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Читать книгу: «Ille mihi», страница 21

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Ilse hatte im geheimen ein Bäumchen für Wolf geschmückt, denn es sollte doch nicht alles anders sein als sonst. Aber was konnte sie ihm schenken, den ja nichts mehr erfreute? Schließlich hatte sie sich doch ein paar Kleinigkeiten ausgedacht. Und dann hatte sie auch noch einige Sachen für sich selbst besorgt, die sollte er ihr schenken. Denn wenn er die Bedeutung des Abends überhaupt wahrnahm, würde er ihr sicher etwas bescheren wollen, und er sollte nicht die Empfindung bekommen, einer geworden zu sein, der nichts mehr zu geben hat. Aber wie sie so die Dinge bestellte, von denen sie doch nicht wußte, ob er sie je bemerken würde, überkam sie mit überwältigender Gewalt das volle Bewußtsein eigener Verarmung, das bisher vor dem einen großen Gefühl des Mitleids mit ihm noch gar nicht recht erstanden war. – Sie entsann sich, wie er sie früher wochenlang vor Weihnachten nach Wünschen ausgeforscht hatte; wie er in allerhand geheimen Schubladen und Gefächern die künftigen Geschenke für sie aufspeicherte und sich dann am heiligen Abend mit dem Aufbau für sie so wichtig und glücklich abmühte. – All die Liebe, all die Sorge, mit der er sie umgeben, die würde sie nun missen müssen? Aber wo war denn nur all diese Zärtlichkeit hin entschwunden, die sie begleitet hatte seit vielen Jahren? Vermochte Krankheit sogar sie zu töten?

Erinnerungen an all die früheren Winter stiegen vor ihr auf, so daß das kleine trübselige Krankenhauszimmer zu versinken schien, und sie sich von lauter Bildern entschwundener Tage umringt wähnte. – Da war ein Weihnachten in Südamerika: Eine Araukarie im Garten hatten sie zusammen als Weihnachtsbaum geschmückt, mit silbernem Lahn und duftenden Florifundien, und die Wachslichter waren ganz weich von der Hitze gewesen. Die indianischen Gartenarbeiter starrten mit großen staunenden Augen auf dies nie geschaute Fest und hatten dann, mit der Sprachgewandtheit ihrer Rasse, volltönende spanische Dankesreden auf diese neue fremde Herrschaft gehalten, die auch sie beschenkt. – Nachdem die Lichter erloschen, waren sie beide in der schmalen Schlucht, die an den Garten stieß, noch etwas gewandelt; dort dufteten verwilderte Orangenbäume, unsichtbare Nachttierchen surrten und zirpten, der Palmen Blätter knisterten metallisch im Nachtwind, und über ihnen, in unendlichen Höhen, leuchtete das südliche Kreuz. – Einmal auch waren sie zu Weihnachten an Bord eines großen Dampfers gewesen, auf der Fahrt nach einem ihrer fernen Posten. Als nun der heilige Abend kam, hatten sie beide lachend entdeckt, daß sie denselben Gedanken gehabt und jeder für den anderen heimlich ein winziges Bäumchen mitgebracht; da nahmen sie das eine, stiegen damit herunter ins Zwischendeck und bescherten dort den Auswandererkindern. Blaßäugige Nordländerinnen, Slawinnen mit vortretenden Backenknochen und heimatliche deutsche Mütter hatten ihnen dankend die Hände gedrückt. Lauter arme, entwurzelte Existenzen, die für einige Tage auf denselben schwankenden Brettern zusammengedrängt über das finstere Weltmeer fuhren und zukunftsbang dem Wogenprall, dem Sturmesheulen lauschten.

