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Comodoro Rivadavia,

Perito Moreno

Nach Comodoro Rivadavia sind es mit dem Bus 440 Kilometer immer am Atlantik entlang. Nach einer Stunde Verspätung geht es endlich los, immer geradeaus – es ist faszinierend. Diese Reizarmut, immer dieselbe patagonische Steppe, es geht nur ums Fahren. Es ist der letzte Tag des Jahres, der 31. Dezember.

Das Hotelzimmer ist groß, ein toller Blick aufs Meer und es stürmt, riesige Wellen. Hier gibt es keine Touristen. Comodoro Rivadavia ist eine große wichtige Hafen- und Industriestadt. Ein Zentrum der Erdölförderung und -verarbeitung. Hier habe ich einen Stopp auf dem Weg in den Süden eingeplant, eine Übernachtung, weil die Strecken so weit sind und mehr als zehn Stunden mag ich nicht im Bus sitzen. Eigentlich will ich nicht länger als fünf Stunden im Bus sitzen, schließlich habe ich es nicht eilig. Aber immer klappt das nicht. Manche Reisende nehmen gerne die Nachtbusse bei diesen weiten Strecken, aber dann sieht man gar nichts und diese Busfahrten zeigen so viel vom Land. Aus dem Fenster zu schauen ist für mich wie einen Film über ein fremdes Land zu sehen. Und oft bin ich doch erstaunt, was ich alles in so genannten unattraktiven und hässlichen Städten erlebe und entdecke. Das möchte ich nicht missen.

Hier gibt es einen langen Strand, viele Bauruinen, langweilige Betonklötze, eine Menge Müll auf den Straßen, aber viele politisch interessante Graffitis. Meist geht es um Indigene und ihre Situation. Auch, so sagte man mir, sind die Künstler meist Indigene und äußern so ihre Meinung. Die Bilder an den Mauerwänden erzählen viel von ihrer Kultur und ihrer Diskriminierung. Sie sind auch eine Art Protest. Hier an den Häusern kann ihn jeder sehen. Diese Graffitis muss ich fast alle fotografieren.

Ich bin stundenlang am Wasser entlang gelaufen und habe seltene Vögel beobachtet. Die meisten gibt es dort, wo das Abwasser direkt ins Meer fließt.

Mein erstes Silvester allein in einem Hotelzimmer in einer völlig fremden Stadt. Ich hole mir ein Bier, da es keinen Sekt gibt und auch keine Touristen oder sonstigen Leute, die man ansprechen könnte, keine Feiern oder Veranstaltungen, wo ich gefahrlos hingehen könnte.

Das erste Mal in meinem Leben habe ich keine guten Vorsätze fürs neue Jahr. Ich bin gerade dabei, einen Traum zu verwirklichen. Ich bin zufrieden, ich bin unterwegs. Die Welt ist spannend – kein Paradies, aber spannend. Ich schaue etwas Fernsehen und kann um Mitternacht von meinem Bett aus am Himmel ein buntes Feuerwerk erleben. Mein Gott – es geht mir so gut.

An Neujahr gibt es ein reichhaltiges gesundes Frühstück. Eier, Brot, Obstsalat, Müsli, Joghurt, Käse, Kuchen. Ich bin in einem richtigen Hotel.

Am nächsten Morgen leider schon um 5 Uhr Weiterfahrt Richtung Süden in das Städtchen Perito Moreno und dann wieder Richtung Anden, weg vom Meer.

In Perito Moreno bin ich in einer Art Gasthof gelandet. Der Ersteindruck ist nicht überzeugend. Dieses Hotel ist nicht dreckig, aber für mich trotzdem irgendwie eklig. Vielleicht liegt es an der abgewohnten Einrichtung, an der hässlichen Gaststube, am komischen Geruch. Es gibt keine Touristen, die Gäste sind nur einheimische Männer, der Wirt – auf den ersten Blick ein widerlicher Machotyp. Das sollte sich im Laufe der Tage bestätigen. Bin gespannt, wie ich damit umgehen werde.

