Читайте только на ЛитРес

Книгу нельзя скачать файлом, но можно читать в нашем приложении или онлайн на сайте.

Читать книгу: «Ille mihi», страница 7

Шрифт:

Über Papa war eine Unruhe gekommen, er drängte nach Hause, seit es Ilse besser ging, wollte sich unterwegs in Berlin aufhalten, wo er mit seinem langjährigen Berater, Justizrat Schilderer, dringende Geschäfte habe. – »Solltest du je einen Rat brauchen, so wende dich an den,« sagte Papa, und Ilse zuckte die Achseln – was gab es da zu raten? Sie mußte eben suchen, die Wirklichkeit möglichst zu vergessen und sich wieder auf ihre geheime Insel retten. Von ihrem Bette aus schaute sie nach dem Flügel, der in eine Ecke geschoben worden war – dort war ihre geheime Insel.

Als Ilse ihre Tage schon wieder auf dem Sofa verbringen konnte, reisten Papa und Greinchen ab. Es war dann zuletzt, trotz all seines Drängens, als ob sich Papa gar nicht von Ilse trennen könne, immer wieder griff er nach ihrer Hand, streichelte die lose hängenden Haare, hob das weiße schmale Gesicht in die Höhe und blickte in die noch größer gewordenen Augen. – ›Warum sind wir je auseinander gegangen, da wir doch so sehr zusammengehören?‹ dachten sie beide. Und Papa beantwortete die stumme Frage: »Ich bin ein kranker Mann, Kind, ich wollte gut für dich sorgen,« sagte er traurig. – In Ilse aber regte sich die Gegenfrage: »Gibt es denn keine andere Weise, für eine Frau zu sorgen, wie sie einem Mann zu geben?«

Ach, wer doch stark und frei wäre, sich ein eigenes Leben zu schaffen!

Über den Kiesplatz drunten rollte nun der Wagen davon, in dem Theophil Papa und Greinchen nach Sandhagen fuhr. – Bei dem verhallenden Ton wollte es wie verzagende Hoffnungslosigkeit und bange Ahnung unwiderruflichen Abschieds in Ilse aufsteigen, aber sie bezwang sich: Stark und frei mußte man werden, sich ein eigenes Leben schaffen – und wenn es auch schon zu spät scheint.

So erhob sie sich vom Sofa, schritt auf noch schwachen Füßen zum Klavier. – Zaghaft zuerst berührten ihre Finger die Tasten, suchten die Begleitungen der Lieder, die sie vor Monden zuletzt gesungen, fanden sie wieder gleich einst gekannten Zauberformeln und mit ihnen all die Hoffnungen, die geheimen Seligkeiten jener vergangenen Tage. – Ja, singen wollte sie wieder, singen, in den hellsten, jauchzendsten Tönen ihrer Stimme, Töne, denen sie selbst damals oft mit erstauntem Entzücken gelauscht. Ein Preislied sollte erschallen, daß ihr in allem Elend dies eine große Glück des Gesanges gegeben!

Ihre Augen strahlten, sie öffnete die Lippen: Ein schmetterndes Preislied sollte es werden!

Aber was war das? Wo blieb der erwartete Schall? Kaum ein Ton entrang sich ihrer Kehle … nicht mal ein Echo früherer Klänge rief ihr mühsames Pressen hervor. – Entsetzt und doch noch ungläubig versuchte sie es abermals, versuchte statt des Liedes einzelne Töne, versuchte es leise, versuchte es laut. – Das konnte doch nicht wahr sein? Sie mußte sich geirrt haben. – Aber da war kein Irrtum, – die Stimme war verschwunden, war statt ihrer gestorben. – Die Stimme, die ein neues Leben ersingen sollte.

Da stützte sie die Arme auf den Flügeldeckel, vergrub das Gesicht in den Händen und weinte fassungslos.

So fand sie Dr. Liebetrau, der von Frau von Zehren zu seinem täglichen Besuch hereingeführt wurde.

»Ja, ja, mein Kind,« sagte Frau von Zehren freundlicher als sonst, als sie Ilses tränenüberströmtes Antlitz gewahrte, »es fängt nun wohl an, dir zum Bewußtsein zu kommen, welch Unglück deine unzeitige Krankheit über die Familie gebracht hat! Da magst du freilich weinen.«

»Doktor,« rief Ilse noch ganz benommen und ohne Frau von Zehrens Worte recht verstanden zu haben, »liebster Doktor, ich habe … meine Stimme verloren – ich kann nicht mehr singen!« und sie fing wieder zu schluchzen an.