Wo mochten all jene jetzt sein, die ihr damals so bejammernswert erschienen? Sicher leuchteten ihnen heute nicht trüber die Kerzen als ihr selbst. – Wo mochten auch die vielen anderen sein, mit denen sie an so mancher Stätte der Erde Weihnachtsfeste gefeiert? Englischer Christmasdinners in heißen Kolonien entsann sie sich, der äußeren Lust und inneren Wehmut, mit denen die an ferne Gestade Verschlagenen heimatliche Bräuche gerade an solchen Tagen befolgen. – An wie vielen Orten hatte doch der Weihnachtsbaum Wolf und ihr geschienen! Und wie viel vereinsamten Landsleuten hatten sie an den Abenden beschert, aus dem eigenen inneren Reichtum. – Ach damals war ihr stets so gewesen, als erstände jeder neue Tag gleich einer mit Blumen geschmückten Jugendgestalt; jetzt aber glichen die Tage grauen Zerlumpten, die, von schwerer Last gebeugt, müde vorüberschleichen. Und sie war arm geworden, weil sie ihn verloren, der ihr zwischen allen gleitenden Lebenserscheinungen das eine Bleibende gewesen war. Verloren, wenngleich er noch lebend neben ihr weilte.

Als endlich der heilige Abend gekommen war, öffnete Ilse ihre Zimmertür, die hinaus führte in den schiffgangartigen Korridor, denn von dort drangen gedämpft die Weihnachtslieder zu ihnen, die im unteren Stockwerk bei der Bescherung für die minder Kranken gesungen wurden.

Ganz leise klangen die alten Worte: »Es ist eine Ros‘ entsprungen« – als schwebten sie ans weiten Fernen heran, aus den entschwundenen Jahren, da sie beide froh und gesund gewesen!

Und die alten Worte mußten schlummernde Erinnerungen in Wolfs Gemüt erweckt haben. Er schaute auf, lauschte der Melodie, nickte Ilse zu und sagte leise: »Auch wir haben einmal gesungen – gesungen.«

Da nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn zu ihrem kleinen Aufbau, den sie bisher hinter einem Wandschirm verborgen gehalten – und sie standen beide schweigend davor – zwei arme Schiffbrüchige, die auf dem großen Meere des Leidens für einen kurzen Augenblick Ruhe gefunden hatten.

Seit diesem Weihnachtsabend aber war in Ilse der Glaube an Heilung wieder eingekehrt, sie sprach mit niemand davon, aus Angst, vielleicht ein kaltes Wort vernehmen zu müssen, das die zarte Blüte dieser neu erwachten Zuversicht vernichtet hätte, aber den ganzen eigenen Willen setzte sie ein im Kampf um Wolfs willenlos treibendes Bewußtsein. Vermochte die völlige Hingabe eines Menschen für den anderen etwas auf Erden, so sollte er doch noch gerettet werden! Sie wollte ihn zwingen, ihr nachzudenken, und, so wie er die einzelnen Gedanken aufgenommen, sie auch wieder fallen zu lassen. Geistige Selbstbestimmung wieder zu erlangen, das mußte das Ziel sein. – Gelang es ihr so, die dunklen Mächte, deren Schwingen sie über ihm rauschen hörte, für ein paar Stunden zu bannen, so glaubte sie, die Wonne zu kosten, die der Erlöser vom Übel seliger Anteil ist. Aber oft half all ihr Mühen nichts – nicht ihr sanft beschwichtigendes Erzählen, nicht der tröstende Druck ihrer Hand – als ob sie an eine starre Mauer poche, so war es, kein Ton von ihr drang hindurch, keine Antwort schallte zurück. – In solchen Stunden empfand sie die Verzweiflung derer, die umsonst gekreuzigt wurden.

Der Weihnachtsabend hatte sie aber auch auf den Gedanken gebracht, sich ein Klavier kommen zu lassen. Musik war es ja, die ihm die erste Freude wieder gebracht hatte. Da saß sie denn nun oft, spielte ihm leise vor, und summte dazu mit ihrer schwachen Stimme all die Lieder ihres Lebens. Melodien kennzeichneten ja die verschiedenen Stationen ihres Weges, und so waren diese halb geflüsterten Gesänge in ihrer Reihenfolge wie ein Erzählen von langer Wanderung; die verschiedensten Orte tauchten dabei auf, die wechselndsten Stimmungen erstanden wieder – aber wie ein stets wiederkehrendes Leitmotiv zogen sich durch alle anderen Klänge schmerzlich süß die Worte des Griegschen Liedes: »Ich liebe dich in Zeit und Ewigkeit.« – Sie hatten ja dem ganzen Leben zugrunde gelegen.

