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Kapitel 4

›Strahlender Apriltag voller Wunder und Blüten. Mit klarblauem Himmel erwachte der 1. April 1944‹, schrieb der Schaffhauser Bürger Erwin Nägeli in sein Tagebuch. Es waren die Zeiten, in denen die Schweizer ihre Neutralität genossen. Denn auf der anderen Seite der Grenze erschallte Tag für Tag der hässliche Sirenenton des Bombenalarms. Die Schaffhauser sahen von ihrem Marktplatz aus jeden Tag die Staffeln von Hunderten silbern glänzenden Flugzeugen mit deren tödlichen Frachten am nördlichen Horizont. Sie hörten das ferne Grollen der Explosionen und das Hacken der Bordwaffen. Waldshut, Blumberg, Singen – die deutschen Städte rund um ihre Heimat standen in Flammen. Doch im vermeintlich sicheren Schaffhausen ging alles seinen Gang. Die Friedenstaube im Rundbogen des Herrenackerviertels gurrte.

Doch um 11 Uhr desselben Tages sollte Erwin Nägeli tot sein und sich Schaffhausen mitten im Krieg befinden.

*

Zwei Tage zuvor war Joseph Stehle als Schaffner der Deutschen Reichsbahn wieder einmal über die Grenze von Singen nach Schaffhausen gefahren. Er hatte nur einen kurzen fahrplanmäßigen Aufenthalt und wollte diesen nutzen, um sein beachtliches Kapital, das er längst auf mehrere amerikanische Banken verteilt hatte, nach Argentinien zu transferieren. Er hatte gehört, dass seit Kriegseintritt der Amerikaner der Kapitalfluss auch aus der Schweiz nach Amerika streng überwacht wurde. Mehrere Milliarden waren schon über den großen Teich überwiesen worden. Kapital, das zum Teil vor den Nazis geschützt werden sollte, aber auch, so vermutete die US-Regierung, Nazigeld selbst.

*

Joseph Stehle hatte es nicht weit vom Bahnhof zu seiner Bank. Er drückte rasch die Klinke der Banktür und wollte eintreten. Doch gleichzeitig mit ihm drängte sich ein anderer vermeintlicher Kunde in den Geschäftsraum.

Der kleine Kassierer hinter dem Panzerglas schaute interessiert auf. Stehle achtete nicht weiter auf den zweiten Mann, schloss die Tür und ging zielstrebig auf den Kassierer zu. Barsch forderte er ihn auf: »Ich muss Direktor Wohl, den Junior, reden, schnell!«

Der Kassierer nickte untertänig und drückte auf einen Klingelknopf, der vor ihm in die Tresen montiert war. Dann blickte er auf den Mann neben Stehle, doch dieser sagte kein Wort.

»Mein Herr«, forderte der Kassierer ihn auf, seinen Wunsch zu formulieren, und schaute ihn direkt an.

Der Fremde aber blieb stumm. Er schien nur Augen für Stehle zu haben und beobachtete diesen unverhohlen.

Jetzt erst fiel der Mann auch Stehle selbst auf. Er war sehr jung, sicherlich keine 30 Jahre alt. Er hatte blondes, kurz geschorenes Haar, sodass die Haarspitzen sich kaum legen konnten. Sie standen, wie bei einer umgedrehten Bürste, auffallend steil nach oben. Sein Gesicht wirkte, trotz seines jugendlichen Aussehens, streng. Der Anzug, den er trug, schien teuer, sein Trenchcoat war salopp.

Die beiden Männer musterten sich kurz und stechend.

Stehle wurde unsicher.

Der Fremde lächelte lässig.

»Mein Herr, bitte, was kann ich für Sie tun?«, intonierte der Kassierer erneut mit ungeduldiger Stimme.

»Sie?«, lächelte der Mann den Kassierer an, »Sie, nichts!«

Der Kassierer wandte sich verunsichert zu Stehle.

Dieser zuckte ratlos die Achseln.

Schließlich regte sich der Fremde doch und sagte mit deutlich hörbarem englischen Akzent: »Ich warte mit Herrn Stehle auf Ihren Bankdirektor.«

Plötzlich witterte Joseph Stehle Gefahr. Woher kannte der Mann seinen Namen? Der Kassierer hatte ihn nicht damit angesprochen. Was wollte er von ihm? Er blickte ihn scharf an.

Der Fremde reagierte gelassen: »Ich hoffe, Sie haben Zeit.«

»Nein, keine Minute!«

»Ich weiß, Ihr Zug, Sie müssen zurück nach Deutschland. Aber Sie werden sich ein bisschen Zeit nehmen müssen«, antwortete der Mann selbstsicher.