Ich hätte natürlich sofort fliehen können, aber ich will dies alles kennenlernen.

Immerhin gibt es Spaghetti. Darauf habe ich Appetit, mal was Gewohntes essen, von dem man auch annehmen kann, dass es keinen Durchfall macht, dass man damit sowieso gar nichts falsch machen kann – aber – man kann! Die Spaghetti sind fett und schwimmen in halblauem Wasser; dazu gibt es Ketchup. Nach drei Löffeln ist bei mir Ekelschluss. Ich bin eigentlich überhaupt nicht empfindlich, was Essen betrifft, aber hier kam wohl alles zusammen und das hätte ich nicht einmal einem halb verhungerten Hund angeboten.

Wie kann ich erklären, was ein argentinischer Macho ist? Ich erzähle mal ein Beispiel: In den Städten gibt es nur schmale Bürgersteige bei viel Autoverkehr. Wenn jemand entgegen kommt, muss eine Person zwangsläufig auf die immer dicht befahrene Straße treten. Das ist durchaus gefährlich, weil für die meisten Autofahrer Fußgänger keine Rechte haben.

Beobachtet man solche Situationen – und das tue ich ganz gerne –, Alltagssituationen, aus denen man lernt, wie so ein Land und eine Kultur funktioniert, dann ist es immer so, dass die Frau auf die Straße tritt, egal wie viele kleine Kinder sie an der Hand oder auf dem Rücken hat. In so einer Situation hat sich einmal Folgendes abgespielt: Der Bürgersteig extrem eng, ein Auto nach dem anderen auf der Straße, Rush Hour, und mir entgegen kommt ein Mann und hintendran offensichtlich seine Familie, Frau und drei Kinder. Als ich den Mann sehe, reizt es mich, weil er mir auch nicht sympathisch ist und ich wahrscheinlich auch nicht meinen besten Tag habe und er sieht eben aus wie ein Macho. Sorry: Vorurteile – habe ich auch. Mein Vielleicht-Vorurteil spitzt sich beim Näherkommen zu, als er offensichtlich noch seinen Brustkorb nach vorne schiebt – und dann ist es soweit: Keinen Schritt weiche ich zur Seite. Ich stehe und bleibe stehen, da ich nicht weiterkomme. Und er steht und steht mir gegenüber und er starrt mich ungläubig an, denn so etwas hat er mit Sicherheit noch nie erlebt. Und ich stehe da und bleibe stehen. Das hält sich so eine gefühlt schrecklich lange Anzahl von Sekunden. Mir kommt es wie viele Minuten vor. Aber ich bin nicht gewillt, auf die Straße zu treten.

Dann macht es klick, ein bitterböser, hoch verächtlicher Blick und mit einem „Bitteschön“ auf Spanisch tritt er auf die Seite, auf die Straße und lässt mich passieren.

Und als die Frau an mir vorbeigeht, da entschuldigt sie sich auch noch bei mir für ihren Mann.

Nun, ich muss gestehen, es gibt so sehr wenige Situationen im Leben, in denen man das Gefühl hat, gerade einen grandiosen Sieg errungen zu haben. Dies war so eine Situation.

Aber ich würde das niemals einer Frau weiterempfehlen. Das ist nicht ungefährlich. Wenn Menschen – diese Männer – das Gefühl haben, das Gesicht zu verlieren, können sie auch gewalttätig werden. Eine junge attraktive Frau hätte das nicht machen dürfen. Eine ältere, die von diesen Männern dann eher wie eine Mutter gesehen wird, begibt sich dabei nicht so in Gefahr. Machos hören immer auf ihre Mutter und folgen ihr.