Und weiter glitten die Tage und sanken hinab in den endlosen Raum, wo die vergangenen Zeiten schlummern.

Nicht ganz allein war Ilse in diesen Zeiten. Greinchen kam ein paarmal zu ihr, aus dem Berliner Vorort, der kein Vorort mehr war, sondern den die große Stadt längst mit ihren langen Straßenarmen umspannt und dann aufgesogen hatte. – Recht alt und grau war Greinchen geworden und nicht mehr so kampfbereit wie einst. Manch neue Falte wies ihr Gesicht, und immer mehr glich sie einer kleinen dicken Bulldogge, die bissig böse aussehen möchte und doch nicht ihre Gutmütigkeit verbergen kann. Eigentlich war Ilse jedesmal froh, wenn diese Besuche vorüber waren, denn Greinchens Teilnahme tat ihr beinahe weh, und zu sehr mahnte sie ihr Anblick an die Zeit, da sie bei ihr im Vororthäuschen gewohnt hatte, und wo, trotz aller augenblicklichen Bitterkeit und Kämpfe, die Zukunft vor ihr zu liegen schien wie ein gelobtes Land.

Noch einen anderen Freund aus jenen fernen Tagen sah sie wieder. Justizrat Schilderer kam, sie zu besuchen, erzählte verlegen von Geschäften, die ihn in diese Stadt geführt hätten, wollte es verbergen, daß er die Reise von Berlin nur gemacht, um zu sehen, ob er ihr in etwas helfen könne. – Aber der Kampf, den sie da mit Krankheit und finsteren Geistesmächten aufgenommen hatte, wurde in Gebieten geführt, die jenseits aller Freundschaftshilfe lagen. Auch der Justizrat konnte ihr nur Mitgefühl und Bewunderung darbringen. – Beim Abschied sagte er ihr: »Sie haben mich damals bisweilen geneckt, daß ich immer noch so vieles von den Familien erwarte, denen Traditionen lehren, wie man mit Anstand auch zum Schafotte schreitet – und nun geben Sie mir selbst recht – denn wie Sie hier alles anfassen und ertragen, das ist eben schließlich doch auch Rasse.«

»Ach nein, Herr Justizrat,« antwortete sie wehmütig, »das ist Liebe.«

Zwischen zwei Reisen tauchte auch Taudien einmal auf. Aber er, der Kampf und Gefahr an sich liebte, und kein Ausweichen kannte, blieb hier nur kurz. »Meine Kräfte langen nicht aus, das mit anzusehen,« sagte er ganz offen.

Doch auch sehr viel Fremdere kümmerten sich um Ilse, als es in ihrer einstmaligen Welt erst bekannt geworden, wie das Schicksal hieß, das Wolf und sie mit ihm getroffen hatte. Denn es gibt Grade des Unglücks, in denen eine große werbende Kraft liegt. Aus amerikanischen Riesenstädten und einsamen Hacienden am Fuße der Anden, von Dahabien auf dem Nil und Dampfern auf dem Hangtse schrieben ihr ferne Freunde. Und auch von den Leuten des eigenen Landes, die ihr früher vielleicht weniger gewogen wie die Fremden gewesen waren, erhielt sie viele teilnehmende Briefe. Manch einem mochte jetzt vielleicht ein Zweifel kommen, ob man gegen diese beiden am Ende doch einstmals gar zu streng und unversöhnlich gewesen sei. »Was hatten sie denn eigentlich getan?« fragte man heute. Die meisten wußten es kaum noch. Es war nur ein verschwommener, allgemeiner Eindruck übrig von irgend etwas, das man mal vor Jahren über sie gehört. Und doch hatte das genügt, sie ihr Lebenlang zu belasten, ihnen überall Schwierigkeiten zu schaffen, Voreingenommenheiten, die an jedem neuen Ort, an den sie kamen, erst überwunden werden mußten. – Jetzt wollte man freundlich zu ihnen sein, jetzt, wo ihnen die Jahre, da sie dessen so sehr bedurft hätten, unwiderruflich genommen waren. Jetzt, wo Wolf menschliche Absichten kaum mehr zu bemerken vermochte, und wo keine Macht Ilsen ihre einstmalige Freudigkeit, ihr vertrauendes Hoffen wiedergeben konnte, da boten ihnen die Menschen freigebig ihre besten Gaben: Güte, Milde und Hilfe. Aber es war zu spät! – Das Schicksal hatte Wolf und Ilse dem allen entrückt – er fühlte weder Härte noch Weiche, ihr waren sie über anderem, allzu großen Jammer innerlich gleichgültig geworden.

