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Читать книгу: «Ille mihi», страница 8

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Und unterdessen schaute sich Ilse mit erstaunten Augen in der Berliner Welt um. Sie empfand etwas Erwartungsvolles, wie schon so mancher beim Betreten der großen Stadt, der in ihr etwas zu werden oder etwas zu finden hoffte. Neue, erhöhte Lebenskraft regte sich in Ilse, und sie schritt hier straffer durch die asphaltierten Straßen, als auf den sandigen Weltsödener Wegen. Dort gab es nie Unvorhergesehenes, man konnte mit geschlossenen Augen schleichen; hier galt es aufpassen, um beizeiten drohenden Zusammenstößen auszuweichen oder Grüße von Bekannten zu erwidern. Und auch die vielen Vorbeieilenden, nie zuvor Gesehenen, lohnte es, anzuschauen, dem Lebensgeheimnis nachzusinnen, das ein jeder mit sich tragen mochte. Manchmal war es Ilse dann auch, als ob sie in den Augen dieses oder jenes hastig seines Weges Gehenden ein plötzliches Interesse aufflackern sähe, als wollten seine Blicke sagen: Wie bist du jung, – wie bist du schön.

Ilse wäre in diesen ersten Herbstwochen aber doch recht einsam in Berlin gewesen, wenn sie nicht Helmstedts dort vorgefunden hätte. Die wurden ihr Führer und Erklärer in dieser neuen Welt.

Graf und Gräfin Helmstedt hatten für den Winter eine Wohnung in einem der großen Berliner Hotels bezogen. Sie schützten zwar Gesundheitsrücksichten vor und gingen weder an den Hof noch zu großen Festen, aber ihr eigener Salon füllte sich bald mit den vielen Leuten verschiedenster Kreise, die ihre Freunde geblieben, und auch mit den anderen, für die es ein Kuriosum, eine Sensation, etwas wie eine Premiere auf der Weltbühne war, »Helmstedts nach dem Sturz« zu sehen.

Aber die Stimmung, Schiffbrüchige geworden zu sein, die jenen eigen, die nur durch ein Amt etwas bedeuteten, herrschte bei Helmstedts nicht. Der Gräfin merkte man sogar die Erleichterung an, offizieller Pflichten ledig, mehr noch als früher ihren künstlerischen Neigungen leben zu können, und der Graf blickte mit wehmütig ironischer Abgeklärtheit auf frühere Kollegen und neuerliche Nachfolger, die in ihren Botschaften oder Ministerien scheinbar wie in uneinnehmbaren Festungen saßen, von Bekannten und Untergebenen geflissentlich wie Ewigkeitswerte behandelt wurden, und die doch auch, bald vielleicht, für ersetzbar befunden werden würden. Eintagserscheinungen waren sie ja alle, wie er selbst. Da ihm bedeutet worden, daß er sein Tagewerk getan, mochten nun andere sich mühen – er schaute ihnen zu, neidlos und ohne Bitterkeit. »Die Leiter der Menschen sind wie Läufer, die Fackeln tragen,« pflegte er zu sagen, »nach einem bestimmten Stück Wegs müssen sie sie, so oder so, doch immer anderen schon wartenden Händen überlassen.«

Nachdem man sich überzeugt, daß Helmstedts offenbar nichts wollten und daher auch nicht gefährlich werden konnten, und nachdem man sich natürlich auch vorsichtig vergewissert hatte, daß es von »oben« nicht übel vermerkt werden würde, begann auch die offizielle Welt, die zuerst gezaudert, bei ihnen zu erscheinen. Meist zu zweien, um es auf alle Fälle nicht allein gewesen zu sein, rauschten die Exzellenzen-Damen herein, mit einem Krankenbesuchen angemessenen Ausdruck und der deutlichen Absicht, recht freundlich zu sein gegen »die arme Helmstedt« – und dann rauschten sie nach einer Weile wieder heraus, ohne recht Gelegenheit gefunden zu haben, diese Vorsätze auszuführen, weil sie mit einer gewissen überlegenen Liebenswürdigkeit empfangen worden waren, vor der solch gütiges Gebenwollen völlig unangebracht erschien.