Von Perito Moreno aus habe ich traumhafte Touren unternommen nach Chacarmata zu alten Höhlenzeichnungen durch faszinierende Schluchtenlandschaften. Diese Malereien sind alle frei zugänglich, weder abgesperrt noch geschützt. Auf den Grundstücken der Farmer gibt es noch viel mehr, aber die Farmer halten diese Orte geheim, sie wollen keine Touristen. Sie wertschätzen diese uralten Malereien auch nicht und schonen sie nicht. In den Höhlen liegen die Schafe. Das ist sehr schade.

Der Himmel ist immer blau, nachmittags wird es sehr heiß, über 30 Grad. Ich habe überhaupt keine Kleidung für diese Hitze. Ich habe gedacht, in Patagonien ist es kalt. So muss ich mein Nachthemd zum Sommerkleid umfunktionieren. Das fällt hier niemandem auf.

Ich besuche und besichtige eine große Farm und habe den Leuten Löcher in den Bauch gefragt. Mich interessiert einfach alles und die Menschen sind furchtbar nett. Mit dem Bus fahre ich nach Los Antiguos am Lago Buenos Aires, einem riesigen See mit Blick auf die schneebedeckten Anden. Auf dem Rückweg hält der Busfahrer an Aussichtspunkten, damit ich Fotos machen kann. Ich habe ihn gar nicht darum gebeten und es ist immerhin ein öffentlicher Bus, der gut besetzt ist. Unglaublich, so etwas wäre bei uns wohl undenkbar.

Was es so bei uns auch nicht gibt, ist, dass die Menschen Fremde hier oft anlächeln. Hat bei uns schon mal jemand Touristen angelächelt? Ich weiß nicht. Wie ist es überhaupt bei uns mit der Gastfreundschaft außerhalb von Touristenbetrieben? Was ist überhaupt Gastfreundschaft? Manche haben sie und manche nicht. Warum ist das so?

Am Abend stelle ich drei Bisse fest, hoffentlich nicht von Wanzen. Ich habe es doch gleich gewusst, dieses Hotel ist eklig. Vielleicht auch ein Floh, vielleicht auch von einem Hund, wer weiß.

Jedenfalls gibt das mal wieder eine abendliche Waschzeremonie. Das ist das Einzige, was hilft, wenn man das Gefühl hat, es könnte ein Floh sein. Alles, aber auch alles auswaschen.

Am nächsten Tag geht es ins Valle Deseado. Das Tal ist benannt nach dem Rio Deseado, der in den Anden entspringt und bei Perito Moreno in den Lago Buenos Aires fließt.

Ein junger Mann aus der Stadt hat mir davon erzählt, als ich ihn frage, wo man hier wandern könne.

Er erzählt, es sei eigentlich ein Tal der Tiere, was mich umso neugieriger macht. Es sei eine lange Wanderung, zunächst zu einer Lagune und dann durch die Berge über die Hügel.

Vor der Lagune käme man durch den Tierfriedhof. Dort gehen die Tiere zum Sterben hin.

Das klingt etwas unheimlich, aber das Wetter ist wundervoll und ich will mich unbedingt bewegen.

Diese Natur zieht mich raus aus den Städten, aus den Häusern, aus den Kneipen, um sie zu begehen. Er fährt mich ein Stück aus der Stadt heraus und zeigt mir den Einstieg.

Es ist ein weiter Weg, ich bin sechs Stunden unterwegs. Es ist wundervoll und ich treffe keinen Menschen. Nach einer Viertelstunde gibt es keine Stadt mehr, nur noch Weg, Hügel, Gras, Berge, Sonne und Ruhe. Ich fühle mich frei und atme tief durch. Ich gehe immer langsam und schaue nach allem, Pflanzen und Tiere.

Wegen dieses langsamen Tempos finde ich selten Mitwanderer, weil sie immer alle viel schneller sind und wenn ich Begleitung möchte, muss ich eben schneller laufen, was mir wenig Spaß macht, weil ich das Ganze überhaupt nicht als irgendeine Art von Sport betrachte und immer eher schauen als laufen möchte.