Gisi Helmstedts Briefe waren es, die Ilse in diesen Zeiten noch am meisten wohl taten. Der Graf war gestorben, und Gisi lebte seit seinem Tode ganz auf ihrer eigenen Besitzung bei Florenz; denn Frohhausen gehörte jetzt einem fernen Lehnsvetter, der, auf das sichere Erbe wartend, bis dahin in einem Kavallerieregiment der Provinz gedient hatte, von Mechtild und anderen töchterreichen Müttern als gute Partie umgarnt wurde und wohl besser in das ihn umgebende Zehrentum passen mochte, wie sein weitgereister Vorgänger.

Gräfin Helmstedt schrieb:

»Mein liebes Kind!

Was soll ich Dir sagen – kann niemand doch Deinen Jammer besser verstehen wie ich, auch wenn ich ihn nicht in den kurzen Worten Deiner Briefe so deutlich läse. – Grausam ist es, sinnlos scheint es. Doch bedenke, wenn Dich die Last unerträglich dünkt, daß ich trotz allem eine Glückliche in Dir sehe, denn Dir bleibt noch die Hoffnung, und ich habe nur das Erinnern. Leben, das schließt ja alles in sich! Das scheint mir heute das einzig kniefällig zu erbittende Gut. Und Wolf lebt noch! Drum hoffe!

Und, so schwer es scheint – hadre nicht zu sehr mit dem Geschick, daß es vorausbestimmend auf Eure Stirnen das Zeichen so bitteren Leides prägte, denn wie einer sein Leiden im stillen trägt, was er daraus zu machen weiß, kann für die Welt viel bedeutsamer werden, als manche laut verkündete Heldentat. Leid und auch Unrecht sind wechselnde Begriffe und an sich ganz belanglos – erst durch das, was wir aus ihnen heraus gestalten, erhalten sie ihre wirkliche Bedeutung. Und das wollen sie von uns, dazu werden sie uns gesandt. Wir sollen etwas aus ihnen machen, sie zu Höherem wandeln. – Auf diese Art kann auch der Schmerz zum Vater der schönsten Kinder werden. Wie viele Wohltaten, wie manches Kunstwerk entstammen ihm! – Und auch Sünde läßt sich umwerten; sie rief Märtyrer und Heilige und Freiheitskämpfer hervor. – Nichts ist endgültig abgeschlossen, alles noch wandelbar, so lange nur ein Fünkchen Leben bleibt. Denk stündlich hieran, arme kleine Ilse, die Du jetzt glaubst, vor Unabänderlichem zu stehen. Sag dies vor allem auch Wolf, wenn er wieder gesund ist – und ich fühle, daß er es werden muß. Der alten Ziele beraubt, wird er dann da stehen, nicht wissend mehr, was er tun soll. – Da sag ihm leise, daß nur das Streben Ewigkeitswert hat – nicht das Erreichen, denn alles Erreichte wird alsobald ein Überholtes.