Stehle schluckte. Er wusste nicht, was er dem fremden Mann antworten sollte, zu selbstbewusst stand dieser neben ihm.

Der Kassierer spitzte seine Ohren. Endlich, schien er zu denken, endlich brach jemand die Arroganz dieses überheblichen Schaffners.

Noch bevor Stehle sich fangen konnte, öffnete ein hagerer, großer Mann mit akkurat kurz rasiertem Oberlippenbart die Tür zu dem Besprechungszimmer neben der Kasse und nickte Stehle auffordernd zu.

Dieser wollte sich aus der unangenehmen Situation retten, setzte zu einem stürmischen Lauf an, hielt dann plötzlich nach zwei Schritten wieder inne und schaute unsicher zu dem Bürstenhaarschnitt im Trenchcoat zurück.

Doch dieser stand schon fast wieder auf seiner Höhe, lächelte ihm aufmunternd zu und ging zielgerade weiter an ihm vorbei auf den vermeintlichen Bankdirektor zu: »Grüezi, Herr Wohl«, sagte er und reichte dem verdutzten Bankchef unverfroren seine Hand. »John Carrington is my name. Aber lassen Sie uns alle zusammen drinnen weiter sprechen«, lud er die beiden überraschten Herren in das Besprechungszimmer ein, aus dem der Bankdirektor gerade getreten war.

Joseph Stehle setzte seinen begonnenen Sturmlauf fort und hetzte ebenfalls in den Besprechungsraum hinterher. Kaum drinnen, drehte er sich sofort um und stellte sich vor den fremden Eindringling. »Es reicht, wer sind Sie? Was wollen Sie? Woher kennen Sie meinen Namen?«

John Carrington lachte belustigt: »Reiche Männer sind schnell bekannt. Und Sie sind verdammt reich – für einen Schaffner sogar ungewöhnlich reich.«

Der jugendlich wirkende Bankdirektor vergewisserte sich mit einem geübten Blick, dass keine weiteren Kunden in der Filiale zu Zeugen des Schauspiels geworden waren, und schloss schnell die Tür. »Was wollen Sie?«, blaffte nun auch er den fremden Mann an.

»Ich bin ein Agent der US-Finanzpolizei«, stellte John Carrington sich vor, »und wir haben ein paar Fragen an Sie und Ihren Kunden Stehle, oder soll ich sagen Ihren Komplizen?«

Das war das Stichwort für einen Auftritt des Bankdirektors. Oswald Wohl, Schweizer Staatsbürger und Eigner der Privatbank Wohl & Brüder, setzte zu einer Lehrstunde zum Thema Schweizer Bankgeheimnis an: »Sie wissen wohl nicht, wo Sie sich hier befinden?«, raunzte er in Richtung des vermeintlichen amerikanischen Agenten, »Sie sind hier auf neutralem Boden der Schweizer Eidgenossenschaft, und hier gilt nur das Schweizer Recht, und zwar nach dem Bankengesetz von 1934. Wir sind dem Geheimnisschutz verpflichtet, und niemand wird hier zu keiner Zeit in diesen Räumen irgendetwas sagen oder erzählen über Bankgeschäfte gegenüber Dritten, ob gegenüber dem Staat, dessen Organen wie der Polizei oder wem auch immer. Schon gar nicht gegenüber der«, dabei lächelte er nun milde, »der US-Finanzpolizei!«

Nach dieser Tirade holte Oswald Wohl tief Luft und rüstete zur zweiten Runde. Er piekste mit dem Zeigefinger dem ungebetenen Besucher auf die Brust: »Im Übrigen, Herr Amerikaner«, referierte er ereifernd weiter, »im Übrigen werden Sie uns hier nicht zu einer Straftat drängen können, denn wenn ich Ihnen, und dann noch einem Amerikaner, auch nur ein Sterbenswörtchen von den Geschäften irgendeines Kunden erzählen würde, würde ich mich nach Schweizer Recht strafbar machen. Nach Schweizer Recht!«, betonte er laut, »und nur das zählt hier, verstanden?«

John Carrington hatte alle Ausführungen des Bankdirektors mit einem müden Lächeln quittiert. Der Finger auf seiner Brust aber störte ihn offensichtlich. Er schlug ihn energisch weg. »Hören wir auf, Versteck zu spielen!« Der Amerikaner legte sein freundliches Lächeln ab und wurde eiskalt. »Treiben Sie Geschäfte mit den Nazis in Ihrer Schweiz, wie Sie wollen, aber nicht mit unseren Banken«, jetzt lachte er hämisch, »und wenn, dann behalten Sie das schmutzige Geld bei sich, aber dummerweise liegt es nun bei uns in unseren Staaten, und da gelten unsere Gesetze, die Gesetze des US-Finanzministeriums.«

Während er sprach, legte Carrington einige Überweisungsbelege und Kontoauszüge auf den Tisch, die bewiesen, dass die Schaffhauser Bank Wohl & Brüder größere Summen auf verschiedene kleinere amerikanische Banken verschoben hatte. Und auf manchen Überweisungen fand sich auch der Name Joseph Stehle.

