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Читать книгу: «Ille mihi», страница 18

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»Ach, endlich! von zu Hause!« rief Wolf erleichtert aus, »gut, daß ich den Chiffre gleich mit rauf nahm! Hilf mir Ilse, dann können wir es noch rasch dechiffrieren, ehe die Gäste kommen! Es ist nicht sehr lang.«

Sie kniete auch schon auf einem Taburett und schlug im Dechiffrierbuch, das sie gegen den Leuchter auf seinem Toilettentisch stützte, die Zahlen nach, die er ihr aus dem Telegramm vorlas, und deren Übersetzung er dann gleich mit einem Bleistift unter die Ziffern schrieb.

»013« diktierte Wolf.

» Non va‘eur« antwortete Ilse.

»580.« »Im.« »6034.« »Interesse.« »1313.« »des Dienstes.« »607.« »und.« »157.« »auf höchsten Befehl.«

Nun sah Wolf mit in das Buch hinein, es ging ihm nicht rasch genug, und es war ein so eigentümlicher Anfang! Mit zitternden Händen, immer hastiger die Seiten nachschlagend, lasen sie nun zusammen weiter: »werden Euer Hochwohlgeboren von Ihrem bisherigen Posten enthoben und wollen sich aus Gesundheitsrücksichten, nachdem Sie die Geschäfte dem Legationssekretär Baron von Lenval übergeben haben werden, sofort von dort auf längeren Urlaub begeben.«

Sie waren beide ganz fahl geworden und sahen sich regungslos mit großen Augen an. Dann plötzlich, als müsse sie sich an etwas halten, griff Ilse mit beiden Händen nach des Mannes Schultern; mit völlig veränderter Stimme, wie ein Kind, das sich fürchtet, schluchzte sie einmal laut auf: »Wolf, Wolf, was bedeutet das denn?«

Und er konnte ihr darauf nur mit einer anderen Frage antworten, die er immer wieder vor sich hinsprach: »Aber warum denn nur? warum denn?«

Durch das offene Fenster wehte der Abendwind herein, und das Licht auf dem Toilettentisch erlosch. In dem dunklen Zimmer standen nun die beiden Menschen dicht aneinander gedrückt; sie sprachen jetzt kein Wort, aber sie hielten sich einer am anderen fest, in der gemeinsamen Angst vor allem, das nicht sie beide war, vor all dem Finsteren, Unheimlichen, Unverständlichen, das in dieser Stunde heimtückisch die Krallen in sie schlug.

Da klopfte es, und sie fuhren auf und hatten die Empfindung, eine ganze Ewigkeit so gestanden zu haben. Derselbe Diener, der vor einigen Minuten das Telegramm gebracht hatte, stand wieder an der Tür und meldete: »Die Herren Offiziere sind im Saal versammelt, und die ersten Wagen biegen eben in den Garten.«

»Wir kommen sofort,« antwortete Wolf. Mechanisch verschloß er den Chiffrierkasten in eine Schublade, faltete das Telegramm und steckte es in seine Tasche. – »Nun laß uns hinuntergehen« sagte er zu Ilse und an der Tür hielt er sie noch einmal fest: »und vor – den Fremden – natürlich – schweigen.«

Sie nickte. Die lange Gewohnheit eines Lebens, das in ganz bestimmt vorgeschriebenen Formen verlief, kam beiden jetzt zu statten. Sie traten in den Saal und empfingen ihre Gäste, von denen keiner ahnte, was sich wenige Minuten vorher zugetragen hatte. – Sehr fahl und grau sah Walden freilich aus und einem Kollegen, der ihn bei dem Diner danach fragte, antwortete er: »Ja, ich fürchte, mein altes Leiden bedroht mich wieder.«

Und Ilse, die ihm gegenüber sitzend, die Worte vernommen hatte, wiederholte sie ihrem Nachbarn: »Ach ja, mein Mann verträgt das hiesige Klima wirklich nicht gut.«

Das war ja jetzt Instruktion, und Wolf und Ilse standen in diesem Augenblick noch ganz im Bann des Dienstes, an dessen Abschüttlung zu denken ihnen noch gar nicht beigekommen war. Ilse bemühte sich zu sprechen und zu scherzen, als sei es ein Diner, wie all die vielen anderen Diners, die sie im Laufe der Jahre gegeben, und doch, sobald sie nicht selbst sprach, glaubte sie, eine feine, leise Stimme zu hören, die ihr zuflüsterte: »Sieh es dir nur alles recht genau an, präg es dir ein, denn es ist das letztemal, ja, ja, wenn du es auch noch nicht glauben willst, es ist da, allerletztemal.«

Und dann starrte sie eine Sekunde traumverloren über den Tisch mit den vielen Orchideen hinweg, und über den Gläsern, wie aus weiter Ferne, tauchten die Köpfe ihrer Gäste auf.

