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Читать книгу: «Ille mihi», страница 6

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Weit über Erwarten hatte sich Frau von Zehrens Aufenthalt bei ihrer erkrankten Schwester ausgedehnt, doch endlich war sie dort entbehrlich und kehrte heim. Und alle Sorgen, die sie während der langen Abwesenheit geplagt, erwiesen sich als unbegründet, denn in Reih und Glied standen in der Speisekammer die Gläser eingemachter Beerenobste; und im wohlverwalteten Küchengarten waren die Gemüse in sorgsam erwogener Anordnung gesät, so daß sie bis zum späten Herbste erfreuliche Reihenfolge versprachen. Weise auch hatte Mamsell die große Wäsche gerade vor Rückkehr der gnädigen Frau Mutter beendet, und in den lavendelduftenden Schränken lagen die schimmernden weißen Linnen, wie reine Gewissen, die auch vor strengster Prüfung nicht zu bangen brauchten. – So konnten denn die äußerlichen Dinge selbst vor Augen bestehen, die eigentlich Mängel zu finden wünschten, und die Gereiztheit, mit der Frau von Zehren stets von Reisen heimkehrte, mußte andere Gebiete suchen. Und da fand sie, daß der Geist des Aufruhrs, den Pastoren und weltliche Autoritäten so häufig rügen mußten, auch in ihr bisher wohlgehütetes Reich gedrungen war. – Als Frau von Zehren am Morgen nach ihrer Ankunft gesagt hatte: »Nun will ich mal überall revidieren,« war der Schwiegertochter gleichgültige Antwort gewesen: »Du hattest ja Mamsell deine Befehle gegeben, sie wird wohl alles gemacht haben, wie du wolltest.« Und ohne Anerbieten der Begleitung hatte sie die Schwiegermutter ihre Wanderung antreten lassen.

Auf ihrem Inspektionsgang kam Frau von Zehren auch in das leere Zimmer und entdeckte den neuen Flügel. Ilse, die den noch immer leicht hinabgleitenden Trauring abgenommen hatte, saß davor und übte gerade Mignons Lied von Thomas, in diesem Raum, dessen eigentliche Bestimmung war, nur Wiegenlieder zu vernehmen.

– Im Beisein der Mamsell unterdrückte Frau von Zehren ihr Mißfalllen ob solcher Neuerung, aber später, in Gegenwart Theophils, sagte sie: »Du scheinst mir deine ganze Zeit am Klavier zu vertrödeln, liebe Ilse.«

»Oh nein!« antwortete Ilse, »ich trödle wirklich nicht – ich arbeite sehr eifrig an meiner Musik.«

»Du arbeitest?« wiederholte die Schwiegermutter erstaunt. »Na, jede von uns hat ja genügend Musik gelernt, um mal der Jugend zum Tanz aufzuspielen und im Chor mitsingen zu können, – aber arbeiten hätten wir das doch kaum genannt.«

»Ich hoffe auch etwas mehr damit zu erreichen,« erwiderte Ilse, und dann setzte sie inbrünstig hinzu: »Ich muß mir doch irgendein Leben schaffen.«

»Mir scheint, du hast das Leben aller jungen Frauen.«

»Ja, siehst du, wenn das wirklich das Leben aller jungen Frauen ist – dann … genügt‘s mir eben nicht.«

»Theophil!« rief Frau von Zehren, »Theophil, was sagst du dazu?«

Aber Theophil sagte gar nichts. Ihm war unbehaglich zu Mute. Er war zwar seit frühester Jugend daraufhin erzogen, der Mutter stets beizustimmen; da ihn aber Ilses neueste Musikpassion in keiner seiner Gewohnheiten störte, war er geneigt, ihr darin freie Hand zu lassen. Außerdem schmeichelten ihm auch etwas die auffallende Beachtung, die Ilse bei Helmstedts fand, und die häufigeren Einladungen, die auch er dadurch notwendigerweise nach Frohhausen erhielt. Zu der Erkenntnis, daß die Heirat mit Ilse nicht die geeignetste für ihn gewesen, war er ja, mit langsamem Denken und dank der Nachmittagstees in Mechtilds Haus, allmählich gekommen, aber dem ländlich bäuerischen Verstand entspricht es, auch aus einem schlechten Handel mit Zähigkeit größtmöglichen Vorteil zu ziehen, – wenn es daher nun mal zu Ilses Mitgift gehörte, gerade bei Leuten wie Helmstedts Sympathie zu erwecken, so mußte man das mitnehmen, konnte es vielleicht sogar mal praktisch, etwa auf politischem Gebiete, ausnutzen. – Aber er fühlte, daß die Mutter irgendeine beistimmende Unterstützung von ihm erwartete, und so begann er langsam und feierlich: »Ich fürchte ja freilich auch, daß Ilse kein rechtes Verständnis für die Pflicht hat, ganz in den Interessen des Mannes aufzugehen, und daß ihr Sinn immer noch zu sehr nach Eigenem strebt, – was indessen dieses bißchen Geklimpere und Gesinge betrifft, so schadet es ja niemand – und – na, ich versteh allerdings nichts davon, aber,« und er endigte hastender, »bei Helmstedts fand man‘s neulich hübsch.«