»Darüber weinst du?« rief Frau von Zehren, und die kleinen tückischen Äuglein funkelten über den weiten Wangenflächen, »an solche Lappalien vermagst du zu denken, wo Weltsöden vielleicht an die Kummerfelder kommen wird – denn Liebetrau meint ja, daß du nun doch wohl schwerlich mehr …«

»Aber, aber,« unterbrach sie der Arzt, »lassen wir doch all das und freuen wir uns, daß die junge Gnädige uns überhaupt erhalten geblieben ist.«

»Ja, aber bester Liebetrau! können Sie denn das verstehen!« erwiderte erregt Frau von Zehren, »sein Lebtag hat man‘s mit Gott und der Kirche gehalten, und nun muß man das erleben: Diese kleine Anne Dore, wo doch gar nichts drauf ankommt, die muß man da mit zwei, sage mit zwei Jungens sehen – und bei uns, wo es sich doch ums Erlöschen der ältesten Linie handelt – bei uns – ich frag Sie: wo ist da noch eine Gerechtigkeit?«

»Ich sehe auch wahrhaftig keinen Grund zur Freude, bloß weil ich am Leben geblieben bin, Dr. Liebetrau,« fiel Ilse bitter ein, »denn was soll mir Leben an sich – das Singen war ja doch meine einzigste Freude – und nun hat mir ein sinnloses Schicksal meinen eigensten Lebenszweck genommen!«

Dr. Liebetrau schnupfte und schneuzte sich in das türkisch gemusterte Taschentuch und blickte dabei mit der wehmütigen Nachsicht, die er für alle Gebrechen hatte, auf die beiden gegen stärkere Macht hadernden Frauen. – Und doch, dachte er, werden sie beide lernen müssen, sich davor zu beugen, ob die eine es nun Gott und die andere Schicksal nennt: denn keinem von uns wird es erspart, Opfer zu bringen, und zwar ist es immer gerade das Liebste, was als schwerstes Opfer von einem jeden gefordert wird. Der einen hier ist es der alte Fetisch der Familie, der anderen der moderne Abgott der Ausbildung eigener Gaben.

Laut sagte er dann zu den beiden: »Jedes Leben endet mit Entsagung, mit dem Mosesblick auf Länder, zu denen wir nie gelangen – aber wir können wenigstens trachten, einer dem anderen den Weg zu erleichtern, auch wenn wir Zweck und Ziel nicht verstehen.«

Ilse erschauerte, da sie von des Arztes Lippen das Wort vernahm, dem sie immer wieder begegnete – Entsagung. – Der Name stand auf so vielen Wegweisern – führten denn alle Straßen dorthin? – und war auch sie schon von unerbittlicher Macht endgültig auf solche Straße gedrängt? —

Der Spätherbstwind strich wieder über das flache Land, und aufblickend sah Gräfin Helmstedt, wie er an ihrem wohlgeschlossenen Fenster die gelben Blätter vorüberjagte. Ein Vollstrecker der Gebote der Verschwenderin Natur schleuderte er das Gold durch die Lüfte.

Gräfin Helmstedt saß in ihrem Arbeitszimmer am Schreibtisch. Es war ein stiller, beruhigend wirkender Raum, graugrün, von der Farbe ferner, in Nebel getauchter Wälder. Kein Zimmer für viele. Nur wenige bequeme Sessel und daneben zu steter Benützung bereit liegend einige Lieblingsbücher auf niedrigen Etagéren. Ein offener Flügel und als einziger Bildschmuck über dem Kamin ein Porträt ihres Mannes.

»Wenn wir, wie die Chinesen ihren Palasthallen, jedem unserer Wohnräume einen symbolischen Namen verliehen, so würde ich dies das Zimmer der bleibenden Lebenswerte nennen,« hatte Gräfin Helmstedt einmal zu Ilse gesagt.