Nach einem solchen Besuche sagte Gräfin Helmstedt zu Ilse: »Das sind alles in ihrer Art tüchtige Leute, aber eine gewisse Grazie, die des Lebens Härten mildert, geht ihnen meist ab. Uns Ausländern fällt es besonders auf, daß angeborene Liebenswürdigkeit hier selten ist.«

Theophil, dem Ilse dies erzählte, meinte dazu: »Wir haben es ja auch gar nicht nötig, für liebenswürdig zu gelten; es genügt uns, gefürchtet zu sein. Liebenswürdigkeit hat mir stets etwas Suspektes – etwas welsch Jesuitisches; es ist keine der Tugenden, durch die Preußen groß geworden.«

Selbst beobachtend, glaubte Ilse manches wahrzunehmen, was die Worte ihrer Freundin bestätigte. Sie lernte die Leute kennen, die sich so viel dünken, daß sie es nicht mehr für nötig halten, sich um irgendjemand zu bemühen – und die anderen, die so viel erst werden möchten, daß sie sich noch aller Welt angenehm zu machen und in jedem Lager Freunde zu erwerben trachten. Hieraus entstanden seltsame Nüancen im Verkehr. Die Manieren, die Begrüßungen, die ganzen Umgangsformen erschienen danach abgestuft und wohl berechnet. Es gab ältere Damen, über die junge Frauen zu Ilse geringschätzig flüsterten: »Es lohnt sich nicht, sich denen vorstellen zu lassen – die geben ja doch nichts.« Und andere wiederum, die stets von einem Gedränge umgeben waren. Auch konnte man aus der Art, wie eine Frau empfangen wurde, beinahe genau berechnen, was der Rang ihres Mannes sein mußte. Es war oft, als ob nicht Menschen, sondern lebendig gewordene Titel miteinander verkehrten.

So hörte Ilse einst bei Gräfin Helmstedt eine Staatsministerin zu der Frau eines Rats aus demselben Ministerium sagen: »Wie seltsam, daß ich Sie heute hier treffe, ich habe nämlich gerade heut nacht von Ihnen geträumt.« Worauf die Jüngere sich halb erhob, eine Verbeugung andeutend und devot stammelte: »Aber Exzellenz, das wäre doch an mir gewesen.«

Bei Helmstedts, wo Ilse täglich stundenlang war, sah sie an sich vorüberziehen, was sich so Berliner Gesellschaft nennt – eigentlich lauter streng abgetrennte Zirkel, die sich nur äußerlich berührten.

Da gab es Hofleute, die ihren hohen Herrschaften wie Priester ihren Gottheiten dienten, und sich selbst dabei auch ungefähr wie von Gottes Gnaden vorkamen; sie zerfielen in die leise Säuselnden, von Kirchenbau Redenden und Spenden zu Wohltätigkeitszwecken Entlockenden, und in die anderen, die mehr eine kernig forsche Urwüchsigkeit hervorkehrten, um so ein unbeugsames Rückgrat zu markieren. Hofdamen, die auf zaghaft scheue, neu vorgestellte Debütantinnen wie heranschwimmende Eisberge bei Meerfahrten wirkten, Kälte verbreitend und die Angst erweckend, daß, wenn man auch scheinbar glatt an ihnen vorbeikäme, doch in submarinen Tiefen dauernd schädigende Zusammenstöße drohen könnten.

Bei Helmstedts traf Ilse auch manche der Fürstlichkeiten, aus der zweiten und dritten Abteilung des Gothaer Hofkalenders, die, von der sommerlichen Stille ihrer Schlösser kommend, die Wintermonate in dem zurzeit gerade als vornehmstes geltenden Berliner Hotel verbrachten. Es kam vor, daß die einen oder anderen unter ihnen sich gerade in irgendeiner Etikettenfrage von oben her verletzt fühlten; die gestatteten sich dann ein mildes Frondieren und besuchten die in Ungnade gefallenen Helmstedts mit einer gewissen Ostentation, um ihre eigene Unabhängigkeit zu beweisen. Sie bildeten ein parterre de princes, das die Botschafter zu den Festen einluden, die sie für die Allerhöchsten gaben. Familien wie den Zehrens aber waren sie verhaßt, weil sie mehr und mehr den mittleren preußischen Adel verdrängten, ihm finanziell die soziale Konkurrenz unmöglich machten. Die Zehrens hatten gegenüber dem größeren Wohlstand, der raffinierteren Eleganz und kosmopolitischeren Gewandtheit all dieser Durchlauchten nur den einen Trumpf des Alters ihrer Familie in Händen. – Aber mit dem ließ sich nicht viel ausstechen! – In einer Zeit, die auf politischem Gebiet die gemäßigten Parteien vor dem Vordringen der extremen zusammenschrumpfen und mählich verschwinden sieht, vollzieht sich ein gleiches in der sozialen Arena. Der alte eingesessene Landadel mit seinem mittleren Wohlstand muß weichen, und als Überlebende im gesellschaftlichen Wettbewerb bleiben nur übrig: die Gruppe der kleinen Fürstlichkeiten mit ihrem Anhang und – die kommenden Herrschergeschlechter aus der Finanz und Industrie.