»Wenn du dich danach richten willst, was in Frohhausen hübsch gefunden wird,« rief Frau von Zehren erregt, »so kann uns das freilich weit führen! Der ganze Verkehr dort paßt nicht für solch eine unreife, ungefestigte Seele! – Gerade diese beiden sogenannten Künstler, die, wie mir Mechtild schrieb, Ilse Unterricht geben – nun – diese … diese … sie sollen ja zusammen in wilder Ehe leben!«

»Oh Mama!« fiel Ilse eifrig ein, »so ist das wirklich nicht! Der arme Herr Kaliwoda möchte sich ja so gern von seiner Frau scheiden lassen, und dann würde er Fräulein Neuland sicher gleich heiraten – aber in seinem Lande sind Scheidungen so schwierig, und seine Frau, die er doch seit Jahren nicht mehr gesehen hat, und die gar kein Verständnis für ihn und seine Kunst hat, will ihn absolut nicht freigeben, was soll er da tun?«

»Nun das ist doch sehr einfach, was er tun sollte, liebe Ilse: Was man nicht nach Gesetz und Sitte besitzen kann, dem entsagt man eben.« Es klang so klipp und klar, als ob Frau von Zehren eine große Schere zuklappe.

Ilse jedoch machte noch einen Verteidigungsversuch zu Gunsten ihrer neuen Freunde: »Herr Kaliwoda und Fräulein Neuland brauchen sich gegenseitig so sehr zu ihrem künstlerischen Schaffen – und dann denkt euch doch nur in die armen Menschen hinein: Daß sie sich im Sommer so einige Wochen treffen, ist das einzig Schöne, was sie im Leben haben!«

»Nein, nein, liebes Kind,« sagte nun auch Theophil gemessen, »das sind nur bequeme Ausreden für einen Mangel an Selbstzucht. In allem, was du da vorbringst, liegt ein verderblicher kosmopolitischer Zug, und dies Spielen mit dem Begriff der Lösbarkeit der Ehe ist für unser hiesiges Empfinden höchst verletzend! und sollte es auch dir wie jeder Frau sein. – Dagegen will ich nicht in Abrede stellen,« setzte er hinzu, »daß es Vergehen des Weibes gibt, nach denen dem Mann allerdings nichts anderes übrig bleibt.«

Ilse warf ihr hübsches Köpfchen in die Höhe und entgegnete lebhaft: »Na, ich kann nur sagen, daß diese Frau Kaliwoda, die ihren Mann durchaus festhalten will, mir sehr würdelos erscheint.«

»Ich finde im Gegenteil, daß sie achtungswert handelt, ihrem Mann die Rückkehr in ein geordnetes Leben offen zu halten,« fiel Frau von Zehren ein. »Aber ich fürchte, liebe Ilse, du bist schon etwas angekränkelt von allem, was du in Frohhausen gehört haben magst, – na, und ob dies viele Musizieren und Exaltiertwerden dir überhaupt zuträglich ist? – Am besten wird wohl sein, ich lasse mal Liebetrau kommen und höre, was der davon hält.«

So endete das Gespräch, und Dr. Liebetrau ward wieder einmal nach Weltsöden berufen. Ihm schüttete dann Frau von Zehren ihr Herz aus, und in mühsam unterdrückter Erregung schloß sie ihre Darlegung mit den Worten: »Und in das leere Zimmer hat sie den Flügel gestellt, verstehen sie, bester Liebetrau? – In das leere Zimmer!«

»Ja, ja, meine gnädige Frau, ich verstehe,« antwortete der Arzt beschwichtigend und klopfte dabei auf den mit Nettelbecks Silhouette gezierten Deckel der Horndose – »verstehe auch, daß es Sie betrübt, daß das Zimmer, abgesehen vom Flügel, noch leer ist, – aber,« und dabei reichte er den Höhlen seiner gebirgigen Nase den Schnupftabak dar, »ich sehe in diesem Instrument doch lediglich einen Notbehelf, zu dem die kleine Frau halb unbewußt greift, sie ist eben eine Suchende, die den Weg noch nicht gefunden hat.«