Wenn ich eile, sehe ich nämlich nichts mehr, dann höre ich auch nichts und rieche nichts.

Auf der linken Seite des Weges liegt ein großes Gerippe, wahrscheinlich von einer Kuh, der Boden ist feucht, aber warm, hohes Gras und ein paar Büsche. Je mehr ich mich der Lagune nähere, desto sumpfiger wird es. Es ist absolut ruhig hier. Ich höre nur das Gezwitscher der Vögel. Dann bin ich fast über einen toten Vogel gestolpert. Wenig später höre ich ein leises Rascheln hinter einem Gebüsch, ich gehe näher, schrecke aber sogleich zurück, dort liegt ein Hund, er sieht müde zu mir auf. Offensichtlich habe ich ihn gestört. Ich ziehe mich zurück, ihn aber weiter beobachtend. Er ist in einem erbärmlichen Zustand, zu schwach zum Aufstehen und völlig abgemagert, er liegt im Sterben. Irgendwie bekomme ich Angst und gehe zum Weg zurück. Mein intensives Bedürfnis zu helfen, zu retten, muss ich zurückdrängen. Es wäre hier völlig unangemessen, denn offensichtlich hat der Hund sich hier einen Ort gewählt, außerhalb der Stadt, weg von den Menschen, einen paradiesischen Ort, zum Sterben.

Also wie der Mann gesagt hat? Das Tal des Todes. Langsam gehe ich weiter und sehe noch ein paar Knochen und Skelette. Zufall ist das nicht. Ich weiß zwar inzwischen, dass man in Südamerika tote Tiere oder Skelette nicht wegräumt, nicht von der Straße und nicht von den Feldern. Der Tod ist viel normaler als bei uns und wird nicht so versteckt. Aber es ist mir doch etwas unheimlich. Ich werde dann sehr traurig. So viel Tod hier um mich herum und dann in dieser Traumlandschaft.

Schwer auszuhalten, so dass ich mich gar für einen Moment frage, ob ein Umweltgift diese vielen Tiere hat sterben lassen. Das wäre für Südamerika nicht so ungewöhnlich.

Aber Tiere ziehen sich zurück, wenn die Zeit des Sterbens gekommen ist, und wohl offensichtlich an diesen Ort hier. Warum – bleibt ihr Geheimnis, man kann nur spekulieren, jedenfalls werden sie hier sicher nicht gestört – normalerweise. Die Verbindung von Tod und so unglaublich schöner Natur hat mich auf dieser Reise noch viele Male beschäftigt.

Je näher man einem Traum kommt, desto näher ist man auch dem Tod.

Und so laufe ich weiter, fast meditativ in diese Gedanken versunken, bis ein Tier mitten auf dem Weg mich stoppen lässt.

Ein Hund, denke ich, wie schön, da habe ich eine Begleitung jetzt, denn je länger ich gehe, mit diesen Gedanken beschäftigt, desto stärker wird der Schatten meiner Einsamkeit.

Ich bin ja nun hier in der Ferne ganz allein und auf dieser Wanderung ebenfalls und in dem Moment merke ich, dass ich mal wieder auch mein Handy nicht dabei habe. Ich habe keine Beziehung zu diesem Gerät.

Ich gehe näher, der Hund bleibt sitzen, bis ich erkenne, dass es ein Fuchs ist.

Der beobachtet mich scharf, legt den Kopf zur Seite und denkt nicht daran, die Flucht zu ergreifen. Ich muss grinsen, ich mag ihn und fühle mich wie ein blöder Tourist und Eindringling in seinem Revier.

In Zeitlupe krame ich meinen Fotoapparat aus der Tasche, frage ihn, ob ich ein Foto machen darf. Er lässt es zu und es entstehen mehrere ausgezeichnete Porträts.

Sehr langsam und sehr stolz zieht er von dannen. Ich empfinde eine warme Freundschaft und gehe weiter.