Und auch diese Finanzfürsten lernte Ilse kennen. Männer, die durch die Fähigkeit, gute Geschäfte abzuschließen und nie für etwas zu teuer zu zahlen, groß geworden waren, die aber zur Erreichung ihrer sozialen Ambitionen keinen Preis zu hoch fanden und hier sehr reale gegen völlig imaginäre Werte umtauschten. – Ein Titel, ein kleines Wörtchen vor dem auf den Weltmärkten doch weit und breit berühmten Namen, die standen bei ihnen hoch im Kurse. Ländliche Namen vom Schlage Rinas in der Zukunft hielten sich auf über solch modernen Zuwachs der Hofgesellschaft, aber Gräfin Helmstedt, der eine ichthyosaurenhafte Edelfrau aus pommerschem Uradel über eine Regierung klagte, »die so verschwenderisch den Adel verliehe,« antwortete: »Ich finde es eigentlich kaufmännisch richtig, diese Ware loszuschlagen, so lange sich noch Liebhaber dafür finden – es könnte doch eine Zeit kommen, wo auch Titel zu entwerteten Ladenhütern würden.«

Vorläufig schien diese Gefahr noch nicht nahe. Und war erst der Hof mit Müh und Not erreicht, »wo,« wie eine unbeugsame Magnatenfrau bemerkte, »man ja überhaupt allmählich die schlechteste Gesellschaft trifft« – so galt es, einzudringen in die kleinen, exklusivsten Koterien. Leute, die den Kredit ganzer Staaten nach Belieben zu beeinflussen vermochten, trachteten mit heißem Sehnen nach einem Stückchen mit einer Einladung bedruckten Karton, aus irgendeinem besonders schwer zu erobernden Hause. Und staunend hörte Ilse einen der ganz großen Geldgewaltigen, von dessen Wort Wohl und Wehe ganzer Arbeiterbataillone abhingen, strahlend erzählen: »An den Hof kommen ist schließlich leicht, aber gestern bin ich auf einem intimen Diner bei dem Herzog von X. gewesen – da war die Gesellschaft mal wirklich fein durchsiebt.«

Aber ungeachtet dieser kleinen, nun einmal zur menschlichen Komödie gehörenden Seiten, mußte man doch dem Grafen Helmstedt recht geben, wenn er sagte: »Unter diesen Leuten stecken heutzutage unsere ganz großen Kerls.« Diese Männer und ihre Väter waren es ja, die Deutschland von einem für die anderen Nationen so bequemen und ungefährlichen Volk kleiner, mit bescheidenen Verhältnissen und geringem Gewinn zufriedener Händler, zu einem der größten Erwerber der Welt gemacht hatten. Mit der den genialen Finanzführern eigenen Witterung für den Erfolg, hatten sie einst die Mittel bereit gehalten für die großen Kriege, die das Land politisch an erste Stelle rückten. Und seit jener in heroischer Zeit geschaffenen fundamentalen Wandlung, hatten sie rastlos an dem materiellen Gedeihen und Ansehen des neu erstandenen Reiches gearbeitet. Ihre Banken waren zu Welthäusern angewachsen, befreit von fremder Bevormundung. Und das ganze Aussehen der Welt war durch sie ein anderes geworden, denn bei ihnen ja hatten die großen Erfinder die Mittel zur Materialisierung ihrer kühnsten Gedanken gefunden. Bisher unbekannte Naturkräfte waren erforscht und dienstbar gemacht, neue Heil- und Zerstörungsstoffe entdeckt worden. Zu ihrer Verwertung hatten die Herren des Geldes die großen Farbwerke, die Pulverfabriken, die elektrischen Gesellschaften geschaffen, neues Licht leuchtete auf Erden, mit neuen Geschwindigkeitsmöglichkeiten rechnete der Verkehr. Die Grenzen des als erreichbar Denkbaren waren um weite Spannen hinausgeschoben. – Und in noch viele andere Nebenflüßchen und Kanäle sickerten die mächtig treibenden gelben Fluten! Keine Kirche wurde gebaut, kein Krankenhaus noch Säuglingsheim gegründet, ohne daß man die Meister der goldenen Ströme um Beihilfe angegangen hätte; zu Kunsterwerbungen für die Museen, zu Erweiterungen wissenschaftlicher Institute, zu Erforschungen ferner unwirtlicher Weltstriche mußten sie beitragen – ja es wurden sogar die Summen angegeben, »die man von jedem einzelnen erwartete« und es kam vor, daß dabei ganz einfach eine Null der vom Geber ursprünglich beabsichtigten Spende angehängt wurde. Eine zweite Besteuerung war es, von schonungsloser Einschätzungskommission erhoben! – Und die also Gepreßten gaben, gaben immer wieder. Manchmal aus Interesse für die Sache, häufiger aus Interesse für die Personen, in deren hohem Namen gesammelt wurde, meist wohl, weil es so viel bequemer war, durch rasche Unterzeichnung eines Schecks den leidigen Bittgänger los zu werden, wie sich der Mühe höflicher Ablehnung zu unterziehen.