Carrington zeigte darauf. »Wir gehen davon aus, dass es sich bei diesen Beträgen um Nazikapital handelt.«

Joseph Stehle prustete. »Wie kommen Sie denn auf diese Schnapsidee?«

»Die deutsche Reichsbank hat zu genau jenem Zeitpunkt ihr Konto in New York aufgelöst, als aus der Schweiz plötzlich erstaunliche Überweisungsaufträge an uns einsetzten. Wir haben daraufhin alle Kapitalflüsse zu unseren US-Banken überprüft. Insgesamt stellten wir fest, dass seit Herbst 1940 von mehreren kleinen Schweizer Banken zusammengerechnet Milliardenbeträge zu uns flossen, mit jeweils sehr fraglichen Absendern. Herr Stehle, einer davon sind Sie! Ein Eisenbahnschaffner der Deutschen Reichsbahn mit einem Einkommen von 275 Mark monatlich hat bei uns auf mehreren Konten Millionenbeträge liegen. Heil Hitler!«

»Das ist nicht mein Geld, ich bin nur der Verwalter dieser Beträge. Im Übrigen wüsste ich nicht, seit wann die amerikanische Polizei in der neutralen Schweiz ermitteln dürfte.« Stehle war es heiß geworden. Er erkannte in diesem fremden Mann eine Gefahr, die er nicht so leicht loswerden würde. Pah, ein amerikanischer Finanzpolizist, das sollte glauben, wer mochte. Polizist? Der Mann roch für ihn nach amerikanischer Mafia.

»Herr Stehle, verlassen Sie sich darauf, ich werde Sie bald als amerikanischer Offizier in Deutschland vernehmen. Machen Sie sich nichts vor, es ist eine Frage der Zeit, dann sitzen alle Nazis wie Sie in ihren eigenen Gefängnissen. Überlegen Sie es sich gut, wir bieten Ihnen eine Zusammenarbeit an.«

»Meine Herren, bitte«, der Bankdirektor, ganz Schweizer Diplomat, suchte ein Ende der Konfrontation, er wollte Zeit gewinnen. Die neue Situation war ihm nicht geheuer. »Herr Carrington, oder wie immer Sie heißen mögen. Ich denke, wir gehen jetzt erst mal den rechtlich ordentlichen Weg. Sie benötigen eine Legitimation, geben schriftlich bei meiner Bank Ihr Ansinnen kund, und dann werden wir uns bei Ihnen oder Ihrer Dienststelle melden. So verkehren doch zivilisierte Menschen auch in Amerika miteinander, oder nicht?«

»Oh my god«, lachte der ungebetene Besucher. »Wo, glauben Sie, leben Sie? Wir haben Krieg in Europa. Wir werden die Nazis ausrotten, und meine Behörde sorgt dafür, dass kein Dollar eines Nazis in die falsche Tasche gelangt. Egal, ob diese Brut ihr Geld auf deutschen, Schweizer oder amerikanischen Banken versteckt hält.«

»Da kann ich Sie beruhigen.« Joseph Stehle witterte die Chance, sich als Nazigegner zu präsentieren. »Kein Pfennig der Beträge, die ich nach Amerika überwiesen habe, stammt von Nazis. Im Gegenteil: Ich habe das Geld von Verfolgten der Nazis zum Schutz vor den Nazis gerettet.«

»Sorry, Mister, Sie haben zurzeit gar nichts gerettet. Wir werden darüber noch befinden, zurzeit sind Ihre Konten gesperrt.«

»Das widerspricht den staatsvertraglichen Abmachungen«, ereiferte sich jetzt wieder der Bankdirektor.