Dann erreiche ich die Lagune und beobachte wilde Pferde, die dort grasen, und viele verschiedene Vögel. Sie sind alle nicht scheu und ich kann gute Fotos machen.

Nach vielen Stunden muss ich umkehren. Der Weg aber geht immer weiter. Wo er wohl endet?

Auf dem Rückweg habe ich etwas Angst, an dem Ort des Sterbens wieder vorbeizukommen. Vielleicht ist der Hund schon tot. Ein paar Kaninchen kreuzen meinen Weg und an der Lagune sind jetzt Flamingos.

Tiere gehen mit dem Tod ziemlich normal um. Sie ziehen sich zurück – auch ins Alleinsein –, weil man ja eben auch alleine geht. Vielleicht gar nicht so schlecht. Bei uns ist es gewünscht, wenn jemand da ist und die Hand hält. Das ist wegen unserer Angst. Aber werden wir nicht letztlich allein geboren und sterben allein?

Die Tiere legen sich hin, schließen die Augen und warten dann aufs Sterben. So war es bei meiner Katze. Ob es den Tieren gut tut, dann noch gestreichelt zu werden oder gar in den Arm genommen zu werden, wie es meine Schwester mit ihrem Hund gemacht hat?

Ich weiß das nicht. Vielleicht würde ich auch lieber allein sein in diesem Moment.

Meistens fragt man ja aber nicht die Sterbenden, sondern die Lebenden meinen zu wissen, was für sie gut und richtig ist.

Als ich aus diesem schrecklichen Hotel auschecke, will dieser Machomensch mir noch die Provision von booking.com draufschlagen. Ich muss erst sehr deutlich werden und ihm sagen, dass ich jetzt booking.com anrufe, bis er endlich Ruhe gibt. Und dass er die Provision zahlen muss und nicht ich.

El Chalten

Nach El Chalten muss ich dann doch einen Nachtbus nehmen. Um 23.35 Uhr soll er abfahren. Das tut er natürlich nicht und dann sitze ich nachts auf diesem kleinen Busbahnhof. Der Bus hat zwei Stunden Verspätung.

Es ist bitterkalt. Zwei junge Argentinier sind auch hier gestrandet. Angst habe ich keine, im Gegenteil, wir drei unterhalten uns bestens. Die Toilettenfrau, die die ganze Nacht vor dem Klo sitzt – ich weiß gar nicht auf welche Gäste sie wartet oder warum sie hier ist –, macht uns einen Tee. Vielleicht hat sie einen gewalttätigen Mann daheim oder vielleicht hat sie auch gar kein Zuhause.

Es kommt nur noch dieser eine Bus in der Nacht.

Der eine Argentinier ist auch ein Tourist, ein Reisender im eigenen Land. Er will sein Land kennenlernen. Sein Rucksack ist klein und Geld hat er kaum, also fährt er immer nachts, um Hotelkosten zu sparen. Aber er ist sehr neugierig. Er kennt und weiß von seinem Land weniger als ich und sein Traum ist es, einmal durch Europa zu reisen, so wie die europäischen Backpacker durch Argentinien touren. Dieser Traum wird wohl nie in Erfüllung gehen, weil er einfach kein Geld hat.

Wieder kommt mir in den Kopf, wie ungeheuer privilegiert wir doch sind. Das sieht man aus der Ferne meistens besser als von zuhause aus.

Natürlich haben Jugendliche in anderen Ländern genau die gleichen Träume und Wünsche nach Reisen und wollen die Welt kennenlernen. Aber so viele können sich das nicht leisten.Ob da wohl so ein reicher Backpacker aus Europa auch drüber nachdenkt, wenn er durch Patagonien zieht? Flashpacker nennt man sie heute, die jungen Individualtouristen mit viel Geld und hohen Ansprüchen auf komfortable Abenteuer. Die luxuriöse Form des Backpackers und der Verzicht auf Einfachheit. Oft prahlen sie damit, welche Gipfel sie schon in Südamerika bestiegen haben. Aber was wissen sie über das Land? Oft nicht viel und oft interessiert es sie auch nicht. Zumindest nicht das, was nicht toll und fantastisch ist.