Neben diesen Einheimischen lernte Ilse nun auch zum erstenmal Ausländer kennen, denn naturgemäß verkehrten bei Helmstedts viele Diplomaten – Diplomaten, die, in diesem von keinem Fremden so recht geliebten Lande, schärfer noch wie anderswo die traditionelle Kritik an dem jeweiligen Posten übten, und die dabei noch so sehr unter der Suggestion des gefürchteten Bismarckschen Geistes standen, daß sie immer wieder vergaßen, wie rasch dieser geschwunden, und die weit ausschauende Pläne und tückische Absichten dort vermuteten, wo man in Wahrheit sich immer mehr ziellos treiben ließ und in dem Ausweichen vor Zusammenstößen eine ängstliche Geschicklichkeit übte. – wie wenig aber solch nervöses Zagen den tatsächlichen Machtverhältnissen entsprach, das hätten wohl am besten gerade die fremden Militärbevollmächtigten bezeugen können, die mit lauerndem Blick nach der Scharte des Schwertes und der Lücke in der Wehr vergeblich spähten.

Denn ihnen gegenüber standen ja jene, an deren wert in der ganzen Welt kein Zweifel besteht. Viele waren damals noch darunter, die einst kämpfend des Volkes Einheit geschaffen – Namen trugen sie, bei deren Klang Ilse war, als tönten eherne Glockenschläge. Und diesen erprobt Besten des Landes reihten sich in langem Zuge die ihnen nachstrebenden jüngeren Geschlechter an. Da waren die Herren mit den karmoisinroten streifen, die so viel rastlose, vorsorgende Arbeit leisten, und bei deren Anblick man denkt: »Die da wachen für uns, wir können getrost sein.« Und die vielen Tausend braven Leutnants der deutschen Armee, von denen ein paar Dutzend in jenem Winter gerade in Berlin ausgingen und Ilses Tänzer wurden.

Aber besonders fühlte Ilse sich zu den Marineoffizieren hingezogen. Sie erschienen ihr wie die jüngeren Söhne der großen militärischen Familie, die darauf brennen, sich gleich den älteren hervorzutun und auch Ruhm und Namen zu erwerben. Etwas der eigenen Begeisterungsfähigkeit verwandtes, den Wunsch, sich einmal für ein hohes Ziel ganz hingeben zu können, fühlte Ilse ihnen an. – Vielleicht würden sie alle dereinst in künftigem Kampfe fallen, sicher aber kehrte keiner anders wie ehrenbedeckt heim!

Oft auch saßen an Gräfin Helmstedts Kamin jene anderen Pfeiler deutscher Größe, Gelehrte mit hohen durchfurchten Stirnen und grübelnden Denkeraugen. Bergesgipfeln glichen sie, die am frühesten den Strahl aufgehenden Tageslichts auffangen, und von denen es dann langsam hinabdringt zu den Ebenen. Menschen, die vorausdenken, was dann die anderen ihnen nachdenken müssen. – Vorsichtig, beinahe schüchtern im Ausdruck waren die besten dieser immer weiter tastenden Sucher, wohl wissend, daß heute Wahrheit scheinen mag, was morgen schon Irrtum ist. Aber neben diesen echten sah Ilse auch dieses Berufes Talmigottheiten, Leute, die, wie auch manch bis dahin ungenannter Schriftsteller oder Künstler, zu allgemeinem Staunen, in den Stand offizieller, aber ephemerer Berühmtheit versetzt worden waren.