Es wollte keine Stimmung in die Gesellschaft kommen. Die fremden Diplomaten und die Marineherren wußten gegenseitig nicht recht, was miteinander zu beginnen. Taudien und Dedo bemühten sich, jeder auf seine Weise, vermittelnde Konversation zu machen, aber die afrikanischen Jagderlebnisse des berühmten Reisenden hatten so wenig Erfolg wie die diplomatischen Anekdoten des Legationssekretärs. – Beim Kaffee auf der weiten Veranda, von der aus man in den schwarzgrünen Garten blickte, in dem die hellgrünen Lampions und Tausende kleiner umherschwirrender Leuchtkäfer glühten, bildeten sich ganz von selbst abgesonderte Gruppen, in denen leise getuschelt wurde.

Der Gesandte, dessen Land als traditioneller Feind Deutschlands gilt, sagte zu einem Kollegen: »Es sieht mir ganz so aus, als hätten die sich mit ihrem Ultimatum und ihrer Flottendemonstration recht in die Nesseln gesetzt.«

»Ist ihnen sehr gesund,« antwortete der andere.

»Wenn es nur keine weiteren Komplikationen gibt,« seufzte ein Weiser, »bei dieser Hitze sehnt man sich doch nach Ruhe!«

»Aber, Verehrtester, jetzt können die doch nicht mehr zurück!« entgegnete ihm beinahe gereizt der Vertreter des so gerne Zwietracht säenden Landes.

Doch der Repräsentant der Macht, vor der man sich neuerdings auch fürchtet, sagte gar nichts und ging nur schmunzelnd von Gruppe zu Gruppe.

Es war eine Erlösung, als die Fremden endlich alle gegangen waren!

Nun blieben nur noch Taudien, Dedo und die Marineherren mit ihren Gastgebern zurück. Und da begann Wolf zu sprechen: »Ich weiß nicht, ob, was ich im Begriff stehe zu sagen, ganz korrekt ist, oder ob ich diese Mitteilung Baron von Lenval allein machen sollte, aber erfahren werden Sie es ja doch morgen, meine Herren – und dann … Kameraden, sind wir ja doch alle« ..

»Bravo, bravo,« riefen die jüngeren Offiziere dazwischen, die nicht anders dachten, als daß nun die kommende Aktion verkündet werden sollte. – »Prost,« sagte der mecklenburgische Kapitän und trank Walden aus einem großen Glase Whisky-Soda zu.

»Also, meine Herren,« fuhr Walden fort, »ich werde morgen früh die Geschäfte Baron von Lenval übergeben und mich nachmittags mit dem heimfahrenden Postdampfer gesundheitshalber auf langen Urlaub einschiffen.«

»Was?«

»Sie wollen fort?«

»Jetzt, in diesem Augenblick?«

»Aber das ist ja rein unmöglich!«

So schwirrten die aufgeregten Ausrufe durcheinander. Der Mecklenburger aber schlug mit der Faust auf den Tisch, daß das Whisky-Sodaglas wackelte: »Da schlag doch gleich ein dreifaches Kreuzdonnerwetter drein.« Während Dedo, ganz erschöpft in einen Sessel sinkend, nur das eine Wort fand: »Gräßlich, gräßlich!« und Taudien bitter murmelte: »Hab‘s mir doch gedacht.«

»Aber ums Himmelswillen, warum denn nur?« fragten sie dann beinahe einstimmig.

»Auf höchsten Befehl,« antwortete Walden.

Da verstummten sie alle. Und Wolf fühlte, wie da ganz langsam, aber unaufhaltbar etwas Ungreifbares, einer Schleierwand Gleichendes, vor ihm aufwuchs. Es trennte ihn von den übrigen. Auf der einen Seite standen all die anderen, und auf der zweiten Seite stand er ganz allein. Er wunderte sich, daß keiner durch die Schleierwand zu ihm herüberkam, er fühlte, wie die Mauer dichter und trennender wurde. – Dann aber sagte er sich: »Die dort drüben handeln ja ganz korrekt; wäre das einem von ihnen vor vierundzwanzig Stunden geschehen, was heute mir widerfährt, wer weiß, ob ich zu ihm durch die Wand gekommen wäre?« Und wie er das gerade dachte, kam eine zu ihm herüber. Das war Ilse, die hatte den Arm in den seinen gelegt, und nun sprach sie: »Ja, meine Herren, und da wir nun sehr viel zu packen haben, muß ich Sie bitten, uns zu entschuldigen, wenn wir Sie diesen letzten Abend allein lassen.«