Reisen ist Bildung! Die Befreiung von Vorurteilen gelingt nur, wenn man selbst hingeht in andere Länder und wenn man dann auch hinsieht.

In dieser Nacht habe ich viel über die Träume und Wünsche der argentinischen Jugendlichen erfahren.

Der andere Wartende hat in El Chalten Arbeit gefunden und fährt auch nachts, weil ein Hotel für ihn einfach zu teuer ist.

Endlich kommt der Bus, ich bin todmüde und schlafe gleich ein, aber nur zwei Stunden, dann ist Stopp in der Pampa um vier Uhr nachts. Eine grauenhafte Kälte zieht sich durch alle Glieder. Alle müssen raus aus dem Bus. Sie fangen an, das gesamte Gepäck auszuladen. Ich bin benommen und sauer: Drogenkontrolle. Der Argentinier sagt mir: Die Zollbeamten, sie mögen keine Backpacker, deswegen machen sie das. Finden werden sie hier sowieso nichts, was sich auch bestätigt.

Jeder muss seinen Koffer identifizieren. Alle Koffer werden von den Drogenhunden beschnüffelt und das Handgepäck muss geöffnet werden und wird durchsucht.

Mir kommt der Begriff „Schikane“ in den Kopf. Das Ganze dauert bestimmt zwei Stunden und alle sind bis auf die Knochen durchgefroren.

Mit aufgehender Sonne fährt der Bus dann endlich weiter, Stunden über Stunden geradeaus durch diese traumhafte Steppe in die Anden. Rechts und links weiden Guanakos. Sie sind scheu, nicht domestiziert, zarte Tiere. Sie können sehr schnell sein. Es gibt verschiedene Tiere, die den Kamelarten zuzuordnen sind in Südamerika. Die Guanakos sind die Stammform des domestizierten Lamas. Dann gibt es noch die Vikunjas, die den Guanakos ähneln, aber kleiner und schlanker sind. Die Wolle der Vikunjas gilt als die seltenste und teuerste der Welt. Die Alpakas sind eine domestizierte Kamelform, die vorwiegend wegen ihrer Wolle gezüchtet werden. Sie stammen von den Vikunjas ab.

El Chalten ist für mich einer der schönsten Orte in Patagonien, auch wenn es hier – aber wen wundert das – recht viele Touristen gibt. Zum Ausgleich genieße ich dann die komfortable touristische Infrastruktur, schöne Restaurants, Bars, die Möglichkeit, draußen zu sitzen, hervorragendes Essen, viele Kontaktmöglichkeiten und Reiseaustausch. Und vor allem auch die gefahrlose Möglichkeit, abends mal später bei einem Bier abzuhängen.

El Chalten liegt am nördlichen Rande des Nationalparks Los Glaciares nahe der chilenischen Grenze. Ich wohne in einer einfachen Herberge und bin hier bei Weitem die Älteste. Sehr junge Leute und leider ist es dann auch sehr laut bis spät in die Nacht. Aber mein Zimmer ist groß, sauber und billig und ich habe Oropax. Das Beste sind die Besitzer: eine indigene Großfamilie, die sich rührend um alles kümmert, sowie zwei göttliche Hunde: ein großer alter und ein kleiner völlig verfilzter. Der sieht aus wie ein Teddy. Beide liegen tagein, tagaus eng beieinander vor der Tür und beobachten die vielen Gäste neugierig. Da bleibt es dann nicht aus, dass auch immer mal ein Leckerbissen abfällt.

Da die günstigen Hostelbetten im Ort begrenzt sind und doch immer viele Touristen da sind, kann es auch mal eng werden mit den freien Betten. So bin ich einige Nächte morgens über einen mit einem Traveller gefüllten Schlafsack gestolpert, der sonst kein Bett gefunden hätte. Der Hostelbesitzer lässt jeden in so einem Fall auf dem Boden schlafen.