Gräfin Helmstedt besuchte im Laufe des Winters mit Ilse auch manche Ausstellungen und Ateliers – selbst die der verwegensten Neuerer auf den Gebieten der Kunst, denn wenn sie auch selbst aus klassischem Lande stammte, so war sie doch weitherzig in ihren Interessen, und das noch Unverständliche erschien ihr darum nicht unberechtigt. Die Seher geschwungener, sich symphonisch verschlingender und entwirrender Linien, die anderen, die die Natur in mosaikartig nebeneinander gesetzten Farbentupfen darstellten, die Massenverbrauchs! von Ölfarbe, die ihre Bilder mehr kneteten wie malten, die Zeichner, die mit etwas Tusche all den grauen farblosen Jammer ganzer Menschenklassen auf ein Blatt Papier zu bannen trachteten; die bitteren Karikaturisten mit dem ätzenden vernichtenden Griffelstrich, und ihre ausgelasseneren Brüder, denen alles nur Gegenstand verzerrenden Lachens war – sie alle betrachtete die Gräfin mit freundlichem Lächeln und meinte, daß aus all diesem verwirrenden Brodeln sicher noch einmal das große, moderne, neue Wege und Formen schaffende Genie geboren werden würde. – Theophil dagegen war all diese noch werdende und tastende Kunst ein Greuel, er war der Meinung, daß es Not täte, den Künstlern von oben eine bestimmte Marschroute vorzuschreiben: all diese Ungebundenheit widerte ihn an, weil er so etwas wie sozialdemokratischen Geist dahinter witterte.

Ja, mancherlei Gestalten sah Ilse unter Gräfin Helmstedts Führung! Schmerzlich nur war ihr das Zusammentreffen mit den vielen Musikern, die sich bei der Freundin versammelten. Zu stark regte sich dann in ihr die Erinnerung an jenen kurzen Traum allereigensten Lebensinhalts und Zweckes. Am deutlichsten ward ihr dies bei einem Konzert, das die durchreisende Lydia Neuland in Berlin gab. Wie Ilse all jene Lieder nun wieder vernahm, die sie selbst unter Lydias Anleitung einst geübt, da glaubte sie, bei jedem Ton nicht nur die volle Stimme der Sängerin, sondern, einem fernen leisen Echo gleich, auch den Klang der eigenen toten Stimme noch einmal zu hören – und in ihr stiegen all die wehen Gedanken auf, die durch der Tage Abwechslung eingeschläfert worden, von denen sie aber trotzdem wohl gewußt, daß sie wartend doch immer da gewesen – denn ihre Seele wies ja dumpfe Stellen, in denen der Schmerz schlummerte und bei der ersten harten Berührung erwachen konnte.

Oftmals genügte ein Wort, ja der bloße unerwartete Anblick Theophils, sie, wie in einem Blitzlicht, erkennen zu lassen, was hinter all den neuen gleitenden Erscheinungen die einen Augenblick vergessenen und doch unabänderlichen Faktoren ihres Lebens waren. Gerade angesichts all der Möglichkeiten, die hier die Welt von allen Seiten bot, kam es ihr mit voller Grausamkeit zum Bewußtsein, daß sie im Schlafwandel der Jugend in eine Falle geraten war, aus der sich herauszuarbeiten alle Jahre des Lebens nicht lang genug sein würden. Dann überkam sie Hoffnungslosigkeit, mitten in dem bewegten Treiben, und gleichgültig schien alles neben dem Einen, das blieb.

Aber sie suchte solche Stimmungen abzuschütteln, denn viel wackere Tapferkeit lebte in ihr – und sie hatte auch schon die der verschwenderischen Jugend meist fremde Kunst erlernt, gute Tage nicht ungenutzt zu vergeuden.

Und gute Tage waren diese ersten Berliner Zeiten.

Erst später einmal sollte Ilse erkennen, daß sie, wie alle vorherigen Jahre, nur ein Vorspiel gewesen.