»Bester Liebetrau, was sind das nun wieder für moderne Redensarten, und noch dazu von Ihnen, der Sie doch ein alter Mann sind, wie ich eine alte Frau bin, – von so was redete man doch gar nicht, als wir jung waren!«

»Freilich nicht, aber heutzutage sind die Menschen nicht mehr so einfach – oder bilden sich wenigstens ein, es nicht zu sein, – und wenn wir Alten noch etwas Einfluß behalten wollen, müssen wir uns halt in sie hinein zu denken trachten.«

»Und was ist es denn, was meine Schwiegertochter Ihrer Ansicht nach sucht?«

»Freude, meine gnädigste Frau. Freude an sich selbst, am eigenen Wert, vor allem daran, etwas Eigenes zu leisten.«

»Aber sie hat doch meinen Sohn?«

»Nun ja, nun ja!« antwortete der Doktor und zog das türkische Taschentuch hervor, »das sagt jede Mutter und hält damit alles für abgetan, und daß die Schwiegertochter hübsch dankbar sein soll.«

»Dazu hätte sie doch auch allen Grund! Aber ich will Ihnen etwas sagen, Liebetrau, es weht eben ein schlimmer Wind über die Erde, und unser guter Rockstroh hatte wahrlich recht, als er neulich in der Predigt sagte: ›Die Unzufriedenheit auf der Welt ist so groß, daß nächstens die Säuglinge an der Mutterbrust sich beschweren werden, Milch statt Sahne zu erhalten‹«

»Hm, hm,« machte Liebetrau und schneuzte sich heftig in das türkisch gemusterte Taschentuch, »das wäre freilich schlimm; aber wenn hier in Weltsöden erst ein Säugling ist, wird er sicher weniger umstürzlerisch denken.«

»Ja – wenn!« seufzte Frau von Zehren.

»Ach,« sagte Liebetrau zuversichtlich, »es sollte mich gar nicht wundern, wenn sich der bald einstellte. Das junge Frauchen macht sich seit einiger Zeit sehr heraus und sieht entwickelter aus. – Na, und mit all ihren Ideen jetzt müssen Sie halt Geduld haben, meine Gnädigste – das sind Kinderkrankheiten der Seele, und je heftiger sie auftreten, desto normaler ist nachher oft die Gesundheit – es wäre ja freilich besser gewesen, wenn sich all das hätte vor der Ehe abspielen können, so daß diese selbst die Erfüllung gewesen wäre, – aber hoffen wir, daß, wenn erst im leeren Zimmer neben dem Flügel eine Wiege steht, darin das ›Eigenste‹ sein wird, an dem Ihre Schwiegertochter die Freude findet, nach der sie jetzt noch sucht.«

»Gott erhör Sie, Liebetrau! Aber,« und dabei blitzten Frau von Zehrens kleine schlaue Äuglein tückisch über den weiten Elefantenwangen, »eins will ich Ihnen doch sagen: Ich werde dafür sorgen, daß es nicht zu sehr ihr eigenstes wird.«

So durfte denn Ilse fortfahren, am Bechstein zu üben und in Frohhausen in musikalische und andere neue Welten Blicke zu tun. – Es kam jedoch bisweilen vor, daß sie sich beim Üben müde fühlte, ihr Rücken tat ihr weh, und manchmal wurde ihr schwindlig; dann nahm sie sich aber doppelt zusammen, daß niemand es bemerke, und sie gewahrte dabei mit Genugtuung, daß Kräfte in ihr schlummerten, die, sobald sie zu einem lohnenden Zweck aufgerufen wurden, bereitwilligst antworteten. Und den Zweck hatte sie ja nunmehr gefunden: Sie ersang und erspielte ihrem Leben einen Inhalt. – Das zunehmende eigene Können und Verstehen der Musik war für sie wie das Anwachsen eines geheimen wohlgehüteten Schatzes. Schmerzlich leer war das Leben ihr bis dahin erschienen, aber wenn sie sich jetzt zwischen Theophil und der Schwiegermutter auch noch so fremd dahin bewegte, so wußte sie ja, daß sie etwas besaß, woran sie nur zu denken brauchte, um Niedergeschlagenheit und Einsamkeit zu verscheuchen, wenn sie jetzt nachts im braunen Schlafzimmer aufwachte und aus dem nußholzenen Bette neben ihr Theophils Schnarchen in regelmäßigen Knarr- und Sägetönen zu ihr drang, dann summte sie ganz leise eine der neuen Melodien vor sich hin, und alsobald entschwand die Wirklichkeit, und sie wähnte sich fern und frei in einer Welt, deren Harmonien ihr gehörten.