Ein angefangener Brief lag auf dem Schreibtisch, und nachdem die Gräfin eine Zeitlang den vorbeiflatternden Blättern draußen sinnend nachgeschaut, schrieb sie weiter: »… so sind wir denn mit kurzen Unterbrechungen bald anderthalb Jahre hier, lieber Walden, viel länger, als wir anfänglich zu bleiben beabsichtigten. Und eigentlich nur, weil es uns unmöglich schien, unsere Nachbarin zu verlassen, die kleine Ilse, über die Sie mir damals zuerst geschrieben haben, und die seitdem in unser Leben hineingeflattert ist, wie ein armes zerzaustes Vögelchen, das man streicheln und liebhaben muß. Bald nach ihrer eigenen Krankheit kam die Nachricht vom plötzlichen Tode ihres Vaters, und der hat sie sehr mitgenommen, nicht so sehr, weil sie sich immer besonders nahe gestanden hätten, als weil sie während des Vaters Hiersein erst erkannten, wie viel sie sich hätten sein können. – Mir will es ja überhaupt scheinen, als ob so manches Gebäude erinnernder Liebe nicht die Trauer um das, was war, sondern um das, was hätte sein können, zur Grundlage hat. – Wir suchten Ilse über die ersten so schweren Zeiten hinwegzuhelfen. Sie hatte es nötig, denn im eigenen Hause fand sie wohl wenig Trost. Da herrscht nämlich nur Erbitterung über den Verstorbenen, der, unmittelbar vor seinem Tode, sein Vermögen derart festgelegt hat, daß die Tochter nur über die Zinsen verfügen kann. – Das gab eine arge Enttäuschung für die Zehrens, die auch dies Kapital gar zu gern ihrem Landesmeliorationsmoloch geopfert hätten. Die Stimmung, in der sie sind, erkannte ich, als neulich der Kummerfelder zum Weltsödener sagte: »Wenn dein Schwiegervater dies alberne Testament, statt beim Justizrat Schilderer in Berlin, in seinem eigenen Schreibtisch aufbewahrt hätte, und es wäre dir in die Hände gefallen, so hättest du es vernichten sollen.« – »Dabei würden sie mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen sein,« bemerkte mein Mann. – Aber ich glaube wirklich, wo es sich um das Heil ihres Grund und Bodens handelt, hören alle Skrupel auf.

Nachdem wir aber zuerst nur aus Gefühlsgründen für Ilse geblieben waren, sind wir jetzt praktisch in ihrem Dienste hier tätig. – Der bisherige Reichstagsabgeordnete dieses Kreises ist nämlich kürzlich gestorben, und für die Neuwahl ist Herr von Zehren-Weltsöden als »unser Kandidat« aufgestellt worden. Sie können sich denken, wie gleichgültig es mir eigentlich ist, wer gewählt wird – ich habe zu lange im Auslande gelebt, um zu fragen, zu welcher der vielen hiesigen Parteien einer gehört, ob Fortschrittler, Nationalliberaler, Zentrumsmann – da draußen erschienen sie mir alle als dasselbe: Landsleute meines Mannes, – Deutsche. Und jeder, der kam, war willkommen. Auch dem Sozialdemokraten, der meines Mannes Muttersprache spricht, hätte ich gern die Hand gereicht. – Aber vielleicht kann ich ja nur deshalb so deutsch empfinden, weil ich eben keine geborene Deutsche bin. – Für diese Wahl hier bin ich aber Feuer und Flamme, als ob ich eine fanatische Politikerin wäre. Freilich nur aus ganz subjektiven Gründen, was ja bei weiblichen Überzeugungen häufig der Fall sein soll: um Ilse zeitweilig wenigstens in die angenehmeren Lebensbedingungen von Berlin zu verhelfen. – Und so sind wir denn hier, damit mein Mann, was er etwa an Einfluß auf Wähler besitzt, zu Gunsten des feierlichen Herrn von Zehren einsetze. – Unverdientermaßen werden wir von den Nachbarn ob dieses Eintretens für ›die gute Sache‹ sehr gelobt. ›Sie fangen doch an, für die wahren Interessen des Landes Verständnis zu gewinnen‹ sagte neulich die verwitwete Frau Mechtild von Zehren über uns. – Ich aber mußte dabei an all die Jahre draußen in der Ferne denken; welche Interessen, glaubt sie, vertraten wir denn dort?

Sobald die große Schlacht hier vorüber und hoffentlich gewonnen sein wird, gehen wir nach Berlin. Schade, lieber Walden, daß Sie nicht auch dort sind! wir stehen ja nun außerhalb der Dinge, aber die herzliche Teilnahme für die Freunde, die noch tun und wollen, ist wach in uns geblieben, und ich hörte Sie gerne einmal wieder mit Ihrem schönen Enthusiasmus von den Aufgaben reden, die Sie hoffen, einst lösen zu dürfen. Besonders gern aber hörte ich Sie auch wieder singen.«

Gräfin Helmstedt schloß den Brief und adressierte ihn an den Baron Wolf von Walden, Deutsche Gesandtschaft, Tanger.