El ­Chalten ist das Trekking-Paradies im Nationalpark los Glaciares. An wunderschönen Wanderwegen mangelt es nicht. Es liegt zu Füßen der berühmten patagonischen Berge Cerro ­Torre mit 3.128 Metern und Fitz Roy mit 3.406 Metern an der Grenze zu Chile. Der Blick auf diese Berge vom Ort aus ist grandios. Patagonien ist hier teuer. Es gibt nur wenig Armut und das Land ist sehr dünn besiedelt.

Viele Backpacker sind noch sehr jung. Welche Trekkingtouren man gemacht hat und welche Berge man erklettert hat, ist ein wesentliches Kennzeichen von Größe und Sportlichkeit. Ich kann nicht viel mit ihnen anfangen. Sie scheinen nicht besonders kontaktfreudig oder neugierig mit dem direkten Gegenüber. Sie erledigen alles mit ihrem Smartphone.

Smartphone-Kommunikation verhindert Nähe. Manchmal, wenn ich sie so beobachte, denke ich, sie sind nicht in der Lage, mal nichts zu tun. Sie sind irgendwie gehemmt, wenn sie nicht in Verbindung mit dem Smartphone stehen. Einfach nur da zu sitzen und in die Welt zu schauen – das tun sie nicht. Als ob sie gar nicht existieren könnten ohne das Ding.

Ich habe ein Smartphone – also bin ich. Ich habe ein Smartphone – also werde ich geliebt, weil mir schließlich Leute Nachrichten schicken oder diese Likes auf meine Selfies. Ich bin ein Teil dieser Welt, weil ich ein Smartphone habe. Aber das sind böse Gedanken einer alten Frau, die letztlich von diesen Dingen nicht viel versteht. Diese Entwicklung hat mich überrollt. Das ist nicht mehr meine Welt. Man hat nicht das Recht, etwas zu bewerten, was man nicht wirklich versteht oder kennt.

Ich unternehme viel hier. Mein ganzer Stolz ist eine Trekkingtour von 20 Kilometern. Das ist dann aber auch schon grenzwertig. Da ich langsam wandere, so ein junger Mensch würde sagen in Zeitlupe, kann ich mich leider keiner Gruppe anschließen. Die sind alle schneller und die meisten betreiben es hier sportlich. Dafür sehen sie nicht mal ein Viertel von dem, was ich sehe oder beobachte. Es gibt hier nämlich viele aufregende Vögel. Kondore kreisen über den Bergen.

Ich treffe auf ein Gürteltier. Es ist nicht besonders scheu.

Es hat mich aber doch etwas geschockt, als ich zweimal gefragt wurde, ob es mir gut geht oder ob man mir helfen könne oder gar meinen kleinen Minirucksack tragen solle. Entweder wirke ich so gebrechlich oder keiner kann sich vorstellen, dass jemand gerne so langsam geht.

Ich laufe zur Laguna Capri mit einem traumhaften Ausblick auf den Fitz Roy, zum Glacier Marconi und zu den Wasserfällen. Ich besuche die Laguna y Glacier Huemul und unternehme eine Expedition zum Lago del Desierto. Dort gibt es Bootstouren. Von der anderen Seite des Sees kommt man nach Chile.

Das ist hier wieder alles wie im Bilderbuch, und so schicke ich viele Fotos an meine Freunde. Abends kommen mir Zweifel, ob es nicht zu viele sind. Ich möchte sie weder nerven noch neidisch machen. Es hat viele Reaktionen von Freunden auf meine Reise gegeben. Das beschäftigt mich immer wieder. Meine Reise ist ja aber nur der Anstoß für solche Überlegungen, die sie dann in Bezug auf ihr eigenes Leben anstellen. Aber interessant ist das schon, weil mir einige dieser Gedanken nie gekommen wären. Eine Freundin hat immer wieder überlegt, wie man nur als Frau alleine so weit wegfahren kann und vor allem dann noch ohne Zeitplan. Oder die Angst mancher vor Einsamkeit. Diese Angst hatte ich nie. Aber ich bin wohl auch eher – wie soll ich sagen – progressiv kontaktfreudig. Ich kann mir schon vorstellen, dass Menschen mit mehr Zurückhaltung sich da schwer tun.