Ein paar Wochen später, nach dem Mittagessen, als sich Theophil bereits zum Rauchen in sein Zimmer begeben hatte, und Frau von Zehren gerade die Likörflaschen in das mit geschnitzten Jagdemblemen gezierte Büfett aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts einschloß, trat die Mamsell ins Eßzimmer. Sie hatte den erregten Ausdruck ungebildeter Leute, die sich stets freuen, als erste eine grausige Nachricht bringen zu können. Mit flüsternder Stimme meldete sie: »Die Försterin liegt seit heute früh in den Wehen – es soll schlimm stehen, und der Förster ist ja seit gestern für den Herrn verreist.«

»Ist denn die Rückschwart nicht bei ihr?« fragte Frau von Zehren.

»,Ja, jetzt ist sie da,« antwortete die Mamsell, »aber sie war ja heute nacht bei der Köppen Sophie und hat erst spät hingekonnt.«

»Na, da wollen wir mal nachschauen,« sagte Frau von Zehren und wandte sich dann zu Ilse: »Du kannst mich begleiten.«

Ilse waren bei den Worten der Mamsell die Kniee plötzlich ganz weich geworden, als könnten sie sie nicht mehr tragen, und sie hatte unwillkürlich nach einer Stuhllehne gegriffen; aber sie raffte sich zusammen, schalt sich feige und folgte der Schwiegermutter, die bereits im Flur stand und sich den dort hängenden braunen Gartenhut mit den karrierten Bindebändern aufsetzte. Dabei überkam Ilse jedoch wieder das seltsame Gefühl, in einen schwarzen Strudel hinabgezogen zu werden, das sie während der letzten Wochen schon mehrmals empfunden hatte. Frau von Zehren bemerkte ihre plötzliche Blässe und sagte: »Ja, so sind nun heutzutage die jungen Menschen: Sie verlangen immer mehr, aber sie vermögen immer weniger. Jetzt kann eine Frau schon nicht mehr mit ansehen, wie ein Kind geboren wird! Na,« schloß sie verächtlich, »bleib bei deinem Klavier, dazu taugst du wohl besser.«

»Nein, nein, Mama,« antwortete Ilse, die den Schwindelanfall nunmehr überwunden hatte, »ich komme sehr gerne mit – die arme Anne Dore tut mir ja so schrecklich leid.« Beim Verlassen des Hauses blieb sie einen Augenblick vor der Tür stehen, um die sich Schlingrosen rankten. In großen Dolden blühten sie, blutrot und üppig sprießend, wie verkörperter Lebenswille. Ilse brach einen der Zweige ab, der die Blumenfülle kaum zu tragen vermochte.

»Was willst du damit?« fragte Frau von Zehren.

»Ich werde Anne Dore die Blumen mitbringen, vielleicht machen sie ihr Freude,« antwortete Ilse und entfernte sorgsam die Dornen, so daß sie nicht gewahret, wie Frau von Zehren, stumm zum Himmel aufschauend, die Achseln zuckte.

Dann gingen sie den kurzen Weg zum Forsthaus durch die gemähten Wiesen. In großen Haufen lag das duftende Heu, um auf den bereitstehenden Erntewagen eingefahren zu werden. All die Zittergräser, Gänseblumen, blauen Glocken und rosa Federnelkchen, der rote Klee, die Schafgarben, Butterblumen und Vergißmeinnicht, von denen noch vor wenig Tagen ein jedes sein aufrechtes, blühendes Sonderdasein geführt hatte, waren hingesunken und unkenntlich geworden in den graugrünen Ballen, die die Mägde auf die Wagen türmten; aber schon begannen unter den lockenden Sonnenstrahlen neue Halme und Knöspchen aus den Wurzeln hervorzutreiben, und auch auf diesem armen Boden blieb die ewige Lebenskraft Siegerin.

Weiße Schmetterlinge spielten paarweise in der warmen Luft, Bienen summten geschäftig um die Linden längs des Weges, vor einem Knechthäuschen kauerte ein blondes barfüßiges Kind und hielt ernst und wichtig einer Familie gelber flaumiger Entchen einen Napf vor, während eine im Sonnenschein lang ausgestreckte Katze ihre Jungen säugte. Die Natur mit ihrem Sorgen für die Kommenden erschien als eine milde freundliche Macht, und Ilse, von der im Freien die Angst um Anne Dore und das eigene Mißbehagen gewichen waren, sagte sich, daß es schön sei für das kleine Kind Anne Dores, an diesem sonnigen, glückverheißenden Tage der wonnigen Welt geboren zu werden.