Doch sollte ich mich in meinem Hoffen für Euch dennoch täuschen, so laß mich Dir sagen, was mir selbst zum einzigen Trost geworden. Das ist das Bewußtsein, daß ich nicht als betrogene Bettlerin vom Leben scheiden werde, sondern daß ich besessen habe, was mir das höchste Glück war, eine große Liebe. Der Erde wahrhaft Bedauernswerte sind die Frauen, die das nicht hatten. Dir Ilse, wie mir, kann dies Erinnern nie geraubt werden.

Deine Gisi.

*

Von den Eiszapfen an den Dachrinnen tropfte es jetzt herab, daß sich in der Schneedecke unten am Boden regelmäßige runde Löcher bildeten, auf deren Grund man die nasse braune Erde schimmern sah. Und eines Morgens waren Eis und Schnee verschwunden, nur draußen an den Nordabhängen der Feldwege lagen noch weiße Streifen, gleich Pelzen, die südwärts wandernde Riesen achtlos abgeworfen hätten. Hatte nicht eben hier schon ein Vogel gezirpt? Drängten nicht dort daseinsdurstige Keime zum Lichte?

Und wie in den Gärten unter der schützenden vorjährigen Laubdecke geheimnisvolles Werden sich regte, so begannen an Wolf erneuernde Kräfte zu schaffen. So schwach und zart waren die ersten Pulsschläge wieder erwachenden Lebens, daß Ilse sie anfangs kaum bemerkte, und als sie dann die beginnende Wandlung gewahrte, verschloß sie sich zuerst noch ängstlich dagegen. Denn zu viel hatte sie während dieser Monate von scheinbaren Besserungen und schweren Rückfällen anderer Kranken gehört. Nur das nicht erleben müssen! Nicht zu früh jubeln und nachher in noch tieferes, lähmendes Elend sinken! – Aber ihre Kräfte, ihr ganzes Wollen spannte sie doppelt an seit diesem ersten Hoffnungsschimmer, denn ihr war ja, als sei ihr Wolfs Seele bei finsterer Nacht in die Arme gelegt worden, und als erblicke sie nun endlich auf der fernen Höhe, zu der sie die Seele tragen sollte, einen lichten, wegweisenden Schein. Sie wich nicht von ihm und hütete ihn mit ihrer ganzen Liebe. Er lebte von ihrem Leben und erstarkte an ihren Kräften. – An ihr kleines Kind dachte sie bisweilen; ähnlich war das damals gewesen, ehe es geboren wurde, sie fühlte es ja oft ganz deutlich, wie etwas von ihr ebbte und in ihn überflutete. – Größeres Wunder aber wie neu entstehendes Leben dünkte sie dies beinahe schon entflohene, das, aus unbekannten Fernen wiederkehrend, vor ihr auferstand. Osterstimmung erfüllte ihre Welt, und sie konnte nicht anders, als andächtig die Hände falten, wenn sie Wolf jetzt bisweilen in ruhigem, natürlichem Schlafe liegen sah; die welke Haut glättete sich, das arme gequälte Gesicht nahm wieder etwas von seinem früheren Ausdruck an. Langsam begann die hoffnungslose Apathie von ihm zu weichen, und die Dinge, die er sah, glitten nicht mehr spurlos an ihm vorüber, sondern drangen bis zu seinem Bewußtsein. Jeder mußte es nun bemerken, daß er auf dem Wege zur Heilung war! Die ganze Anstalt sprach davon, mit Stolz wiesen die Ärzte auf ihn, und die anderen Patienten blickten ihm in Sehnsucht nach.