Vor ihrer Stimme war die graue Scheidewand etwas gewichen. Die Herren erwachten wie aus einer Art Erstarrung. Man umdrängte sie. Viel Bedauern ward laut. Und doch fühlten Wolf und Ilse beide, daß sie für die anderen nicht mehr ganz dieselben wie vor einer Viertelstunde waren. – Sie waren es auch wirklich nicht mehr, ohne es selbst schon zu wissen. – Denn es gibt Minuten, die ein für allemal die Menschen verändern, wenn sie selbst auch vielleicht erst später merken, was da in ihnen erstorben oder erstanden ist.

Ehe Ilse hinauf ging, um für den nächsten Tag zu packen, blickte sie hinaus in den Garten. Der Gärtner hatte die hellgrünen Lampions ausgelöscht. Eine Schicht blauweißen Dunstes lag auf den Rasenflächen, darüber hoben sich die dunklen Umrisse der Palmenkronen, der Mangobäume und Bambuszweige von dem sternefunkelnden Himmel ab. In den Büschen schwirrten zahllose Leuchtkäfer, süßer betäubender Duft entströmte tausend Tropenblumen, und wieder vernahm Ilse die feine, leise Stimme, die ihr zuflüsterte: »Zum letztenmal, zum allerletztenmal.«

Sie wollten abreisen, ohne von irgend jemand Abschied zu nehmen, Dedo alle weiteren Erklärungen überlassend. Aber die Kunde der plötzlichen Abberufung mußte sich doch irgendwie verbreitet haben, denn die Kollegen Wolfs hatten sich bei seiner Abreise am Bahnhof der Hauptstadt eingefunden, und jetzt, wo sie ihn nicht mehr als politischen Faktor betrachteten und gar vermuten mußten, daß er als Opfer einer ob ihrer mancherlei Schwankungen unbeliebten Politik gefallen war, gaben sie ihrer persönlichen Sympathie für »die armen netten Waldens« lebhaft Ausdruck.

Weniger rasch wußten sich die Mitglieder der deutschen Kolonie in die neu geschaffene Lage zu finden. Sie waren zwar auch zum Abschied erschienen, aber man merkte ihnen eine gewisse Verlegenheit an, wie sie sich nun Waldens gegenüber zu benehmen hätten, und Großmann fragte Dedo, ob man Herrn von Walden noch wie bisher mit »Herr Minister« anreden solle.

Nun lag das alles schon weit zurück.

Der Postdampfer, mit dem Wolf und Ilse die plötzliche Heimkehr antraten, hatte den Hafen verlassen und war an den beiden deutschen Kriegsschiffen vorbei gefahren. »Glückliche Reise,« war Waldens von dort signalisiert worden. »Glückliche Reise« – es klang den beiden wie ein Hohn.

Dann war auch das überstanden. Die Küste verschwand am Horizont im Dunste, und bald darauf passierte der Dampfer die Insel Santa Immaculata. Wie ein blaues Phantom stieg sie empor aus den Wellen, wie ein blaues Phantom versank sie auch schon in der Ferne.

Ilse lehnte an der Reeling und schaute zurück. Sie entsann sich, wie sie hier zuerst vorbeigefahren und entsann sich auch, wie sie sich noch vor ein paar Tagen ihre dereinstige Heimfahrt ausgemalt hatte. – Wie war es doch alles so ganz anders gekommen! und warum? warum?

Während der ersten Tage der langen Reise bewegte sich Ilse wie in einem traumhaften Zustand; sie dachte immer, daß sie erwachen müsse, und daß es dann alles nicht wahr sein würde. – Sie hatte ja zuweilen von unerwarteten Ungnaden gehört, von dem plötzlichen Versinken von Leuten, die aufwärts zu steigen schienen, und die rätselhaft gescheitert waren, durch unerklärliche, dem alten Fatum gleichende Macht getroffen. Aber unglaublich schien es, daß nun sie selbst es sein sollten, die solch unberechenbarer Gewalt zum Opfer gefallen! – Als welch häßlicher Traum erschien doch mit einemmal das Leben! – Und Ilse, in ihrer Ratlosigkeit vor dem Unverständlichen, glaubte schon die Neige des Kelches zu kennen.