Nachdem der Brief über das blaue mittelländische Meer gereist und in der Hafenstadt des vielumstrittenen afrikanischen Reiches angelangt war, wurde er von einem braunen Boten hinaus zum Zeltlager gebracht, wo jüngere Diplomaten verschiedener Nationalitäten gerade kampierten und sich im edlen Sport des pig-sticking übten. – Einem schlanken, blonden, sonnengebräunten Mann, der nach scharfem Ritt in einem Klappstuhl vor seinem Zelte lehnte, übergab der Bote den Brief. Blaue Augen lasen ihn, blickten dann sinnend hinaus und gewahrten doch nicht mehr die afrikanische Landschaft mit der zufälligen internationalen Staffage – sahen statt dessen in weiter Ferne das Bild der Schreiberin, der Frau mit den bald silbern, bald golden schimmernden Haaren und den zeitlosen Gewändern. Und neben diesem Gesicht, das Walden kannte, seitdem er als jüngster Attaché seine Laufbahn an einer Botschaft begonnen, tauchte ein anderes auf, das er nur ein paarmal und ganz flüchtig vor zwei Jahren gesehen, und das doch, wenn es ihm seitdem bisweilen vorschwebte, ihn stets mit rührend stummem Vorwurf anzublicken schien, als sei er für ein großes Glück einst zu spät gekommen. Ob er sie je wiedersehen würde?

Vom benachbarten Zelt klangen da spanische, französische, englische Laute in sein Träumen. Man rief ihn zum Tee. Er sprang auf, reckte die Glieder, schob den Brief in die Tasche. – Und wußte nicht, daß, während er so dastand im Schein der zum atlantischen Ozean niedersinkenden Sonne und dem Gelesenen noch einen Augenblick nachsann, in einem Zimmer der Wilhelmstraße in Berlin zwei Exzellenzen nach einer längeren Debatte über die Verschiebung der ihnen unterstellten menschlichen Figuren auf dem Weltschachbrett unter anderem auch zu dem Ergebnis gekommen waren, den Legationssekretär Baron Wolf von Walden im Laufe des kommenden Winters in das Auswärtige Amt zu berufen.

Die Vorbereitungen zur Neuwahl im Kreise Sandhagen gingen unterdessen eifrig weiter.

Als das Mandat Theophil von der Parteileitung angeboten worden war, hatte er zuerst Bedenken empfunden, ob er Weltsöden alljährlich mehrere Monate verlassen könne. Aber da hatte seine Mutter beleidigt aufbegehrt: War sie nicht da, und würde ihre Aufsicht etwa nicht genügen? Über dem Eifer, Theophil dies zu beweisen, vergaß sie alle anderen Zweifel, die sie selbst vorher etwa gehegt, und die sich nicht um den Sohn und das Gut, sondern um die Schwiegertochter gedreht hatten, war es ratsam, Ilse den Lockungen Berliner Lebens auszusetzen? Ilse, die doch nie so ganz fest und sicher in den Dienst des Zehrentums eingespannt erschien? Mit Mechtild, bei der sich auch gerade der alte Pastor Rockstroh und seine Frau befanden, sprach sie darüber.

»Ich begreife Ihre Sorgen, gnädige Frau,« sagte der Hochehrwürdige, »denn Ihre Frau Schwiegertochter wird da manch sündiges Schauspiel erblicken, wird sie doch vielleicht sogar Bälle besuchen müssen.« Und dann setzte er mit gekreuzten Händen und dankbarem Blick zu seiner behäbigen und glatt gescheitelten Gattin hinzu: »Ja, darob preise ich wahrlich Maria, mein Weib, daß sie nicht nur nie hat getanzet, sondern auch nie hat tanzen sehen.«