Das Försterhaus war ein altes trutzig dreinblickendes Gebäude mit dicken Mauern und schmalen vergitterten Fenstern. In fernen unruhigen und selbstherrlichen Zeiten hatten es die Herren von Zehren als Gefängnis benutzt. Ein freier Platz daneben hieß noch die Galgenstätte. Gleich dahinter begann der dünne Kiefernwald.

Es war kalt und finster in der unteren Diele und seltsam still, wie tot, nach all dem schwirrenden, summenden und schnatternden Leben draußen. Eine schmale steile Holztreppe führte zum ersten Stock. Wie nun die beiden Frauen, aus dem Lichte kommend, sich in der Dunkelheit emportasteten, tönte von droben ein Wimmern, das Ilse noch nie vernommen. Sie schaute erschreckt zur Schwiegermutter. Aber Frau von Zehren stieg unbekümmert weiter, als gehöre dieser klagende Laut zu der rechtmäßigen Ordnung der Dinge, an der nichts je zu ändern, und Ilse folgte ihr auf der steilen Treppe, die in alten Zeiten Gefangene stöhnend gegangen waren, und die zum geheimsten Verließ zu führen schien, wo eines schauerlichen Kultes Opfer gepeinigt werden. – Oben war ein schmaler Flur. Eine Tür öffnete sich von innen, die lange hagere Gestalt der Rückschwart wurde darin silhouettenhaft sichtbar, und das leise Wimmern tönte lauter.

»Wie steht‘s?« fragte Frau von Zehren. Die Rückschwart murmelte etwas, das Ilse nicht vernahm; nur die letzten Worte verstand sie: Es war zu Dr. Liebetrau geschickt worden. – Frau von Zehren nahm den braunen Hut mit den karrierten Bändern ab, legte ihn auf den Tisch im schmalen Flur und schritt dann resolut in das Zimmer, dessen Tür die Rückschwart offen hielt. Ilse trat nach ihr ein. Der Zweig roter Rosen aber war ihr wie von selbst aus der Hand geglitten und auf den Boden des finsteren Flures gesunken.

Das Zimmer war beinahe so dunkel wie der Gang davor; kaum, daß sich ein Sonnenschimmer durch das schmale vergitterte Fenster an der Dicke der Mauern entlang und bis auf das Bett schlängeln konnte, wo Anne Dore bleich und verstört lag. – Geschäftig bemühten sich Frau von Zehren und die Rückschwart um die Kranke, und ihre Bewegungen glichen sich in ihrer selbstverständlichen Sachlichkeit und einer gewissen ländlichen Derbheit, die selbst der offenbare Wunsch wohlzutun nicht zu verfeinern vermochte.

Ilse war in der dunkelsten Ecke stehen geblieben und starrte lautlos auf Anne Dores Mund, der sich bisweilen vor Schmerz verzerrte, auf die weiße Stirn, an der das Haar in feuchten Strähnen klebte. – Oh! die Natur war doch keine freundlich milde Macht! wie Ilse vorhin draußen gedacht, nein, sie war noch heute ganz so grausam und unverständlich, wie die Menschen, die in vergangenen Jahrhunderten dieses selbe Zimmer als Folterkammer benutzten. Und plötzlich fragte sich Ilse, ob Papa, wenn er dieses hier hätte sehen können, wohl noch sagen würde: Es ist ja nicht schlimm, es ist nicht so schlimm!

Einmal, als Frau von Zehren und die Rückschwart in die Küche gegangen waren, schlich sich Ilse zaghaft zu Anne Dore heran und streichelte leise die nassen Hände, die sich in die Decke gekrampft hatten.

Es war ihr, als sei ein grauenhaftes Etwas da im Zimmer, das sie nicht sehen, sondern dessen Nähe sie nur fühlen konnte, das aber Anne Dores weit aufgerissene Augen deutlich erblickten. – Die kleine Ilse fürchtete sich so sehr, daß sie dachte, es müsse eigentlich weniger schlimm sein, zu sterben, wie solche Furcht zu empfinden, aber über all diese Furcht hinaus ging doch noch das Mitleid, das ihr wie ein physischer Schmerz am Herzen riß. Sie wollte so gern dem armen wimmernden Wesen helfen, das sich da vor ihr in Schmerzen wand, den Abgrund überbrücken, der stets den einen Menschen vom andern trennt, und einen jeden in Einsamkeit erhält; sie wollte Anne Dore ganz, ganz nahe kommen, so nahe, bis daß diese fühle, es gibt nur ein Leben und ein Leiden, und das tragen wir alle zusammen.