John Carrington lachte: »Sie scheinen mich wirklich nicht verstehen zu wollen, aber ich bin sicher, Herr Stehle«, sagte er zu dem deutschen Schaffner gewandt, »Sie werden mich noch verstehen.« Jovial klopfte er Stehle auf die Schulter und sagte: »Sie wollten ja hier noch etwas erledigen, und soviel ich weiß, geht Ihr Zug in wenigen Minuten zurück nach Deutschland.« Süffisant verabschiedete er sich von den beiden: »Ein Zug ohne Schaffner? Ich denke, da würden selbst Sie Ärger mit der Gestapo bekommen.«

Schon im Türrahmen stehend, drehte sich Carrington noch einmal zu dem Bankdirektor um: »Einige der Summen, die Sie der New-York-City-Bank übereignet haben, weisen keinen weiteren Eigentümer auf als nur Ihre eigene Bank. Deshalb habe ich Sie Komplize genannt. Gewehrt gegen meine Unterstellung haben Sie sich nicht.«

Bevor der Bankdirektor antworten konnte, war Carrington aus dem Raum marschiert.

Stehle blieb, blass geworden, mit Oswald Wohl zurück. »Wir haben noch nicht verloren.«

Der Bankdirektor lachte herb auf: »Wir nicht, aber ihr Deutschen schon. Aber bleib gelassen, Joseph, der kann uns nichts nachweisen. Was wolltest du eigentlich?«

»Zu spät«, ärgerte sich Stehle, »zu spät, Oswald. Ich wollte dich bitten, unser Geld nach Argentinien zu transferieren. Argentinien soll sicher sein, du hörst ja, die Amis drehen wegen des Kriegs völlig durch.«

»Quatsch! Mach dir da mal keine Sorgen, wir sind hier in der Schweiz, und die Amis wissen, wie man Geschäfte macht. Da hatte ich bisher vor einem Einmarsch von eurer Wehrmacht mehr Angst. Stell dir vor, die SS hätte uns den Arsch aufgerissen, dann wärst du gleich weg gewesen. Deshalb bin ich auch froh, wenn der ganze Spuk nun bald ein Ende hat. Lange wird sich Hitler nicht mehr halten können.«

Joseph Stehles Augen flackerten. »Hör auf, so zu reden. Du siehst ja, wohin das führt, wenn die Amis hier das Sagen haben, dann gute Nacht!« Joseph Stehle schnappte nach Luft, drehte sich um und rannte aus dem Besprechungszimmer: »Mein Zug«, japste er nur noch und lief los.

*

Zwei Tage später, am 1. April, kurz vor 11 Uhr, tauchten zwei Staffeln viermotoriger Liberta-Bomber über dem Kohlfirstwald vor Schaffhausen auf. Zwölf Flugzeuge waren in dem ersten Geschwader formiert, über 20 Bomber flogen in der zweiten Staffel.

Es war ein Samstag, Markttag in Schaffhausen. Aus der Innenstadt konnte man die Flugzeuge deutlicher sehen als sonst. Doch wer sollte schon auf die täglichen Bombenflüge der Amerikaner achten. Ihre tödliche Fracht warfen sie auf der anderen Seite der Grenze, in Deutschland, ab.

Aber heute, da schien irgendetwas anders zu sein. Die kleinen Flieger kamen immer näher an die Munotstadt heran. Und dann: Punkt 11 Uhr krachte es plötzlich inmitten der eigenen Stadt. 236 Brandbomben und 130 Sprengbomben donnerten auf Schaffhausen. Nach 40 Sekunden war alles vorbei: 40 Tote und 270 Verletzte lagen in den Trümmern der Schweizer Stadt Schaffhausen.

Die Amerikaner entschuldigten sich später für den Angriff. Es sei ein Versehen gewesen, begründete die US-Armee die Bombardierung. Als Grund gab sie schlechte Sichtverhältnisse an.

Doch am 1. April 1944 hatte sich über ganz Europa ein blauer Himmel gezeigt. Die Sonne hatte an jenem Tag von Aufgang 7.45 bis Untergang 18.30 Uhr geschienen.

*

Joseph Stehle hatte die Bombardierung beobachtet. Er stand in sicherer Entfernung auf deutschem Boden. Vor ihm lag eine tote Sau in einer hölzernen Wanne. Er hatte gerade Harz über ihre hellbraunen Borsten geschüttet und heißes Wasser darübergegossen. Gemeinsam mit Ferdinand Alber, dem Gutsbauer auf dem Randen, schabten sie der Sau die Borsten von der Schwarte.

Ferdinand Alber hielt inne: »Die wollen ganz Europa. Die bombardieren alles kurz und klein.« Dabei zeigte er auf die US-Bomber, die gefährlich nah über den Hegaubergen kreisten.