Mechtild hegte ganz dieselben Bedenken wie die Schwiegermutter. Ihr, die im Fanatismus freudloser Pflichterfüllung und im wohlgefälligen Kult eigener Begrenztheiten Ersatz für alle Enttäuschungen fand, blieb Ilse immer ein fremdartig ungebundenes Wesen. Sie hatte gehofft, die Schwägerin so schwer an ihrer Kinderlosigkeit tragen zu sehen, wie sie selbst an ihrem Überfluß wehleidiger Töchter trug. Daß Ilse statt dessen nie darüber klagte, und scheinbar nicht darunter litt, reizte sie wie die ärgste Auflehnung, denn Leiden schien ihr ein Joch, das jeder und vor allem jede tragen soll. – Sie gönnte Ilse zwar nicht die Zerstreuungen und möglichen Erfolge in Berlin – aber schließlich gehörte sie vor allem zu nährigem, ländlichem Geschlecht, das jede Eventualität zuerst auf den möglichen persönlichen Vorteil hin prüft. – Und der Aufenthalt Theophils und Ilses in der Hauptstadt versprach für sie allerhand solche Möglichkeiten: Kommissionsbesorgungen, Ausnutzung billiger Ausverkäufe, ja vielleicht Einladungen an eine ihrer neun Töchter! – So hatte sie denn die Schwiegermutter über alle Gefahren zu beruhigen gesucht. Die Onkeln und Tanten, Vettern und Basen aber hatten ihrerseits Theophil eifrig zugeredet, stolz im Vorgefühl, daß einer von der Familie den Kreis Sandhagen vertreten solle. – Und es bedurfte schließlich nicht viel Überredung bei Theophil: wenn er auch den Parlamentarismus als ein schwächliches Zugeständnis an den liberalen Geist ansah und oft über Volksvertretung gespöttelt hatte, so gewann dies alles in der eigenen Person ein ganz anderes Ansehen; er, der von der Mutter stets bevormundet und von der Frau scheu gemieden wurde, fühlte sich gehoben und wichtig bei dem Gedanken – ein Erwählter – vor allem ein Erwählter der Standesgenossen zu werden. – Seine würdevolle Feierlichkeit nahm beträchtlich zu.

Ilse wurde überhaupt nicht nach ihrer Ansicht gefragt, sie war in den Augen aller Zehren mehr und mehr zu einer non valeur herabgesunken, sogar die alten Tanten Lidwine und Askania traten nur noch ganz schüchtern für das Lieblingsnichtchen ein. Papas wohlgemeinte Testamentsänderung, die Ilse sicher stellen sollte, hatte vorläufig dazu geführt, daß sie behandelt wurde, als habe sie gutes Zehrensches Geld veruntreut. Alle Vierteljahr, wenn Justizrat Schilderer ihr die Zinsen ihres Kapitals sandte, mußte sie dieselben Sticheleien von Theophil und Frau von Zehren hören. Hätte sie über ihr Erbteil verfügen können, sie würde es ihnen gern gegeben haben. – Denn was lag ihr an Geldbesitz neben der Einbuße alles anderen!

Das Klavier stand verschlossen, und sie sprach nie mehr von ihren einstmaligen musikalischen Hoffnungen – aber überwunden war der Schmerz darum nicht. Der Verlust ihrer Stimme erschien ihr wie eine ungeheuerliche Grausamkeit – es mußte irgendwo eine Macht geben, die bestimmt hatte, daß sie sich nicht retten durfte aus der trostlosen Hoffnungslosigkeit, was sie aufrichtete, wurde ihr alsobald genommen. Auch Papa war ja gestorben, kaum daß sie angefangen, sich etwas näher zu kommen. – So beugte sie denn den Kopf – nicht in der zustimmenden Entsagung, die beinahe Glück ist, sondern in dumpfer Niedergeschlagenheit, die bisweilen von Anfallen verzweifelnder Auflehnung unterbrochen wurde. – Immer mehr auch haßte sie das ganze kümmerliche Land, die spärlichen Kiefern, in denen der ewig wehende Wind immerzu klagte und stöhnte, den dürren Boden, aus dem die Pflanzen nicht in unwiderstehlichem Lebensdrang, sondern nur wie auf ein Geheiß der Pflicht zu sprießen schienen; und auch die Menschen waren ihr fremd und unheimlich geblieben, es war ihr, als spähten sie alle danach aus, daß ihr Schlimmes geschehen möge. – Nur bei Gräfin Helmstedt fühlte sie sich sicher und wohl.

Im Winter nach Papas Tode hatte Gräfin Helmstedt, die für kurze Seit nach Italien auf ihre Besitzungen reisen mußte, zu Ilse gesagt: »Ich möchte Sie so gern bitten, mit uns zu kommen,« da waren Ilses Augen plötzlich ganz groß und starr geworden vor der Möglichkeit solchen Glücks, doch dann hatte sie müde geantwortet: »Ja, ich weiß, daß Sie das gern für mich täten – aber nachher – da paßte ich wohl noch weniger hierher.« – Die Worte waren aber für sie wie das kurze Öffnen eines Käfigs gewesen, das rasche Erblicken von allerhand Freiheitsmöglichkeiten. Ein Schwindel, ein Verlangen waren ihr davon zurückgeblieben.