Aber wer kennt die je! – Stets neue bittere Überraschung enthält des Lebens Becher.

Nach wenigen Tagen Seefahrt ward Wolf von seinem alten Tropenleiden wieder befallen. – Es war, als wolle wenigstens sein Körper noch der lang geübten Gewohnheit treu bleiben, Instruktionen zu befolgen: Wolf hatte nicht nur, wie es das hohe Telegramm befohlen, aus Gesundheitsrücksichten einen Urlaub angetreten, nein, er hatte den Geist dieser Instruktion so sehr erfaßt, daß er wirklich krank geworden war.

Nun saß Ilse neben ihm in der kleinen Kajüte. Und draußen schlugen die dunklen Wellen gegen die Schiffswand und schienen ein Lied zu singen von all den Besiegten, die auf dem Grunde des Ozeans schlummern.

Es war keine glatte Überfahrt gewesen. Die Luken mußten oft des schweren Seegangs halber geschlossen werden. Wenn dann weißer Gischt gegen die kleine, runde Scheibe schlug, glaubte Ilse ein höhnisches Gelächter zu vernehmen, und sie wähnte, den kalten, nassen Griff unsichtbarer Hände zu fühlen, die sich nach ihr und Wolf ausstreckten, um sie hinab zu ziehen in die toderfüllte Tiefe.

Nur langsam erholte sich Wolf, beinahe widerstrebend. Und als nach Wochen die flache deutsche Küste wie ein finsterer Strich im Grau des Horizontes aufstieg, da stand er zwar inmitten der anderen Reisenden neben Ilse auf dem Verdeck – aber er fühlte wohl, daß er heimkehrte als ein im tiefsten Innern Veränderter.

*

Die ganze lange Fahrt bis zu dem Heimatshafen hatte der mächtige Dampfer sie alle sicher getragen. Doch noch weiter erstreckte sich die Fürsorge der großen Schiffahrtslinie. Ein Extrazug stand bereit für die Passagiere, um sie und ihr Gepäck bis zur etwas weiter landeinwärts gelegenen berühmten Handelsstadt zu führen. Es war ein beinahe elterliches Bestreben, jedwede Verantwortung möglichst lange auf sich zu nehmen, und den Reisenden mußte es im Gedächtnis bleiben: Unter dieser Flagge war man wohl geborgen.

Als dann am Abend der Zug im Bahnhof der großen Handelsstadt hielt, von wo ab jeder für sich selbst zu sorgen hatte, mochte wohl über manchen das Gefühl kommen, aus sicherem Verbande nunmehr entlassen zu sein. Aber frohe Wiedersehen gab es da freilich auch, Menschen, die so weltentrückt und glücklich waren, daß sie nicht den schneidenden Wind, nicht den schräg fallenden Regen spürten.

Wolf und Ilse aber standen fröstelnd da und fühlten hier auf der Heimat Boden, daß sie Gestrandete waren.

Langsam ging es dann mit der Droschke zu dem Hotel am Innern Bassin. Klatsch, klatsch, fiel der Regen gegen die Scheiben: klatsch, klatsch, schlug er unter den Pferdehufen auf. Die Lichter der Schaufenster und die Straßenlaternen spiegelten sich in langen hellen Streifen auf dem nassen Pflaster. Zwischen den Kais und dem Wasserspiegel verschwammen die trennenden Grenzlinien, und die Welt schien sich aufzulösen in graue kalte Feuchtigkeit. Die Umrisse der Gebäude zerflossen in der Mischung von Nebel und Regen; hoch oben über ihren Dächern aber flammten die glühenden Riesenbuchstaben wechselnder Geschäftsanzeigen auf; in dem gleichmäßigen Grau begriff man nicht, wo sie eigentlich befestigt waren, sie schienen irgendwo in den Wolken zu hängen. Am jenseitigen Ufer des Bassins, gerade dem Hotel gegenüber, wo Waldens abgestiegen waren, drehte sich in den Lüften ein riesiges rotglühendes Rad – es diente dem harmlosen Zweck, irgendeinen besonderen Handelsartikel anzupreisen, aber Wolf, der nun am Fenster des Hotelzimmers lehnte, und hinausstarrte in die frostig unwirtliche Heimatswelt, konnte gar nicht mehr davon wegschauen – ein aus der Hölle entsprungenes Marterwerkzeug dünkte ihn dies flammende, kreisende Rad!