»Die haben es nicht anders verdient«, höhnte Stehle und deutete mit seinem Kopf Richtung Schaffhausen, wo die ersten dunklen Rauchsäulen aufstiegen. »Immer schön neutral, nur nie Farbe bekennen. Wir hätten schon gleich nach unserer Ostmark«, damit meinte er Österreich, »auch die Schweiz heim ins Reich holen müssen.«

Ferdinand Alber verzichtete auf eine Antwort. Er warf seinen Borstenschaber weg und rannte in einen nahen Schopf. Die kleinen, silbernen Flugzeuge wurden immer größer und hielten direkten Kurs auf seinen Hof. Alber hatte Angst vor einem Abwurf oder Maschinengewehrbeschuss aus der Luft.

Stehle lachte und schabte unbeirrt weiter die Borsten der Sau. Er hatte diese Woche dienstfrei. Er musste immer drei Wochen am Stück arbeiten, dann meist rund um die Uhr, dafür durfte er danach eine Woche am Stück zu Hause bleiben. Doch Joseph Stehle legte sich in den freien Wochen nicht auf die faule Haut, sondern metzgerte.

Bevor er zur Deutschen Reichsbahn kam, hatte er in der Schweiz das Metzgerhandwerk erlernt. Als Hausmetzger wurde er heute von den Bauern rund um Singen engagiert, die meisten deutschen Metzger waren längst an der Front.

Joseph Stehle war von Geburt an Schweizer Staatsbürger. Er war in Thayngen, einem kleinen Grenzort zwischen Singen und Schaffhausen, geboren. Nach der Volksschule ging er mit 14 Jahren in Schaffhausen in die Lehre. Mit 17 Jahren, 1933, begann er in Singen in der Schweizer Firma Maggi zu arbeiten. Dort lernte er seine deutsche Frau kennen. Sein Schwiegervater holte ihn zur Bahn. Schon zuvor, noch in der Schweiz, hatte er zu ›hitlere‹ begonnen. Mit dem Eintritt in die NSDAP wurde er Schaffner bei der Deutschen Reichsbahn, diese Stelle hatte er der Partei zu verdanken. Das wusste Stehle, und dafür war er auch immer bemüht, ein ordentliches Parteimitglied zu sein.

Es war in den Kriegsjahren genau zugeordnet, welcher Bauer wie viel Vieh schlachten durfte. Im Gäu war bekannt: Wer Joseph Stehle engagierte, der musste saubere Papiere haben. Krumme Geschäfte, das hieß Schwarzschlachtungen, machte dieser Mann nicht.

So kannte man Joseph Stehle: ein aufrechter Mann, überzeugter Nazi, ehrlich und gradlinig.

Ferdinand Alber hatte deshalb den Schaffner als Metzger engagiert. Er selbst war nicht in der Partei und musste aufpassen, nicht angeschwärzt zu werden. Mit Joseph Stehle als Hausmetzger hatte man die Denunzianten auf seiner Seite.

Ferdinand Alber war wieder aus dem Schopf gekommen und sah der Staffel kritisch nach. Dann schaute er Stehle an und schluckte. Nein, dachte er, diesem Mann darf ich meine Gedanken nicht anvertrauen. Für sich aber beschloss er, baldmöglichst dieses überdimensionale Hakenkreuz an seinem geliebten Hohentwiel, das die Nazis der Maggi-Stadt dort hingemalt hatten, zu überstreichen. Schließlich, so dachte er: Man musste den Fliegern doch nicht schon von Weitem zeigen, wo Nazis wohnten, das provozierte doch nur deren Bombenabwürfe. Natürlich dachte er dabei auch an sich und seine Familie und seinen prächtigen Hof.

Joseph Stehle hatte ihn von der Seite beobachtet. Er schien seine Gedanken zu erraten und riet ihm fast drohend: »Alber, sei du froh, dass du auf deinem Hof bleiben durftest, während andere an der Front ihren Kopf hinhalten. Benimm dich wie ein deutscher Mann. Glaub standhaft an unseren Endsieg, und jetzt hol das Tor, dann können wir die Sau hochziehen.«

Die Schwarte des Schweins war glatt rasiert. Das Tier lag schlachtbereit in der Wanne, die Halsschlagader war geöffnet. Die beiden Männer stellten einen stabilen Rahmen über den Zuber. Vom Oberbalken hingen je zwei Enden eines Seils herunter. Stehle band an jedes Ende eine Hinterhaxe des Schweins. Dann zogen sie gemeinsam das Seil über die Winde. Kopfüber hing das Schwein in der Wanne. Blut rann noch immer aus dem tiefen Schnitt der Halsschlagader.

Fränzle, der Sohn des Gutsbauern, hielt mit der linken Hand eine Schüssel unter den Kopf des Tieres und fing das restliche Blut auf. Mit der rechten Hand rührte er in der roten, warmen Flüssigkeit, damit das Blut nicht klumpte.