*

Neben all dem Neuen hatte Ilse aber auch etwas sehr Altbekanntes in Berlin gefunden. Greinchen lebte seit Papas Tod von der Pension, die er ihr ausgesetzt, in einem der in früheren Kiefernwäldern entstandenen Vororte, und war dort umgeben von den alten Mahagonimöbeln aus den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, die er ihr vermacht hatte. Da stand der Sessel mit dem verstellbaren Buchhalter an der Armlehne, der viereckige Ofenschirm, in den das mit Perlen gestickte Bildnis eines weißen Hündchens eingelassen war, die Chiffonniere, durch deren Glasscheiben man ein Idyll von Porzellanlämmern gewahrte, das Sofa, dessen Bezug aus schwarzem Roßhaargewebe mittels Nägel mit weißen Porzellanköpfen gespannt war. Weiße, gehäkelte Antimakassars lagen auf den Polstermöbeln, und ein ebensolcher Schoner schützte die bunten Blumen der Plüschdecke auf dem runden Tisch mit den Klauenfüßen. Über der Mitte des Sofas aber hing an der Wand eine Photographie Papas, um die eine schwarze Kreppschärpe geschlungen war. – Und inmitten all dieses altväterischen Hausrats, der aus Zeiten geistiger und politischer Einengung stammte, war ein völlig neues, fortschrittlich modernes Greinchen erwacht. Zwar brachte sie dem Kind, wie sie Ilse nannte, die gleiche altgewohnte Herzlichkeit entgegen, aber daneben entdeckte Ilse auch gänzlich Unerwartetes in dem ältlichen Fräulein mit dem gutmütigen Bulldoggengesicht. Denn Greinchen, die Jahrzehnte ihres Lebens ganz dem Dienste eines kränkelnden, oft griesgrämigen Mannes geweiht, der ihre Aufopferung kaum bemerkt hatte, war jetzt in ihrem vorgerückten Alter unter die Frauenrechtlerinnen vorgeschrittenster Richtung gegangen. War es nur der Einfluß der großen Stadt oder ein Bestreben, etwas von ihrer eigenen, grenzenlosen und unbeachteten Hingebung nachträglich zurückzunehmen – jedenfalls besuchte Greinchen jetzt eifrig Versammlungen zu Gunsten des Frauenstudiums, unterzeichnete scharfe Resolutionen und sprach selbst, mit erhitzten Wangen und bebender Stimme, von der Ausnutzung des Weibes durch den Mann, von dem Rechte auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, von dem Anspruch auf die nämlichen Bildungsmöglichkeiten. All diesen beredt vorgetragenen Theorien und Forderungen lauschte Ilse ehrfürchtig und erstaunt, daß so viel geistige Regsamkeit in dem kleinen dicken Fräulein gesteckt, das sie selbst doch früher stets so viel minder bewertet hatte, – aber wenn Greinchen mit viel Entrüstung, aber wenig Sachkenntnis, auf »die Knechtung der Frau in der Ehe« zu sprechen kam, da zuckte ein wehmütig überlegenes Lächeln um Ilses Lippen, und sie fühlte, daß sie der erregten Frauenrechtlerin über dieses eine Kapitel viel aufklärende Winke aus eigenster Erfahrung hätte geben können.

Ilse hatte Greinchen zu einigen Vortragsabenden begleitet, und dabei war ihr zum ersten Male zum deutlichen Bewußtsein gekommen, daß Frau sein eigentlich nichts anderes heißt, wie zu den Menschen zweiter Kategorie zu zählen. Sie selbst, wie alle die Frauen, die da in dem Saale sich versammelt hatten, gehörte zur großen Schwesterschaft der minder Berechtigten. Aber während sie selbst für ihren persönlichen Fall dies stets als etwas Unabänderliches empfunden hatte, trachteten jene durch Agitation und Propaganda dagegen anzukämpfen und ihre Lage zu verbessern. Das Tapfere, das in der Aufnahme solch ungleichen Ringens lag, erregte Ilses Sympathie, und sie begriff, daß diese Frauen ihre ganze Energie und Kraft dafür einsetzten, den nach ihnen Kommenden bessere Entwicklungs- und Betätigungsmöglichkeiten zu schaffen, vielleicht würde es ihnen auch wirklich gelingen, allmählich das Los der Millionen erwerbstätiger Frauen günstiger zu gestalten. Ja, den vielen war vielleicht ein klein wenig zu helfen. – Was aber vermochte Gesetzgebung für eine einzelne arme Frau, die sich im Lebensweg geirrt?

»Hast du eigentlich Justizrat Schilderer schon mal gesehen, seit du in Berlin bist?« fragte Greinchen, als Ilse eines Tages wieder in ihr Vororthäuschen kam.