Sie gingen noch einen Augenblick hinunter in das Restaurant. Es war leer da. Gähnende Kellner standen unbeschäftigt herum; ein halb verschlafener Piccolo tippte, um sich wach zu halten, mechanisch mit dem Fuß gegen die seltsamen metallenen Gehänge, die die Heizungskörper verdeckten und den Schmuckstücken irgendeines fernen barbarischen Volkes glichen. Paneele aus glänzend gelbem, exotischem Holz liefen an dem in einzelne offene Kabinen abgeteilten Raum entlang; an den pfaublau getünchten Wänden darüber hingen Gemälde modernster Richtung, violette Kühe gegen blaßgrüne Himmel, Wäscherinnen, auf deren blauen Armen die Sonnenlichter wie Ausschlag saßen.

Nur ein Tisch war von einigen Herren besetzt. Ilse erkannte unter ihnen einen Mitpassagier und die Freunde, die ihn vorhin am Bahnhof abgeholt hatten. Sie mußten auch eben angekommen sein, denn der Oberkellner nahm noch ihre Bestellung entgegen.

»Nun, und was wollen wir trinken?« fragte derjenige, der Gastgeber zu sein schien.

»En büschen 1892er Pommery Greno?« schlug ein anderer vor.

»Ja, en büschen 1892er Pommery Greno,« stimmte der Ankömmling eifrig bei, »aber nich ssu kalt.« Und dann setzte er gerührt hinzu: »Als wir zuletzt vor nem Jahr, ehe ich abreiste, hier zusammen saßen, da haben wir nämlich auch 1892er Pommery Greno getrunken, aber der war en büschen ssu kalt.« Er schwieg, in Gedanken verloren, während der Oberkellner notierte, und dann sagte er grübelnd, mit dem Ausdruck eines Mannes, der sich der Züge einer einst geliebten Frau zu entsinnen sucht: »Aber was mögen wir nur damals gegessen haben?«

Wolf klagte über die dumpfe Luft und stand bald wieder auf; man sah ihm die Abspannung an, und doch konnte er keine Ruhe finden. Oben ging er noch lange auf und ab, als Ilse schon zu Bett lag; sie hätte gern etwas mit ihm gesprochen, nur um den Klang seiner Stimme zu hören, denn ihr war so bang ums Herz; aber sie wagte nicht ihn anzureden, denn er hatte einen so seltsam starren Ausdruck, der jede Annäherung abzuwehren schien. So schlief sie denn schließlich ein an diesem ersten Abend daheim, ein paar zerdrückte Tränen an den Wimpern.

Wolf aber stand lange noch am Fenster und starrte hinaus, und auch nachdem er endlich zu Bett gegangen, ließ es ihm keine Ruhe; er erhob sich doch wieder und schlich ans Fenster – er mußte es noch einmal anschauen, es zog ihn gar zu sehr an, dies rotglühende Rad, das da draußen flammend kreiste und kreiste und ihn ein aus der Hölle entsprungenes Marterwerkzeug dünkte. Und irgendwo war da etwas, in das sich dies feurige Rad immer tiefer einbrannte – es war bohrend schmerzhaft – aber Wolf konnte nicht herausbekommen, wo das war – müde … zu müde … war er … morgen … ja vielleicht morgen würde er … entdecken … wo das so brannte … brannte …

Am nächsten Tage verlangte er gleich nach allen Morgenzeitungen, und es fiel Ilse auf, wie fieberhaft er sie durchblätterte, wie unstet sein Blick über die Seiten irrte. Eine merkwürdige Angst, sie wußte selbst nicht wovor, schnürte ihr die Kehle zu. Was war es denn, wovor sie sich fürchtete?

In all den Zeitungen stand die Nachricht von Wolfs Ankunft. Einige Blätter nannten dabei die früheren Posten, die er inne gehabt, die meisten enthielten sich aller Kommentare. Nur eine Zeitung, die die treue Anhängerin des entlassenen größten deutschen Staatsmannes war, und die kein Hehl aus ihrer geringen Bewunderung für die seit dessen Rücktritt wechselreich verfolgten Wege machte, nahm Veranlassung, unter Beleuchtung der Ereignisse, in deren Mittelpunkt Wolf gestanden, die Regierung zu kritisieren, »deren Politik mangelnder Voraussicht auch hier wieder vor eine Wahl geführt habe zwischen bewaffneter Vertretung einer Frage, die dies eigentlich nicht wert war, oder würdelosem Zurückweichen.«

