hatte sie erst ihren vierten Termin gehabt, sechs Infusionstermine standen noch an. Leon hatte das Gefühl, jetzt schon am Ende zu sein, gleichzeitig wusste er, dass er eben feige gelogen hatte. Doch einen Weg zurück sah er nicht.

Lena bedauerte seine Absage, gab ihm aber auf ihre verständnisvolle Art zu verstehen, dass sein Job und der Pressetermin natürlich Vorrang hatten. Sie hatte schon von der Schießerei am Zoll in Wiechs am Randen und der Festnahme der Täter in Singen im Radio gehört.

Leon stöhnte, er fühlte sich nach der Absolution noch beschissener, flüsterte ihr trotzdem ein paar aufmunternde Worte ins Telefon und legte schnell auf. Gleichzeitig kam er sich so mies vor, wie es vermutlich Lena gerade ging.

Der Mooser Fischtopf mit den Bodenseefischen Hecht, Zander und Kretzer sowie der sagenumwobenen Rouille ließen ihn schnell wieder an seine Bodenseeliebe glauben. Er schrieb Lena eine aufmunternde SMS, verdrängte für den Rest des Abends sein schlechtes Gewissen und bestellte noch ein zweites Glas Wein. Der Riesling vom Hohentwieler Elisabethenberg des Weinguts Vollmayer schenkte ihm eine angenehme Säure und die Sicherheit, dass seine Entscheidung, an den Bodensee zu ziehen, auf jeden Fall gut war.

956,63 ₽
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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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443 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839233986
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