Bisher war Ilse mit Wolf nur an sonnigen Stunden im Garten des Krankenhauses auf und ab gegangen, wo Schneeglöckchen und Leberblümchen, in uralter vertrauensvoller Gewöhnung, als Früheste aus der Erde hervorschlüpften. Aber nun erlaubten die Ärzte die erste Ausfahrt. – Mit welcher Sorge ward alles vorbereitet! wie bang beobachtend saß sie dann neben ihm im Wagen! – Es war ja das erstemal seit vielen, vielen Monaten, daß er wieder hinauskam und fremde Gesichter und das Meer sah, das Meer, das ihn an so vieles mahnen mußte, wie würde er das alles ertragen? – Ihr war, als müsse sie die Hände stützend um ihn halten, denn niemand vermochte ja voraus zu sagen, ob sein bißchen Kraft ein standhaft neu Gebäude war oder nur ein leicht verwehbar Kartenhaus.

Er sagte nichts über den Eindruck, den die so lange nicht mehr geschaute Welt auf ihn machte, und Ilse wagte auch gar nicht zu fragen – das mußten Empfindungen sein, an die niemand rühren durfte.

An einem hohen Vorsprung, wo alte Buchen standen, ließ er dann den Wagen halten, stieg aus und setzte sich mit Ilse auf eine Bank. Leise rauschte es über ihnen in dem traumhaft zarten, ersten Grün der Buchenzweige. – Tief unten breitete sich die Bucht, in der die Kriegsschiffe lagen, und die Linie der Küste dehnte sich weit hinaus, im Dunste verschwimmend und die Gedanken mit sich ziehend in weite Fernen.

Da saßen die beiden lange schweigend.

So war es wieder Spätsommer geworden, und der Tag kam, wo die Ärzte sagten, daß Ilse an die Gestaltung ihrer Zukunft denken solle, da ein weiteres Verbleiben in der Anstalt nicht fördernd, sondern nur noch hemmend wirken würde.

Kaum glaubhaft klang es. Beinahe verwirrend. – Und nach der Geborgenheit hinter diesen traurigen Mauern hatte der Gedanke an die Welt draußen zuerst etwas Beklemmendes. – So groß die Sehnsucht hinaus auch oft gewesen sein mochte.

Doch wohin nun? – In der bloßen Frage war die völlige Veränderung ihrer ganzen Lebenslage enthalten. So viele Jahre hindurch war ihr jeweiliger Aufenthaltsort ja gerade derjenige Umstand gewesen, der ihnen von fremdem Willen unerbittlich vorgeschrieben wurde. Immer hatte am Lebenspfade ein Wegweiser gestanden, drauf zu lesen war, was der Reise nächstes Ziel. Jetzt deutete kein sichtbarer Arm mehr für sie in die Zukunft. Die ganze Welt lag plötzlich vor ihnen offen, und gerade diese Ungebundenheit löste ein Gefühl des Verlorenseins, der Belanglosigkeit aus. – So gleichgültig schien es, wohin diese zwei kleinen Menschenstäubchen sich nunmehr wenden würden. – »Völlige Unabhängigkeit« mochten das manche neidend nennen, doch Ilse dachte: Ist nicht alle Freiheit nur scheinbar, und jede Wahl und Tat doch bloß Geschickerfüllung? – Es konnten jetzt noch gute Jahre für Wolf kommen, hatten die Ärzte gesagt, aber viel Ruhe, viel Schonung, viel Pflege würde er dazu bedürfen.

Wo ihm die am besten schaffen? Ilse sann und suchte.

An Wolfs Heimat hatten sie einen Augenblick gedacht. Aber allzu hart ist der Weg, der den Geschlagenen zurückführt zu der Stätte, von der er in der Jugend einst hoffnungsfroh und siegessicher auszog. – Auch der Name Berlin wurde in ihren Gesprächen einmal hingeworfen. Aber ein Frösteln überlief sie beide. – Ach nein! Nicht das Hasten und Ringen noch wollender Menschen durften sie sehen, das an eigenes früheres Leben mahnen würde. Weiche, Milde, Frieden, Vergessen brauchten sie beide. Ilse mehr vielleicht noch als Wolf, der das Wunder der Genesung in sich erlebt hatte.