»Nein,« antwortete diese, »ich bin absichtlich nicht zu ihm gegangen, weil ich weiß, daß es Theophil nicht recht sein würde – er schreibt ja Schilderers Einfluß Papas Testament zu, durch das ihm die Verwaltung meines väterlichen Erbes entzogen ist.«

»Na,« sagte Greinchen mit pfiffig frohem Lächeln, »wer nun auch damals deinen Vater dahin beeinflußt haben mag, hat dir auf alle Fälle einen großen Dienst geleistet.«

»Ach weißt du,« erwiderte Ilse seufzend, »bisher hab ich davon nur Reibereien und stichelnde Bemerkungen von Theophil und seiner Mutter.«

»Das will ich gerne glauben,« sagte Greinchen. »Sie fühlen eben, daß dir dein Vater damit die materielle Grundlage künftiger Unabhängigkeit hat bereit halten wollen.«

»Künftiger Unabhängigkeit?« wiederholte Ilse fragend.

»Nun ja,« antwortete Greinchen ganz trocken und geschäftsmäßig, »während unseres Aufenthalts in Weltsöden ist es deinem Vater und mir doch völlig klar geworden, daß du es in der dortigen Umgebung und Behandlung nicht sehr lange würdest aushalten können, und daß wohl auch deine Ehe zu denen gehören wird, über die die Welt das Nähere bei der Scheidung erfährt.«

»Aber Greinchen!« rief Ilse, »und das alles sagst du mir so ganz ruhig und wie … selbstverständlich!«

»Ja, liebes Kind,« antwortete das alte Fräulein, »warum sollte ich mich denn beim Gedanken an ein so häufiges Vorkommnis aufregen? Viele der Frauen, mit denen ich heute zusammen arbeite und kämpfe, haben genau das früher mal durchgemacht; auch sie hatten sich im Wege geirrt und haben dann ihre Freiheit zurück erobert. Dem Wert ihrer Persönlichkeit hat es nichts geschadet, und sie haben erst nachher ihr eigentliches Tätigkeitsfeld gefunden. – Die Hingabe an einen Mann,« dabei sandte Greinchen einen langen Blick zu der mit Krepp umschlungenen Photographie über dem Sofa, »die wollen ja die meisten Frauen durchaus mal kennen lernen – aber, glaub mir, die Männer sind und bleiben nun mal die ewig Verständnislosen, die Unterdrücker! Der Kampf für die Rechte der eigenen Geschlechtsgenossinnen gewährt eine ganz andere Befriedigung. – Auch du wirft noch zu uns kommen, wenn du dich erst frei gemacht hast.«

»Ja, Greinchen,« sagte Ilse, »ich will ja gar nicht versuchen, vor dir zu tun, als ob ich mit Theophil etwa glücklich wäre – aber um mich, wie du sagst, frei machen zu können, müßten doch wohl noch ganz andere Gründe vorliegen – er hat mir ja schließlich kein besonderes Unrecht angetan.«

»Na, warte nur nicht, bis er dir eines vorwerfen kann,« erwiderte Greinchen. »Und, Ilse, vergiß nicht, zum nächsten Referat über die Lage der Fabrikarbeiterinnen zu kommen.«

Während Ilse nun Greinchens von Kiefern umstandenes Häuschen verließ, den im Sande abgesteckten Straßen der künftigen Villenkolonie bis zum Bahnhof folgte, und sie dann in dem Vorortzug zur Stadt zurückfuhr, hallten die eben vernommenen Worte noch lange in ihr nach. Es war so seltsam gewesen, sachlich nüchtern erörtern zu hören, woran sie bisher zu denken kaum je gewagt. Eine gewisse Beruhigung hatte freilich darin gelegen: etwa, als ob in einen finsteren Raum, wo sie allerhand Spuk vermutet, ein plötzlicher Lichtschein gefallen wäre und offenbart hätte, daß da in Wirklichkeit nur allerhand nützliche Geräte standen. Aber zugleich welch beängstigender Ausblick auf Streit und peinliche Unterredungen, auf Enthüllungen innerster, verborgener Erlebnisse. Oh, besser tausendmal, es alles weiter tragen, und daß nicht zu allgemeinem Gesprächsstoff würde, was so unendlich schmerzlich war! – Und dann mußte Ilse lächeln: Wie war Greinchen, deren eigenstes Leben in stillster, ereignislosester Hausbackenheit verlaufen, für andere doch so rasch zur Heraufbeschwörung schwerster Konflikte und äußerster Entschließungen bereit! Und als Ersatz und Trost für alles andere das Selbstvergessen in der Frauenfrage? Das mochte in Greinchens Jahren vielleicht möglich sein, aber für sie selbst? Ach nein! – Und dunkel fühlte Ilse, daß ihr noch nicht gegeben, in der Not der Millionen die eigene, oft so brennende Glückssehnsucht zu vergessen.