In solcher Stimmung war Ilse, als Theophil das Mandat angetragen wurde. – Fort? fort? – Sie wagte kaum daran zu glauben. Schon die nun beginnende Wahlagitation bedeutete ja für sie eine Entlastungszeit, denn Theophil hatte jetzt endlose Besprechungen mit Parteileitern, dem Landrat, allerhand Wahlagenten; dann kamen die Fahrten in die verschiedenen Orte des Kreises, die Wahlversammlungen, die Reden. – während er also daran arbeitete, die Wähler den betörenden Lockungen der Sozialdemokratie zu entreißen, und ihnen eindringlich ihre Pflichten gegen Thron und Altar und die Wichtigkeit der Erhaltung der Scholle vorhielt, hatte er keine Gedanken mehr für die Mängel der eigenen Frau. – Seine Gabe feierlicher Redeweise war auf andere abgelenkt, und da Frau von Zehren gleich zu Beginn der Wahlkampagne die Bewirtschaftung des Gutes übernommen und damit vollauf zu tun hatte, hätte Ilse ganz ungestört im einsamen Weltsöden träumen oder unbemerkt stundenlang bei Gräfin Helmstedt sitzen können. Aber bald genügte ihr das nicht, denn gerade in Frohhausen empfing sie zuerst die Anregung, sich selbst bei der Agitation Zu beteiligen. – Die Gräfin erzählte von Wahlen in England, die sie erlebt, und wie dort auf den Landgütern die Damen, in Ermangelung eigenen Wahlrechts, doch für ihre Männer Stimmung machten. »Wir müssen das arme Kind irgendwie anregen,« erklärte Gräfin Helmstedt ihrem Manne, »und es gibt ja Frauen, die imstande sind, sich für Politik zu begeistern, so daß sie ihnen wirklich ein Ersatz für vieles wird.«

Graf Helmstedt mußte lächeln in Gedanken an Ilses weiche Lippen und große sehnsuchtsvolle Augen, und er antwortete: »Ja, Gisi, die gibt es – aber ich glaube, deine junge Freundin wird sich immer eher für einen Politiker wie für die Politik begeistern. Sie gehört zu denen, die in der Sache immer den Menschen lieben.«

»Ja, den kann ich ihr freilich nicht schaffen,« sagte die Gräfin.

Doch ihre Worte waren bei Ilse auf dankbaren Boden gefallen. Der bloße Gedanke, sich wieder für irgendein Ziel betätigen zu können und dadurch bestimmend in das eigene Geschick einzugreifen, war für Ilse eine Gesundung. Zuerst mit den Frauen der Wähler, dann mit den Wählern selbst begann sie zu sprechen. – Es war auch gar nicht so schwierig, die richtigen Worte zu finden – von allen Herren der Nachbarschaft hatte sie ja immer wieder diese selben Sätze vernommen, leblos hatten sie in ihrem Gedächtnis gelegen. Nun holte sie sie hervor und redete von monarchischer Gesinnung und Schutz der nationalen Arbeit, ohne sich sehr viel dabei denken zu können. – In Weltsöden und den umliegenden Örtern und Dörfern war man ja der Leute ziemlich sicher, und was die Frau des konservativen Kandidaten dort sagte, fand gewiß nur Zustimmung; die Gefahr lag in der Kreisstadt Sandhagen mit ihren kleinen industriellen Betrieben, von dort ging auch die Agitation des Genossen Priebatsch aus, der von der sozialdemokratischen Parteileitung entsandt worden war, um den Kreis Sandhagen, diese Hochburg feudaler Junkerherrschaft, durch die Lockungen billiger Nahrungsmittel und des Koalitionsrechtes der Landarbeiter zu erobern.

Aber sogar bis in die Kreisstadt wagte sich Ilse. Die Handwerker, die sie gelegentlich hatte in Weltsöden arbeiten sehen, suchte sie zu gewinnen und bald wandte sie sich auch an die Ladenbesitzer. Mit tiefem Ernst setzte sie Schuster und Schneider auseinander, daß sie die Landwirtschaft stärken sollten, weil diese die beste Kundin der heimischen Industrie sei. – Der Kutscher Jochem hatte schwere Tage, fuhr nicht der Herr, so fuhr sicher die junge gnädige Frau unter allen möglichen Vorwänden in die Stadt, um diesen und jenen Wähler zu bearbeiten.

Der Genosse Priebatsch begegnete Ilse ein paarmal auf ihren Fahrten, und er schaute mit einem gewissen neugierigen Interesse dieser blutjungen Frau von seltsam zarter Schönheit nach, die mit seinem Gegenkandidaten, auch so einem Brotverteurer und Schnapsbaron, verheiratet war, und die ihm als eine so energische Bekämpferin der Sozialdemokratie geschildert worden war. – Er ahnte nicht, daß es keineswegs altererbte politische Überzeugungen und staatserhaltende Grundsätze waren, von denen Ilse in den Kampf gegen die Umsturzpartei getrieben wurde, sondern daß ihr, wie zuweilen auch anderen, die Politik nur als Mittel zum Zweck diente. Dieser Zweck aber war der gerade so manchem Parteigänger des Genossen Priebatsch wohl verständliche Wunsch, aus der Abhängigkeit ländlicher Stellung in die Stadt zu entkommen, wo auch sie verhältnismäßige Freiheit zu finden hoffte.