»Fränzle, du wirsch mol en rächte Kerle«, lobte ihn der Metzger, »dir mach ich nachher eine extra Blutwurscht.«

Fränzle hörte das Lob gerne, gerade von diesem Mann, vor dem die Erwachsenen einen Heidenrespekt hatten, warum auch immer. Zu ihm, und auch zu den anderen Kindern, war er immer nett. Eine Extrawurst für ihn allein, das hätte ihm sein Vater nie gegeben. Und er wusste, danach bekam er von diesem Metzger auch noch ein Stück vom Apfelkuchen dazu. Seine Mutter musste immer zum Schlachttag einen großen Kuchen für den Metzger backen. Denn Joseph Stehle aß, wenn alle sich über die Wurstsuppe und die frischen Würste hermachten, am liebsten süßen Kuchen. Und wenn Stehle ihm dann ein Stück von dem Kuchen abgab, dann konnten seine Eltern diesem Mann nicht widersprechen.

›Stalin‹ nannten die Erwachsenen Stehle hinter dessen Rücken. Das musste ein ganz besonderes Schimpfwort sein. Die großen Leute sahen sich dabei verstohlen an. Fränzle schmunzelte dann mit den Alten, fragte sich aber, was dieser kinderfreundliche Metzger mit diesem bösen Mann in Russland gemein hatte, der Krieg gegen sie führte.

*

»Well, Stalin, du wirst nicht mehr lange leben, wenn du nicht dein Geld uns überlässt!«

Joseph Stehle lag blutverschmiert auf dem Rücken. Ihn hatte es mit seinem ganzen Körpergewicht auf die Schotterstraße geschlagen. Das rechte Knie tat ihm höllisch weh, er schmeckte Blut, und zu allem hin stand ihm dieser amerikanische Agent mit dem Absatz auf der Gurgel. Er konnte sich kaum bewegen, nicht einmal seine Blessuren betasten. Er lag hilflos wie ein Marienkäfer auf dem Rücken.

Er war vom Randen mit seinem Fahrrad weggefahren. Es war schon dunkel gewesen. Links und rechts an seine Lenkstange hatte er zwei Eimer mit Wurstsuppe gehängt. Die Suppe hatten die Albers ihm aus einem großen Kessel abgefüllt, dazu noch jeweils zwei Blut- und zwei Leberwürste beigegeben. Er hatte sich auf die strahlenden Augen seiner Frau gefreut und vor allem auf Medi, seine kleine Tochter. Das würde morgen ein Sonntagsessen geben. Schlachtplatte!

Plötzlich hatte es gekracht, sein Rad hatte abrupt gestoppt und ihn abgeworfen, wie ein störrischer Esel seinen Reiter. Er war mit dem Kopf voraus über die Lenkstange zu Boden gefallen. Sein Gesicht war auf die Schottersteine geknallt, er hatte sich noch in der Wucht des Falls auf den Rücken gedreht, aber schon war der Stiefel hart und rücksichtslos auf seinen Hals getreten.

Joseph Stehle hatte im Flug an alle gedacht, an alle, die ihm Böses wollten. Vor allem an Luise Levy und Katharina oder anonyme Mitwisser, die doch von einem der beiden Weiber informiert worden waren.

Auf dem Boden gelandet, öffnete er sofort die Augen und erkannte im Gegenlicht des Mondes, über den ledernen Stiefeln, diesen Bürstenhaarschnitt. Gleichzeitig hörte er die Stimme mit diesem englischen Akzent: »Good evening, Mister Stehle«, lachte John Carrington, »Glück für Sie, dass Sie heute nicht in Schaffhausen waren. Sonst hätten wir uns jetzt vielleicht gar nicht mehr treffen können.«

Stehle hechelte. Er bekam kaum Luft. Er roch das Fett der Lederstiefel, wollte antworten, schluckte Blut, versuchte, sich freizustrampeln.

Carrington lachte und drückte seinen Stiefel tiefer in den Hals des unter ihm liegenden Stehle.

Der fasste an den Stiefel, wollte ihn wegdrehen.

Carrington verstärkte erbarmungslos den Druck auf den Gurgelknopf.

Stehle musste würgen, bekam keine Luft mehr und legte schnell, als Zeichen seiner Unterwerfung, beide Arme weit von sich, flach auf den Boden.

»Okay«, klang die Stimme des Amerikaners versöhnlich, und gleichzeitig löste er den Druck seines Stiefels leicht.

Stehle konnte wieder Luft in die Lunge einziehen.