Denn sie war ja durch eine Leidenszeit gegangen, die den Menschen nicht läßt, wie sie ihn fand. – Ihrer Seele waren Nerven gewachsen, überall, unsagbar sein und weit ausstrahlend, Fühlfäden gleich, die, im Schmerz entstanden, ihn immer wieder suchen müssen, ob sie ihn gleich fürchten. – Sie ahnte schon, wie unendlich oft diese Empfindungstaster in den kommenden Jahren zucken würden, verletzt von Rauheiten, die für andere unfühlbar blieben. – Denn nicht abgestumpft, ach nein, leidensfähiger, mitleidsfähiger wird, wer einmal so gelitten. Sie wußte es schon heute. Wußte, daß sie wehrlos und verwundbar geworden, wo andere Panzer tragen. – Ja, dachte Ilse, wer so wie ich gelitten, der geht fortan auf wunden Füßen und bebt erschauernd vor kaltem Hauch, den andere nicht spüren. Ich ahne in fremden Herzen trübe Farben, die jene dicht verschleiert wähnten, und vernehme klagende Tonschwingung, wo alles Stille schien. Mit meinen verweinten Augen bin ich zu einer Hellseherin geworden. – Ach, niemand weiß es, wie das ist, der es nicht alles selbst erlebte!

Sie war so müde, wurde es täglich mehr, jetzt wo die Spannung der Nerven endlich nachgelassen hatte. Die Fähigkeit zu ringen und zu wollen war in ihr aufgebraucht, wie ein ausgebranntes Licht. Und sie, bei der scheinbar jede Entscheidung lag, sehnte sich selbst nur noch danach, daß starke und doch sanfte Hände sich ihr entgegen strecken möchten, in die sie Wolfs und ihr eigenes Schicksal legen könne.

Und da mitten in all ihrem Suchen und Zweifeln war aus Florenz ein Brief von Gisi gekommen, der einstmalige Gedanken neu erweckte. Hinaus zum Sitz unter den rauschenden Buchen, von wo man hinabblickte auf die Bucht mit den vielen Kriegsschiffen, hatte Ilse den Brief mitgenommen, dort wollten sie und Wolf ihn noch einmal zusammen lesen.

Gisi schrieb: »Kommt vor allem beide gleich hierher zu mir und schenkt mir das Glück, noch einmal Menschen zu besitzen, für die ich sorgen darf. Hier wollen wir dann das weitere beraten. – Und wißt Ihr, daß San Christoforo, dicht neben mir, noch immer eines Käufers harrt? – Ich war heute dort und stieg hinauf bis zu der offenen Loggia, wo die verblaßte Inschrift steht, die wir einst zusammen lasen – und dort dachte ich: Ach, wenn doch Ihr beide, wie einst die des Kampfs und Wirrsals müden Florentiner, zu diesem schönen Erdenwinkel sprechen wolltet: » Ille mihi«! – Auf daß er auch Euch Zufluchtsstätte werde. – Lachen würde Euch vielleicht auch hier nichts, denn ich glaube das Lachen, von dem Horaz sprach, kennen die nicht mehr, die von so weit zurückkehren wie Ihr. Aber ein wehmütig Lächeln könnte es werden, das, wie Abendsonnenschein nach stürmischem Wandertag, verklärend auf der letzten Strecke des Weges ruht.«

Wie ein plötzlich gefundener Wegweiser, aus Irrgarten befreiend, war Gisis Brief für Ilse. Und sie dachte: San Christoforo, der Schutzheilige der Wanderer und Schiffbrüchigen, ja, der müßte wohl die starken und doch sanften Arme haben, drin sich von allzu rauhem Pfade ruhen ließe.

Fragend sah sie auf zu Wolf und las in seinen Augen, daß er dasselbe dachte wie sie. Da nickten sie sich schweigend zu. – Ja, dorthin wollten sie die müden Schritte lenken! Jener Erdenwinkel, der sollte der ihre werden.