Die Zeit schlich. Endlos schienen sich die Minuten und Viertelstunden zu dehnen. – Frau von Zehren schaute auf die Uhr, blickte zum Fenster hinaus und murmelte: »Er müßte schon da sein.« – In all ihrer Unerfahrenheit fühlte Ilse doch, daß es mit Anne Dore in jeder dieser schleichenden Viertelstunden schlimmer wurde, daß das grauenhafte Etwas näher und näher rückte. – Und dies fern zu halten, es zu überwinden, dies arme stöhnende Leben zu retten – das war doch das Einzige, worauf es ankam, ein Ziel, jeden Opfers wert, etwas, für das es leicht sein müßte, sich selbst hinzugeben. Ilse vergaß alles andere darüber, vergaß, wie schwach sie sich selbst fühlte, wie nur die Aufregung sie noch aufrecht hielt. – Sie sah das Achselzucken der Rückschwart, die nichts mehr vermochte, – da faltete sie in ihrem dunkeln Winkel die Hände und betete stumm: Nimm mich statt ihrer, lieber Gott, laß mich für sie sterben!

Aber endlich kam Dr. Liebetrau. Und mit ihm trat auch Zuversicht ins dunkle Zimmer. – Ilse fühlte, da ist einer, der kämpfen wird. – Er bemerkte sie gar nicht, wie sie da im Schatten kauerte und gebannt vor sich hinstarrte. – Er achtete nur auf Anne Dore, und selbst Frau von Zehren war ihm in diesem Augenblick nichts anderes wie die Rückschwart, die er zu allerhand Handreichungen kurz und bündig hin und her beorderte. – was eigentlich geschah, wollte Ilse gar nicht sehen, sie fühlte, daß es furchtbar sein mußte; sie lauschte nur auf die kleinen freundlichen, seltsam weichen Worte, mit denen Dr. Liebetrau Anne Dore ermutigte.

Und dann trat Frau von Zehren zu Ilse und sagte ihr, sie solle in der Küche nach dem heißen Wasser sehen und es hereinbringen. – Schwankend ging sie hinaus; sie fühlte plötzlich wieder den Schwindel, das Hinabsinken in einen finsteren Strudel. Sie klammerte sich beim Gehen an die Möbel. Niemand bemerkte es. Die drei waren über das Bett gebeugt. ein seltsam süßlicher Geruch zog durchs Zimmer. Ilse wurde ganz weh davon.

Mühsam hob Ilse den schweren Kessel vom Herde, goß das heiße Wasser in eine Kanne, füllte den Kessel von neuem, stellte ihn zurück aufs Feuer. – Dazwischen fuhr sie sich mit der Hand über Rücken und Schenkel. Sie hatte plötzlich unerträgliche, ziehende Schmerzen. Sie mußte sich auf den Küchenstuhl setzen. – sie wußte nicht, wie lange sie so gesessen.

»Ilse, Ilse,« rief da Frau von Zehren an der Tür, »bring doch endlich das Wasser.«

Sie nahm die schwere Kanne und schwankte herein. Es rauschte und summte ihr in den Ohren, und dazwischen hörte sie die Stimme der Rückschwart: »Stramme Bengels für Zwillinge!« Anne Dores Stöhnen hatte aufgehört, dagegen füllten andere Töne das Zimmer, kleine rührende Schreie unbefragt in die Welt gefetzter Wesen, die sich instinktiv vor dem Leben fürchteten.

Frau von Zehren und die Rückschwart hielten jede ein kleines, feuchtes, rotes Etwas in den Armen.

»Gieß das Wasser in die Wanne,« sagte Frau von Zehren.

Nun wurde Dr. Liebetrau Ilse gewahr, »Was, Sie sind hier?« fragte er erstaunt.

»Ich war ja die ganze Zeit hier,« antwortete sie. »Aber nicht wahr,« fragte sie flehend, »nun ist es doch vorbei?« Es klang wie beginnendes Schluchzen in ihrer stimme.

»Jawohl,« antwortete Liebetrau behaglich, »nun ist es für diesmal vorbei, und mit Zwillingen ist es ja auch wohl gerade genug – na, es steht ja alles gut.«

»Oh, es war schrecklich, schrecklich!« seufzte Ilse, und das Schluchzen wurde deutlicher.

»Nur ruhig, nur ruhig,« beschwichtigte Liebetrau. Aber seine Worte halfen nichts mehr, Tränen liefen an ihren Wangen herab, und ein konvulsivisches Schluchzen schüttelte sie.