»Die Geologie,« so schrieb das Blatt, »lehrt uns, daß die großen Erdumwälzungen sich ganz allmählich und langsam vollzogen und den Arten die nötige Zeit zur Anpassung an die veränderten Verhältnisse gelassen haben; so wird auch uns Deutschen Zeit gegönnt, uns von einstmaliger kurzer Größe zu minimaler Kleine herabzustimmen und uns dadurch den Verhältnissen neuester Ära anzupassen. Nur manchmal geht das Tempo dieses Hinabgleitens etwas gar zu rasch, dann fragt wohl dieser oder jener mit Erinnerung an Früheres besonders belastete Kopf, »ob denn nicht jetzt etwa der Moment des Gegenstemmens gekommen sei?« Aber immer wird alsobald geantwortet, solche Wichtigkeit habe diese einzelne Frage doch nicht, daß man darüber vom Leder ziehen könne, und so gewöhnen wir uns daran, wie einst die Wesen, gegen die die Gletscher vordrangen, vor den großen sich gegen uns schiebenden Massen uns in immer erneuter Friedfertigkeit auf immer bescheidenere Stellung zurückzuziehen.«

Dann fuhr das Blatt fort: »Den bei den Vorgängen in X viel genannten, so plötzlich abberufenen und noch plötzlicher ersetzten Herrn von Walden kennen wir zwar nicht persönlich, es will uns indessen kaum glaublich erscheinen, daß ein an solchen Posten gestellter Beamte seine Instruktionen derart überschritten haben sollte, wie es andeutungsweise geflüstert wird – eher neigen wir zur Ansicht, daß er ein Opfer der Unbedachtsamkeit und Ziellosigkeit sein dürfte, die er selbst zu vertreten hatte. – Sie werden wohl noch manches Opfer fordern!«

Wolf las es alles rasch und gierig, und im ersten Augenblick lohte in ihm nur eine ungeheure Genugtuung auf, daß ihm endlich Recht wurde. Das ganz natürliche Gefühl des Getretenen war es, dem sich eine hebende, helfende Hand entgegen streckt. – Aber dann las er den Artikel noch einmal langsam durch. Andere Gefühle wurden nun in ihm wach, nicht so starke, wie die vorhin ausgelösten Naturinstinkte, aber immerhin Anschauungen, die durch viele Jahre der Arbeit, des Lebens in einem bestimmten Beruf und Milieu in ihm wurzelten. – Er war doch Beamter, er gehörte zu der Regierung, die da angegriffen wurde? – Freilich hatte er früher, wie übrigens die meisten Herren in den Ministerien, derartige Kritiken immer mit einem gewissen Schmunzeln gelesen (von vielen Kollegen wurde überhaupt nichts lieber gelesen); vielleicht hatte er auch wohl mal gedacht: »Du liebe Zeitung, die du dich so weise dünkst! was könnten wir dir erst für Material liefern, wenn wir nur wollten.« – Das war indessen immer nur eine gewisse kühl belustigte Zuschauerstimmung geblieben – aber hier geschah ja etwas ganz anderes – hier wurde er, der »Fall Walden«, das Unrecht, das ihm widerfahren, benutzt, um die Regierung anzugreifen, zu der er doch selbst gehörte. – Wie konnte das sein? Wie vor allem konnte es geschehen, daß er darüber diese wilde, elementare Freude empfand? – War denn das möglich?

Sein von dem Tropenklima sonst so gebleichtes Gesicht war plötzlich brennend rot geworden. Ein Schwanken war auf einmal um ihn her, als sei er wieder auf dem Schiff. Er griff unwillkürlich mit beiden Händen nach der Stirn. – So saß er einige Augenblicke regungslos, und Ilse starrte ihn an, Entsetzen in den Augen. Was war das nur für ein zerschmetterndes Unglück, dessen Nahen sie schon dicht über sich fühlte? wie der Schwingenschlag unsichtbarer Vögel in finsterer Nacht.

Bald aber ließ er die Hände sinken, seine Augen öffneten sich, das Blut ebbte langsam zurück vom Gehirn, er sah jetzt ganz fahl aus und sagte tonlos: »Morgen wollen wir nach Berlin – ich muß ins Amt – hören, was das alles eigentlich ist.«

»Möchtest du nicht vielleicht lieber schon heute reisen,« fragte sie leise und streichelte seine Hände, die wie leblos hingen.