Theophil war zuerst verwundert über die Tätigkeitsentfaltung seiner Frau, und dann begann sie ihm zu schmeicheln; er glaubte darin eine späte Verneigung vor seiner Wichtigkeit zu erkennen, den verschämten Wunsch zu entdecken, ihm wenigstens auf einem Gebiete zu dienen.

Theophil wußte von der eigenen Frau eben auch nicht viel mehr wie der Genosse Priebatsch.

– Aber er belobte sie manchmal gönnerhaft, wenn er sah, wie sie eifrig die Flugblätter adressierte, die er an die einzelnen Wähler sandte: »Das ist ja sehr brav von dir, mein liebes Kind.«

Am Wahltag fuhr Theophil mit seiner Mutter und Ilse schon früh in die Kreisstadt.

Und während er im Gasthaus zum schwarzen Adler ausstieg, wo das Komitee seiner Parteifreunde versammelt war, fuhren die beiden Damen zur Landrätin, die sie aufgefordert hatte, den Tag in ihrem Hause zu verbringen, wo sie das Wahlergebnis am raschesten erfahren würden.

Es war ein fortwährendes Kommen und Gehen von allerhand Boten, ein An- und Absausen von Radfahrern, ein Notieren des stündlichen Standes der Stimmen in den einzelnen Wahlbezirken, ein Addieren der schon bekannten Zahlen, ein Weitergeben der einlaufenden Nachrichten an das Regierungspräsidium, ein aufgeregtes Bewerten der noch ausstehenden Ergebnisse. – Um die Mittagszeit, als die Arbeiter aus den Fabriken Sandhagens strömten, und die sozialdemokratische Stimmenzahl plötzlich hoch anschwoll, wurde Ilse ganz beklommen. Ihre Wangen glühten, ihre Hände waren eiskalt – sie vergegenwärtigte sich erst da ganz, wie brennend sie Theophils Wahl wünschte, und was sein Unterliegen für sie selbst bedeuten würde!

Aber am Nachmittag änderte sich das Bild – mehr und mehr konservative Stimmen wurden aus den Dörfern gemeldet. Das wackere flache Land! Wie sehr liebte es Ilse doch in diesem Augenblick!

Bald hatte Theophil die absolute Majorität errungen, und immer noch schwoll die Zahl der ländlichen Stimmen. – Es gab nicht nur einen Sieg, sondern einen glänzenden Sieg.

Stolz auf seinen Kreis trat der Landrat einen Augenblick bei den Damen ein: »Ja Sandhagen, das war doch noch ein altpreußischer Kreis, da war noch Verlaß drauf.« – Und Theophil kam feierlich unter der neuen Würde vom Schwarzen Adler herüber, und Onkel und Vettern drängten nach mit dröhnendem Lachen. – Champagner wurde gebracht, um mit den Damen anzustoßen auf diesen Sieg der guten Sache. Auch Dr. Liebetrau, der gerade des Weges kam, trat ein, um zu gratulieren, und sagte verschmitzt zu Ilse: »Ja, Berlin, das ist für manchen schon ein angenehmer Kurort gewesen.«

Dann fuhren Ilse und Frau von Zehren heim, während Theophil in der Kreisstadt blieb. Im Schwarzen Adler sollte nun ein feierliches Parteifestessen abgehalten werden.

Spät am Abend stand Ilse dann noch lange am Fenster des leeren Zimmers, das seit ihrem Unfall ihr Zimmer geblieben. – Sie schaute sinnend hinab auf den Gutshof. Zwei Jahre waren es her, daß sie da zuerst vorgefahren. – Oft waren die einzelnen Stunden wie Jahre so lang gewesen, und nun erschien ihr die ganze Zeit kurz und schon verschwimmend im großen Nebelmeer all dessen, was vorüber.