»Aber Ilse,« sagte Frau von Zehren ungeduldig von der Badewanne aus, über die sie und die Rückschwart sich wie böse Feengevatterinnen beugten. »So nimm dich doch ein bißchen zusammen.«

Dr. Liebetrau aber umschloß die erschöpft daliegende Anne Dore und die weinende Ilse mit dem gleichen Blick nachsichtigen Mitleids und sagte leise: »Ja, solche Stunden fordern eigentlich zu große Dinge von solch armen kleinen Menschenstäubchen – ‚s ist ungerecht.« Dann wandte er sich an Ilse: »Nun gehen sie aber wirklich nach Hause – Sie hätten gar nicht herkommen sollen.« – »Sag Theophil, daß ich noch hier bleibe,« rief ihr Frau von Zehren nach.

Nun stand Ilse draußen im Korridor. Er war finsterer noch als vorher bei ihrer Ankunft, sie streckte die Hand nach dem Treppengeländer aus. Im selben Augenblick aber schoß ihr der ziehende Schmerz viel stärker noch als vorher durch Rücken und Schenkel. Es war, als würden ihr die Kniee ganz weich. Kalte Tropfen traten ihr auf die Stirn; sie blickte in einen finsteren Strudel, der sie unerbittlich in sich hineinzog. Sie wollte sich halten, tappte mit der Hand in der Luft, aber sie fand keine Stütze. Und sie fühlte nun, wie sie hinabstürzte in eine dunkle endlose Leere. – Sie hörte einen gellenden Schrei. Hatte sie den ausgestoßen? – Und dann empfand sie einen stechenden Schmerz im Rücken. Jetzt bin ich tot, dachte sie. – Dann dachte sie nicht mehr. Aber sie hörte noch, Stimmen, rauschend und summend, ganz weit fort. – Nun hörte sie nicht mehr. – Sie war gar nicht mehr da. – Aber etwas war noch irgendwo, das hörte. Was hörte? – Nun war auch das nicht mehr da.«

Nichts war.

Und das war die barmherzigste Zeit, als nichts mehr war. Später war wieder etwas da, wie aus weiten Fernen zurückgekommen, das litt. Lange Stunden. Als ob das Leiden nie enden würde. Aber dann endete es doch. Allmählich.

Aber nicht, als sei der Schmerz vorüber, sondern als sei das Etwas zu schwach geworden, um noch zu empfinden. Nur keine Bewegung, keinen Laut, daß der Schmerz nicht wieder fühlbar wird. Ganz still lag das Etwas, lange Stunden.

Später einmal, da öffneten sich die Augen. Blickten mit müdem Erstaunen. Fanden sich nicht zurecht. Was hatten sie denn früher beim Erwachen gesehen? Eine braune Tapete … Gardinen mit Straminstickerei … die waren nicht mehr da. Vielleicht hatten die Motten sie gefressen? Es war ja wohl alles sehr lange her. Alles? Was denn?

Nun suchten die Augen. Ein Asternstrauß stand da. Was für andere Blumen hatten die Augen denn zuletzt gesehen? War da nicht einmal ein Zweig roter Rosen gewesen? Ja, rote Rosen, halb verwelkt, auf einem dunklen Flur hingesunken – und darunter – ein finsterer Schlund und auf seinem Grunde Leiden, Leiden.

Nun wußte sie alles wieder. Verstand auch, was seitdem geschehen. Besann sich plötzlich auf Dinge, die Spuren in ihrem Gedächtnis hinterlassen hatten, und die sie doch ohne Bewußtsein ihres Geschehens erlebt haben mußte. – Jetzt erkannte sie auch, wo sie lag. Das leere Zimmer war es. Und Worte, die sie einmal vor langer Zeit gehört, tönten in ihrem Erinnern, Worte in Dr. Liebetraus Stimme: »Tragt sie ins leere Zimmer, da ist‘s am ruhigsten.« Und dann etwas später war da eine andere Stimme gewesen: »Mein armes Kind,« hatte die ganz leise und immer wieder gesagt, »mein armes Kind!«

Aber eigentlich klang es, als sagte sie: »Es ist doch schlimm, ja sehr schlimm.«

»Papa,« sagte Ilse, sie wußte ja nun, daß er die ganze lange Zeit dagewesen.

Und da war er auch schon. In dem Sessel neben ihrem Bette saß er, mager und zusammengeschrumpft – als sei weniger von ihm da wie damals – wo sie ihn zuletzt gesehen – wo er noch sagte: »Es ist ja nicht so schlimm.« – Ob er jetzt wußte, wie es wirklich war? Vielleicht, denn er sah so blaß, so vergrämt aus. – Sie versuchte, ihm die Hand hinzustrecken. Eine ganz mager und klein gewordene Hand, und der glatte goldene Ring, der immer die Neigung gehabt, herabzugleiten, war fort. Mußte wohl in der langen Zeit endgültig weggerollt sein.