Der Vorortzug hatte das freie Land verlassen, wo heute noch der Pflug die Erde aufwarf und todgeweihte Kiefern standen. Bald würden sich an ihrer Stelle neue Häuser erheben, und einige aus den Millionen würden hier draußen wohnen – wie Vorposten, denen bald die großen Scharen folgen. Der Zug, der draußen im flachen Lande ein weithin sichtbarer, eilender, schwarzer Streifen gewesen, – über dem ein zweites duftigeres, weißes Band schwebte, das mit ihm geeilt war, – glitt nun auf hohen Bogen zwischen den ersten ragenden Häusern hinein in die riesige Stadt. – Er verschwand darin wie verschlungen, sein weißer Dampf ward aufgesogen von all dem anderen, was da auch qualmte, rauchte, fauchte, und die Menschen, die er gebracht, und die draußen in der Leere wie Persönlichkeiten erschienen waren, verschwanden hier im Gewühl gleich Atomen.

*

Es kamen nun trübe, lastende Wintertage.

In den Zimmern war es so dunkel, als hingen vor allen Gegenständen graue Schleier, durch die sie nur undeutlich hindurchschimmerten. In den Ecken verdichtete sich das Grau zu tiefer Finsternis, die Geheimnisvolles zu bergen schien. Wie Schatten im Nebel bewegten sich die Menschen, wenn das Hausmädchen morgens in Ilses Zimmer trat und die Vorhänge aufzog, sickerte ein schwacher Schimmer fahlen Lichtes herein, aber schon ein paar Schritte vom Fenster entfernt war es erloschen und untergegangen in all dem lastenden Grau.

Alle Morgen traf Ilses erster Blick drei bunte Drucke alter englischer Rennbilder, die ihrem Bette gegenüber hingen und auf denen in dieser möblierten Wohnung schon die Blicke so vieler Mieter geruht haben mochten. Das eine stellte vor, wie ein ganzes Feld schlanker sehniger Pferde mit Jockeys in buntem Dreß zum Start bereit steht; der Starter hält das Fähnchen, mit dem er das Signal geben soll, und das ganze Feld wartet auf das Zeichen – seit fünfzig Jahren wartet es schon so! – Auf dem zweiten Bild wird ein Graben genommen – ein Pferd ist dargestellt, wie es eben beim Sprung hoch in der Luft schwebt. Viele Generationen von Pferden sind gekommen und gegangen, aber dies eine bleibt immer so zwischen Himmel und Erde hängen. Das dritte Bild zeigte die Tribüne. Eifrig beugen sich all die Damen in frühviktorianischen Trachten nach einer Seite, um die Pferde beim Finish zu sehen, und unten im Paddock recken sich Jockeys und Sportsleute in Vatermördern und seltsam hohen Hüten die Hälse aus, um von weitem den Sieger zu erkennen – aber sie können ihn noch immer nicht erblicken, ob sie gleich so viele Jahre ausschauen. Die drei Bilder waren Ilse allmählich zu einem Alpdruck geworden, sie empfand sie als Fragen, die endlich mal gelöst werden mußten. Manchmal in den Nächten dachte sie: Ob nun wohl der Sieger eintrifft? Aber der nächste Morgen zeigte, daß er noch immer nicht durchs Ziel gegangen.

So war der Tag des Vortrags über die Lage der Fabrikarbeiterinnen gekommen, und Ilse sagte Theophil, daß sie ihm gern beiwohnen wolle. Doch er erwiderte, das sei unmöglich, weil er für sie beide eine Einladung zur Soiree bei Herrn von Tolck-Engel, einem einflußreichen Parlamentarier, angenommen habe. – »Überhaupt steckst du mir zu viel in all diesen Dingen,« sagte er ärgerlich, »und was heißt das: die Lage der Fabrikarbeiterinnen bessern zu wollen? – Wenn sie sich mit dem Verdienst ihrer Männer zufrieden geben und hübsch bescheiden leben wollten, wie früher, brauchten sie überhaupt nicht in die Fabriken.«

»Viele haben wohl keine Männer,« sagte Ilse zaghaft, denn sie fühlte sich trotz Greinchens Belehrungen unsicher auf den Gebieten der Frauenfrage.

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
30 августа 2016
Объем:
400 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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