Carrington wartete geduldig, bis der Angegriffene sich erholt hatte. Dann legte er los: »Ich weiß nicht, ob dein Komplize Wohl die Bomben überlebt hat. Vielleicht ja, vielleicht nein. Spielt aber keine große Rolle, es sollte eine Warnung für dich sein.«

Carrington hielt inne, zog eine Zigarette aus seinem Trenchcoat und zündete sie an. Die Flamme züngelte in der Dunkelheit, er inhalierte den Rauch tief und ließ dann das noch brennende Streichholz achtlos auf Stehle fallen. Er unterstrich damit seine Furchtlosigkeit und Überlegenheit.

Mit ruhiger Stimme fuhr er fort: »Stalin, hör zu: Es ist keine Frage mehr, dass ihr Deutschen den Krieg verloren habt. Die Frage ist nur, wer ihn gewinnt. Wir oder Stalin.« Dann lachte er auf: »Ihr Deutschen habt ja doch Humor. Dass sie dich Stalin nennen, ist wirklich lustig. Gerade du, der du doch Stalin hasst. Aber es stimmt. Freundlich gesagt, bist du sehr gradlinig, korrekt und kompromisslos, wie deine Kollegen dich kennen. Aber wir beide wissen, du hast ganz andere Gemeinsamkeiten mit ihm: Du bist skrupellos und gehst über Leichen, genau wie Stalin.«

Stehle wollte etwas erwidern, aber seine Worte gingen über ein Gurgeln nicht hinaus, Carrington hatte den Stiefeldruck schnell wieder erhöht.

Er fand sichtbaren Gefallen an seiner Siegerpose. Er inhalierte nochmals tief den Rauch der Zigarette, blies ihn kräftig aus der Lunge und kam dann zu seinem Anliegen: »Wir denken an morgen. Der Sieg über die Nazis ist entschieden. Aber wir sind mit den Russen im Wettlauf, wer von uns zuerst Berlin erreicht. Wir wollen Hitler erledigen, aber wir wollen keine Rote Armee auf deutschem Boden. Wir müssen schon heute für die Zeit nach Hitler sorgen. Eure Armee hält an der Ostfront die Russen nicht mehr auf. Stalin ist auf dem Vormarsch, wir bekommen täglich neue Meldungen von den Russen. Weißt du, was das heißt?«

Joseph Stehle hatte endlich eine einigermaßen erträgliche Lage gefunden. Er hatte seinen Gurgelknopf unter der drückenden Sohle etwas auf die Seite drehen können. Angestrengt schielte er zu seinem Peiniger hoch.

Carrington zog erneut an der Zigarette und schnippte sie dann weit weg, während er den Rauch energisch aus den Lungenflügeln blies.

Dann schaute er wieder zu Stehle hinunter, nahm den Fuß vom Hals des fragwürdigen Millionärs und kniete sich neben ihn. Er fasste ihn am Kragen und zog dessen Kopf zu sich hoch. »Es gibt für dich nur eine Chance«, seine Stimme wurde jetzt leise, fast komplizenhaft redete er auf ihn ein, »du schließt dich uns an. Wir sind ein kleiner Kreis, der weiß, dass unser Feind nicht Hitler ist, sondern Stalin. Wir wissen, dass Hitler geopfert werden muss, darauf wartet die Weltöffentlichkeit. Aber halte unsere Regierung nicht für blöd. Der Präsident weiß, wer langfristig unsere Verbündeten sind. Deshalb wollen wir mit dir einig werden. Wir werden dein Geld freigeben, ohne dass sich in Zukunft irgendwelche Spuren mehr verfolgen lassen, woher das Geld überhaupt kam. Aber den Großteil des Geldes, das ohnehin nicht dir gehört, benötigen wir für den Aufbau unserer Organisation nach dem Krieg hier in Europa.«

In Stehles Kopf pochte es. Er drehte das Gesicht zur Seite und spuckte Blut. Seine Lippen waren aufgeplatzt, jetzt schwollen sie an. Er bekam kein Wort heraus.

John Carrington legte Stehles Kopf sachte auf den Schotter zurück. »Ich sage dir, wie es weitergeht«, fuhr er fort, »du wirst deinen Bankdirektor überzeugen, dass er nur mit uns einen Teil seines und deines Kapitals in den Vereinigten Staaten retten kann. Mach ihm klar, dass wir seine Bank in Schutt und Asche legen, wenn er unsere Anweisungen nicht befolgt. Wir haben alle Mittel und Wege, euch beide zu vernichten oder euch am Leben zu lassen. Ihr werdet von uns hören.«

Joseph Stehle kam nicht dazu, auch nur ein Wort zu erwidern. Es schien Carrington keinen Deut zu interessieren, was er noch vorzubringen gehabt hätte. Carrington stellte ihn vor die Entscheidung, vor die jeder Straßenräuber sein Opfer stellt: Geld oder Leben?