Aber wie von plötzlicher Angst erfaßt zuckte er zusammen und rief hastig: »Nein, nein! nicht heute! Ach, noch einen Tag Ruhe!«

Es war alles so ganz anders, als Wolf sonst war! – Ilse suchte zu verstehen, sich zurecht zu finden. – Nach einer Weile fragte sie vorsichtig: »Würdest du nicht gern etwas spazieren fahren?«

Er hob den Kopf. Draußen hatte es sich etwas aufgeklärt. »Ja, ja,« sagte er, »heut nachmittag wollen wir ausfahren – weit weit fort.«

*

Nun saßen sie in einem der die Wiener Fiaker nachahmenden Mietswagen, die es in der berühmten Handelsstadt gibt. Die leicht bespannten, munteren Pferde zogen an. Die gestrige nasse Kälte war verschwunden, durch leichtes Gewölk drang ein feines, silbriges Licht. Es hätte eine schöne Fahrt sein können, dachte Ilse, wenn des Lebens Schönheit in seinen Äußerlichkeiten läge.

Um die beiden großen Bassins herum wollte Wolf fahren. Zur einen Seite dehnte sich vor ihnen die blaßgraue Wasserfläche, auf der die Ruder- und Segelboote eines Unwetter gewohnten Menschenschlags, der dankbar jede sturmfreie Stunde ausnutzt, immer zahlreicher wurden. Die langen flachen Boote, in denen Wettruderer unter englischem Kommando übten, schossen vorbei; in kleinen Kanoes paddelten einzelne Schulknaben; Segelboote beschrieben anmutig geschwungene Kurven. Dazwischen glitten Schwäne, still und träge. Es war da nirgends eine grelle Farbe – alles hell und durchsichtig, wie ein für überempfindliche Augen bis zu äußerster Zartheit verwaschenes Aquarell.

Auf der anderen Seite des Weges dagegen standen einzelne Villen in großen Gärten. Hinter ihren hohen Gittern hatten sie etwas Zurückhaltendes, Abwehrendes, und es lagerte auf ihnen die selbstgeschaffene Einsamkeit derer, denen die übrige Welt zum Umgang nicht gut genug dünkt. Aber hier bei diesen Gärten erst merkte man, daß es trotz des gestrigen Regens und Sturms eigentlich Frühling war. Viele Bäume waren schon grün, und in den Rasenflächen standen allerhand Blumen in Beeten, wenn sie auch freilich zerzaust und wie entfärbt von langem Unwetter schienen. – In Ilses Erinnerung aber stieg ein ferner, Jahre zurück liegender Tag wieder auf, mit all seinem damaligen Sonnenglanz, seiner verheißungsvollen Farbenpracht. Der Tag, an dem sie einst – wie lang war‘s doch her – mit Wolf vereint den gemeinsamen Lebensweg begonnen hatte. Sie sah es alles vor sich – die Sonne und die vielen, vielen Blumen in der Siegesallee und in den Beeten vor den Villen der Tiergartenstraße – sie entsann sich auch, wie sie damals die gerade und stramm stehenden Blumenreihen mit Soldaten verglichen hatte: Dragoner, die blauen Hyazinthen, Husaren, die roten Tulpen, Artilleristen, die ganz dunklen – lauter siegreiche Regimenter des Frühlings waren es damals gewesen! – Die Blumen aber, die sie heute erblickte, schienen ganz anders; bleich, geknickt, entblättert durch unzeitigen Sturm, so standen sie beschämt— gleich einem geschlagenen Heer!

Ob Wolf wohl auch daran zurück dachte? Sie schaute zu ihm auf – ach, da wußte sie es alles wieder, was sie einen Augenblick vergessen, er und sie waren es ja selbst, die einst siegessicher ausgezogen und nun geschlagen heimkehrten.

Sie fröstelte in dem bleichen Frühling. »Kehren wir nicht ins Hotel zurück?« fragte sie.

Doch Wolf wollte weiter, hinaus an den großen Fluß; eine Unrast war in ihm, der das Vorwärtsrollen des Wagens wohl tat.

Durch die benachbarte Stadt mit all ihrem Gewühl ärmlicher Menschen mußten sie fahren, um hinaus an den Fluß zu gelangen. – Einmal wurden sie in einer der elenden Straßen angehalten, denn quer über den Weg war ein Pferd vor einem Lastwagen niedergestürzt. – Der Rollkutscher, ein großer stämmiger Kerl, suchte das liegende Tier fluchend aufzurichten; bleiche Fabrikarbeiter, rußige Lastenträger vom nahen Hafen, kümmerliche Kinder folgten stumpf und gedankenlos dem Schauspiel. Ilse blickte beinahe erschrocken in all dies eintönige graue Menschentum; sie hatte ja stets ein mildes wohltätiges Herz gehabt, weil viel unbewußte Güte in ihrem Wesen lag – aber heute ging ihr das alles so seltsam nahe – die Niedergebrochenen, die Enterbten, sie bildeten ja die Mehrzahl auf der Welt, sie waren die »Menschheit« – nicht jene wenigen, die, wie seltene Papageien in den Käfigen eines zoologischen Gartens, hinter den abwehrenden Gittern ihrer Villen wohnten. – Es war Ilse, als verstände sie zum erstenmal, was Elend wirklich bedeutet. Nicht irgendein statistisch unpersönliches Elend, – sondern Elend, an dem man selbst mit trägt.