»Erzähl mir, Papa,« bat sie leise, »was alles gewesen.«

Behutsam, schonend sprach er von ihrem Sturz, von der langen schweren Krankheit. – »Du wußtest wohl damals selbst gar nicht, daß du ein Kindchen erwartetest,« fragte er flüsternd. Sie schüttelte den Kopf, und ein nachträgliches Entsetzen stieg in ihre Augen. »Theophil und seine Mutter sind sehr unglücklich,« fuhr Papa fort, »denn all diese Hoffnungen sind ja nun vernichtet – und es ist ja auch traurig.«

Ilse atmete tief und mußte wohl noch sehr schwach sein, denn ungehindert ließ sie den Gedanken auch gleich zu Worten werden: »Ach nein, Papa, das ist gut so – es wäre ja doch wohl wie sie geworden.«

»Still, still, Kind,« wehrte Papa ängstlich. »Jetzt im Wachen darfst du so etwas nicht sagen.«

»Hab ich während der Krankheit viel so gesprochen?«

Papa nickte und flüsterte: »Aber ich hab die anderen dann immer herausgeschickt.«

Ihre Augen trafen sich, und Ilse sah: Ja, Papa wußte nun, wie es wirklich war.

»Greinchen oder ich waren immer bei dir,« fuhr Papa fort.

Greinchen, ach ja, Ilse entsann sich, deren Stimme hatte sie ja auch in den Fieberträumen zu vernehmen geglaubt.

»Ich ließ Greinchen nachkommen, sobald ich sah, wie schlimm es um dich stand,« erzählte Papa.

»Und die anderen?« fragte Ilse nach einer Weile.

»Oh, sie waren alle sehr erschrocken und besorgt,« antwortete Papa, »der arme Theophil, deine Schwiegermutter, deine Schwägerin und ein Fräulein von St. Pierre, die gerade zu Besuch bei ihr war; auch die Kummerfelder und vor allem die beiden alten Stiftsdamen haben sich beständig nach dir erkundigt.«

»Ja, ja,« sagte Ilse gleichgültig, »aber andere? waren nicht auch andere da?«

»Gräfin Helmstedt ist alle Tage selbst gekommen,« erwiderte Papa, »die Blumen dort brachte sie – sie sagte, es solle etwas von ihr dastehen, wenn du erwachen würdest.«

Papa schwieg eine Weile und sagte dann leiser: »Sie hat viel über dich mit mir gesprochen.« Und wieder schwieg er, seufzte und murmelte vor sich hin: »Ach Kind! man will ja immer das Beste, aber man weiß so wenig.«

Es waren hindämmernde, noch halb traumhafte Empfindungen, in denen Ilse die nächsten Tage verbrachte. Die Jugend in ihr konnte nicht anders, als sich über das rückkehrende Lebensbewußtsein freuen, aber die Erinnerung fürchtete sich davor, das Dasein von neuem aufnehmen zu müssen. – Es wäre schön gewesen, noch recht lange so weiter liegen zu können, geborgen durch Papas und Greinchens Gegenwart. Die beiden verstanden es, ihr ganz unauffällig alles Störende fernzuhalten, scharfe Klänge zu mildern, Reibungen zu verhüten. – Aber daß all das doch da war und ihrer wartete, das wußte Ilse wohl, wenn Papa und Greinchen erst fort waren, dann würde alles wieder sein wie früher, schlimmer vielleicht, denn sie fühlte ja, daß manche Gegensätze noch angewachsen waren, daß ihre Krankheit wie eine lange Reise gewirkt hatte, von der man, scharfsichtiger geworden, zurückkehrt: sie las nicht nur Enttäuschung, sondern auch Vorwurf in Frau von Zehrens und Theophils Augen. Sie selbst dagegen empfand nicht nur Gleichgültigkeit, nein, etwas wie Erlösung. – Sie sann jetzt oft nach über jene Möglichkeit, die, ihr selbst unbewußt, ihr Leben eine kurze Spanne Zeit enthalten hatte. Ein furchtbares Geheimnis schien es. Wenn sie daran dachte, empfand sie wie jemand, dem Gewalt angetan worden. Wieder und wieder fragte sie sich mit nachträglichem Schauder: Wie durfte so etwas überhaupt geschehen, wenn nicht des eigenen Wesens Innerstes dazu ja gesagt?

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
30 августа 2016
Объем:
400 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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