Dann verschwand er in der Dunkelheit.

*

Joseph Stehle kam nur langsam wieder zu sich. Er tastete sein rechtes Bein ab und versuchte, vorsichtig aufzustehen. Dann humpelte er zu seinem Fahrrad, suchte seine beiden Eimer, tastete den dunklen Boden nach seinen vier Würsten ab und fluchte leise vor sich hin.

Im Vorderrad waren vier Speichen gebrochen. Carrington hatte ihm offensichtlich einfach einen Stock ins Rad gesteckt. Das erklärte auch seinen Abwurf über den Fahrradlenker. Die Wurstsuppen waren aus den Eimern gelaufen und im Erdreich versickert. Wenigstens lagen die vier Würste aber noch auf dem Boden.

Töchterchen Mechthilde weinte, als sie ihren Vater im Flur stehen sah.

Dafür lachte sie schon am nächsten Tag wieder, als auf dem Sauerkraut mit Salzkartoffeln zwei Leber- und zwei Blutwürste vor sich hin dampften: »Papa, du bist der Beste«, küsste sie ihn auf seine verwundeten Lippen.

Joseph Stehle drückte sein Kreuz durch und strahlte. Wenn seine kleine Tochter zu ihm aufsah, dann war die Welt für ihn in Ordnung.

*

Wenige Wochen später begannen die Alliierten, gezielt das deutsche Verkehrsnetz zu bombardieren. Trotzdem fuhren noch immer die Züge über die Grenze von Singen nach Schaffhausen. Joseph Stehle wollte die Gelegenheit bei einer seiner nächsten Fahrten nach Schaffhausen nutzen, um nach seinem Komplizen Oswald Wohl zu sehen und zu bilanzieren, wie viel seines Kapitals noch beweglich war.

Sein Zug lief in Schaffhausen um 8.10 Uhr ein und musste planmäßig um 11.30 Uhr zur Rückfahrt bereitstehen. Die Lok mit ihren drei Waggons sollte auf Gleis drei einfach stehen bleiben, denn der größte Teil des normalen Zugverkehrs stand kurz vor dem Erliegen. Nur noch einzelne Verbindungen gab es von Schaffhausen nach Singen, und nur noch wenige Verbindungen weiter bis nach Zürich. Die Verbindungen nach Basel, über die deutschen Städte Tiengen und Waldshut, waren eingeschränkt worden.

Joseph Stehle eilte gleich nach der Einfahrt in den Bahnhof Schaffhausen in sein Dienstabteil und zog seine Uniform aus. Es war nicht mehr die Zeit, in der man sich auf Schweizer Straßen gerne als Deutscher zu erkennen gab. Leger, in Zivil gekleidet, schlenderte er Richtung Bankhaus Wohl & Brüder.

Das Bankhaus hatte den Angriff der US-Bomber heil überstanden. Trotzdem beschlich Stehle ein flaues Gefühl, als er das schmale Haus in der Schaffhauser Innenstadt betrachtete. Er roch den Stiefel Carringtons in seiner Nase und griff unwillkürlich nach seinen gerade verheilten Wunden im Gesicht. Kurz verharrte sein Schritt, unsicher schaute er sich um.

»Mach doch keis Büro uuf«, drohte plötzlich eine Stimme hinter ihm, und Stehle spürte einen stumpfen Gegenstand in seinem Kreuz. »Chum, gang wiiter«, forderte ihn die Stimme auf und schob ihn über die Straße in das Bankhaus.

Der Schalterraum wirkte auf Stehle noch düsterer als sonst. Dann sah er, dass das einzige Fenster des Raumes mit Zeitungspapier zugeklebt war. Der Mann hinter ihm verschloss die Ladentür. »Chunnsch druus?«, fragte er ihn und forderte ihn auf: »Hei gang wiiter, du kennscht doch de Wäg.«

Der Kassenraum war verwaist. Stehle sah, dass die Nebentür in das Besprechungszimmer offen stand. Aus dem Zimmer hörte er Stimmen und sah im Gegenlicht in der Luft Rauchschwaden stehen. Er roch Zigarettenqualm und erinnerte sich an den amerikanischen Agenten. Der Mann, der ganz offensichtlich vor der Bank auf ihn gewartet hatte, schob ihn in den Raum.

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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9783839233986
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