Und Neid wurde auch geäußert. Ich versuche, ihn nicht zu verstärken. Schließlich hat alles seine Vor-und Nachteile und so eine Reise ist schon auch immer wieder recht anstrengend. Ich fahre ja nicht in ein Paradies, nur in eine fremde Welt.

Das Fremde muss einen natürlich faszinieren und anziehen. Sonst geht das gar nicht. Und die Neugier muss unermesslich sein. Ich kenne auch Menschen, die sind eben nicht neugierig und es geht ihnen gut damit, mit dem Gewohnten, das ja auch Sicherheit vermittelt.

Für manche ist es ausgesprochen ungemütlich, wenn immer wieder jeden Tag alles neu und relativ unberechenbar ist und man nie weiß, wo man landet, auch innerlich, sozial, psychisch. Für mich ist das wahnsinnig spannend.

Auch fahre ich praktisch niemals an denselben Ort ein zweites Mal. Dazu ist die Welt zu groß. Meine besten Freunde fahren seit 40 Jahren jedes Jahr an dieselben Orte in den Urlaub – und sie lieben es.

Maria hat mir geschrieben: „Wie gut, dass du fährst! Du hast den Frauen dort und uns hier die Möglichkeit einer großen Unternehmung, einer Expedition gezeigt, als Frau und alleine. Du machst damit auch Mut für kleine Expeditionen, hier, wo ich bin, rausgehen, auch alleine.“

Das hat mich sehr gefreut.

Touristen in meinem Alter habe ich hier jetzt noch gar nicht getroffen. Die meisten sind dann doch wohl eher mit einer Reisegruppe unterwegs oder auf einer Kreuzfahrt anzutreffen.

Die jungen Leute sind unbedarft. Gestern haben zwei Deutsche Gleitschirme ausgeliehen und sind vom Berg gesprungen. Ich kann diese Lust ja verstehen, aber unten wurden sie von der Polizei empfangen und zu 100 Dollar Strafe verurteilt, weil das in Patagonien verboten ist. Immer wieder geschieht es, dass sie machen, wozu sie Lust haben, ohne sich auch nur ein einziges Mal erkundigt zu haben, was in so einem anderen Land üblich ist, was erlaubt ist, wie die Sitten und Traditionen sind. Das finde ich oft auch respektlos. Dazu gehört auch das halbbekleidete Schlendern durch Städte, in denen zum Beispiel überwiegend Indigene leben. Haben diese Touristen sich jemals gefragt, wie hier die Frauen gesehen werden, wie moralische Vorstellungen sind? Ich habe mich für diese Europäer immer geschämt.

Am letzten Abend fliehe ich aus dem Hostel. Es ist mir zu laut. Ich gehe ein Bier trinken und lerne Michel aus Irland kennen. Ein netter Kerl. Wir verstehen uns sofort und tauschen unsere Reiseerlebnisse aus.

Das charakteristische an solchen Reisebekanntschaften ist ja, dass man sich meistens nur kurz sieht, dass aber so eine Begegnung ungeheuer intensiv und vertraut sein kann, wie das zuhause in dieser Kürze niemals möglich wäre. Manchmal trifft man sich dann noch einmal oder mehrmals auf so einer Reise und vielleicht hat man auch später noch Kontakt, wenn man wieder daheim ist.

Man hat sich meistens mehr erzählt als sonst üblich wäre in so kurzer Zeit, aber vor allem verbindet einen das Reiseerlebnis, etwas Außergewöhnliches in einer biografisch betrachtet ganz besonderen Situation.

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