Während sie so dachte, merkte sie, wie die Augen der Menge einen feindlichen Ausdruck annahmen, als sie, des alltäglichen Anblicks eines gestürzten Pferdes müde, sich auf den Wagen zu richten begannen, in dem Wolf und Ilse saßen. Und all diese Augen schienen zu sagen: Was wißt ihr von denen, so am Wegesrande niedersinken, weil ihnen zuviel aufgebürdet wurde? Nur ein Verkehrshindernis eurer raschen Vergnügungsfahrt sind sie euch – weiter nichts!

Dann rollte der Wagen weiter auf hochgelegener Chaussee vorbei an Gärten und Parks, behäbigen Landhäusern aus Biedermeiers Zeiten, schloßartigen Gebäuden aller Stile aus jüngeren Jahrgängen, großen Sommerhotels. – Links tief unten der gelbgraue mächtige Strom und an seinem jenseitigen Ufer flaches, im Dunst verschwimmendes Land.

Sie waren weit hinausgefahren. Doch immer weiter noch wollte Wolf. Als gäbe es irgendwo da draußen einen bestimmten Punkt, an den er gelangen müsse, um Verlorenes wiederzufinden. Aber schließlich hatte eines der Pferde ein Hufeisen verloren, und nun verlangte der Kutscher umzukehren. Während er dann bei einem nahen Schmied das Eisen ersetzen ließ, warteten Wolf und Ilse in einem Gasthaus. Es war ein noch aus älterer, einfacherer Zeit stammendes Lokal. Auf der Höhe des hier sehr steilen Ufers war es erbaut, und von seiner Terrasse, auf der flach gestutzte Platanen standen, hatte man einen weiten Blick auf den Fluß tief unten. In breiter gelber Trägheit floß er dahin, von Schiffen aller Art befahren: überfüllte Vergnügungsdampfer, von denen Lieder herauftönten; schwarze schnaubende Kohlenschiffe; eilige Dampferbarkassen; dazwischen schob sich ein Koloß vor, ein großmächtiger Überseer, oder es zog eine lange Reihe tiefgehender Lastboote vorbei, die von einem kleinen geschäftigen Dampferchen stromaufwärts geschleppt wurden – großen schwerfälligen Volkskräften gleichend, die jeder etwas überlegenen Intelligenz hilflos folgen müssen. – Weich und zitternd standen all die Dinge in der feuchten Luft; von den Wiesengründen am flachen jenseitigen Ufer stiegen Nebelstreifen auf, und in der Ferne, wo der Fluß sich in grauem Dunst und blassem Abendrot verlor, ahnte man die Gegenwart des Meeres. Es war, als wehe sein salziger Hauch bis hierher.

Unwirklich schien Ilse das ganze Bild, unwirklich vor allem, daß sie beide hier stehen sollten, es zu sehen, seit jener plötzlichen Abreise aus dem fernen Lande hatte sie immer wieder die Empfindung eines Traumes, den sie nicht abzuschütteln vermochte. Sie schloß manchmal die Augen ganz fest, um sich zu besinnen. Wie hatte das denn nur so kommen können? irgendwo mußte ein Mißverständnis walten. Nun, morgen würden sie weiterreisen, morgen würden sie endlich hören, wo und wann sie gefehlt.

Es war ganz spät, als der Wagen endlich wieder vor dem Hotel in der Stadt hielt.

Der Portier kam Wolf mit einer Visitenkarte im Flur entgegen. »Der Herr war zweimal hier,« sagte er, »und er bat, ihn von der Rücklehr der Herrschaften telephonisch zu benachrichtigen, wenn es nicht gar zu spät würde, wollte er noch einmal kommen.«

Auf der Karte las Wolf den Namen eines Redakteurs des Blattes, das am Morgen den Artikel über ihn gebracht hatte.

»Aber es ist viel zu spät jetzt,« sagte er hastig, »ich kann niemand mehr sehen.«

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
30 августа 2016
Объем:
400 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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