Drüben am Giebel des Wirtschaftsgebäudes sah sie das dunkle Gestell des großen Transparentes, das der Inspektor, der Förster und ihre Leute seit Tagen bereit gehalten. Hell hatten vorhin zur Feier des erfochtenen Wahlsieges die Worte: »Hoch Zehren!« in die Nacht hinaus geglänzt. – Jetzt war das Licht längst ausgebrannt. Und Ilse empfand da plötzlich, daß auch in ihrem Leben etwas erloschen war, und daß über einem Abschnitt, an dem nun nichts mehr zu ändern, der Vorhang niedergelassen worden. – Und wie die Nacht da draußen, so lag auch die Zukunft dunkel vor ihr. Bangigkeit vor Unbestimmtem erfüllte sie, und es war ihr, als warte sie zitternd, welch Wort nun am Lebenstransparente vor ihr aufblitzen würde —

Theophil hatte in den Zelten eine kleine möblierte Wohnung genommen, von deren Fenstern aus man zwischen den entlaubten Bäumen des Tiergartens die glatten Wände von Kroll, die Siegessäule und das Reichstagsgebäude hervorschimmern sah. Sein Arbeitszimmer war angefüllt mit Broschüren, statistischen Tabellen und Sitzungsberichten, die er mit Ehrfurcht behandelte, als so viele Beweise eigener Bedeutung. Aber er weilte wenig in der Wohnung. Früh schon griff er nach dem Zylinder, der ihn noch länger und ragender erscheinen ließ und wanderte dann mit dem tiefernsten, sorgenvollen Ausdruck des überbürdeten Staatsmannes hinüber in den Reichstag. Dort verbrachte er seine ganzen Tage und kehrte nicht einmal zur Mittagsmahlzeit heim, denn er hatte für nichts Zeit neben den Pflichten, die er betraut worden war, dort unter der goldenen Kuppel zu erfüllen. Wohl hatten ihm die alten Tanten Lidwine und Askania im letzten Abschiedsmoment zugeraunt, er möge auf ihr liebes kleines Ilschen im großen Berlin gut acht geben, aber die Worte waren verhallt und vergessen – und was wäre das auch für eine Aufgabe neben jener anderen gewesen, die Regierung davor zu hüten, sich vom rechten Wege ab allzu weit nach links verlocken zu lassen, und ihr vorzuhalten, wie sie für die Interessen des »wertvollsten Volksbestandteiles« am besten zu sorgen habe. – Theophil seufzte bisweilen tief auf unter der Last eigenen Verantwortlichkeitsgefühls.

Alles, was jenseits von Heyl und Oriola saß, galt ihm als gefährliche Gesellen, vor deren Anschlägen es hieß, das Reich zu retten; er machte aus diesen Gefühlen kein Hehl, aber auch vor dem Regierungstisch war er der landangesessene, aufrechte Junker. Gegen Staatsminister, besonders solche bürgerlicher Herkunft, nahm er gern die Haltung eines zwar wohlwollenden, aber die Ausgaben mutwilliger Jünglinge doch streng kontrollierenden Vormundes an, und wenn gesprächsweise von diesen Exzellenzen-Herren künftige Forderungen für ihre Ressorts erwähnt wurden, so sagte er gewichtig: »Nun, dabei werden wir doch auch noch ein Wörtchen mitzureden haben.« – Jetzt, wo er sie selbst auszuüben glaubte, hätte er gewünscht, daß die an sich verwerfliche parlamentarische Macht eine größere sein möge. Ihm, der als jüngerer Sohn nie sonderlich beachtet worden, und der dann auch später vor der des Herrschens gewohnten Mutter sich stets weiter gebeugt hatte, schmeichelte es, nun plötzlich von einem ganzen Ministerium als ein Machtfaktor anerkannt zu werden. Begegnete er Soldaten in den Straßen Berlins, so sagte er sich wohlgefällig: »Die existieren, weil wir sie bewilligt haben.« Und voller Genugtuung dachte er an die Schlachtschiffe, deren Bau von seinem Ja oder Nein abhängen würde; an die Reichssubsidien, die er den Dampferlinien zu gewähren oder zu entziehen vermochte. Die Sicherstellung von Kranken und Altersschwachen hing von seiner Stimme ab, ja, ihr Einfluß drang bis weit über die Meere, wo er, an den fernen Gestaden deutscher Kolonien, Bahnbauten und Hafenanlagen verhindern oder entstehen lassen konnte. – Er nahm sich selbst so feierlich ernst und wichtig, daß man auf ihn aufmerksam wurde und sich zu fragen begann, ob dieser hagere Neuling mit dem allzu kleinen Kopf auf dem allzu langen Halse, den abschüssigen Schultern und der wie eine Champagnerflasche wirkenden Silhouette etwa berufen sein sollte, ein Führer zu werden.

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
30 августа 2016
Объем:
400 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

С этой книгой читают