Und aus der Ferne winkend, tauchte vor ihnen beiden, hier am nordischen Gestade, die träumende Villa des Südens empor, und sie glaubten wieder, die ausstrahlende Wärme des alten Gemäuers zu fühlen, drin die Sonnenstrahlen vieler Sommer gefangen schienen. Die stillen Säle sahen sie, durch die sie beide einst geirrt waren, die erblindenden Spiegelscheiben, in deren Tiefen sie das eigene Bild wie verzaubert erblickt – und aus den Nebeln der Vergangenheit stieg auch der verwilderte Garten, wo alles zu ihnen gesprochen: bleibt! ach bleibt!

Doch Taube waren sie damals gewesen, hatten den Ruf nicht vernommen – oder vernehmend, ihn doch nicht verstehen wollen.

Jetzt, in dieser Stunde, glitten die seitdem verflossenen Jahre noch einmal an ihnen vorüber.

Wie hatten doch die Freudenfeuer junger Liebe so hoch aufgeloht – damals, als sie beide zuerst zusammen ausgezogen waren! – Schwer war dann oftmals der Weg geworden, an der brennenden Felsenwand; aber sie hatten gekämpft und gerungen, immer ja weiter getrieben von dem einen Gedanken, daß gerade sie, die sich in Auflehnung gegen Menschensatzung zueinander gefunden, berufen sein müßten, neue Werte für ihr Land schaffend, den eigenen Wert zu beweisen. Die Rechtfertigung für selbstherrliches Ergreifen des Glücks wollten sie durch Taten erbringen, unbewußt hierin vielleicht dem uralten Glauben folgend, daß einst die Arbeit den Menschen zur Sühne der Sünde gegeben ward. – Heut aber wußten sie, daß die Welt denen, die sie so eigenes Liebeslos wählen sah, selten auch noch äußeres Gelingen gestattet; wußten auch, daß es niemand gegeben, die Art seiner Sühne zu bestimmen, sondern daß jedem gerade die ihn am schwersten drückende Last auferlegt wird. – Zu ganz anderem Ziele, als sie gewähnt, hatten sie wandeln müssen! Nicht im Glanz des Erfolges, jenes größten aller Rechtfertiger, waren sie heimgekehrt – nein, zwei arme Geschlagene, Besiegte des Lebens, so standen sie heut. – Die große Lehre, daß Entsagung einmal von jedem gefordert wird, gegen die sie sich einst aufgelehnt, hatten sie nun doch, auf mühsamem Umweg, erlernen müssen. – Und in ihr lag Ruhe und Erlösung.

Tief unten in der Bucht löste sich ein mächtiges Kriegsschiff aus der Reihe der übrigen gepanzerten Kolosse. Ein Sonnenstrahl streifte es und ließ für einen Augenblick seine Flagge ganz deutlich erkennen, lautlos, wie ein weißes Traumbild, glitt es dann durch die silbrige Flut und steuerte hinaus, fernem Gestade zu. – Schweigend schauten ihm von der buchenbestandenen Höhe die beiden Menschen nach.

Und der Mann sprach: »Einst fuhren auch wir so aus und wollten jener Flagge dienen, träumten davon, ihre Herrschaft weiter auszubreiten. – Das werden wir nun nimmer vermögen.«

Sie aber antwortete: »Was liegt an uns – wenn nur andere erstehen, die das erreichen, was wir erstrebten.«

Rascher und rascher wurde der Lauf des Schiffes; geisterhaft bleich schon entschwand es in der Ferne.

»Wir wollen gehen,« sagte der Mann, »Der Weg wird dunkel werden.«

Zärtlich tröstend legte sie ihre Hand in die seine, und während sie unter den dämmernden Buchen dahinschritten, antwortete sie: »Und wenn der Weg auch dunkel wird, so können wir uns doch erinnern, daß wir einmal die Welt zusammen im Sonnenglanz geschaut – und es war schön – trotz allem.«

*

Grauer Dunst kam von der See gezogen und breitete sich weich und still über die Erde, lautlos verschwanden im steigenden Abendnebel die beiden Gestalten.

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
30 августа 2016
Объем:
400 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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